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Aus meinen Notizb�chern:
Heft IX
Vorbemerkung: Die
folgendenTexte aus meinen Notizb�chern habe ich urspr�nglich nicht für die Ver�ffentlichung
sondern für mich selber geschrieben, um meine eigenen Gedanken festzuhalten und
zu klären. Sie haben deshalb einen vorl�ufigen Charakter, insbesondere was die
benutzte Terminologie betrifft. Trotz z. T. grundlegender überarbeitung sind
diese Notizen auch in der Formulierung holpriger als andere Texte der
Ethik-Werkstatt. Es sind m. E. darin jedoch Gedanken enthalten, die für die
Entwicklung einer normativen Theorie der kollektiven Entscheidung und für die
Ethik allgemein von Interesse sein können. Wo ich heute anderer Ansicht bin als
damals, habe ich dies manchmal in eckigen Klammern hinzugef�gt und begr�ndet.
Heft IX (daraus die Seiten 35-70)
*IX-1*
Wo der totale Krieg
erkl�rt wird, ohne irgendwelche gemeinsamen Normen, kann man sich gegenüber dem
Feind auf gar nichts mehr berufen. Man kann h�chstens noch versuchen, dessen
Rechtfertigung durch immanente Argumentation zu zerst�ren. Jemand, der eine
Rechtsordnung bek�mpft, kann sich nicht auf diese Ordnung berufen, wo sie ihm
Schutz bietet. Seine Position ist inkonsistent. Er kann sich nur auf
überpositive Rechtsnormen berufen.
*IX-2*
Keine Generation darf allen folgenden vorschreiben, wie sie zu leben haben -
abgesehen von der faktischen Unm�glichkeit, die durch die begrenzte Lebensdauer
so mancher Verfassung demonstriert wird.
*IX-3*
Marx spricht von einem "Verein freier Menschen, die ... ihre vielen
individuellen Arbeitskr�fte selbstbewusst als eine
gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben ..." Das impliziert das
Solidarit�tsprinzip: Jeder verf�gt auch über die Arbeitskraft jedes anderen so
als sei es seine eigene.
*IX-4*
"Demokratie" ist ein gradueller Begriff.
Eine Gesellschaft ist nicht entweder demokratisch legitimiert oder nicht. Eine
Demokratie kann mehr oder weniger in ihrer Substanz ausgeh�hlt sein. Das
"Entweder-Oder" ist viel zu grob. Man spricht auch von "mehr Demokratie wagen"
und vom "demokratisieren". Entsprechend dem Ausma� an Demokratie m�ssen die
Mittel bestimmt werden, die in der politischen Auseinandersetzung die geeigneten
sind.
*IX-5*
Ich habe bisher immer die Voraussetzung vollst�ndig
bekannter und bewerteter Alternativen bei der kollektiven Entscheidung gemacht.
Stattdessen muss man realistischer Weise davon ausgehen, dass sich M�glichkeiten
sich erst im Laufe der Entwicklung ergeben. Hieraus ergibt sich die
Notwendigkeit kontinuierlicher Steuerung. Einmalige Entscheidungen reichen nicht
aus. Dazu
bedarf es einer speziellen Institution für nicht vorhersehbare "laufende"
Entscheidungen, einer gesch�ftsf�hrenden "Regierung".
*IX-6*
Die
"gesch�ftsf�hrende" Institution ist eine soziale Organisation, die die
Interessen des gesamten Kollektivs vertreten soll. Damit ist dann wohl auch die Grenze
für die Anwendung mathematischer Modelle der Interessenaggregation erreicht. Die
gesch�ftsf�hrende Institution ist kein programmierbarer Computer sondern ein
reales Kollektiv, dessen Mitglieder spezifische eigene Interessen entwickeln.
*IX-7*
Die Existenz von Organisationen, die
als soziale Gebilde die Tendenz zur Selbsterhaltung haben und als Teilkollektive
zu handelnden Subjekten werden, ver�ndert die gesamte normative Problematik . (Im Extremfall der Ameisen sind die Einzelnen
keine Subjekte mehr sondern der Ameisenstaat als Ganzer ist handelndes Subjekt.
Der übergang zu Organismen, die sich aus funktionell festgelegten Zellverb�nden
zusammensetzen wie z. B. Schw�mmen ist flie�end.) Soziale Institutionen können
sich in problematischer Weise verselbstst�ndigen. Um dies zu verhindern, mussen
Gegenkr�fte in Form von Kontrollorganen geschaffen werden.
*IX-8*
Institutionen formen
unvermeidlich die Interessen der Individuen. Sie wirken "sozialisierend" auf die
Individuen. Diese sind kein "unbeschriebenes Blatt". Da menschliche Individuen
ohne überindividuelle Institutionen wie die Sprache gar nicht denkbar sind, kann
es keine Tabula rasa in Bezug auf die Interessen der Individuen geben. Ohne
Bezug auf gesellschaftliche Traditionen und Institutionen verliert der Einzelne
seine Identit�t. Er kann letztlich nicht einmal mehr von "sich" und "seinem"
Willen sprechen.
*IX-9*
M�glich ist � zumindest in Grenzen - die "Aufkl�rung"
der individuellen Interessen. Durch Analyse der eigenen Motive und deren
Entstehung können Einfl�sse, die das betreffende Individuum
geformt haben, nachtr�glich gepr�ft und rational zur�ckgewiesen werden. Die
Person wird dabei aufgefasst als eine komplexe Struktur, die sich selber
relativieren und kritisieren kann. Dahinter steckt das Konzept konkurrierender
Instanzen innerhalb der Person, also eine bestimmte Psychologie - und in der
normativen Anwendung auch eine bestimmte P�dagogik der Interessenaufkl�rung.
*IX-10*
Das Ziel meiner jetzigen überlegungen: aus der Kritik des Mehrheitsprinzips
und seinen typischen Schw�chen Entscheidungsverfahren begr�nden, die diese
Schw�chen kompensieren. Dies habe ich bereits in der Dissertation angefangen,
vor allem, was die Dezentralisierung von Entscheidungen betrifft (F�deralismus,
individuelle Entscheidungsbereiche etc). Problem des Mehrheitsprinzips waren die
riesigen Mengen an erforderlichen Informationen und die daraus resultierenden
hohen Entscheidungskosten.
*IX-11*
Was ich bisher relativ wenig beachtet habe,
ist das Problem der Durchsetzung und Kontrolle von Entscheidungen bzw. Normen. Die Durchsetzung
von Normen erfordert die Information der Adressaten über die Inhalte dieser Normen
und die Motivation der Adressaten zur Befolgung der Normen.
*IX-12*
Kollektive
Entscheidungen bzw. Beschl�sse können als Verhaltensnormen formuliert werden.
Sie können jedoch auch nur bestimmte Ziele festlegen, ohne zu sagen, wer durch
welche Handlungen diese Ziele realisieren soll. Aus einem Zielzustand ergeben
sich noch keine zwingenden Verhaltensvorschriften für irgendjemanden, weil der
Zielzustand auf verschiedene Weise realisiert werden kann. Insofern sind
Zielebestimmungen normativ unvollst�ndig.
*IX-13*
Angesichts von Normverletzungen stellt
sich die Frage nach einem "ausf�hrenden Organ", einer Exekutive für die
kollektiven Beschl�sse. Dies muss keine feste Organisation sein, es k�nnten auch
für jede Entscheidung ad hoc die Verantwortlichen für die Durchsetzung der
Normen bestimmt
werden. Dadurch werden die Entscheidungskosten jedoch erheblich vergr��ert, denn
zu jeder Entscheidung m�ssen Verantwortliche benannt werden. Von dort her ergibt
sich ein Argument für eine fest organisierte Exekutive, deren Aufgabe die
Ausf�hrung aller Beschl�sse ist und die nicht jedesmal neu gebildet werden muss.
*IX-14*
Eine Entscheidung ist unvollst�ndig, wenn sie nicht für bestimmte Personen
bestimmte Handlungsvorschriften enth�lt, sondern zum Beispiel nur anzustrebende
Zielzust�nde formuliert. Wenn es unm�glich oder zu kostspielig ist, das genaue
Wer-und-Wie der Durchsetzung festzulegen, kann man diese Aufgabe einer
organisierten Exekutive übertragen und sie mit den dafür erforderlichen Kompetenzen
ausstatten.
*IX-15*
Soziale Institutionen können sich in problematischer Weise
verselbst�ndigen. Um dies zu verhindern, muss es Gegenkr�fte geben, deren
Aufgabe die Kontrolle ist.
*IX-16*
Institutionen formen unvermeidlich die Interessen
der Individuen. Sie wirken "sozialisierend" auf die Individuen. Diese sind kein
"unbeschriebenes Blatt". Da menschliche Individuen ohne überindividuelle
Institutionen wie die Sprache gar nicht denkbar sind, kann es keine Tabula rasa
in Bezug auf die Interessen der Individuen geben. Ohne Bezug auf
gesellschaftliche Traditionen und Institutionen verliere ich meine Identit�t.
Ich kann letztlich nicht einmal mehr von "mir" und "meinem" Willen sprechen.
*IX-17*
M�glich ist � zumindest in Grenzen - die "Aufkl�rung" der Interessen. Durch
Bewusstmachung und Reflexion der eigenen Motive und ihrer Entstehung in der
Kindheit können Einfl�sse, die das betreffende Individuum geformt haben,
nachtr�glich gepr�ft und rational zur�ckgewiesen werden. (Die Person wird dabei aufgefasst als eine komplexe
Struktur, die sich selber relativieren und kritisieren kann. Dahinter steckt das
Konzept einer Pers�nlichkeit mit verschiedenen konkurrierenden Instanzen
innerhalb der Person, also eine bestimmte Psychologie und in der normativen
Anwendung auch eine bestimmte P�dagogik der Interessenaufkl�rung.
*IX-18*
Was ich bisher relativ wenig beachtet habe, ist
das Problem der Durchsetzung und Kontrolle von Entscheidungen. Hier die
verschiedenen Arten von Entscheidungen differenzieren.
*IX-19*
Einmal gibt es
Entscheidungen, die generelle Verhaltensnormen betreffen (bestimmte Individuen
sollen so-und-so handeln). Die Durchsetzung erfordert hier unter anderem die
Information der Adressaten über die Normen und ihre Motivierung zur Befolgung
der Normen.
Es gibt es aber auch Entscheidungen bzw. Beschl�sse, die nicht als Verhaltensnormen formuliert
werden, sondern die insofern unvollst�ndig sind, als sie Zielzust�nde
beschreiben,
ohne dass dabei festgelegt wird, wer durch welche Handlungen dies Ziel
realisieren soll. Aus dem Zielzustand ergeben sich
noch keine zwingenden Verhaltensvorschriften für irgendjemanden, weil der
Beschluss auf verschiedene Weise realisiert werden kann.
Hier stellt
sich die Frage nach einem "ausf�hrenden Organ", einer Exekutive für die
kollektiven Beschl�sse, die mit den n�tigen Kompetenzen zur Normsetzung
ausgestattet ist. Dies muss kein festes Ausf�hrungsorgan sein, es k�nnten
auch für jede Entscheidung ad hoc die Verantwortlichen für die Durchf�hrung
bestimmt werden. Dadurch werden die Entscheidungskosten jedoch
erheblich vergr��ert, denn zu jeder Entscheidung m�ssen Verantwortlichen benannt
werden. Von dort her ergibt sich ein Argument für eine organisierte Exekutive,
die für die Durchf�hrung verantwortlich ist und nicht immer wieder neu gebildet
werden muss.
Hier tauchen sofort neue
Probleme auf, zum Beispiel das Problem der Kompetenzüberschreitung und das
Problem der Unf�higkeit der mit der Durchf�hrung beauftragten Personen. Es
können sich dadurch Probleme ergeben, dass einem Individuum zwei unvereinbare
Verhaltensvorschriften erteilt werden: Der eine Befugte gibt ihm den Auftrag,
beim Stra�enbau mitzuwirken, der andere gibt ihm den Auftrag, beim Schulbau zu
helfen.
Hinzu kommt das Problem der Ungewissheit der Individuen darüber,
ob ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt hinsichtlich der Durchf�hrung von
Entscheidungen ver�nderte Auftr�ge erteilt werden oder nicht. Von dort her gibt
es Gr�nde, den jeweiligen Kreis der Adressaten eines Kompetenztr�gers
einzugrenzen und so festzulegen, dass sie im Rahmen ihrer Kompetenz nur diesen
Anordnungen erteilen d�rfen. Im Extremfall gibt es feste Organisationen, deren
Mitglieder ausschlie�lich für die Durchf�hrung bestimmter Arten von
Entscheidungen zur Verf�gung stehen, so dass nicht für jede Entscheidung die
personellen Ressourcen neu bestimmt werden m�ssen.
*IX-20*
Kants Kriterium
der Verallgemeinerbarkeit (Kategorischer Imperativ, moralisches Gesetz zugleich
Naturgesetz �) setzt eine Symmetrie der individuellen Positionen und Interessen
voraus. Wenn jeder die gleiche Interessenstruktur hat und wenn jede Person
gleich h�ufig in die gleiche Lage kommt, dann reicht bereits das Eigeninteresse
zur Entscheidung über die G�ltigkeit einer Norm.
*IX-21*
Worum streitet man sich bei
normativen Fragen?
Hier m�ssen zwei Frageebenen unterschieden werden:
1.
Wie sollen die Individuen handeln?
2. Welche Normen sollen existieren?
Beide Ebenen sind miteinander auf verschiedene Weise verkn�pft. Diese
Verkn�pfungen sauber zu analysieren, ist wichtig. Inwiefern setzt die
Beantwortung der einen Frage die Beantwortung der anderen Frage voraus?
*IX-22*
Beim Streit darüber, wie jemand handeln soll, spielt die Frage der Befolgung von
Normen insofern eine Rolle, als ein Sollen sinnlos wird, das jenseits des
könnens liegt. Aber wie sieht es zum Beispiel bei einem Alkoholiker aus, der zu
s�chtig ist, um ein für ihn erlassenes Alkoholverbot einhalten zu können? Wird
das Verbot dadurch hinf�llig, dass er es nicht einhalten kann? Offenbar nicht,
denn man ist weiterhin der Meinung, dass er keinen Alkohol h�tte trinken sollen.
Wir suchen nach geeigneten Mitteln zur Durchsetzung der Norm (zum Beispiel
Entziehungskur, Bestrafung, Psychotherapie). Die Anwendung solcher Mittel ist
allerdings selber nicht folgenlos. Diese Folgen m�ssen in die Entscheidung
einbezogen werden. Dabei kann die Anwendung bestimmter Mittel zur Durchsetzung
einer Norm so negative Folgen haben, dass auf die Durchsetzung dieser Norm ganz
verzichtet werden sollte.
*IX-23*
Kann man die Frage: "Wie soll Individuum A
handeln?" unabh�ngig davon beantworten, wie die anderen Individuen handeln? Wohl
kaum. Insofern ist es sinnvoll, das Verhalten aller Individuen auf einmal zu
regeln.
I*IX-24*
st es sinnvoll, auf einer ersten Stufe der Analyse das Problem
der Nichtbefolgung von Normen auszuklammern und von der Annahme auszugehen, dass
alle die gesetzten Normen befolgen? Sp�ter kann diese Annahme fallen gelassen
werden. Aus den Normverletzungen ergeben sich eventuell R�ckwirkungen auf die
Formulierung der Normen.
*IX-25*
Wenn man von der Motivation der Individuen
abstrahiert, gelten die überlegungen dann auch für Engel und Teufel? Oder nur
für Engel?
*IX-26*
Bei individualistischen Entscheidungssystemen, wo die
Individuen ihre Interessen autonom formulieren, spielt die Beschaffenheit der
Individuen und ihrer Motivation insofern eine Rolle, als sie die F�higkeit
besitzen sollten, ihre "wahren" Interessen zu erkennen.
*IX-27*
Zur Frage: "Welche
Normen sollen allgemein gelten?"
Hier muss - wie bei anderen Handlungen auch
- nach den Auswirkungen der verschiedenen Handlungsalternativen gefragt werden
und diese m�ssen unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses bewertet werden.
Zur Entscheidung stehen gewähnlich nicht nur reine Normensysteme
unter der Pr�misse ihrer Befolgung, sondern komplexe institutionelle Systeme,
die zugleich Kontrolle und Durchsetzung der Normen umfassen.
*IX-28*
Bei der
Einf�hrung von normsetzenden Institutionen stellt sich das Problem der
Durchsetzung nicht nur auf der Ebene der sp�teren Adressaten dieser Normen,
sondern auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Es bedarf der Durchsetzung
gegenüber all jenen, die sich der getroffenen Entscheidung nicht beugen. Zum
Beispiel: Es wird die Einf�hrung eines sozialistischen �konomischen Systems
beschlossen. Dann stellt sich das Problem der Durchsetzung auf der Ebene der
gesamtgesellschaftlichen politischen Ebene.
*IX-29*
Die Mittel, die bei der
Durchsetzung der Normen angewendet werden m�ssen, sind ebenfalls nicht folgenlos
oder neutral. Es kann passieren, dass man die Durchsetzung einer besseren
Ordnung aufgibt, weil deren Einf�hrung zu blutig und zu kostspielig verlaufen
w�rde.
*IX-30*
Es ist auch hier sinnvoll, zu Anfang von den Durchsetzungs- bzw.
Umstellungskosten zu abstrahieren und zuerst einmal verschiedene Normensysteme
unter der Annahme zu diskutieren, dass sie bereits existieren: "Angenommen wir
k�nnten frei w�hlen, welches Normensystem w�rden wir w�hlen?" Es sind die
normativen Alternativen, die das Gemeinwesen hat, und die diskutiert werden
unter der Annahme, dass das Gemeinwesen das Gesamtinteresse zu realisieren hat.
Es sind nicht die taktischen und strategischen Alternativen einzelner Akteure,
die sich hinsichtlich der Wege zur Realisierung bestimmter Normen entscheiden
m�ssen. Man fragt: "Was ist im Gesamtinteresse?" und nicht: "Was soll X zur
Realisierung des Gesamtinteresses tun?"
*IX-31*
Inwiefern kann die Beantwortung der
Frage: "Welche Normen sollen institutionalisiert werden?" von der Beantwortung
der Frage: "Nach welchen Normen sollen die Individuen handeln?" abweichen?
*IX-32*
Die Frage: "Nach welche Normen soll ein bestimmtes Individuum handeln?" kann
nicht richtig beantwortet werden, wenn man nicht wei�, wie die anderen
Individuen in diesem Zusammenhang handeln werden. Es ist sinnlos, v�llig
unabh�ngig davon ein Handeln zu bestimmen und vorzuschreiben.
*IX-33*
Angenommen, es gilt die Norm: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" (Bildung von
Warteschlangen). Wenn sich andere nicht daran halten und dafür nicht
sanktioniert werden, so ist ein Anstellen sinnlos. Dann darf jeder dr�ngeln.
*IX-34*
Es ist schwierig, einzelne Normen
herauszugreifen, um sie isoliert zu überpr�fen. Normen machen Sinn meist nur im
Zusammenhang mit anderen Normen. Ohne die Abseitsregel ist das Fu�ballspiel
total ver�ndert, obwohl alle anderen Regeln die gleichen geblieben sind. Man
kann einzelne Normen praktisch nur so diskutieren, dass man den Kontext angibt,
innerhalb dessen variiert werden soll. Wegen der kausalen und wertm��igen
Interdependenzen muss man angeben, von welchen Normen man als bereits geltend
(und durchgesetzt) ausgeht.
Zum Beispiel kann man das Erbrecht nicht
sinnvoll umgestalten, ohne gleichzeitig das Recht der Schenkungen zu
diskutieren.
Man kann das Scheidungsrecht nicht diskutieren, ohne zugleich
zu wissen, wie der gegenseitige Unterhalt geregelt ist.
*IX-35*
Es muss bei einer
Diskussion über Normen klar sein, welche Bedingungen als feststehend und welche
als ver�nderlich betrachtet werden. Sonst ergeben sich Meinungsdifferenzen, die
keine sind.
*IX-36*
In diesen Zusammenhang
geh�rt auch das Problem der "Gesetzesl�cken". Diese machen Normen wirkungslos,
weil sie umgangen werden können.
Die Absicht eines Scheidungsgesetzes nach
dem Zerr�ttungsprinzip mag sein, zu verhindern, dass Menschen zeitlebens
aneinander geklettert bleiben, die sich gegenseitig ungl�cklich machen. Also
erm�glicht man die Scheidung auch gegen den Willen eines Partners. Wenn das
Gesetz jedoch auch die Klausel enth�lt, dass die Scheidung "keine unzumutbare
H�rte" (für einen der Partner) sein darf, so kann bei extensiver Auslegung
dieser Klausel die Absicht des Gesetzes zunichte gemacht werden. Es bleiben
genauso viele Menschen ungl�cklich aneinander geklettert wie zuvor.
*IX-37*
Normen können h�ufig nur als B�ndel den gew�nschten Zweck erreichen, weil die
Wirksamkeit der einen Norm von der Wirksamkeit der anderen Norm abh�ngt
(eventuell das Buch von Noll zur Gesetzgebungslehre einbeziehen).
Die Antwort
auf die Frage: "Wie soll sich ein Individuum in einer bestimmten Situation
verhalten?" h�ngt davon ab, wie sich die andern verhalten. Diese Relativit�t
kann dadurch aufgehoben werden, dass man danach fragt, wie sich alle Beteiligten
in dieser Situation verhalten sollen.
*IX-38*
Man kann dann
Durchsetzungsinstanzen schaffen: Kontroll- und Sanktionsinstanzen. Der Aufwand
und die negativen Nebenfolgen m�ssen dabei mit einkalkuliert werden. Der Aufwand
h�ngt von verschiedenen Faktoren ab: von der St�rke der Motivation zur
übertretung der Norm, von der Schwierigkeit der überwachung und Feststellung von
Normverst��en, vom Aufwand der Sanktionierung etc. Wenn die überwachung zu
schwierig ist, wird man auf �u�ere Kontrolle verzichten und einen Versuch
mit Selbstkontrolle machen. Wenn die Internalisierung jedoch nicht
wirksam ist und die Norm nicht befolgt wird, muss die Norm als undurchf�hrbar
ganz fallen gelassen werden und eine andere Konstruktion gew�hlt werden.
*IX-39*
Die Probleme der Durchsetzungskosten lassen sich
kaum abstrakt diskutieren, da sie von den empirischen Bedingungen des
Einzelfalls abh�ngen. Man k�nnte jedoch ein Raster der zu ber�cksichtigenden
Aspekte aufstellen. Wo Kontrollen undurchf�hrbar und zu kostspielig werden, kann
man Konstruktionen suchen, in denen die Individuen ihren vorhandenen Motiven
folgen können � allerdings unter Rahmenbedingungen, die eine Tendenz zur
Realisierung des Gemeinwohls haben ("invisible hand"- Konstruktionen, freie
Konkurrenz, Freiheit der Koalitionsbildung etc).
Die ganze Problematik h�ngt
zusammen mit dem Problem des Handelns als Wahl zwischen Alternativen. Was ist
eine Alternative? Was ist eine alternative Norm? Ein bestimmter Zustand der
Wirklichkeit, gewisserma�en als Momentaufnahme? Kann man einen Zustand bewerten,
ohne seine Folgen in der Zukunft zu ber�cksichtigen? Muss man dabei nicht
notwendig Vereinfachungen vornehmen, die Einbeziehung der Zukunft als im Dunkel
des Ungewissen verschwindend abbrechen? (Planungshorizont)
*IX-40*
Alternativen sind
genau genommen nur als Gesamtzust�nde der Wirklichkeit beschreibbar. Wenn ich
partielle �nderungen miteinander vergleiche, dann immer nur mit einer impliziten
Ceteris-paribus-Klausel, denn der Wert partieller �nderungen variiert mit der
Beschaffenheit der Umgebung. Nur zur Vereinfachung beschreibt man die
Alternativen als das jeweils Variierende.
Das Problem der Organisation ist
nur verst�ndlich auf dem Hintergrund der Arbeitsteilung, wahrscheinlich eine der
wichtigsten Eigenschaften moderner Gesellschaften. Arbeitsteilung ist die
Bedingung für die heutigen hochkomplexen Organisationen.
*IX-41*
Welche Frage ist
methodologisch grundlegender: "Wie soll gehandelt werden?" oder: "Welche Ziele
sollen realisiert werden?"
Wie rechtfertigt man Normen? Durch die Zust�nde,
die durch ihre Befolgung hergestellt werden sollen? Dann wären die Zielzust�nde
grundlegender. Zielzust�nde sind Willensinhalte. Normen wären dann als Mittel
zur Herstellung dieser Zust�nde ableitbar. Aber das Zweck-Mittel-Schema hat
seine T�cken. Jedes Mittel kann selber zum Zweck werden. Die Zwecke sind selber
vielleicht Mittel zu h�heren Zwecken.
Muss man sich hier entscheiden? Um der
methodologischen Klarheit willen wäre das sicherlich sinnvoll. Vielleicht kann
man das Problem beim individuellen Willen klären. Was ist der Inhalt des
Willens? Wie verh�lt sich das Wollen bestimmter Zust�nde zum Wollen bestimmter
Verhaltensweisen? Man will die Verhaltensweisen gewähnlich wegen ihrer
Resultate, insofern k�nnte man das Wollen von Verhaltensweisen als das
Abgeleitete ansehen
*IX-42*
Ich muss mich mit den Formulierungen zum Willen befassen,
den unterschiedlichen Ausdrucksweisen und Ebenen:
1. als Wahl zwischen
empirisch definierten Alternativen: "Ich will ein Kotelett";
2. als
Bestimmung eines empirischen Wahlkriteriums für Alternativen: "Ich will
m�glichst viel Fleisch".
3. als Benennung der zu befriedigenden
Bed�rfnisarten: "Ich will satt werden".
*IX-43*
Es gibt unterschiedliche Grade der Bestimmtheit des Willens; die
Folgerungen hinsichtlich dessen, was zur Erf�llung des Willens notwendig ist,
sind unterschiedlich zwingend bzw. pr�zise je nach der Formulierung des Willens. Am
genauesten ist wohl der
Willensausdruck, der die herzustellenden Alternative, den gewollten Zustand
empirisch beschreibt.
Willens�u�erungen über gewollte Zust�nde gewinnen ihren
Sinn dadurch, dass sie an jemanden adressiert sind, der sie versteht und der sie
� direkt oder indirekt über Dritte � erf�llen kann. Es ergeben sich daraus
Handlungsnormen: die zur Herstellung des gewollten Zustandes erforderlichen
Handlungen. Insofern mehrere Handlungsvarianten oder die Handlungen mehrerer
Individuen zur Herstellung des gewollten Zustandes geeignet sind, sind die sich
ergebenden Handlungsnormen nicht eindeutig.
*IX-44*
Um meinem Willen
Nachdruck zu verleihen, muss ich Druck auf jene aus�ben, die zur Realisierung
meines Willens erforderlich sind. Ich muss mich an sie wenden und bestimmte
Individuen verantwortlich machen: "Du sollst Zustand x herstellen!" Sonst
f�hlt sich niemand angesprochen.
Ein Wille lässt sich auch negativ formulieren:
"Ich will nicht, das bestimmter Ereignisse stattfinden (zum Beispiel Kriege)".
"Ich will nicht, dass in dieser konkreten Situation Krieg gef�hrt wird."
Das
erste ist eine generalisierte Willensformulierung, die nicht auf eine konkrete
Entscheidungssituation bezogen ist, sondern auf alle m�glichen
Entscheidungssituationen. Solche Generalisierungen sind allerdings
problematisch, weil sich mehrere Generalisierungen als empirisch unvereinbar miteinander
erweisen können. Zum Beispiel:
"Ich will keine freiwillige Unterwerfung des
einen Volkes unter ein anderes."
In einer konkreten Situation kann die
Alternative "freiwillige Unterwerfung oder Krieg" existieren, so dass die beiden
Willens�u�erungen logisch nicht miteinander vereinbar sind.
*IX-45*
Die Sprache
des Willens n�her untersuchen. Hier kann man Kl�rungen herbeif�hren, die auch für die
Sprache der Normen (der kollektiven Willensinhalte) brauchbar sind.
*IX-46*
Koalitionstheorie
Mit wachsender Zahl von Individuen wird die
Koalitionsbildung für den Einzelnen immer schwieriger und kostspieliger. Wenn es
sich dann noch um h�ufig wechselnde Koalitionspartner handelt, so funktioniert
die Koalitionsbildung der Einzelnen nicht mehr. Ein derartiger multilateraler
Koalitionsvertrag ist dafür zu kompliziert.
Hier setzen die Berufspolitiker
an. Sie formulieren Alternativen, die m�glichst mehrheitsf�hig
sind. Die Komplexit�t wird gemildert, wenn relativ viele Individuen
mit identischer oder ähnlicher Interessenlage existieren, so dass bereits
strukturierte Gruppen bestehen. Diese Gruppen können per Repr�sentanten
miteinander verhandeln.
*IX-47*
Bei identischer Interessenlage in Bezug auf einen bestimmten Punkt können
sich "Vereine" bilden. Solche Vereine können jedoch nicht allgemein politisch
handeln und über "Stimmpakete" verhandeln, denn insofern als bei Wahlen Entscheidungen
auf vielen anderen Gebieten getroffen werden, auf denen die Vereinsmitglieder
unterschiedliche Interessen haben, kann die Einheitlichkeit auf dem einen
Teilgebiet meist nicht durchschlagen.
(Ein terminologischer Vorschlag: Als
"Parteien" sollte man nur
solche Vereinigungen bezeichneten, die Stimmpakete verhandeln.)
*IX-48*
Umfassende Interessengruppen (zum Beispiel Bev�lkerungsbl�cke, die
ethnisch-sprachlich-religi�s-�konomisch homogen sind) können "ewige" Mehrheiten
bilden. Hier wird die Differenz
zwischen Mehrheitsalternative und Gemeinwohlalternative wahrscheinlich besonders
krass ausfallen, vor allem da die Abweichung vom Gemeinwohl st�ndig zu Gunsten desselben
Blocks stattfindet. Dies ist der N�hrboden für Sezession und B�rgerkrieg (siehe
USA, Zypern, Nordirland, Libanon).
Solche starren "Bl�cke" befürchteten
wahrscheinlich auch die liberalen Theoretiker des 19. Jahrhunderts (z. B. Mill).
In einer Klassengesellschaft kann
es nur Blockparteien geben, aber keine Volksparteien. Gemildert ist das Problem,
wenn es sehr viele kleine Bl�cke gibt mit wechselnden Koalitionen zwischen ihnen
und entsprechend wechselnden Mehrheiten. (Schweiz?)
(Diese Fragen weiterverfolgen, nochmal
Dahl ansehen. Vielleicht sollte ich doch empirische
Versuche machen zum Solidarit�tsprinzip und zum Mehrheitsprinzip. In kleinen
Gruppen die Modelle einmal durchspielen.)
Die amerikanischen Plattform-Parteien mit ihrer Parteimaschine von Berufspolitikern und Berufsfunktion�ren
entsprechen am ehesten den Politikanbietern, die mehrheitsf�hige
Entscheidungb�ndel in Form von Personen oder Parteien schn�ren wollen. Der Gegensatz
dazu sind die in Europa zum Teil noch vorherrschenden Blockparteien (Arbeiter�, Bauern �, Selbstst�ndige�Parteien), die
als Mitglieder-Parteien noch einen Vereinscharakter haben. In einer Gesellschaft
mit
Blockparteien entscheiden gewähnlich erst die Koalitionsverhandlungen über die
Mehrheitsalternative und nicht die Wahlen.
*IX-49*
Zum
�quivalenz-Theorem:
Ich habe es für individuell gleichgewichtige
Wahlverfahren definiert. Aber sind nicht auch anonyme und neutrale Wahlverfahren
gemeint? Wie h�ngen diese Eigenschaften zusammen?
(Ende Heft IX)
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09/2013 / Eberhard Wesche
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