Ethik-Werkstatt- Volltexte im HTML-Format - kostenlos

-->Übersicht       -->Alphabetische Liste aller Texte       -->Info zu dieser Website       -->Lexikon       -->Startseite ______________________________________________________________________________________________

*** Empfehlung: Nutzen Sie die Suchfunktion Ihres Internet-Browsers! ***

Aus meinen Notizbüchern: Heft IV

Heft IV 

Vorbemerkung: Die folgenden Texte, meine Notizbücher, habe ich nicht für die Veröffentlichung sondern für mich selber geschrieben, um meine eigenen Gedanken festzuhalten und zu klären. Sie haben deshalb einen vorläufigen Charakter, insbesondere was die benutzte Terminologie betrifft. Trotz z. T. grundlegender Überarbeitung sind diese Notizen auch in der Formulierung holpriger als andere Texte der Ethik-Werkstatt. Es sind m. E. darin jedoch Gedanken enthalten, die für die Entwicklung einer normativen Theorie der kollektiven Entscheidung und für die Ethik allgemein von Interesse sein können. Wo ich heute anderer Ansicht bin als damals, habe ich dies manchmal in eckigen Klammern hinzugefügt und begründet.

 

*IV-1*
Gerechtigkeit und Effizienz bei Warteschlangen. Individuum A fragt Individuum B, das sich in der Schlange angestellt hat: "Lässt du mich vor?" Muss nur B nach seiner Einwilligung gefragt werden oder auch diejenigen, die hinter B stehen? Diese Individuen müssen länger warten, wenn ein zusätzliches Individuum vor ihnen abgefertigt wird. Die hinter B stehenden Individuen können deshalb darauf bestehen, dass sie ebenfalls gefragt werden und 'nein' sagen können.
Allerdings kann dies dadurch umgangen werden, dass sich A nicht selber in die Schlange stellt, sondern B bittet, seine Dinge mitzuerledigen, z. B. indem dieser die von B gekauften Waren als seine eigenen deklariert. Dagegen können die Anderen nicht einschreiten. Dieses Ausweichmanöver funktioniert allerdings dann nicht, wenn die Sachen so beschaffen sind, dass sie von B nicht stellvertretend für A erledigt werden können, z. B. beim Anstehen an der Bus-Haltestelle.


*IV–2*
Zu werthaltigen Begriffen (wie "Verbrecher" "Krankheit", "revolutionär" etc.) Solche Begriffe enthalten das werthaltige Element nicht inhaltlich sondern allein psychologisch-assoziativ. Das hat zur Folge, dass aus ihnen keine normative Entscheidung logisch gefolgert werden kann.
Durch die rhetorische Verwendung dieser Begriffe werden u. U. Entscheidungen beeinflusst. Aber die Art dieser Beeinflussung hängt ganz vom Wertesystem des jeweiligen Individuums ab. So kann "revolutionär" für den einen bedeuten: "kriminell" (etwas Negatives) und für den andern "nicht korrumpiert" (etwas Positives). Die Argumentation mit Hilfe derartiger Begriffe ist deshalb auch nicht  logisch aufgebaut, sondern meistens eine pejorative oder euphemistische Beschreibung ("persuasive definition")


*IV-3*
Wo es auf die Ermittlung der Wahrheit ankommt, vor Gericht, da zählen letztlich nicht die Beweise als solche sondern die Überzeugung der Geschworenen. Bezugspunkt ist der Konsens.


*IV-4*
Gegen den Idealismus-Vorwurf. Der Vertreter der politischen Praxis kritisiert mich: "Du argumentierst ja nur, so als ob es auf die besseren Argumente ankäme!" Meine Entgegnung: "Du argumentierst ja jetzt selber! Wenn es nicht auf die besseren Argumente ankommt, dann solltest Du schweigen oder einen Witz erzählen."
Auf solche sich selbst aufhebende Argumente (performative Widersprüche) stößt man immer wieder. Für diese Fehlertypen sollte man einprägsame Bezeichnungen finden, die eine Popularisierung und Verbreitung der Kritik erleichtern. Dann braucht man nur noch die Bezeichnung zu nennen und jeder weiß, wo der Fehler liegt.

*IV-5*
Zum Problem zweier voneinander unabhängiger Kriterien im Utilitarismus (z. B. Nutzenmaximum und Gerechtigkeit/Gleichheit): Jedes Individuum hat ein analoges Problem zu bewältigen bei seinen individuellen Entscheidungen (s. Leibensstein). Es muss z. B. die Verteilung der Güter über die Zeit festlegen und dazu einen intertemporalen Nutzenvergleich durchführen. Warum sollte nicht auch das Kollektiv bei seinen Entscheidungen solche Vergleiche schaffen?

*IV-6*
Kann ich vor mir selber Recht haben, ohne einen anderen Menschen als Adressaten meiner Behauptung vorauszusetzen? Ich denke "ja". Wenn ich selbstkritisch bin und den begründeten Zweifel an meiner Behauptung nicht unterdrücke, dann kann ich berechtigterweise sagen, dass ich mit einer Behauptung Recht habe. Dagegen: "Dein innerer Monolog über deine Zweifel ist eigentlich ein verinnerlichter Dialog. Die Vernunft bildet sich aus in der Kommunikation mit anderen."
Wie könnte man diese Behauptung prüfen?

*IV-7*
Der "latente Ausnahmezustand (Kriegszustand)", wenn die intersubjektive Verständigung über die soziale Ordnung gescheitert ist.

*IV-8*
Ist das Folgende ein schlechter Zirkel?
Der herrschaftsfreie Dialog soll Entscheidungskriterium des richtigen Handelns sein. Sofern er nicht vorhanden ist, muss er hergestellt werden. Aber um zu bestimmen, wie der herrschaftsfreie Dialog hergestellt werden kann, bedarf es bereits eines normativen Kriteriums (so etwa Fachs Kritik an Habermas).

*IV-9*
"Ich erkenne den Beschluss an, obwohl ich ihn für falsch halte." Gibt es zwei Ebenen der Anerkennung? Friedenssicherung und Wahrheit?
Kann man das Paradox dadurch lösen, dass man die institutionelle Ebene ("Die Mehrheit soll entscheiden") nur als "im Durchschnitt" richtig entscheidend ansieht, so dass eine falsche Entscheidung  keinen logischen Widerspruch dazu darstellt?

*IV-10*
Wo liegt der Unterschied zwischen richtigen Handlungen, die geboten sind, und solchen Handlungen, die man nicht verlangt, deren Ausführung jedoch mit großem moralischem Lob bedacht wird? Dieser Fall tritt vor allem bei Taten der freiwilligen Selbstaufopferung für andere auf, z. B. Albert Schweitzer. Der Unterschied zwischen einem Heiligen (dem Helden) und dem normalen Individuum.
Bei besonders hochgelobten Taten wäre eine verallgemeinerte Praxis ("Wenn jeder so handeln würde ...") womöglich eher katastrophal. So wäre bald wohl niemand mehr da, für den man sich aufopfern könnte.

*IV-11*
Erziehung der Menschen und Gestaltung der Gesellschaft mit dem Ziel, Interessenkonflikte zu verringern (durch Erziehung zur Rücksichtnahme auf die Präferenzen anderer, Abbau von konfliktträchtigen sozialen Konstellationen etc.) . Sofern das ohne Repression möglich ist, ist das immer ein Gewinn. Man verändert damit gewissermaßen die Daten in Form der tatsächlichen Präferenzen. Ohne den Entscheidungsmechanismus ändern zu müssen, kann das Ergebnis dadurch besser werden. s. RUSSELL

*IV12*

Doppelte Bedeutung des Freiheitsbegriffs: Einmal die Freiheit der Willensbildung (Willensfreiheit) zum anderen der Freiheitsraum gegenüber den sozialen Normen (Handlungsfreiheit).

*IV - 13*

Freiheit, Gleichheit, Sicherheit sind keine Entscheidungsregeln sondern es sind Werte, normative Postulate, deren Vereinbarkeit mit den verschiedenen Entscheidungsregeln zu überprüfen ist.

*IV - 14*

Zur Entscheidungstheorie gehört auch die Frage, auf welche Fälle die jeweilige Regel anzuwenden ist. Für verschiedene Klassen von Fällen kann es verschiedene Entscheidungsregeln geben (Abstimmung, Vertrag …).

*IV - 15*

Verträge: Jede Vertragspartei muss auch ihre zukünftigen Präferenzen einschätzen können.
 
Wenn die Vorteile für die Parteien nicht gleichzeitig anfallen, darf nicht eine Partei die Vorteile des Vertrages genießen und dann aussteigen. Deshalb werden unkündbare Verträge geschlossen, die eine längere Laufzeit haben.

*IV - 16*

Tausch: ein Vertrag, der mit dem Vollzug (Besitzwechsel) abgeschlossen ist, aus dem sich keine weiteren Verbindlichkeiten ergeben. Anders dagegen z. B. ein Ehevertrag.

*IV - 17*

Sicherheit ist doppeldeutig:
Einmal die Sicherheit, dass es so bleibt, wie es ist (z. B. Sicherheit des Eigentums).
Zum andern die Sicherheit, dass es zu keinen unerwarteten Entwicklungen kommt (Risiko, Ungewissheit etc.).
Risiken senken das Nutzenniveau, auch wenn die befürchteten Übel gar nicht eintreten.

*IV - 18*

Es gibt fast immer irgendwelche Argumente für oder gegen eine Entscheidung ("Es ist nicht immer alles Gute beisammen"). Wichtig ist, ob diese Argumente schlagend sind oder nicht.

*IV - 19*

Das Mehrheitsprinzip schafft nicht automatisch die Motivation zur Realisierung der Mehrheitsbeschlüsse. Beim Tausch ist dagegen ein Anreiz zur Realisierung gegeben (gegenseitiger Vorteil).

*IV - 20*

Die kapitalistische Marktwirtschaft ist nicht nur nach dem Tauschprinzip von Eigentümern organisiert. Der Produktionsprozess ist hierarchisch organisiert in Großorganisationen (Unternehmen) mit beliebig vielen Lohnempängern. (Die Arbeitskraft ist ein spezielles Gut: es muss in seiner Nutzung organisisert (kontrolliert und angeleitet) werden).

*IV - 21*

Heiligt der Zweck die Mittel? Nicht prinzipiell, denn das Mittel – selbst wenn es für die Erreichung des gewünschten Zweckes geeignet ist – kann andere Zwecke beeinträchtigen. Es bleibt deshalb die Notwendigkeit der Abwägung.

*IV - 22*

Das Verhältnis von einmaliger Entscheidung und genereller Norm untersuchen. Lässt sich die Anerkennbarkeit einer generellen Norm auf die Anerkennbarkeit der impliziten Einzelentscheidungen zurückführen? (Gewissermaßen induktiv: der Schluss vom Besonderen zum Allgemeinen.) Bei institutionsbezogenen Normen wie "Diebstahl ist verboten" (Störung des Eigentums) trifft dies wohl nicht zu.

*IV - 23*

Entscheidungen, die keine Ziel-Mittel-Annahmen implizieren, wie Reflexe oder impulsartiges Reagieren (automatisch – unwillkürlich) fallen aus der moralischen Diskussion heraus, weil sie keine Entscheidungsmöglichkeit für das Individuum bieten. (Aber kann man solche reflexartigen Verhaltensweisen wollen?)

*IV -24*

Schlichtungsinstanzen (ohne Sanktionsgewalt) können nur dann einen Konflikt lösen, wenn jede Partei sich vorweg verpflichtet, den Schiedsspruch anzunehmen. Sonst ist zu erwarten, dass die Partei, die meint, sie sei schlechter weggekommen, den Schiedsspruch nicht anerkennt. Ein Schiedsspruch, der von der nachträglichen Anerkennung der Parteien abhängig gemacht wird, kann allerdings gegen eine schlechte Formulierung der Alternativen oder das Übersehen von Alternativen helfen.

*IV - 25*

Auch in der empirischen Methodologie gibt es das Problem, zwischen mehr oder weniger wahren Theorien zu entscheiden (Je nach der Zahl der mit der Theorie nicht zu vereinbarenden Fälle. Dass eine Theorie mit allen Fällen im Einklang steht, muss nicht immer gegeben sein.)

*IV - 26*

Gibt es eine völkerrechtliche Ächtung des "ungleichen Vertrages"?

*IV - 27*

Es geschieht nicht selten, dass eine Person, nennen wir sie C, einen Vertrag zwischen A und B verhindern will, weil der ihre Interessen schädigt. Von Verträgen sind also indirekt auch Dritte betroffen, die nicht Vertragspartei sind.

*IV - 28*

Zum Problem der Anerkennbarkeit. Hängt die Anerkennung einer Norm durch ein Individuum nicht unausweichlich von dessen moralischen Einstellungen ab, die ja gerade zu überprüfen wären? Gibt es hier einen Zirkel? Oder ist zu fordern, dass die Anerkennung nur durch moralfreie Interessen bestimmt wird? Gibt es sowas?

*IV - 29*

Tausch setzt kein Eigentum an den Tauschobjekten voraus sondern nur die faktische Verfügungsgewalt über sie. Etwa der Austausch zwischen einem Kidnapper und dem Erpressten: Geisel gegen Geld. Die Geisel ist kein Eigentum sondern befindet sich nur in der faktischer Verfügung des Geiselnehmers. Ebenso nach dem Austausch das erpresste Geld. Deshalb gibt es kein Vertrauen zwischen den Beteiligten. Stattdessen die Forderung nach Fluchtautos etc. Es werden komplizierte Übergabeprozeduren ausgedacht, damit man nicht "über's Ohr gehauen" wird.

*IV - 30*

Der Ritus der "Besiegelung" des Tausches (Handschlag, Unterschrift, wechselseitige Übergabe etc.) dient der intersubjektiv übereinstimmenden Feststellung der tatsächlichen Einwilligung der Parteien.

*IV - 31*

Zwei Wahlgänge (wie bei der französischen Präsidentenwahl) haben den Vorteil, dass die Wähler im ersten Wahlgang ihre Präferenz ausgedrücken können. Im zweiten Wahlgang wird dann von den verbliebenen zwei Kandidaten der relativ "beste" gewählt.

*IV - 32*

"Gewaltverhältnis" als Bezeichnung für nicht intersubjektiv anerkennbare Verhältnisse ist vielleicht zu negativ. Wie wäre es mit "Verhältnis stellvertretender Fürsorge" oder "Verhältnis stellvertretender Herrschaft"  (gegenüber unmündigen Kindern, Tieren, Geisteskranken, Debilen u. a. m.)?

*IV - 33*

Der Appell an imaginäre Argumentationspartner: "Vor der Nachwelt (vor der Geschichte, vor Gott, vor meinem Gewissen etc.) habe ich recht, selbst wenn mir heute keiner zustimmt."

*IV - 34*

Recht haben vor sich selber" (ohne dass irgendwann jemand dies erkennt) mag seinen Sinn haben (z. B. als persönliche Identität oder Integrität), aber darüber sollte man nur zu sich selber sprechen und gegenüber anderen schweigen.

*IV - 35*

Es entsteht oft der Anschein, als falle das egoistisches und moralisches Verhalten zusammen. Es wird für die Einhaltung moralischer Normen an das langfristige Eigeninteresse appelliert: "Sei vernünftig, Du schadest Dir damit nur selbst" oder "Das kann schief gehen, und dann sitzt du im Gefängnis" oder so ähnlich.

Der Anschein des Zusammenfallens entsteht, weil effektive Normensysteme so konstruiert sein müssen, dass die Individuen das Motiv ausbilden, sie zu realisieren. Das erfolgt vor allem durch Sanktionssysteme, die egoistisches Streben und normgemäßes Verhalten in Übereinstimmung bringen. Der Appell an das eigene Interesse zur Normeinhaltung  setzt die Wirksamkeit eines Sanktionssystems meist stillschweigend voraus.

*IV - 36*

Terminologisches: Der Ausdruck" praktische Philosophie (Vernunft)" ist nicht so glücklich, weil sein Gegenpol die "theoretische Philosophie" ist und praktische Philosophie selber auch Theorie ist. Deshalb sollte man besser von "positiver (empirischer) Theorie" und "normativer Theorie" sprechen.

*IV - 37*

Sonntagsreden: Wenn in schönen Worten Werte und Normen beschworen werden, die so verwaschen sind, dass sie praktisch mit jedem – auch dem rücksichtslosesten – Alltagshandeln zu vereinbaren sind. Hierher rührt ein Teil der Vorbehalte gegen jegliche normative Theorie.

*IV - 38*

Disziplinen, die sich mit dem Problem allgemeingültiger normativer Theorie befassen: Moralphilosophie, Rechtsphilosophie, Politische Philosophie, ökonomische Philosophie, Pädagogik.

*IV - 39*

Normative Theorien enthalten meist auch definitorische, empirische und methodische Sätze. Der normative Dissens beruht nicht selten auf einem empirischer Dissens.

*IV - 40*

Gibt es für die normative Methodologie ein analoges Kriterium zur intersubjektiv übereinstimmenden Erfahrung in der empirischen Methodologie?
Die sinnliche Wahrnehmung der Individuen ist gleich, wenn sie sich in der gleichen äußeren Situation befinden (Zwei Individuen sehen die gleiche Skala auf der sie den gleichen Wert abzulesen) und wenn sie physiologisch gleichartig sind. (Ein Blinder sieht nicht dasselbe wie ein Sehender.)

Kann man in analoger Weise sagen: Zwei Individuen wollen das gleiche, wenn sie sich in der gleichen äußeren Situation befinden (z. B. gleiche Ausstattung mit Gütern zur Befriedigung ihrer Wünsche) und wenn sie die gleichen Lernbedingungen in Bezug auf die zu entscheidenden Alternativen gehabt haben (vergangenes Lernen, Assoziationen, Verdrängungen etc.)? Was ist mit genetischen Unterschieden?

Dass zwei Individuen unter gleichen aktuellen und früheren Verhältnissen das gleiche wollen, löst noch nicht das kollektive Entscheidungsproblem (es kann höchstens zur Rekonstruktion von Bedürfnissen dienen.) Gerade die Gleichheit der Bedürfnisse erzeugt die Konkurrenz um dieselben (knappen) Güter.


*IV - 41*

Vertretung, Repräsentation: ein Individuum A kann aus Erfahrung lernen, dass ein anderes Individuum B die gleichen Entscheidungen fällt wie es selber (oder zumindest sehr ähnliche). Das rechtfertigt die Annahme, dass B das Individuum A vertreten (repräsentieren) kann: A nimmt an, dass sich B auch zukünftig in seinem Sinne entscheiden wird. (Das kann z. B. bei Stimmenübertragung in Gremien der Fall sein). Hat sich A getäuscht, so kann A dem B das Mandat wieder entziehen (Dies motiviert B, im Sinne von A zu entscheiden – zumindest unter bestimmten Bedingungen.)


*IV - 42*

10 Repräsentanten kann man bestechen, 10 Millionen Wähler nicht. (Wenigstens nicht so leicht.)


*IV - 43*

Schiefe Wohlstandsvergleiche:
"Im Land X wird 3-mal soviel Gemüse gegessen wie im Land Y", wenn dort statt Gemüse mehr Brot oder Obst verzehrt wird.
"Im Land X haben die Leute doppelt soviel Heizenergie zur Verfügung wie im Land Y", wenn es dort kälter ist.

*IV - 44*

Beständigkeit als Kriterium: Gleiches Recht für alle! Wenn man einmal ein normatives Kriterium auf einen Fall angewandt hat (und damit für richtig hielt), so muss man dies Kriterium auch beim nächsten gleich gelagerten Fall anwenden, sonst setzt man sich dem Vorwurf aus, mit zweierlei Maß zu messen. Gleichbehandlung als Kriterium. Gewissermaßen ein gewachsener Konsens: auf vergangenen anerkannten Normen und Entscheidungen aufbauend werden die gegenwärtigen Entscheidungen getroffen (das Prinzip des Präzedenzfalls, der als juristisches Prinzip z. B. in Großbritannien große Bedeutung hat.)


*IV - 45*

Aufgeklärte Entscheidung: die menschlichen Einstellungen sind so wie bei den Tieren größtenteils assoziativ bestimmt. Es werden die Wahrscheinlichkeiten von gemeinsam auftretenden Ereignissen registriert und erlernt.
Denken als Großhirntätigkeit entwickelt sich erst im Laufe der Kindheit und ersetzt auch später das assoziative automatische Lernen nicht völlig (Beispiel bei Dollard / Miller: "Wenn jemand sich an seinem Radio einen elektrischen Schlag geholt hat, so widerstrebt es ihm selbst dann, das Radio wieder dort anzufassen, wenn er weiß, dass inzwischen der Netzstecker herausgezogen wurde"). Dies demonstriert die Machtlosigkeit des logischen Denkens gegenüber assoziativ erworbenen Reaktionen. Das theoretische Denken ermöglicht eine Differenzierung der Fälle, so dass ich selbst bei 99 schlechten Erfahrungen - aufgrund theoretischer Einsicht in die kausalen Bedingungen des Übels - beim 100. Fall eine gute Erfahrung erwarten kann. Lernen ohne theoretisches Denken kann die Fälle nicht differenzieren und überträgt die vergangenen schlechten Erfahrungen auf die zukünftigen (pathologisches Lernen).

*IV - 46*

Positionen, die dem Adressaten der Argumentation die Argumentationsfähigkeit absprechen, sind Pseudoargumente und können keine Allgemeingültigkeit beanspruchen.


*IV - 47*

Zum Problem der stellvertretenden Herrschaft: z. B. Eltern, die eine Maßnahme gegen den Willen des Kindes durchsetzen und mit den Worten rechtfertigen: "Später wirst du uns noch einmal dankbar sein, dass wir dich gezwungen haben, die Schule zu Ende zu besuchen."

Es gibt auch von Seiten der erwachsen gewordenen Kinder den Vorwurf: "Hättet ihr uns doch bloß damals nicht unseren Willen gelassen!" Allerdings ist das Problem bei Kindern dadurch entschärft, dass in der Regel jedes Individuum im Laufe seines Lebens beide Rollen ausfüllt: Das Kind wird erwachsen. Der Erwachsene war einmal Kind.

*IV - 48*

In der Politik sind es soziale Gruppen, die Herrschaft ausüben bzw. die ihr unterworfen sind. In der Politik kann sich eine stellvertretende Herrschaft so verfestigen, dass zum vorgesehenen Zeitpunkt ihrer Beendigung niemand mehr die Macht und die Freiheit hat, die in Aussicht gestellte Beendigung der Herrschaft zu fordern bzw. zu erzwingen. In jeder stellvertretenden Herrschaft steckt die Möglichkeit, dass sie zur partikularen Herrschaft wird. In der Politik ist das Ende der stellvertretenden Herrschaft nicht derart fixiert wie in der Familie, wo der Zeitpunkt des Erwachsenwerdens absehbar ist.

*IV - 49*

Ist ein Argument, das erklärtermaßen dem Andern erst zukünftig einsichtig sein soll, ein zulässiges Argument? Eine notwendige Bedingung ist die intersubjektiv übereinstimmende Bestimmung des zeitlichen Endes der Herrschaft, denn sonst könnten die Herrschenden jede Kritik mit den Worten abwehren: "Wartet nur ab, ihr werdet es irgendwann noch einsehen!" (Analoge Immunisierungsstrategien gibt es in der Empirie in Form von Prognosen ohne zeitliche Bestimmung: "Der Messias wird kommen".)


*IV - 50*

Gibt es institutionelle Vorkehrungen, die das Ende der stellvertretenden Herrschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt sicherstellen? Es gibt z. B. zeitlich begrenzte Verträge, die zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt erlöschen (wenn sie nicht erneuert werden) bzw. dann, wenn bestimmte Ereignisse eintreten (z. B. wenn die Kriterien der Mündigkeit gegeben sind).

Beim Eltern-Kind-Verhältnis besteht ein gewisser Grund zu der Annahme, dass die Eltern das Wohl ihrer Kinder so wichtig nehmen wie ihr eigenes. Insofern ist dies Verhältnis ein Gewaltverhältnis unter besonderen Voraussetzungen (Fürsorge). Trotzdem gibt es kein freies Ermessen in der Behandlung der Kinder sondern gesetzliche Regelungen, die einschränkend wirken: Gesetz über Kindesmisshandlung, Fürsorge, Aufsichtspflicht, Schulpflicht etc..


*IV - 51*

Normativ notwendige Bedingung stellvertretende Herrschaft: die Kriterien der Mündigkeit bzw. Unmündigkeit müssen intersubjektiv nachprüfbar formuliert werden. Hier ergibt sich wie bei allen Normen das Problem der Norminterpretation. Falls darüber Uneinigkeit besteht, muss es Instanzen geben, die die Normen verbindlich auslegen. Die Probleme dieser Instanz (z. B. Rechtsprechung) sind ein umfangreicher Komplex und müssen gesondert behandelt werden.


*IV - 52*

Die stellvertretend Herrschenden müssen angeben, welche Maßnahmen sie ergreifen wollen, um die Unmündigkeit zu beseitigen. Sie müssen alles gesellschaftlich mögliche tun, um die Unmündigen zu emanzipieren. z. B. dürfen die Herrschenden nicht einerseits die Fähigkeit zu Lesen und zu Schreiben zum Kriterium der Mündigkeit machen und andererseits keine Maßnahmen zur Beseitigung des Analphabetentums ergreifen.

*IV - 53*

Die Forderung nach geheimer Wahl ist eine logische Folge aus der Forderung nach freier Wahl in Verbindung mit empirischen Annahmen über die Möglichkeit einer Sanktionierung des Wahlverhaltens.

*IV - 54*

Entscheidung setzt immer eine Unterscheidung der Alternativen voraus, außer bei der Zufallsauswahl. Aber da liegt eine Unterscheidung in der unterschiedlichen zeit-räumlichen Anordnung vor z. B. des Würfels, der eine "1" zeigt oder eine "6".

*IV - 55*

Die empirische Erforschung praktizierter Normen bringt für die normative Theorie einen heuristisch Gewinn, indem man dadurch Lösungsvorschläge kennenlernt. (Außerdem kann man dabei natürlich noch die eigenen empirischen Annahmen hinsichtlich der Arbeitsweise von Normensystemen überprüfen.)

*IV - 56*

Bedingung stellvertretende Herrschaft: die Kriterien der Mündigkeit müssen im Prinzip für die Unmündigen selber anerkennbar sein. "Im Prinzip anerkennbar" soll heißen: Sie würden die Kriterien tatsächlich anerkennen, wenn ihr Wille den (intersubjektiv anerkennbaren) Qualifikationen entsprechen würde. (Der Regress ist unvermeidbar, aber nicht notwendig unendlich). Damit werden die Kriterien im Prinzip empirisch überprüfbar, wenn auch erst zukünftig. (?)

*IV - 57*

Terminologisches: Vielleicht kann die schwierige Bestimmung des Kriteriums "intersubjektiv anerkennbar" analog zum empirischen Falsifikationskriterium umformuliert werden in: "intersubjektiv kritisierbar (falsifizierbar, widerlegbar)". Prüfen, ob eine solche Formulierung dem Begriff der Allgemeingültigkeit entspricht und ob die Immunisierungsstrategien mit dieser Formulierung besser erfasst werden können. Das Kriterium der "Argumentationsmöglichkeit" bzw. der "Argumentationsbedingungen" müsste man dann in "Kritikmöglichkeit" umwandeln. ("Kritik" gleich "Gegenargument").

*IV - 58*

Über das, was als "Behinderung der Kritik" gilt, müsste man sich natürlich wiederum einigen (hierzu Alberts Kritik an der Rechtfertigungstheorie der Wahrheit heranziehen).


*IV - 59*

Analog zum Kriterium des "Informationsgehaltes" in der empirischen Methodologie das Kriterium des "Entscheidungsgehalts" entwickeln. D.h. eine normative Theorie ist ceteris paribus umso besser, auf je mehr Entscheidungs Probleme sie anwendbar ist. Dies Kriterium geht gegen allgemeingültige aber triviale und inhaltsleere normative Theorien. Beispiele (inhaltsleer weil tautologisch): "Man soll immer das Richtige tun!"; "Strebe die Verwirklichung des Guten an!". Sowas macht höchstens als Definition einen Sinn. (In der empirischen Methodologie spielt die Zahl der Falsifikatoren bzw. Konfirmatoren eine Rolle. Was ist in der normativen Methodologie analog dazu?)

*IV - 62*

Folgt aus der Tatsache, dass ich selber bestimmte Bedingungen "richtigen Wollens" für mich akzeptiere, dass ich sie auch bei anderen, also allgemein fordern kann oder muss? Folgt daraus, dass jeder sie fordern muss? (Nein, wenn er die Bedingungen für sich selber nicht anerkennt). Also ist das erste Problem: Was ist, wenn jemand diese Bedingungen für sich nicht anerkennt? Wie kann man jemanden argumentativ davon überzeugen, dass er für seinen eigenen Willen bestimmte Qualifikationsbedingungen fordern sollte?

Ein Ansatzpunkt hierfür ist die Kritik an früheren eigenen Entscheidungen: Man "bereut", dass man sich damals so entschieden hat und würde sich anders entscheiden, wenn man noch einmal in derselben Situation wäre usw. Hier kann man herausarbeiten, was die methodischen Fehler waren, die bei der damaligen Entscheidung gemacht wurden. So kann man zu allgemein anerkennbaren methodischen Qualifikationen der Entscheidung kommen.

Ein anderer Argumentationsgang könnte bei der Tatsache ansetzen, dass sich die individuelle Entscheidung verändern kann, wobei die zu entscheidenden Probleme real unverändert bleiben. Diese Tatsache ist empirisch beweisbar: Man braucht dem Akteur nur weitere Informationen oder Alternativen mitzuteilen, und schon entscheidet er sich anders.

Ein anderer Fall: Man braucht nur bestimmte Sanktionen einführen und schon ändert sich die Entscheidung, obwohl die eigentlich zu entscheidende Problematik real unverändert geblieben ist. Dies ist z. T. analog zu Messproblemen: "Was will der Betreffende wirklich?" (Churchman sieht das Nutzenproblem vor allem als Messproblem: "Prediction ...") Ähnliche Probleme finden sich in der empirischen Sozialforschung bei der Einstellungsmessung (Meinungsforschung).
Man kann dann den Betreffenden angesichts der Variabilität seines eigenen Willens die Frage stellen: "Was willst Du wirklich?" bzw."Unter welchen Bedingungen kommt dein Wille am besten zum Ausdruck?"

*IV - 63*

 Man kann Normensysteme danach beurteilen, welche sozialen Verhältnisse rein logisch mit ihnen vereinbar sind (z. B. beim Paretokriterium: Verhungern des einen und sagenhafter Reichtum des andern).
Die realen Verhältnisse unter denen ein Normensystem angewandt wird, bewirken jedoch durch ihre spezifische Beschaffenheit, dass nicht alle logisch möglichen Situationen und auch keine repräsentative Stichprobe davon realisiert wird, sondern eine spezielle Selektion der möglichen Fälle. Indem man empirische Randbedingungen formuliert und als zusätzliche Anwendungsbedingungen normativ postuliert, kann man die Wirkungen einer Norm auf eine Teilmenge von gewünschten möglichen Situationen einschränken. Durch die Formulierung von Randbedingungen vergrößert man in der empirischen Theorie die Zahl der wahren Fälle, in der normativen Theorie die Zahl der positiv bewerteten Einzelentscheidungen.

*IV - 64*

Gleichheit: Im Aufsatz zur Konsumentensouveränität argumentiert Scitovsky, dass die economics of scale durch relative Verbilligung des Massenkonsums die seltenen - und häufig "höheren" – Bedürfnisse benachteiligen und damit Ungleichheit zwischen Elite und Masse zu Ungunsten der Elite schaffen.

*IV - 65*

Das Gültigkeitsproblem von Normen stellt sich nur angesichts einer Entscheidung (und eines Dissens) Die Gültigkeitsfrage ist also auf diese praktische Problemlage bezogen.


*IV - 66*

Aus dem Intersubjektivitätskriterium ableiten, warum eine normative Theorie logisch widerspruchsfrei sein muss (logische Konsistenz). Logisch widersprüchliche Normen führen zur Entscheidungsunfähigkeit:
    "Entscheide Dich für x und entscheide Dich nicht für x!".
Solche Normen sind inakzeptabel, weil nicht ausführbar. Sie machen jedes Handeln unmöglich. Sie geben insofern keine Antwort auf die gestellte Frage, keine Lösung für das vorliegende Problem.

Vielleicht lässt sich analog zur Poppers Rechtfertigung der Forderung nach Widerspruchsfreiheit im Bezug auf die empirische Theorie (in: "Was ist Dialektik?") nachweisen, dass aus widersprüchlichen normativen Theorien beliebige Normen ableitbar sind (richtiger: bei Nichtbeachtung des Satzes vom Widerspruch).

*IV - 67*

Kann man aus dem Intersubjektivitätsgebot die Forderung nach präzise definierten Begriffen und Normen ableiten? Die Einigung über vage Begriffe und Formulierungen ist wertlos, wenn jeder etwas anderes darunter versteht. (Dagegen: positive Funktion von Leerformeln, s. Denninger).
Bei dem Gebrauch unpräzise definierter Begriffe kann man jederzeit die Begriffe so umdefinieren, wie es den eigenen Interessen gerade entspricht. Es kann eine "Definitionsmacht" entstehen, die gerade bei Normen und werthaltigen Begriffen problematisch ist. Außerdem stellt sich das grundlegende Problem der sprachlichen Verständigung: Wenn ich nicht verstehe, was der andere meint, weil er seine Begriffe nicht in meine bzw. eine gemeinsame Sprache übersetzen kann, so ist damit jede Argumentationsmöglichkeit von vornherein hinfällig.

Vage Begriffe ermöglichen logische Deduktionen nahezu beliebiger Art. Vage Begriffe entziehen sich der Kritik, denn man kann immer entgegnen: "Das habe ich nicht gemeint" bzw. "Du hast mich nicht (richtig) verstanden."

*IV - 68*

Unklare Ausdrucksweise und undefinierte Begriffe machen es möglich,:
1. dass zwei Leute einander zustimmen, obwohl sie verschiedenes meinen und
2. dass zwei Leute einander widersprechen obwohl sie das gleiche meinen.

*IV - 69*

Um die Bedeutung einer Norm zu klären, muss man fragen, auf welche Frage die Norm eine Antwort gibt.

*IV - 70*

Theologische Argumente: "Eine solche Ordnung hat Gott nicht gewollt" (bzw. kann Gott nicht gewollt haben), denn Gott ist gerecht." Hier werden die eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen bzw. die des Zeitalters auf Gott projiziert und anschließend aus seiner Autorität wiederum gerechtfertigt.

*IV - 71*

Teilsysteme: Können neben einem nicht zu rechtfertigendem Normensystem auch Bereiche bestehen, die intersubjektiv anerkennbar geregelt sind?

*IV - 72*

Nietzsche: "Die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoral" und die Moral ist "der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt". (in Nietzsche 1959, S. 323 f.). Über die Wesensaussage: "Alles Geschehen ist Machtwille" lässt sich nicht streiten.

*IV - 73*

"Freiheit" ist ein unvollständiges Kriterium. Wenn "Freiheit" z. B. definiert wird als "die Berechtigung (oder die Möglichkeit), zu tun, was man will", so wäre "Freiheit" gleichbedeutend mit einem normlosen Zustand. Wenn man zusätzlich bestimmte Annahmen über menschliche Ziele macht (Egoismus), so wäre das eine Situation des Faustrechts bzw. eines Kampfes aller gegen alle. Dieser unbessschränkte Freiheitsbegriff wurde z. B. bei der Kampagne gegen eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen verwendet: "Freie Bürger fordern freie Fahrt." "Frei" wird hier benutzt als Gegenbegriff zu "beschränkt".
Hier wäre noch zu unterscheiden zwischen einer Beschränkung, die naturgesetzlich bedingt ist (etwa Geschwindigkeitsbeschränkungen, die auf antriebstechnischen Möglichkeiten beruhen) und einer Beschränkung, die auf sozialer Normsetzung beruht.
Im Folgenden soll Unfreiheit nur auf Beschränkungen bezogen sein, die auf sozialer Normierung beruhen. (Der Begriff der "sozialen Normierung" muss noch näher analysiert werden. Wie verhält sich diese Bestimmung zu der Formulierung: "Beschränkungen, die vom Willen anderer Individuen abhängen"?)

Wenn Freiheit definiert wird als die Freiheit "zu tun und zu lassen, was man will", so stellt sich das Problem, dass das Wollen der verschiedenen Individuen nicht miteinander vereinbar ist. Die Frage ist, soll man den Umstand, dass sich Individuum A gegenüber B  mit seinem Willen nicht durchsetzen kann, als "Unfreiheit" bezeichnen? Eine Beschränkung ist das sicherlich, aber das klingt so, ald ob jemand, der daran gehindert wird, einen anderen umzubringen, dadurch in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Fasst man den Begriff "Freiheit" so weit, so wird er als positiver Wertbegriff unbrauchbar. Auf jeden Fall ist bei Inkompatibilität des Wollens der Begriff "Freiheit" nicht ausreichend, denn die Freiheit des einen (den anderen umzubringen) ist die Unfreiheit des anderen  (von anderen umgebracht zu werden) und umgekehrt.

Will man den Begriff "Freiheit" jedoch für solche Fälle nicht anwenden, so bedarf es einer Normierung, die den Freiheitsraum der Individuen begrenzt. Das heißt, das individualistische Freiheitskonzept führt bei seiner Anwendung auf mehrere Individuen zu Widersprüchen, die ein zusätzliches normatives Kriterium notwendig machen.

Wenn man terminologisch anders vorgeht und "Freiheit" nur für das aktive Handeln reserviert, so muss man für den Schutz vor dem Erleiden fremder Handlungen ein anderes unabhängiges Kriterium wie "Wohlstand", "Sicherheit" etc. einführen und muss dann das Kriterium "Freiheit" gegen das Kriterium "Unsicherheit" normativ abwägen. "Freiheit" allein ist kein hinreichendes kollektives Entscheidungskriterium.

*IV - 74*

 Konflikte minimieren: Könnte man als normatives Kriterium formulieren und vertreten: "Schaffe eine Gesellschaft, in der die Konflikte zwischen den Individuen (die Inkompatibilitäten ihres Wollens) möglichst gering sind ?" Zum einen können sich Kosten des Übergangs einstellen: Vielleicht entstehen auf dem Wege dorthin erst recht heftige Konflikte. Zum andern: Ist ein solches Kriterium damit vereinbar, dass man alle Menschen in eine äußerste Notlage versetzt, in der jeder jeden braucht, und deshalb eine von der Not erzwungene Gemeinschaft entsteht, die keine Konflikte mehr zulässt? (Ein Beispiel wären etwa 5 Leute im Rettungsboot nach dem Untergang ihres Schiffes, wo die Ruderleistung jedes einzelnen erforderlich ist, damit alle 5 gerettet werden können. Hier ist kein Platz für Konflikte, aber ist das deshalb ein wünschenswerter Zustand?)

*IV - 75*

Nicht selten gibt es zwischen den politischen Kräften einen Konsens über die Unerwünschtheit (bzw. Erwünschtheit) eines Phänomens (z. B. Arbeitslosigkeit). Die Diskussion richten sich dann auf die Frage nach dem Verantwortlichen für dieses Übel. Dabei macht man jemanden verantwortlich, dessen Handeln eine notwendige Bedingung für das Auftreten des Übels darstellt: "Wenn X nicht so gehandelt hätte, wäre das Übel nicht eingetreten". Man leitet dann die Forderung ab: "X soll so handeln, dass das Übel nicht eintritt." (z. B.: "Wenn die Gewerkschaften nicht so hohe Lohnsteigerungen durchgesetzt hätten, dann hätten wir keine Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Gewerkschaften sollen ihre Lohnforderungen niedriger halten".)

Hier wird aus dem Konsens ("Arbeitslosigkeit ist ein Übel") und einigen empirischen Hypothesen logisch eine Forderung abgeleitet. Der Fehler dieser Argumentation liegt darin, dass man bei einem Entscheidungsproblem nicht nur eine Alternative berücksichtigen darf. Denn das Handeln von X ist möglicherweise nur eine von mehreren notwendigen Bedingungen. Das Verhalten eines anderen Akteurs kann ebenfalls eine notwendige Bedingung sein (z. B. die Investitionstätigkeit der Kapitalbesitzer). Ebenso gut kann man von den Kapitalbesitzern fordern: "Investiert mehr, damit die Arbeitslosigkeit nicht zunimmt". Beide Forderungen sind gleichwertig, denn das Handeln beider Akteure ist eine notwendige Bedingung für das Auftreten des Übels Arbeitslosigkeit. Beide Akteure sind insofern für das Übel verantwortlich zu machen.

Um solchen Streit zu entscheiden, wird das Übel einem Akteur und seinem Handeln zugerechnet. Wie sieht die Logik dieser Zurechnung aus? (Hierzu Max Weber "Methodologische…" Seite 132 folgende, nach Albert)

Erste Analyse: Es wird ein bestimmtes Institutionen- und Normengefüge als gegeben festgestellt. Damit wird jedes Handeln, das damit im Einklang steht oder sogar funktionsnotwendig ist, automatisch mitsanktioniert und als verantwortlich ausgeschlossen. z. B. wird beim Zusammenstoß zweier Autos derjenige Fahre zum verantwortlichen Verursacher erklärt, der gegen Verkehrsregeln verstoßen hat, obwohl beide Fahrer ursächlich beteiligt waren.

Für das Beispiel "Arbeitslosigkeit" würde das heißen: "Die Freiheit der Investitionsentscheidung gehört zu den grundlegenden Prinzipien des Kapitalismus. insofern sind die nicht investierenden Kapitaleigentümer nicht verantwortlich. Das Funktionieren des Kapitalismus ist dagegen ohne weiteres mit stagnierenden Löhnen vereinbar, also sind die überhöhten Lohnforderungen der Gewerkschaften schuld."

*IV - 76*

"Freiheit". Es wurde gezeigt, dass der Begriff als Entscheidungsregel unvollkommen ist und durch zusätzliche Normen ergänzt werden muss. Aber auch die Ergänzung durch abgegrenzte Privatsphären (Eigentum) ist unvollkommen, denn es können Interdependenzen zwischen den Sphären bestehen (externe Effekte). Wenn man diese berücksichtigen will, muss man Entschädigungen normativ regeln, also Kollektiventscheidungen einführen, denn diese Externalitäten sind durch Verträge nicht zu bewältigen. Damit ist zu sehen, dass "Freiheit" kein unter allen Bedingungen zu maximierender Wert ist, denn beim Vorhandensein von Externalitäten würden das die gegenseitigen Schädigungen nur verstärken.

*IV - 77*

Zum Kriterium der Universalisierbarkeit. Kant: "Handle jederzeit nach der Maxime, von der Du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
Beispiel des Versprechens (Kant 1960, Seite 249 ff. ). Kant analysiert die Maxime: "wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen." Er fragt nun: "Wie es dann stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Da sehe ich nun sogleich, dass sie niemals als ein allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm etwas versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eigenes Vorgeben lachen würde."

Die analysierte Maxime ist als solche nicht logisch inkonsistent, es wird kein logisch miteinander unvereinbares Verhalten damit vorgeschrieben. Die "Unmöglichkeit" einer solchen allgemeinen Norm beruht eher auf bestimmten empirischen Annahmen über menschliches Verhalten, wie z. B.:  "Niemand wird in der Regel einem anderen Geld geben, wenn er glaubt, dass dieser die versprochene Rückzahlung nicht einhalten kann oder will. Er könnte ihm natürlich trotzdem Geld geben, aber dies wäre dann von ihm aus ein Geschenk, oder er verfolgt andere Ziele damit, die ihm wichtiger sind als der Verlust des Geldes. Nur unter dieser empirischen Annahme folgt, dass der in Geldnot Befindliche "den Zweck, den er damit haben mag (nämlich Geld zu bekommen), selbst unmöglich macht."

Dies wäre dann allerdings eine Inkonsistenz des eigenen Willens, indem die angewandte Maxime die Erreichung des angestrebten Zieles unmöglich macht. Festzuhalten bleibt: Es ist eine Inkonsistenz, die die Wahrheit einer empirischen Prämisse voraussetzt. Anzumerken wäre hier noch, dass es sich hier nicht wie beim allgemeinen Egoismus um eine Inkonsistenz der Norm handelt, sondern um eine Inkonsistenz des individuellen Willens unter der Bedingung einer allgemeinen Anwendung der Norm.

*IV - 78*

Entsprechendes gilt wahrscheinlich für das Lügen. Die Glaubwürdigkeit wird beseitigt, so dass alle Institutionen untergraben werden, die ein bestimmtes Maß an Vertrauen voraussetzen. Dies betrifft alle Vereinbarung zwischen Individuen (Verträge, Versprechen, Verabredungen etc.) außer in den Grenzfällen, wo jede Seite ein "Faustpfand" gegenüber der anderen Seite behält und damit die Einhaltung des Versprechens durch die Gegenseite erzwingen kann. Wenn man die Existenz solcher Institutionen will, kann man nicht gleichzeitig wollen, dass der Bruch des Versprechens allgemeinen Maxime wird (natürlich kann man den Bruch des Versprechens durch einen selber wollen). (Hierzu Kutschera 1973, Hare: Promising Game.)

Hare begründet seine Rechtfertigung des Versprchens auf die goldene Regel, (wird auch als "Regel der Reziprozität" bezeichnet): "Was du nicht willst, dass man es dir tu, das füge auch keinem andern zu" (näher ausgeführt in "Freedom and Reason"). In dieser Formulierung bezieht sich die goldene Regel allerdings auf Einzelhandlungen. Für Regeln formuliert würde sie lauten: "Wende gegenüber anderen keine Regel an, von der du nicht willst, dass andere sie Dir gegenüber anwenden!"

Ist dies gleichbedeutend mit Kants Kriterium des Kategorischen Imperativs? Ein Unterschied liegt vielleicht darin, dass hier nicht auf eine allgemeine Gesetzgebung Bezug genommen wird, sondern auf die individuellen Handlungsmaximen der betroffenen Individuen. Diese individuellen Handlungsmaximen können sich (als individuelle) nicht logisch widersprechen. Sie ergeben jedoch keine logisch konsistente allgemeine Norm.

Die Norm: "Jeder soll tun, was ihm Spaß macht" ist logisch nicht widersprüchlich (wenn es auch zu faktischen Konflikten kommt). Während die Norm: "Jeder soll tun, was jedem Spaß macht" keine logisch widerspruchsfreie Handlungsanweisung ergibt.


*IV - 79*

 

Ist die folgende Regel mit dem Kantschen Imperativ vereinbar: "Tue niemandem etwas, was Du nicht wollen würdest, wenn Du an seiner Stelle wärest!" Diese Regel entspricht der christlichen Moral "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!" Anders formuliert: "Nimm die Bedürfnisses des andern so wichtig, als wären es Deine eigenen!") Es scheint so, als sei diese "Solidaritätsregel" weitgehender als die Goldene Regel und diese wiederum weitgehender als der Kategorische Imperativ.

Die Unterschiede könnte man wohl am besten herausarbeiten, wenn man ein Beispiel heranzieht, etwa Sklaverei: "Der Herr hat unbegrenztes Verfügungsrecht über seinen Sklaven." Nach der Kantschen Regel scheint diese Maxime ohne weiteres verallgemeinerungsfähig, insofern als sie ohne logische oder empirische Inkonsistenzen als allgemein gültig realisiert werden kann (Das meint auch Gellner 1954). Würde man jedoch die Maxime folgendermaßen formulieren: "Ich habe unbegrenztes Verfügungsrecht über X", so wäre die Verallgemeinerbarkeit nicht mehr gegeben, sofern X dieser Maxime ebenfalls anwenden würde. Wahrscheinlich meint Kant , dass die in Ich-Form gehaltenen Maximen verallgemeinert werden, in denen statt "ich" nun" jeder" eingesetzt wird. Dies ist vielleicht gemeint mit der Formulierung:" dass die Maxime deines Willens jederzeit zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden könnte."
Übrigens wird an diesem Sklaven-Beispiel deutlich, dass sich je nach Wahl der Maxime (und für eine Handlung können mehrere Maximen formuliert werden  –"Ideal-Konkurrenz") der Kategorische Imperativ andere Ergebnisse hervorbringt. Allerdings ist die Wahl der Maximen für eine größere Menge (z.B. für die Menge der tatsächlichen oder möglichen Handlungen) vielleicht bereits weniger willkürlich,  sofern man logische Konsistenz aller geltend gemachten Maximen fordert.
Wie ist das bei der Goldenen Regel? Wahrscheinlich ähnlich. Wenn ein Herr über seinen Sklaven verfügt, so könnte er wahrscheinlich ohne Inkonsistenz der Präferenzen sagen: "Wenn ich Sklave wäre, müsste (wollte) ich auch meinem Herrn gehorsam sein". (Hier gibt es jedoch schon Schwierigkeiten. Denn würde ich dann z. B. wollen, dass mich mein Herr schlägt?) Ein ähnliches Problem liegt bei vielen Situationen vor. Wenn z. B. ein Prüfer einen schlechten Kandidaten durchfallen lässt, so folgt aus der Goldenen Regel, dass er dies dann nicht darf, wenn er als schlechter Kandidat nicht ebenfalls wollen würde, dass man ihn durchfallen lässt.

Die Problematik liegt hier in der Bestimmung des "Wollens". Natürlich "will" der schlechte Kandidaten nicht durchfallen. Aber gleichzeitig kann er doch das Prüfungsverfahren für das beste aller denkbaren Regelungen halten, es also wollen (Exemplarisch in Heinrich von Kleist: "Der Prinz von Homburg": Er will sie seinen eigenen Tod insofern als er dies Gesetz mit der Todesstrafe will.) Er muss dann auch wollen, dass schlechte Kandidaten durchfallen. Wenn er selbst ein schlechter Kandidat ist, muss er wollen, dass er selbst durchfällt, was er zugleich doch nicht will.

Dieses Paradox ist analog zum demokratischen Paradox: Die Minderheit will ihre Ziele realisieren und sie will als demokratische zugleich, dass die Mehrheit regiert. Beides kann auseinander treten und man kann das Paradox wahrscheinlich nur auflösen, indem man die Ebenen der institutionellen Entscheidung und der Einzelentscheidung auseinander hält und der institutionellen Entscheidung (für das Prüfungs- oder Wahlsystem) den Vorrang einräumt. (Warum? Weil sonst das Problem der intersubjektiven Einigung wieder auftritt, bezogen auf die Instrtution).

Auch bei der Anwendung der Goldenen Regel ergeben sich also Probleme, die damit zusammenhängen, dass man immer schon das Institutionensystem normativ voraussetzen muss. Die Individuen tauchen dann nicht mehr als solche auf, sondern nur noch als Träger von Rollen. Kann man mit Hilfe des Kategorischen Imperativs oder der Goldenen Regel ein Institutionssystem überhaupt kritisieren? Dies wäre aber die Aufgabe einer politisch relevanten normativen Theorie. Kant gibt hierfür kein Beispiel - oder?

Auch das Solidaritätsprinzip scheint dieser Kritik zu verfallen, insofern gefordert wird, sich "an die Stelle des anderen zu versetzen", denn dies kann wiederum bereits die institutionell vorgeschriebene Rolle sein. Solche Formen scheinen "moralisch" in dem Sinne zu sein, dass sie bereits eine institutionelles Normensystem voraussetzen und – unter Voraussetzung der Geltung der Institutionen – das Problem "rein menschlich" unter dem Gesichtspunkt der unmittelbar Beteiligten betrachten. Auf diese Weise könnte man z. B. willkürliche Schikanen der Prüfer kritisieren.

*IV - 80*

 


Damit stellt sich das Verfassungsproblem, das Kriterium für die Institution selber. Wahrscheinlich ist das Harsanyi-Kriterium hierfür eher geeignet. Allerdings lassen sich die hierfür erforderlichen individuellen Präferenzen kaum empirisch ermitteln, und zwar umso schwieriger, je inhomogener die Strktur der Gesellschaft ist.


*IV - 81*

 

Ähnlich wird bei der Bestimmung des Freiheitsraumes mit einem Universalisierbarkeitskriterium argumentiert.(Barker 1967 b, S. 145 -). "The liberty of A will therefore be such liberty as he can enjoy concurrently with the enjoyment of similar and equal liberty by B and C and D." Ähnlich Kant (nach Arnaszus S. 216):"Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann."

Was bedeutet das? Dass die Freiheit des einen durch die Freiheit des anderen faktisch begrenzt wird, lässt sich durch Abgrenzung der Verfügungssphären (abgesehen von Externalitäten) regeln. Bei eindeutiger Abgrenzung kann die Freiheit (Willkür) des einen mit der Freiheit (Willkür) des anderen zusammenstimmen, es gibt keine normativ ungeregelten oder widersprüchlich geregelten Konflikte mehr – z. B. in einer total ausgearbeiteten Eigentumsordnung. Aber ist dies denn schon das allgemeine Gesetz der Freiheit? Was bedeutet Barkers Begriff der "gleichen Freiheit"? Kann man Freiheit quantifizieren? Wäre die Gewährung der Vertragsfreiheit für jeden ein Beispiel für gleiche Freiheit? Ist das gleichbedeutend mit gleichen Rechten? Wenn 'ja', dann würde von der inhaltlichen Beschaffenheit der Privatsphäre abgesehen.


*IV - 82*

 

Dass man oft nicht weiß, was man will, zeigt sich daran, dass sich ein Individuum durch ein anderes beraten lässt. "Was soll ich tun?" bzw. "Was würdest du an meiner Stelle tun?" Eine Beratung ist ohne jede Sanktionsgewalt, also nicht direkt normierend. Die Frage ist, inwiefern Beratung über Information hinausgeht. Häufig findet Beratung in einem Gespräch statt, in dem der Ratsuchende Klarheit über seine Möglichkeiten, aber auch über seine Ziele und Konflikte gewinnt, ähnlich wie in einem Monolog, der der Selbsterforschung dient.


*IV - 83*

 

Zur Allgemeingültigkeit:
(Kant 1960, 246 –) "Praktisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d. h. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den Willen bestimmt".
Frage: Wenn ein Argument von einem Individuum nicht akzeptiert wird, liegt das daran, das das Argument ungültig war oder dass das betreffende Individuum nicht vernünftig ist? Auf jeden Fall müsste noch näher bestimmt werden, wann ein Mensch kein vernünftiges Wesen ist (das Problem des aufgeklärten Willens). "Vernunft" ist kein übermenschliches Etwas.


*IV - 84*

 

Die Grenzen einer individuell-normativen Betrachtungsweise ("moralisch" im engeren Sinne) werden gut deutlich bei den Kontroversen innerhalb der evangelischen Kirche über die Hilfe für die Dritte Welt. Bei der karitativen Sammlung "Brot für die Welt" oder bei der Aussätzigenhilfe scheint die Sache unproblematisch – man hilft den Notleidenden –, aber angenommen, die These ist richtig, dass diese Not ihre Ursache in kolonialen oder neokolonialen politischen Strukturen hat, müssten dann nicht die antikolonialen Befreiungsbewegungen finanziell unterstützt werden? Damit muss man aber zu den politischen Verhältnissen Stellung nehmen, muss Partei in einem Konflikt ergreifen, der von beiden Seiten mit Waffengewalt geführt wird. Tut man dies nicht und reagiert nur karitativ moralisch, hat man damit implizit das soziale Normensystem anerkannt und füllt vielleicht berühmte Fass ohne Boden.


*IV - 85*

 

Die Notwendigkeit von normativen Regeln ergibt sich bereits aus der empirischen Wissenschaft, die mit Begriffen und nicht mit Individualnamen ihre Erkenntnisse formuliert, denn nur mit Begriffen kann man die Erfahrungen der Vergangenheit auf die Zukunft übertragen, also lernen. Ohne Regeln könnte man sich auch nicht auf vergangene Entscheidungen, die damals und heute als richtig galten, berufen, d.h. es gäbe völlige Willkür, weil jede Entscheidung völlig anders wäre und deshalb keine Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit gegeben wäre.


*IV - 86*

 

Kann ich als Einzelner die Wahrheit erkennen in der Beziehung Subjekt – Realität? Kann ich vor mir selber Recht haben, von der Richtigkeit meiner eigenen Auffassung überzeugt sein? Das Letztere ist sicherlich sinnvoll: Voraussetzung der Argumentation ist ja, dass die Einzelnen von der Richtigkeit ihrer eigenen Position überzeugt sind. Aber der Begriff "Richtigkeit" bzw. "Wahrheit" impliziert den Anspruch, dass die Position auch für andere richtig ist. (Wenn dieser Anspruch gar nicht erhoben würde, dann könnten Differenzen der Anschauungen gar nicht mehr zum Problem werden.)

*IV - 87*


Zu sagen, dass bestimmte Theorien die Voraussetzungen der Argumentation verletzen, bedeutet nicht, dass damit die Kommunikation mit jenen, die diese Position vertreten, unmöglich ist. Die Leute können ohne weiteres noch weiter miteinander reden. Es handelt sich dann allerdings nicht mehr um Argumentation sondern um verbale Beeinflussung, um Rhetorik.


*IV - 88*

 

Der Kantsche Imperativ: "Handle so, dass die Menschheit nicht nur als Mittel sondern immer zugleich als Zweck betrachtet wird" ist in seiner inhaltlichen Bedeutung unklar. Ist z. B. darin impliziert, dass der Tausch (bzw. Vertrag) unzulässig ist, insofern jeder dabei nur auf seinen eigenen Vorteil achten muss und möglichst viel für sich herausholen darf (Feilschen etc.)? Dabei ist der andere nur Mittel, oder? Der Tausch als Institution wird allgemein damit gerechtfertigt, dass er allen Vertragsparteien Vorteile bringt und so auch die Zwecke der anderen berücksichtigt.

*IV - 89*

 

Man sagt, man sei bei einem Tausch "übervorteilt" worden. Was ist da der Maßstab? Der allgemeine Marktpreis bzw. Tauschbedingungen, die man woanders hätte haben können?


*IV - 90*

 

Möglichkeit: die Wissenschaft entwickelt Naturgesetze, die bestimmte Geschehnisse ausschlißen und für unmöglich erklären. z. B. ist nach dem Gesetz von der Erhaltung der Energie ein Perpetuum mobile unmöglich (Rapaport 1963,79 – )

*IV - 91*


Die Unbestimmtheit des individuellen Willens (Fähigkeit der Nutzenschätzung) kann kein prinzipielles Argument gegen die Möglichkeit einer normativen Theorie sein, denn das normative Problem stellt sich nur in dem Maße, wie der individuelle Wille bestimmt ist (sonst wäre einem jede Norm gleichgültig und es könnte keine Konflikte geben).

 

*IV - 92*

Was bedeutet: "nicht wissen, was man will?" Es bedeutet nicht Gleichgültigkeit der Entscheidung, obwohl die Alternativen selber und ihre Bewertung noch undeutlich ist.


*IV - 93*

 

Wie gehen Entscheidungsprozesse im Alltag vor sich? Welche Mechanismen der Überprüfung werden angewandt?
Wie gehe ich z. B. vor, wenn ich in ein Antiquariat gehe, um nach Büchern zu gucken?
 - Selektion bestimmter Aufmerksamkeitsbereiche (Abteilungen, von denen man sich etwas verspricht)
 - Untersuchung der Bücher oberflächlich nach bestimmten Indikatoren (Qualität der Autoren – interessante Inhalte - Titel - Thematik)
 - Bücher die hier eine bestimmte Schwelle übersteigen, nehme ich heraus, sehe sie mir an, ob sie halten, was Autor bzw. Titel versprechen und wenn ja: Vorauswahl bestimmter Bücher, die ich herauslege.

 Wenn dies für alle Bücher abgeschlossen ist, wird unter den verbliebenen Büchern die endgültige Entscheidung gefällt. Dabei spielt die finanzielle Beschränkung eine gewisse Rolle. Diese Beschränkung ist nicht starr, aber mehr als 50 DM gebe ich bei meinen Besuchen nicht aus (eine Überschreitung dieser Grenze muss besonders begründet sein.)
Dahinter stecken wahrscheinlich Überlegungen, bestimmte Einstellungsschwankungen und Stimmungen unter Kontrolle zu halten. Außerdem gibt es noch für das einzelne Buch bestimmte Preisobergrenzen – meist bei 10 DM, deren Überschreiten ebenfalls besonders gerechtfertigt werden muss. Dann sehe ich mir die Bücher unter Umständen noch einmal an (mit dazwischenliegenden anderen Beschäftigungen), um zu sehen, ob das positive Urteil sich wiederum einstellt oder der Preis zu hoch ist etcetera. So werden immer mehr Bücher ausgeschieden. Zuletzt werden noch einmal die Bücher untereinander vergleichen, die in die engere Auswahl gekommen sind. Dadurch können sich Unterschiede zu den Entscheidungen anderer Tage ergeben. Aber die Kriterien sind doch so stabil, dass ich auch ohne ein Buch zu kaufen aus dem Laden gehe.


*IV - 94*

 

Bei Entscheidungsverfahren spielen Entscheidungskosten eine erhebliche Rolle. Gegenüber dem Idealmodell der rationalen Entscheidung wird durch stufenweise Eliminierung von irrelevanten Alternativen der Informationsaufwand erheblich gesenkt, denn die Feinstruktur der Objekte mus nur bei denjenigen Objekten ermittelt werden,die in die engere Wahl kommen.


*IV - 95*

 

Aus dem Kriterium "Voraussetzungen der Argumentation" müssen auch die Bedingungen der Logik abgeleitet werden, die klare Definition der Begriffe etc.. Bedingung der Verständigung ist die gleiche Interpretation der Begriffe. Unklare Begriffe, dunkle Formulierungen etc. können der Immunisierung dienen, weil man immer sagen kann: "Du hast mich falsch verstanden" oder "Deine Kritik trifft mich nicht". Allerdings kann Unklarheit des Ausdrucks auch auf theoretische Schwierigkeiten zurückgehen, die sich nicht eliminieren lassen. Doch sollte dies offengelegt werden.


*IV - 96*

 

Logische Widersprüche machen entscheidungsunfähig:" Tue x und tue x nicht!" Solche Theorien sind unbrauchbar.


*IV - 97*

 

Normative Theorien mit unscharfen Begriffen sind insoweit unbrauchbar, als sie aufgrund der Vagheit keine Entscheidung ermöglichen, indem sie z. B. beiden Kontrahenten die Berufung auf dieselbe Theorie ermöglichen.


*IV - 98*

 

Die Analyse von Wertbegriffen wie Freiheit, Gemeinwohl etc. hat heuristischen Wert, insofern man dabei die praktizierten Argumentationsmuster rekonstruiert. Damit sind sie aber noch nicht gerechtfertigt.


*IV - 99*

 

Inwiefern kann man fordern, dass jemand diejenigen Kriterien, die er bei seinen eigeninteressierten Entscheidungen angelegt, auch bei kollektiven Entscheidungen anwenden soll, z. B. Widerspruchsfreiheit, empirische Wahrheit, Berücksichtigung des Möglichen, Reflexion der Motive etc.. Wie kann man dies aus dem Intersubjektivitätsprinzip ableiten?


*IV - 100*

 

"Freiheit". Jemand der durch einen Bergrutsch eingeschlossen ist, ist nicht unfrei sondern in einer schlechten Lage, wenn Unfreiheit nur in Bezug auf Einschränkungen durch andere Personen definiert ist. Wird jemand durch andere Menschen eingeschlossen, so wäre er unfrei, die tatsächliche Lage kann die gleiche sein. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Unterscheidung zwischen natürlichen und menschlich bedingten Einschränkungen des Tuns immer klar zu ziehen ist. Was ist mit jemandem, der arm ist und deshalb vieles nicht tun kann, was er gerne tun möchte? Ist der Arme "unfrei"? Seine Armut ist auch durch andere Menschen bedingt. Die Eigentumsordnung ist eine Beschränkung des Tuns der Einzelnen durch andere Menschen entsprechend der Zahlungsfähigkeit.


*IV - 101*

 

Ein Scheitern der intersubjektiven Übereinstimmung impliziert nicht, dass damit generell ein Gewaltverhältnis existiert. Dies ergibt sich nur in Bezug auf diejenigen Normen, bei denen keine intersubjektive Übereinstimmung erzielt wird. Es können deshalb ohne weiteres andere Normensysteme intakt bleiben. Etwa bei einem Krieg, in dem beide Seiten bestimmte Völkerrechtsnormen akzeptieren. Die Kriegserklärung ist damit also nicht total. Der Ausbau von Normensysteme geht meist auf der Grundlage bereits anerkannter Normen vor sich (was natürlich nicht heißt, dass diese nicht ebenfalls strittig werden können.)


*IV - 102*

 

Ich gehe von einem praktischen Problem aus, dem Streit um die Gültigkeit von Normen und der Frage nach intersubjektiv übereinstimmenden Gültigkeitskriterien. Man kann sicherlich auch die historischen Rahmenbedingungen des Problems und der Fragestellung in die Reflexion mit einbeziehen (wie es Habermas und die Marxisten fordern würden.) Was sind diese Bedingungen?

Es muss Individuen geben, die Konflikte haben und die argumentieren mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das setzt voraus, dass die Individuen in einer Gesellschaft leben, in der Interessengegensätze zwischen Individuen und Gruppen entstehen können, und dass sie einen individuellen Willen haben, dass sie nach Erkenntnis der Wahrheit streben. Die Frage ist, ob sich aus dieser Reflexion auf die Bedingungen der Fragestellung zusätzliche Einsichten über die Gültigkeitskriterien der Antworten ergeben. Wenn dies nicht der Fall ist, ist die Forderung unbegründet und erhält ihre Rechtfertigung nur aus abgehobenen Phrasen wie denen, dass man "immer die Totalität reflektieren muss", dass man "immer die Zusammenhänge und die historische Genese reflektieren muss" usw. usw.


*IV - 103*

Man kann das Ziel der "Erkenntnis" sicher auch anders formulieren, als ich es tue. Etwa als "Nachschöpfung der Welt aus dem Geiste", als "Selbstvergewisserung des Geistes über sich selbst", als "Begründung absoluten Wissens" etc.. Über den Sinn solcher Bestimmungen von "Erkenntnis" ließe sich sicherlich streiten. Aber gleichgültig, wie man solche Erkenntnisprogramme beurteilt, es bleibt doch die Frage nach der Allgemeingültigkeit von behaupteten Normen bestehen. Es zeige jeder, was er zur Lösung des Problems beizutragen hat.


*IV - 104*

 

Ein Ziel der normativen Methodologie: den Gewaltherrschern ihr gutes Gewissen nehmen, und den Beherrschten den Rücken zum Widerstand stärken, indem Gewaltverhältnisse als solche erkannt werden.


*IV - 105*

 

Die Gültigkeit von Behauptungen muss zeitunabhängig sein. Wäre es anders, dann könnte man über Gültigkeit nicht argumentieren, denn Diskussionen benötigen selber Zeit. Damit ist nicht behauptet dass gültig angesehene Behauptungen sich zukünftig nicht doch als ungültig erweisen werden, was impliziert, dass sie bereits ungültig waren, als sie noch als gültig angesehen wurden.


*IV - 106*

 

Was sind das für Fragen: "Bin ich nicht ich selber?", "Bin ich mit mir selber identisch?" oder "Warum kann ich 'ich' zu mir sagen?". Ob diese Fragen sinnvoll sind, bekommt man am ehesten heraus, wenn man nachverfolgt, was derjenige mit den Antworten auf diese Fragen anstellt, der behauptet, sie seien sinnvolle oder gar unerlässliche Fragen.


*IV - 107*

 

Wäre es sinnvoll, einmal rein subjektiv zu formulieren? Zu fragen wäre dann: "Was sind die Kriterien dafür, dass meine Überzeugungen für mich gültig sind – und es in Zukunft bleiben?" Wie hängen diese subjektiven Gewissheitskriterien mit dem Intersubjektivitätsprinzip zusammen? Bauen die Kriterien intersubjektiv übereinstimmender Erkenntnis auf den Kriterien rein subjektiver Erkenntnis auf?


*IV - 108*

 

Die Forderung, man müsse "alles auf einmal infrage stellen", hebt sich selber auf: denn damit hat man sich auch der Sprache und im Prinzip der anderen Individuen entledigt. Die Antwort sicher radikalen Einfluss sichert philosophischen Fragestellungen und Erschütterungen haben etwas seltsam Chimäre, die Erdbeben finden nur in den Köpfen dieser Philosophen statt und im Hintergrund steht die kindliche Allmachtsvorstellung auf der Grundlage von ein paar Pfund hören.

Wer "diese" akzeptiert, ohne gleichzeitig die Fähigkeit zur nachvollziehenden der Überprüfung dieser tiefen Gedanken erworben zu haben, gehört zu den Trägern philosophischer Legenden. Man staunt und bewundert, ohne selbst begriffen zu haben. Institutionelle und pädagogische Voraussetzung dafür schaffen, dass es im Interesse jedes Individuums liegt, dass die Interessen auch der anderen Individuen gefördert werden.


*IV - 109*

 

Das Problem Poppers, wie man Rationalität rechtfertigen könne, da eine Rechtfertigung doch immer schon Rationalität voraussetzt, löst sich durch Analyse der Problemsituation. Ich kann zwar einem anderen nichts beweisen, wenn er es nicht will, aber wenn jemand das Intersubjektivitätsgebot nicht anerkennt, so hat er damit auch die Grundlagen der Argumentation aufgekündigt. Ich kann nicht und muss auch nicht mehr mit ihm argumentieren.


*IV - 110*

 

Der Kantsche Kategorische Imperativ wird gerade über die Verherrlichung der Pflicht gewonnen, wo dem Individuum alles Empirische, Sinnliche, jede Neigung ausgetrieben wird. Es bleibt nur noch ein Vernunftswesen – jedenfalls dem Ideal nach, bzw. ein Wesen, das in zwei Welten existiert, der intelligiblen und der empirischen. Richtig ist, dass eigennützige Motive keine Grundlage moralischen Verhaltens sein können. Moralisches Verhalten hat seine  Motivationsgrundlage sicherlich in der sozialisierenden und internalisierenden Wirkung der Gesellschaft selber. Dazu gehört unstreitig ein Institutionen- und Sanktionensystem, das wiederum die eigennützigen (bzw. faktisch vordringlichen) Motivationen der Individuen solchen rechtlichen Bedingungen unterwirft, dass sie zugleich Motive des moralischen Verhaltens werden.


*IV - 111*

 

Ich mache normative Methodologie. Die inhaltliche Füllung ergibt sich aus der Anwendung der formalen Kriterien in Form eines entsprechenden sozialen Institutionensystems, das die individuellen Präferenzen ermittelt, interpretiert, gewichtet und letztlich zu einer allgemein verbindlichen sozialen Entscheidung aggregiert. Was inhaltlich richtig ist, kann nicht die Methodologie entscheiden, sondern z. B. ein (idealer) Wahlmechanismus. Insofern führt die normative Methodologie nicht zur Diktatur der Methodologen bzw. derer, die sich auf die Methodologie berufen (Dies ist ein häufiger Einwand gegen eine normative Methodologie.)


*IV - 112*

 

Ein Sanktionensystem erfordert die Interpretation der Norm, die Überwachung des Verhaltens der Individuen und Zwangsmittel zur Sanktionierung. Wenn dies aus irgendwelchen Gründen nicht gegeben ist, bleibt nur noch die Verinnerlichung der Norm.


*IV - 113*

 

Die Voraussetzungen der Argumentation:
 - Niemand darf dem andern die Fähigkeit absprechen, Argumente nachzuvollziehen,
 - Niemand darf sich gegen die Argumente des anderen verschließen, 
 - Niemand darf dem andern die Fähigkeit zugestehen, Argumente vorzubringen.


*IV - 114*



Das Intersubjektivitätsgebot gilt nur bedingt: "Wenn du argumentieren willst, dann suche nach intersubjektiv und dauerhaft übereinstimmenden Behauptungen!" Man kann auch auf Diskussion verzichten und sich auf Bekenntnisse bzw. Gehorsam fordernde Imperative beschränken. Auch dazu dient Sprache.

*IV - 115*


Der Adressat der Argumente kann auch fiktiv oder nur potenziell sein, z. B. die Nachwelt. Ein Einziger kann gegenüber allen Zeitgenossen schließlich Recht behalten.


*IV - 116*

 

Terminologische Enscheidungen. Soll man "allgemein gültig" oder "intersubjektiv übereinstimmend" sagen? "Allgemein" soll nicht heißen "für jeden", denn hier können verschiedenste empirische Voraussetzung der Argumentation nicht gegeben sein. "Allgemein" soll heißen: "für jeden der an der Diskussion möglicherweise teilnimmt". z. B. ist es sinnlos, von "gültig" für einen Schwachsinnigen zu sprechen. Hier handelt es sich immer um therapeutische pädagogische Kommunikationsformen.


*IV - 117*

 

Wie begründen sich die (normativen)  Bedingungen der Argumentation? Aus dem Ziel, zu allgemein gültigen Antworten auf Fragen zu kommen (Wahrheitssuche). Wie begründet sich dies Ziel? Es lässt sich nicht zwingend für jemanden rechtfertigen, der dies Ziel nicht teilt. Aber ihm gegenüber ist auch jede Begründung überflüssig. Er hat die Bedingung der Argumentation aufgekündigt, das Wort "rechtfertigen" hat für ihn keine Bedeutung.

*IV - 118*


Wenn jemand die Bedingungen der Argumentation verletzt, so kann man ihn darauf hinweisen. Dann wird unter Umständen eine andere Diskussion notwendig, nämlich ob es sich um eine notwendige Bedingung der Argumentation handelt und ob es sich bei seinen Äußerungen um einen Fall handelt, auf den diese Bedingung zutrifft. Hier kann der Argumentationsprozess auf methodologischer Ebene also wieder neu einsetzen, wobei jedoch auch hier wieder das Ziel der zwanglosen intersubjektiven Übereinstimmung vorausgesetzt werden kann. Dies eröffnet zwar der logische Möglichkeit nach ein Regress ad infinitum, da natürlich jedes Element einer Argumentation wiederum infrage gestellt werden kann, aber dieser Regress ist in der Realität immer begrenzt. Denn die Tatsache, dass zwei Individuen miteinander argumentieren, bedeutet ja schon, dass sie – wenigstens teilweise – eine beiden verständliche Sprache benutzen. Und insofern sie von einer gemeinsamen Problem- und Fragestellung ausgehen, gibt es zumindest Elemente einer gemeinsamen Wirklichkeitserfahrung usw.

Natürlich kann es passieren, dass solche Gemeinsamkeiten auch auf allgemeinerer methodologischer Ebene nicht hergestellt werden können. Dann wird der Regress als aussichtslos abgebrochen und damit ist der Gültigkeitsstatus beider Positionen bis auf weiteres negativ. Keine Seite kann für ihre Position "Objektivität" beanspruchen, sie kann höchstens Gehorsam erzwingen. In dem Augenblick jedoch, wo jemand einsieht, dass er die Regeln der Argumentation verletzt und wo er gegen diesen Hinweis keine Gegenargumente vorbringen kann, müsste er diese Position aufgeben. Andernfalls ist die Argumentation mit ihm an diesem Punkt sinnlos geworden.

Man kann natürlich die Argumentation überall dort weiterführen, wo die genannte Bedingung keine Rolle spielt. Außerdem kann man auf einer anderen Ebene weiterhin kommunizieren, z. B. auf einer pädagogischen, therapeutischen, sanktionierenden oder rein überredenden Ebene, was zu einem Verzicht auf die beanstandete Position führen kann.


*IV - 119*


Die Einigung über die Regeln der Argumentation wird dadurch erleichtert, dass sie ja nie auf einer tabula rasa stattfindet, sondern auf dem Hintergrund vergangener Erfahrungen. z. B. kann nicht jemand eine Argumentationsbedingung bestreiten, auf die er sich selber bei anderen Fragen berufen hat. Und man kann sich nicht auf eine Argumentationsbedingung berufen, die man an anderer Stelle bestritten hat. Von dorther ist die subjektive Willkür eingeschränkt durch das Gedächtnis der Beteiligten.


*IV - 120*

 

Niemand wird zugeben wollen, dass er das Ziel einer allgemeingültigen Antwort nicht anstrebt, selbst wenn er z. B. insgeheim nur das eine Ziel verfolgt, so viel Verwirrung in den Köpfen zu schaffen, dass die Unhaltbarkeit seiner eigenen Position nicht deutlich werden kann. Was macht man dann? Kann man ihn festnageln? Vielleicht nicht ihn selber, eher schon in den Augen von Dritten, die bestimmte Regeln der Argumentation anerkennen und nicht bereit sind, diese Bedingungen zugunsten einer solchen Position über Bord zu werfen.


*IV - 121*

 

Warum benutzt man Zufallsmechanismen, um Entscheidungen herbeizuführen?

Einmal natürlich aus Freude am Spiel, an der Spannung, der Überraschung, der Hoffnung etc.. So haben wir im Urlaub in der Gruppe immer ausgewürfelt, wer abwäscht und abtrocknet.

Zum andern in der Spieltheorie bei der Anwendung "gemischter Strategien".

Dann in Situationen, wo man so schwerwiegende Entscheidung trifft, dass man sie einem "Gottesurteil" bzw. dem "Schicksal" überlässt. Wenn z. B. von einer Gruppe ein Mitglied sein Leben opfern muss, damit die anderen überleben, so ist dies durch Diskussion kaum zu klären, weil die Interessiertheit jedes Einzelnen eine Argumentation immer dem Verdacht der Rationalisierung aussetzt (es sei denn, dass bereits vorher entsprechende Grundsätze von der Gruppe akzeptiert wurden). In diesem Fall kann ein Losverfahren für alle akzeptabel sein. (Allerdings heißt dies nicht, dass nicht bessere Entscheidungskriterien vorgelegen hätten, sie sind nur faktisch nicht anwendbar. z. B. kann es sein, dass innerhalb der Gruppe Einzelne so wichtig sind – etwa aufgrund besonderer Fähigkeiten, die für die Ziele der Gruppe unentbehrlich sind –, dass diese Individuen von vornherein vom Risiko ausgeschlossen werden.)

Ein anderes Beispiel wären triviale Entscheidungen, die aber sonst mit hohen Entscheidungskosten verbunden wären (langwierige Beratungen, Abstimmungen etc.), wenn man nicht per Los entscheiden würde.

Diese Fälle ähneln reinen Koordinationsentscheidungen, die keine Interessenkonflikte enthalten (etwa ob die Schiffsbeleuchtung auf Steuerbord rot oder grün sein soll, einmal abgesehen von Umstellungskosten).


*IV - 122*

 

Die Entstehung von Normensystemen zu analysieren, ist aus heuristischen Gründen sinnvoll: (Kambartel, Lorenzen) Was haben sich die Leute damals dabei gedacht? Wie wird tatsächlich verfahren? Das Existierende ist unter anderem ja Ergebnis der Überlegungen vergangener Generationen. Wir fangen insofern auch nicht beim Punkt Null an – abgesehen davon, dass der Status quo Ausgangspunkt unserer Veränderungsbemühungen ist.


*IV - 123*

 

Jemand kann sich zur egoistischen Position bekennen und das Intersubjektivitätsgebot ablehnen, aber er kann für diese Position nicht argumentieren.


*IV - 124*

 


Die Unterschiede zwischen Gehorsamsforderung und Gültigkeitsanspruch herausarbeiten. Frage: Lässt sich ein Rechtssystem denken, dass nur das Erstere und nicht das Letztere enthält? Wohl ja, als reines Gewaltverhältnis, das allerdings geregelt ist. Ein völlig willkürliches Regiment wäre davon noch zu unterscheiden.


*IV - 125*

 

Inwiefern ist die Rechtfertigung eines ganzen Normsystems gegenüber anderen Normensystem (z. B. beim Vergleich zweier Wirtschaftsordnungen) verschieden von der Rechtfertigung einer Handlungsalternative gegenüber einer anderen? Das erster Verfahren berücksichtigt die Übergangskosten nicht, da es nicht den Status quo einbezieht. Kann man auch sagen, dass im ersteren Fall die Normsysteme unter der Bedingung ihrer Einhaltung verglichen werden? D.h. dass auch die nötige Motivations–, Überwachungs-, Sanktions- und Übertretungskosten unberücksichtigt bleiben? Wenn ja, so wird der Vorwurf des utopischen, idealistischen, theoretischen verständlich, demgegenüber auf praktischer Erprobung bestanden wird.


*IV - 126*

 

Gibt es überhaupt "die" Präferenzen eines Individuums in einer gegebenen Situation? Oder gar unabhängig von jeder Situation? Sind es nicht immer Präferenzen unter normativen Voraussetzungen, z. B. bei Geltung des Eigentumsrechts, eines des Preissystems, des Mehrheitswahlrechts. Immer wird doch die Formulierung der Präferenz durch den normativen institutionellen Zusammenhang seiner Ermittlung und Bestimmung bereits beeinflusst. Ist insofern Arrows Ausgangspunkt unrealistisch?


*IV - 127*

 

Die Logik des intraindividuellen Nutzenvergleichs analysieren. Wie wird hier aggregiert? Oder auch beim intertemporalen Nutzenvergleich eines Individuums. Kann man die individuellen Rationalitätsmaximen zur Basis der intersubjektiven Aggregationsregeln machen?


*IV - 128*

 

Es kann auch Pseudoeinigungen geben, etwa wenn man sich auf den Wortlaut eines Vertrages geeinigt hat, ohne zu merken, dass jede Vertragspartei diesem einen anderen Sinn unterlegt. Dies kann allerdings auch eine einverständliche Strategie sein, um z. B. in außenpolitischen Verträgen einen Teilbereich mit abzudecken, über den man sich faktisch nicht geeinigt hat. ("Fauler Kompromiss").


*IV - 129*

 

Folgt aus der Tatsache, dass man eine bestimmte Norm für richtig hält, dass man sich auch nach ihr verhalten muss? Oder gibt es eine zusätzliche unausgesprochene Bedingung? z. B. kann ich die Norm für richtig halten, niemals jemanden mit Waffengewalt zu etwas zu zwingen. Aber wenn jetzt ein anderer mich mit Waffengewalt angreift, so würde die Befolgung meiner Norm dazu führen, dass ich mich unbewaffnet der Gewalt des andern beugen muss. (Das Dilemma des prinzipiellen Pazifisten.) Ich habe dann vielleicht nicht unmoralisch gehandelt, aber das gewünschte Normensystem ist dadurch auch nicht etabliert worden und ich habe mir selber geschadet. Ist es dann nicht sinnvoller, die pazifistische Norm so zu interpretieren: "Ein Normensystem, das die Anwendung von Gewalt verbietet, ist besser als eines, das dies nicht tut" oder "Ich werde keine Waffen gebrauchen, solange auch alle anderen so handeln"?


*IV - 130*

 

Ein Normensystem verliert seine Gültigkeit für das individuelle Handeln, wenn seine Geltung nicht gegegeben ist. Das heißt jedoch nicht, dass man es nicht weiterhin als effektives System anstreben kann oder soll.

Dieser Gesichtspunkt wird am Zusammenbruch bestimmter Normensysteme deutlich, wenn diese ungestraft übertreten werden, z. B. durch Vordrängeln in Warteschlangen. Wenn andere Personen sich nicht an die Reihenfolge der Abfertigung gemäß ihrer Ankunft halten, sind diejenigen die Dummen, sich weiterhin anstellen. Es entsteht ein Zustand extrem ungleich verteilter Wartezeiten. Nun mag man versuchen, der Norm Geltung zu verschaffen. Gelingt dies jedoch nicht, so hält sich sinnvollerweise niemand mehr an die Norm des "Hinten-anstellen!"
Wenn Kinder zu ihrer Entschuldigung sagen: "Er hat angefangen", wird unausgesprochen ein ähnliches Argument benutzt.

Juristisch gibt es die "Notwehr", d.h. gegen Normbrecher ist man selber nicht mehr an die üblichen Normen gebunden. Allerdings gibt es hier auch das Gebot der "Verhältnismäßigkeit der Mittel". z. B. ist Selbstjustiz nicht erlaubt, es dürfen gewissermaßen keine wichtigeren Normen (größeren Güter) dabei verletzt (gefährdet) werden, als dies durch den Normbrecher geschehen ist.


*IV - 131*

 

Wenn jemand für das Zusammenfallen von Moral und Selbstinteresse plädiert (Hume in Gauthier 106-110) und dabei mit den tatsächlichen sozialen Verhältnissen und psychischen Empfindungen argumentiert, so setzt er dabei ja schon bestimmte normative und pädagogische Institutionen voraus, die gerade dazu dienen, die Befolgung der geltenden Normen zum Selbstinteresse jedes einzelnen zu machen, z. B. Sanktionssysteme, Erziehungseinrichtungen etc.. Aber diese normativen Institutionen sollen ja gerade erst gerechtfertigt werden. Dies geht sicherlich nicht über das Eigeninteresse.

Es kann unabhängig vom Erziehungs- und Sanktionsprozess im Individuum verankerte Bedürfnisse geben, die sich auf das Wohlergehen der andern richten, die Zustimmung und Anerkennung der andern suchen usw. Diese "instinktiven" altruistischen bzw. sozialen Regungen sind meist gruppenbezogen, also auf die eigene Gesellschaft (Familie, Sprachgruppe, Lokalpatriotismus, Ethno, Nationalismus, Klasse – Stand – Berufsgruppe etc.). Sie führen insofern noch zu keiner allgemeinmenschlichen Moral.


*IV - 132*

 

Es gibt auch "natürliche" Reaktionen auf schädigendes Verhalten anderer und damit einhergehende Normverletzungen in Form von Aggression und Rachegefühlen usw.. Das sind gewissermaßen die "natürlichen" Regler der Moralität. Aber diese Rache-Reaktionen von Konflikt-Parteien sind immer nur über die jeweils verfügbaren Machtmittel wirksam und die sind nicht notwendig gleichverteilt. Die Wut der Ohnmächtigen braucht man deshalb nicht zu fürchten, die Wut der Mächtigen umso mehr.


*IV - 133*

 

Terminologisches: Soll man den Terminus "Wahrheit" für faktische Aussagen reservieren und für Normen und Werturteile den Begriff "Gültigkeit" nehmen? Und welchen Begriff soll man für das Kriterium der Intersubjektivität nehmen? "Allgemeingültigkeit" als Oberbegriff für "Wahrheit" und "Gültigkeit"? Es gibt ja auch noch den Begriff der "Richtigkeit". Man spricht von einer "richtigen Antwort auf eine Frage", allerdings auch von einem "richtigen Ersatzteile für ein Auto" etc.. Vielleicht muss die Terminologie erstmal noch vorläufig bleiben, allerdings genau definiert, so dass die Wortwahl zweitrangig wird, ähnlich wie bei der logischen Symbolik, die zwar exakt und ineinander übersetzbar aber nicht einheitlich ist.


*IV - 134*

 

Das Immunisierungsverbot kann in der empirischen Wissenschaft bestimmte Theorien von vornherein ausschließen. Aber innerhalb dieses Rahmens kommt ein zusätzliches Kriterium zur Anwendung: die Übereinstimmung mit den beobachtbaren Fakten. Was ist das entsprechende Kriterium in der normativen Wissenschaft? Der intersubjektive Nutzenvergleich aufgrund annähernd gleicher Bedürfnishierarchien?


*IV - 135*

 

Der Appell an das Eigeninteresse (Sanktiondrohung etc.) kann der Motivation zu normgemäßen Handeln dienen. Er kann die moralische Argumentation jedoch nicht ersetzen.


*IV - 136*

 

Kann man die Notwendigkeit von generellen Normen, die unabhängig von Raum und Zeit gültig sind, aus der Konsistenzforderung an die Einzelvorschriften ableiten? Lassen sich nicht beliebige Mengen von Einzelvorschriften in Regeln zusammenfassen, wenn sie in sich konsistent sind? [Allerdings: Ein Imperativ: "Tue (hier und jetzt) x!" kann keinem anderen Imperativ widersprechen, wenn nicht zufällig die Raum-Zeit-Bestimmungen identisch sind - einschließlich der Identität der Adressaten].


*IV - 137*

 

Rawls Konzept des "reflektierten Gleichgewichts" basiert auf der Anwendung von zwei Perspektiven: den für richtig erachteten normativen Prinzipien und den intuitiven normativen Einzelurteilen. Beide Perspektiven werden einem wechselseitigen Überprüfungs- und Anpassungsprozess unterworfen, bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. Ähnelt dies der empirischen Methodologie (Einzelbeobachtung und Theorie)? In der Empirie haben die Einzelbeobachtungen großes Gewicht. Allerdings verlangt man auch hier eine Wiederholbarkeit.

 

*IV - 138*

Terminologisches: "Geltung" als faktisch sanktioniert im Sinne von "geltendes Recht". Dagegen "Gültigkeit" als anzuerkennendes Recht, als gelten sollendes Recht.


*IV - 139*

 

Regel der Argumentation: Die Bereitschaft, die eigene Position zu korrigieren, wenn ein gültiges Gegenargument geliefert wird. (Dies geht sicherlich gegen die angeborenen psychische Stabilisierungstendenzen der Persönlichkeit. Es bedarf also einer Anstrengung, einer gewissen Selbstüberwindung, eines spezifischen Motivs zur Wahrheitssuche.)


*IV - 140*

 

Zu Rawls Differenzprinzip:
"Besserstellungen der besser Gestellten sind gerechtfertigt, wenn dabei auch die am schlechtesten gestellten Individuen besser gestellt werden."
Man könnte auuch andersherum formulieren:
"Besserstellungen der am schlechtesten Gestellten sind nur dann gerechtfertigt, wenn durch sie auch die besser Gestellten besser gestellt werden". Beide Kriterien sind identisch bis auf die Fälle, in denen Besserstellungen der am schlechtesten Gestellten möglich sind, ohne dass dabei die besser Gestellten ebenfalls besser gestellt werden. (Wenn diese Fälle aus bestimmten empirischen Gründen sehr selten sind, werden die Kriterien nahezu identisch). (?)

Außerdem ist durch die nur ordinale Messung die Frage des Abstands zwischen besser und schlechter Gestellten unbeantwortet - genau wie beim Paretokriterium. Eine weitere Frage ist, was mit Veränderungen ist, die eine Gruppe schlechter stellen. Sind solche Veränderungen zulässig? Außerdem: bei ordinaler Messung kann man Besserstellungen nicht quantitativ miteinander vergleichen. Vielleicht fällt für die schlechter Gestellten immer nur etwas ab ...


*IV - 141*

 

Solchen Theoretikern auf die Finger sehen, die – ohne sich das Problem der Gültigkeit von Normen systematisch zu stellen – doch am Ende zu handfesten Normen, Forderungen oder Verhaltensvorschriften gelangen, für die sie allgemeine Gültigkeit beanspruchen.


*IV - 142*

 

Eines der gängigsten Beeinflussungsmittel auf normativen Gebiet ist die Unterdrückung von verfügbaren Alternativen. Man muss sich  dadurch zwischen Möglichkeiten entscheiden, die gar nicht alternativ sind.


*IV - 143*

 

Zum "Schleier des Nichtwissens in der Ausgangsposition" bei Rawls. Problematisch ist, dass in diesem Zustand die Individuen kein konkretes Bewusstsein der möglichen Bedürfnisse haben können, bestimmte Ziele aber erst in der konkreten Kenntnis der zu wählenden Gesellschaftsordnung bewusst werden.


*IV - 144*

 

Das Mehrheitsprinzip wird damit gerechtfertigt, dass es die meisten Individuen zur Realisierung der getroffenen kollektiven Entscheidungen motiviert sind. (Aber diese Motivation kann auch eine Minderheit durch die Anwendung von Sanktionen erzeugen.)


*IV - 145*

 

Individualismus: Ob es das Individuum als solches gibt unabhängig von einer Gesellschaft, ist eine Pseudofrage, die nicht beantwortbar ist. Im normativen Gespräch tritt das Individuum mit eigenen Argumenten und Forderungen auf. Und der Gültigkeitsanspruch wird gegenüber dem einzelnen Individuum erhoben. Insofern ist das Individuum ein realer Träger von Kritik. Man kann natürlich fragen, was das Argumentieren des Individuums möglich macht, historisch – sozial. Da gibt es Abhängigkeit von anderen Individuen.


*IV - 146*

 

Im Recht – vor allem im angelsächsischen – spielen Präzedenzfälle eine große Rolle: die Begründung: Konsistenz der allgemein geltenden Normen, die keine unterschiedliche Behandlung der Fälle gestattet. Außerdem Rechtssicherheit, die eine Voraussehbarkeit der juristischen Maßnahmen impliziert und eher der Koordinationsproblematik zuzurechnen ist.


*IV - 147*

 

Die Ausgangsposition ist der Versuch von Rawls, das Status-quo-Problem jeder Konsens- bzw. Vertragstheorie zu umgehen.


*IV - 148*

 

Kann man die verschiedenen Entscheidungsregeln als Abwandlungen bzw. Abschwächungen der Konsensregel interpretieren? Freiheitsräume – Mehrheitsregel – Paretokriterium – Ausgangsposition etc.?


*IV - 149*

 

"Wat de Buer nich kennt, det fret he nich." Präferenzen aufgrund von Erfahrung.


*IV - 150*

 

Regeln der Argumentation:
"Bemühe Dich um einen intersubjektiv übereinstimmenden Bedeutungsgehalt deiner Argumente!" Man kann dies auch als die Bedingung der Verständlichkeit formulieren: "Strebe nach Verständlichkeit deiner Argumente!"


*IV - 151*

 

Daraus folgt u.a., dass man mehrdeutige Wörter vermeidet (sofern die Gefahr einer Verwechslung des Gemeinten besteht). Dies kann man durch eine veränderte Definition der Begriffe erreichen. Wer diese Regel abgelehnt, verstößt gegen die zentrale Regel: "Strebe nach allgemein gültigen Normen!" Denn gegen mir unverständliche oder mehrdeutige Argumente kann ich nicht argumentieren. Der andere kann im Zweifelsfall immer sagen, ich hätte ihn falsch verstanden, mein Argument träfen ihn nicht.


*IV - 152*

 

Juristische Leerformeln sind genaugenommen "operational" definiert. z. B.: "Ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist das, was das Bundesverfassungsgericht als einen solchen ansieht".

*IV - 153*

 


Regeln der Argumentation: "
Vermeide Verstöße gegen die logischen Schlussregeln!" Verstöße gegen die Schlussregeln führen dazu, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob die abgeleiteten Sätze wahr sind, selbst wenn die Prämissen wahr sind. Ich gebe etwas als bloße Umformulierung aus, während es sich in Wirklichkeit um einen anderen Bedeutungsgehalt handelt.


*IV - 154*

 

Man unterscheidet "Geist" und "Buchstaben" eines Gesetzes oder Vertrages und man beruft sich auf beides. Was ist der Geist unabhängig von der Bedeutung der normativen Formulierungen? z. B. Absichtserklärungen oder Zielformulierungen allgemeiner Art in Präambel, Anfangsartikel etc.?


*IV - 155*

 

Zu reinen Koordinationsregeln  wie z. B.: "An Kreuzungen soll der Verkehrsteilnehmer, der (immer in Fahrtrichtung gesehen) von rechts kommt, gegenüber dem Verkehrsteilnehmer, der von links kommt, Vorfahrt haben (obwohl das sicherlich kein reines Koordinationsproblem ist.) Welche Argumente gibt es hier für die eine oder die andere Regelung? Sie sind gleichwertig, abgesehen vom Status quo.
Wenn ein Zusammenstoß passiert ist, so bleibt die Frage, welche Vorfahrtsregelung gegolten hat. Eine überpositive Argumentation ist hier nicht sinnvoll, weil man gegen die Regelung nicht argumentieren kann.


*IV - 156*

 

Unzurechnungsfähigkeit gilt als äußerst negative Eigenschaft. Das eigene Handeln kann einem nicht zugerechnet werden. Man entgeht vielleicht der Strafe und der Schuld, aber dafür verliert man auch die Geschäftsfähigkeit, kommt vielleicht gar in Sicherungsverwahrung.


*IV - 157*

 

"Chancengleichheit". entspricht dem Leistungsprinzip: die Leistungen müssen dem Individuum zugerechnet werden und nicht fördernden Umständen. Aber wo ist die Grenze zwischen Individuum und Umstand zu ziehen? (?)


*IV - 158*

 

Konsumverzicht als Leistung des Kapitaleigentümers. Aber verzichten kann nur, wer genügend hat. Man kann auf umso mehr verzichten, je mehr man hat. Insofern ist es ein sehr ungleiches Maß für die Leistung der Individuen.


*IV - 159*

 

Was spricht gegen ein familiäres anstelle eines individuellen Leistungsprinzips? (Wichtig bei Erbrecht)


*IV - 160*

 

Die Allgemeinheit soll dem Individuum in unverschuldeten Notlagen helfen. Warum? Was sind das "unverschuldete Notlagen"?


*IV - 161*

 

Wie zwingend ist das Intersubjektivitätsgebot? Kann auch jemand an der normativen Diskussion teilnehmen mit der Absicht, die Unmöglichkeit allgemein gültiger Normen zu zeigen? (Vielleicht ja, aber auch dazu muss er sich erstmal auf den Versuch einlassen.)


*IV - 162*

 

Gehört auch der Verzicht auf Zwang zu den Regeln der Argumentation? Inwiefern unterscheidet sich die Begründung hier von der Begründung für die Freiheit der individuellen Entscheidung? Inwiefern unterscheidet sich diese Problematik des Strebens nach allgemeiner Gültigkeit von der Problematik des Konsens als Entscheidungs Regel?


*IV - 163*

 

Kambartel (in Kambartel S.66,67) charakterisiert den rationalen Dialog durch "Unvoreingenommenheit" (Bereitschaft, die eigene Position infrage stellen zu lassen).

"Zwanglosigkeit" (keine Anwendung von Sanktionen zur Erreichung von Zustimmung zu einer Behauptung)

Nicht–Persuasivität (keine Argumente wider besseren Wissens anwenden, um die Zustimmung des anderen zu erhalten).


*IV - 164*

 

Konsens unter Zwang. Wenn jemand sagt, bevor er einer Folterinstanz überantwortet wird:" Alles, was ich unter Folter sagen werde, entspricht nicht meinem Willen, erkenne ich nicht an", so ist damit das Problem der qualifizierten Zustimmung gestellt. Man sagt vielleicht auch metaphorisch: " ... da war ich nicht selber" oder "Die haben meinen Willen gebrochen".

In der Rechtsprechung sind Geständnisse unter Folter ungültig (ebenso wie Verträge unter Zwang). Ähnliches gilt für die Ausschaltung des kritischen Denkens durch Drogen, Hypnose, Krankheit usw. Beispiele der Inquisition, des modernen politischen Terrorismus, erpresste Unterschriften, Geständnisse, Widerrufe, Schuldbekenntnisse etc.)


*IV - 165*

 

Terminologisches: der Ausdruck "Transsubjektivität" suggeriert ein über den Individuen und ihrem Wollen angesiedeltes Gültigkeitskriterium, gar ein von ihnen unabhängiges. Deshalb ist der Ausdruck "Intersubjektivität" doch vorzuziehen


*IV - 166*

 

Wenn jemand sagt: "Erziehe die Menschen so, dass Konflikte abgebaut und Kooperation gefördert wird!" (Bertrand Russell), so muss die Frage gestellt werden, ob dadurch nicht die Konflikte nur in das Individuum verlagert werden (siehe Schwemmer in Kambartel), also das Nutzenniveau der Individuen jetzt durch interne Konflikte statt durch externe herabgesetzt wird.


*IV - 167*

 

Terminologisches. Bedeutung von "allgemein gültige Norm".
Eine Norm ist allgemein gültig, wenn sie auf das Verhalten jedes möglichen Menschen anzuwenden ist.
Eine Norm ist allgemein gültig, wenn über sie ein allgemeiner Konsens herstellbar ist.
Hier geht terminologisch noch so manches drunter und drüber.


*IV - 168*

 

Ziel dieser Überlegungen: den Bereich normativer Streitfragen verringern, nicht gänzlich eliminieren, eventuell auch: neue Lösungsvorschläge zu machen.


*IV - 169*

 

Systematische Kooporationsvorteile werden normativ geregelt, wobei die Voraussetzung gilt, dass jeder mit annähernd gleicher Wahrscheinlichkeit Nutznießer bzw. Kostenträger der normativen Regelung ist. z. B. die Norm: "Halte anderen Menschen die Tür auf, diese mit beiden Händen tragen müssen!"
Dies sind Regeln der Hilfeleistung, die auf Kooperationsvorteilen beruhen: Der Aufwand für den Helfenden beim Aufhalten der Tür ist gering. Für den anderen wäre das Aufmachen mit sehr viel höherem Aufwand verbunden, unter Umständen wäre es sogar unmöglich. Etwa wenn jemand etwas sehr Schweres bewegen muss, das er allein nicht bewegen kann und wo er deshalb auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Es gibt auch eine Rechtsnorm, die die Hilfeleistung in Notfällen vorschreibt, ohne Anrecht auf Erstattung der Kosten (Gritscheneder S. 255) insbesondere wenn die Hilfe ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Spruch: "Vergelt's Gott!" von dem, der sich nicht revanchieren kann.

*IV - 170*

Wenn die Nutzendimension die Entscheidungsstruktur eines Individuums in Bezug auf eine Menge von Alternativen quantitativ abbildet, so ist damit immer die gegebene Situation vorausgesetzt, also dass was alle Alternativen gemeinsam ist, vor allem der Ausgangspunkt, der Status quo.

*IV - 171*

Das Intersubjektivitätsgebot impliziert eine gewisse Symmetrie der Argumentationspartner, sofern beide nach intersubjektiv einsichtigen Argumenten streben sollen. Es kann sich also niemand in die Position begeben, die einfach sagt: "Das überzeugt mich nicht" und den andern sich ab strampeln lässt. Jeder muss selber Argumente für seine Position vorbringen.

*IV - 172*

Wahlsituationen konstruieren, in denen die Interessen der Individuen zusammenfallen: die "original position", die Teilung des Kuchens in möglichst gleich große Stücke, die Reziprozitätsannahme etc.

*IV - 173*

Zur "Ausgangsposition" bei Rawls: vielleicht ist diese Methode akzeptabel. Sie ist aber praktisch nicht realisierbar: der Schleier des Nichtwissens lässt sich nicht erzeugen.

*IV - 174*

Über Wertungen kann man sich eigentlich nur insofern streitet, als sie verhaltensrelevant werden und zu Normenkonflikten führen.

*IV - 175*

Die normative Methodologie soll Normen- (Friedens-, Interessen- ) konflikte entscheiden. Insofern ist ein bestimmter Konkretionsgrad für die zu bestimmende Norm durch die Problemsituation vorgegeben. Es geht nicht um irgendwelche gültigen Normen, sondern gültige Normen, die für bestimmte Konflikte relevant sind. Dies ist das Argument gegen Leerformeln ohne eine Festlegung der Interpretationskompetenz).

*IV - 176*

Impliziert "Wollen" "Können"? Wenn ein Gelähmter sagt: "Ich will tanzen", so ist das nicht sinnlos. Hier wird ein Ziel formuliert, dessen Erreichung gegenwärtig unmöglich ist, aber dessen Erreichung in der Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann (z. B. wegen der Möglichkeit neuartiger Heilungsmethoden).
ie gegenwärtige Unmöglichkeit wird sprachlich durch den Konjunktiv mit ausgedrückt: "Ich würde gerne tanzen." In der Militärstrategie unterscheidet man auch zwischen "Befehlsführung", die Handlungen der Untergebenen normiert und "Aufgabenführung", die Ziele normiert, ohne die Mittel und Wege dazu zu bestimmen. Diese Mittelwahl wird auf den Normadressaten delegiert. Dadurch kann dieser flexibel entsprechend den Bedingungen vor Ort handeln. Das setzt allerdings Entscheidungsfähigkeit beim Normadressaten voraus.

*IV - 177*

Auch die Konstruktion Rousseaus (Homogenität, Gleichheit, Nichtexistenz von Koalitionen etc.) ist eine Entscheidungssituation, in der die Interessen der einzelnen zusammenfallen - zumindest die grundlegenden.

*IV - 178*

Ich halte einen Mehrheitsbeschluss für falsch und als Demokrat doch für gültig.
Hier muss man wohl unterscheiden: Wenn durch die Abstimmung festgestellt wurde, dass meine Interessenlage in der Minderheit ist, so kann ich das als Demokrat akzeptieren, was jedoch nicht heißt dass meine Interessenlage damit irgendwie unzulässig oder illegitim würde. Ich kann sie weiterhin, etwa bei zukünftigen Abstimmungen, zum Ausdruck bringen.

Anders liegt der Fall, wenn eigentlich alle in der gleichen Interessenlage sind und deshalb eigentlich auch zum gleichen Votum kommen müssten (Das ist wohl die Annahme Rousseaus). Wenn ich dann in der Minderheit bin, gibt es nur die zwei Möglichkeiten: 1.) dass ich mich geirrt habe, oder 2.) dass sich die Mehrheit geirrt hat. Bei Anwendung des Mehrheitsprinzips wird davon ausgegangen, dass sich jeweils die Minderheit geirrt hat.
Wie ist das zu rechtfertigen? Es gibt hier bestimmte wahrscheinlichkeitstheoretische Untersuchungen, die zeigen, dass sich subjektive Irrtümern nur sehr begrenzt auf Mehrheitsentscheidungen auswirken. Anders ausgedrückt: ... dass sich die einzelnen Individuen sehr viel häufiger irren als eine Mehrheit, die sich aus solchen Individuen zusammensetzt.
Die Überlegungen laufen wohl so, dass man eine Irrtumsquote von z. B. 20 % bei den Individuen annimmt, d.h. jedes fünfte Votum ist bei ihnen falsch. Wenn man nun jeweils 10 Individuen abstimmen lässt nach dem Mehrheitsprinzip, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich gleichzeitig mehr als 5 Individuen (also die Mehrheit) irren sehr viel geringer ist als 20 %. Im Durchschnitt irren sich ja nur 2 Personen (Die Irrtumswahrscheinlichkeit hier noch einmal ausrechnen. Welche Verteilung? Normalverteilung? Binominalverteilung?)
Das Mehrheitsprinzip ist also geeignet, die Auswirkungen individueller Irrtümer erheblich zu reduzieren, wenn auch nicht ganz auszuschließen. Hierzu gibt es auch sozialpsychologische Untersuchungen von Sherif (?), die eine Anpassung von individuellen Schätzungen an die geschätzten Werte anderer feststellen, auch wo diese falsch sind!
Andererseits sagt man ja oft, dass man über Wahrheitsfragen nicht abstimmen könne. Hier gilt nur der Konsens bzw. die Frage bleibt wissenschaftlich offen. Andererseits beruft man sich oft auf die Ansichten der "überwiegenden Zahl" der Fachleute, wohl schon deswegen, weil völlige Einigkeit auch in den empirischen Wissenschaften kaum zu erreichen ist. (Hier einmal Beispiele aus der Geschichte der Physik oder der juristischen Gutachten heranziehen.)
*IV - 179*

Welchen Sinn haben dabei Verfahren der Gerichtsbarkeit wie in Amerika, wo die 12 Geschworenen zu einem einheitlichen Urteil (nur über den Tatbestand und auch über das Strafmaß?) kommen müssen, damit ein Angeklagter verurteilt werden kann (In deutschen Gerichten, z. B. beim Bundesverfassungsgericht, wird wohl abgestimmt.)
Man könnte die Konsensbedingung hier damit rechtfertigen, dass es sehr viel schwerwiegender ist, einen Unschuldigen zu verurteilen, als ein Schuldigen freizusprechen? (Warum?)
Die Problematik liegt allerdings in dem Fall anders, wo ich der Meinung bin, dass sich die Mehrheit in einem systematischen (nicht "zufälligen") Irrtum befindet, und die Minderheit hier recht hat. Die Irrtümer sind ja nicht zufallsmäßig über die Fragen gestreut, es gibt schwierige und leichte Fragen und Fragen, die für die Individuen unterschiedlich schwer sind. (Ich spreche dauernd von "Irrtum" bzw. "leichten oder schwierigen" Fragen. Damit ist der Aspekt der interessengelenkten Fehlauffassungen und der Manipulation ausgeklammert).
Wenn ich nun fest der Auffassung bin, dass die Mehrheit (bzw. ein für die Mehrheit entscheidender Anteil, ohne den diese Mehrheit nicht zu Stande gekommen wäre) falsch abgestimmt hat ("falsch" ist hier bezogen auf die ihre eigene Interessenlage!), so könnte man einwenden, dass ich dann diese Individuen auch relativ leicht über den offensichtlichen Fehler hätte aufklären können. Die Tatsache, dass mir dies nicht gelungen ist, lässt darauf schließen, dass der Fehler nicht so eindeutig ist.
Allerdings kann dies kein pauschales Argument sein, denn es kommen sicherlich genügend Fälle tatsächlich vor bzw. sind theoretisch denkbar und erklärbar, in denen die Betreffenden so "verblendet" waren, dass die Einwände nichts gefruchtet haben.
In einem solchen Fall müsste ich die Diskussion über das Willensbildungsverfahren und speziell die Bedingungen der Aufklärung aufnehmen und hier eine institutionelle Änderung fordern, die solche Fehlentscheidungen weniger wahrscheinlich macht. Dabei ist es ja nicht notwendig so, dass sich diejenigen, die sich im einzelnen Fall von ihrer Fehlentscheidung nicht zu überzeugen sind, auch gegen Verfahrensänderungen wenden, die z. B. die Bildungs– und Medienpolitik betreffen würden. (Anders liegt der Fall, wenn bestimmte gesellschaftliche Kräfte mit Manipulationsmacht an dieser Fehlentscheidung und an weiteren inhaltlich interessiert waren und deshalb auch gegen eine Verbesserung der Aufklärungsbedingungen manipulativ auftreten und damit Mehrheiten gegen solche Änderungsversuche mobilisieren.)
Wenn die manipulative Kraft gewissermaßen hermetisch wird, hebt sich die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzip auf, denn es besteht keinerlei Rechtfertigung dafür, sich ständig den Irrtümern der Mehrheit (das in diesem Falle zugleich die Interessen einer manipulativen Minderheit ist) zu beugen.

Im andern Fall eines "zufälligen" Mehrheitsirrtums kann ich ihn als Demokrat trotzdem als für mich gültig anerkennen, selbst wenn keine institutionellen Änderung wirksam oder durchsetzbar sind, die solche Fehler in Zukunft unwahrscheinlicher machen. Ich kann dann sagen, dass das Mehrheitsprinzip zwar nicht in jedem Fall, aber im Großen und Ganzen richtige Entscheidung herbeiführt und es deshalb sinnvoll ist, es beizubehalten.
Wie ist es jedoch, wenn ich - ausgehend von den falschen Einzelentscheidungen - auch das Verfahren der kollektiven Entscheidung nicht mehr anerkenne und mir eine Änderung so ohne weiteres nicht möglich ist? Ist damit notwendig der casus belli bzw. der Hobbessche Naurzustand gegeben? Welche Zwischenstufen des Konfliktes gibt es noch?
Man könnte natürlich einmal das Kollektiv verlassen z. B. aus der Organisation austreten und aus dem Land auswandern. Eine andere Möglichkeit wäre der begrenzte Konflikt in Form eines demonstrativen Verstoßes gegen den nicht anerkannten Beschluss. (Dies wird etwa von bestimmten Wehrdienstgegner praktiziert, die nur die Gesetze über die Wehrpflicht nicht anerkennen).
Diese Konflikte sind ausdrücklich als begrenzte definiert – unter Anerkennung der sonstigen Normen –, sie stellen also keinen bedingungslosen Machtkampf dar, keinen "Kriegszustand". In gewisser Weise handelt es sich deshalb hier um Demonstrationsformen zum Zwecke der Meinungsänderung bei der Mehrheit. Dies wird schon daran deutlich, dass diese Verstöße nicht verheimlicht werden und man sich der Gerichtsbarkeit nicht zu entziehen sucht, was bei einem reinen Machtkampf, einem Umsturzversuch, zu erwarten wäre.

Inwiefern kommt hier das Problem der Verhältnismäßigkeit der Mittel auf? Man könnte sagen, dass ein eine existenziell betroffenen Minderheit härtere Mittel anwenden dürfte als eine marginal tangierte Minderheit. Eine andere Frage ist die, ob man selbst bei Vorliegen des Kriegszustandes aufgrund der Klugheit, also aufgrund strategischer Überlegungen, lieber innerhalb des legalen Rahmens agiert, um dem Gegner keine Angriffsfläche juristischer Art bieten.

*IV - 180*

Gewichtung: man spricht von "schwerwiegenden" Verstößen, auch das Strafmaß stellt eine Gewichtung dar.

*IV - 181*

Wenn Leute die Fragen nicht klären, zu denen sie diskutieren, so kann es sein, dass zwei Leute zu verschiedenen Fragen sprechen, ohne es zu merken. Ihr Streit ist dann ein Pseudostreit, sinnlos, weil sie sich gar nicht widersprechen können. In einem solchen Fall könnte man sich höchstens die gemeinsame Frage stellen, welche der beiden Fragen man sich stellen soll. Man kann dich sicher ohne weiteres zwei Fragen stellen, zwar nicht zur gleichen Zeit, aber nacheinander. Dann wäre es eine falsche Alternative. Wenn jedoch Zeit knapp ist, z. B. bei einer zeitlich begrenzten Diskussionsveranstaltung, muss über die Relevanz beziehungweise die Dringlichkeit der einzelnen Fragen befunden werden.

*IV - 182*

In der normativen Methodologie gibt es zwei Enden der Überprüfung – einmal die Überprüfung der allgemeinen Prinzipien, zum anderen die Überprüfung anhand der produzierten Einzelentscheidungen. Wenn an einem der Pole etwas und akzeptabel erscheint, muss man in die andere Richtung zurückgehen, um zu prüfen, wie sich eine akzeptable Änderung des gesamten Systems herbeiführen lässt (das "Gleichgewicht" bei Rawls. Dies ähnelt der Marxsche Methode des Aufsteigens vom konkreten zum abstrakten und umgekehrt).

*IV - 183*

"Geltende Normen" sind Normen, die "in Kraft" sind, sanktioniert werden, durchgesetzt werden. Deshalb müssen es nicht gültige Normen sein. Es kann ein Mafiakodex gelten. Im Englischen wird bereits für Geltung "validity" gesagt z. B. bei der Kelsen-Übersetzung.)

*IV - 184*

Was unterscheidet das Intersubjektivitätsgebot von der Anwendung der Konsensregel in einzelnen Bereichen? Wahrscheinlich die Verbindung der Konsensregel mit der Status quo Regel. Ohne die Status quo Regel stellt sich aufs neue die generelle Intersubjektivitätsproblematik als methodologisches Problem.

*IV - 185*

Unterscheiden: Konsistenz von Normen (logisch) und Kompatibilität empirisch logisch und empirische Unvereinbarkeit von Normen (Wright 1963, S. 134ff. und 141ff.) Wright definiert einen weiteren Begriff von "validity" (neben "existence" und "being in force"): "The validity of a norm means that the Norm exists and that, in addition there exists another norm, which permitted the authority of the first norm to issue it." (S.195)

*IV - 186*

In der ökonomischen Theorie sind die Präferenzen in den Dimensionen ("Gegenstand der Präferenz")  und "Rangordnung (Intensität) der Präferenz" erfasst. Aber die Umgangssprache hat noch viele zusätzliche Dimensionen und Nuancen, z. B.:
 "Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Entschluss gekommen, …"
"Es trieb mich unwiderstehlich dazu, …"

Hier spielt die Stellung des "Ich" zur Präferenz eine bedeutende Rolle: triebhafte, automatische Entscheidungen versus überlegte, durch Denken vermittelte Entscheidungen.

*IV - 187*

Terminologisches: Kann man den Begriff "Allgemeinverbindlichkeit" benutzen? Vielleicht um die Geltung für alle zu bezeichnen.

*IV - 188*

Aus Sparsamkeitsgründen tendiert die Alltagssprache immer dazu, das Selbstverständliche wegzulassen, denn dessen Formulierung ist überflüssig. Dies kann jedoch zum Problem werden, wenn solche Formulierungsstile in andere Zusammenhänge übernommen werden und nun zu Missverständnissen führen. Deshalb müssen alle verkürzten Redeweisen in der Wissenschaft explizit eingeführt werden.

*IV - 189*

Kann man das Problem der Gültigkeitsebenen von Normen ("falsche" Mehrheitsentscheidung etc.) analog zu den stochastischen Gesetzmäßigkeiten begreifen: "In der Regel (80 % der Fälle) ist x gleich a" bleibt als stochastisches Gesetz richtig, obwohl gilt: "Dieses x ist nicht gleich A"? Kann man solche "Widersprüche" durch einwandfreie sprachliche Formulierungen ausräumen?

Ein anderes Beispiel: Gerichtsurteile können falsch sein. Aber deswegen müssen die institutionalisierten Verfahrensregeln des Gerichts nicht falsch sein. Auch falsche Gerichtsurteile binden, solange sie in Kraft sind. Ziel ist immer die Verhinderung des "Kriegszustandes", was es analog in der Empirie nicht gibt. Hier liegt eine zentrale Differenz. (Kelsen sieht "Friedensstiftung" als Ziel der Gerichtsbarkeit an.)

*IV - 190*

Wenn ich eine generelle Entscheidungsregel für richtig halte, obwohl sie in Einzelfällen zu falschen Entscheidung führt, was ist die Begründung dafür? Ist es eine Klugheitsregel?
Ich bin in solchen Fällen dazu aufgerufen, die generelle dahingehend zu verfeinern, dass solche Fehlentscheidungen in Zukunft ausgeschlossen werden (und ohne dass noch schwerwiegendere andere Fehler entstehen).
Ist die Formulierung einer solchen Norm möglich, so verliert damit die alte Norm ihre Gültigkeit für mich. Ist dies nicht möglich, so muss die alte Norm beibehalten werden. (Dies ist analog zum Verhältnis: allgemeines Gesetz vs. Einzelfall in der Empirie. Allerdings gibt es hier einen gewichtigen Unterschied: Für empirische Sätze stellt nicht notwendig das Problem ihrer Durchsetzbarkeit. Für mein eigenes Handeln kann ich von dem von mir als wichtig erachteten empirischen Satz ausgehen, ohne auf dessen Anerkennung durch andere angewiesen zu sein.
Soweit es jedoch über individuelles Handeln hinausgeht, das ich nur vor mir selber rechtfertigen muss, kommt auch für empirische Sätze das Problem auf, wie ich deren Anerkennung durchsetzen kann, z. B. wenn es um das Handeln kollektiver Repräsentanten geht oder um die Ursachen eines Schadens, um den Täter eines Verbrechens, um kollektives Handeln, etc..

*IV - 191*

in der Rechtstheorie gilt, dass ein Gesetz, dessen Durchsetzung nicht einigermaßen gewährleistet werden kann, ein schlechtes Gesetz ist. In der Moral scheint dies anders sein. Moralnormen vertragen ein sehr viel größeres Maß an ungestrafter Übertretung.

*IV - 192*

Das Argument: "Was wäre, wenn jeder das machen würde" richtet sich unter anderem gegen Trittbrettfahrer. Außerdem tritt es auf bei Schwellen-Phänomenen: 99 mal geht es gut, aber beim 100. Mal ist der Schaden da. (Gegen solche Phänomene kann man natürlich auch mittels Kontingentierung angehen.)
Ein anderes Problem wäre die Aufsummierung von vielen kleinen Schädigungen, die als einzelne zu vernachlässigen oder unmerklich wären, die jedoch bei großer Häufigkeit einen erheblichen Schaden darstellen (Trampelpfad im Rasen). (Hier bestünde die Möglichkeit ohne größeren Schaden Ausnahmen zu machen (z. B. bei besonderen Anlässen, für bestimmte Personen etc.).

*IV - 193*

Unter der Prämisse: "Was nicht verboten ist, das ist erlaubt" impliziert jedes Gebot einer Handlung die Erlaubnis dieser Handlung.

*IV - 194*

Man sagt: "Ich kann das von dir natürlich nicht verlangen, aber ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du …" (Der Unterschied zwischen einer Norm und der bloßen Mitteilung eines Wunsches, einer Präferenz.)
Allerdings kann es die Norm geben, anderen ihre Wünsche möglichst zu erfüllen. Dies gibt es jedoch meist nur für Intimgruppen, für Paare, Freunde, Familie etc..

*IV - 195*

Wenn der ethische Egoismus die Notwendigkeit des Altruismus mit im Individuum von Natur aus vorhanden altruistischen Bedürfnissen begründet, so setzt er dabei vielleicht auf Bedürfnisse, die erst durch die Anerziehung eines Altruismus im Individuum entstanden sind.

*IV - 196*

Der Mensch ist in seinen Ansprüchen außerordentlich anpassungsfähig an die objektiven Lebensbedingungen. In den erbärmlichen Lebensverhältnissen können Menschen zufrieden sein und können über etwas Glück empfinden, was für andere selbstverständlich und gleichgültig ist. Wie erklärt sich das?
Glück und Zufriedenheit sind außerordentlich relative Begriffe. Ein Grund liegt sicherlich in Verdrängungsmechanismen. Ich wehre Ansprüche ab, die mir unerfüllbar erscheinen, verdränge Gedanken die eine ständige Quelle von Unzufriedenheit sind, ohne dass eine Möglichkeit und eine Aktivität zur Veränderung der eigenen Lage besteht.


*IV - 197*

Die ständige Konfrontation mit einem höheren Befriedigungsniveau kann zu Unzufriedenheit (Neid) führen, weil die Verdrängung der eigenen unerfüllten Ansprüche nicht gelingt.

*IV - 198*

Ich muss mich noch einmal mit dem Verhältnis zwischen einer Norm (bzw. Entscheidungsregel) und ihrer  institutionellen Umsetzung befassen. Die Mehrheitsregel ist etwas anderes als ein konkretes Abstimmungsverfahren.
 
*IV - 199*

In politischen Auseinandersetzungen kommt es häufig darauf an, seine wirklichen Präferenzen zu verschleiern bzw. die des politischen Gegners zu entschleiern. Beim Bargaining kann man dann Dinge als "Zugeständnisse" verkaufen, die man sowieso aufgeben wollte. Oder man gibt allgemein anerkannte Dinge, zu denen man gezwungen wurde, als selbst gewollte Realisierung der eigenen Ziele aus.
Im parlamentarischen System werden von der Opposition manchmal Forderungen aufgestellt, die die Opposition selber nicht erstrebt, die aber ihr Image in der Bevölkerung verbessern. Man kann dies tun, weil man weiß, dass die Regierung diese Forderung sowieso nicht realisieren will oder kann.

Solche und ähnliche Methoden der Präferenzverdeckung spielen eine wichtige Rolle. Dies Problem wird in der normativen Theorie manchmal übersehen, wenn man von den gegebenen Präferenzen als den wirklichen Präferenzen ausgeht.
Entscheidungsregeln müssen so beschaffen sein, dass sich institutionelle Mechanismen finden lassen, die zur Ermittlung der wahren Präferenzen führen. Beim Tausch besteht z. B. die Tendenz, das eigene Tauschgut nach außen mit übertriebenen Präferenzen zu belegen, und das fremde Angebot mit einer niedrigeren als der wirklichen Präferenz zu belegen.
Aber diese Verstellung kann nur begrenzt betrieben werden, weil der Tausch dann irgendwann unmöglich wird. Hier kann ein Individuum den Bogen überspannen (sofern nicht ein Monopol in Verbindung mit Autarkie für Stärke sorgt).
Jede Institution scheint ihre spezifischen Verstellungstaktiken zu produzieren. Das wäre ein eigenes Untersuchungsgebiet (auch der empirischen Forschung).
Institutionelle Verbesserungen können bei der Präferenzermittlung stattfinden. Die Methode sollte mit vertretbaren Kosten zur Aufdeckung der wirklichen Präferenzen führen.

*IV - 200*

Bei der Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip muss der Einzelne zwei Kalkulationen verbinden: die Bestimmung der möglicherweise erfolgreichen Alternativen und die Bestimmung der von ihm vorgezogenen  Alternative. Die Entscheidung ist dann immer eine Mischung aus beidem. Die Interpretation des Abstimmungsverhaltens ist nicht immer einfach, denn der Gewinn einer Stimme bedeutet häufig nicht: "Du bist meine bevorzugte Alternative" sondern: "Du bist das kleinere Übel".
Hierdurch werden für die Entscheidung wahrscheinlich unbedeutende Alternativen noch mehr zurückgeworfen.

*IV - 201*

Um die wirklichen Präferenzen herauszufinden, kann ein mehrstufiges Verfahren sinnvoll sein:
Im ersten Wahlgang wählt jeder die von ihm bevorzugte Alternative. Dann wird im folgenden Wahlgang nur noch zwischen den beiden Alternativen mit den meisten Stimmen entschieden.

*IV - 202*
 
Bei der Papstwahl werden keine Alternativen ausgeschieden. Es wird solange gewählt, bis einer der Kandidaten alle Stimmen bekommen hat. (Damit dies nicht endlos geht, werden die Kardinale solange eingeschlossen.)


*IV - 203*

Es gibt auch Verfahren, bei denen bei jedem Wahlgang neue Alternativen bzw. Kandidaten (meist Kompromisskandidaten) aufgestellt werden können. Die Frage ist, ob nicht bei allen Verfahren ein Rest an Taktik und an geschickter Bündnispolitik eine Rolle spielt und bei gleichen Präferenzen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann.

*IV - 204*

Moral beruht auf Gegenseitigkeit. Man hört auf, den moralischen Normen zu folgen, wennn dies die anderen nicht mehr tun. Dann geht man zu anderen Formen des Umgangs miteinander über, die auf kluger Verfolgung des eigenen Interesses beruhen.

*IV - 205*

Normative Systeme kann man danach unterscheiden, inwiefern sie eine Verinnerlichung der kollektiven Lösung im Individuum voraussetzen bzw. inwiefern die Entscheidung erst aus den "egoistischen" Präferenzen nachträglich konstruiert wird. Auch die Individuen müssen darüber informiert sein, welcher Art die Entscheidung ist, wenn entsprechend bilden sich bei ihnen andere Präferenzen. Es gibt auch im Alltag unterschiedlich definierte Verhältnisse. Etwa verwandtschaftlich-freundschaftliche Verhältnis, wo man sich gegenseitig Geschenke und Leistung förmlich aufdrängt, wo jeder die Bedürfnisse des anderen zu seinen eigenen macht, wo man sich gegenseitig vor Entgegenkommen "förmlich überschlägt". Dazu im Vergleich der Tausch auf einen anonymen Markt, wo jeder nur auf seinen Vorteil bedacht sein muss. Ähnlich kann es auch kollektive Entscheidungsmechanismen geben, die mehr oder weniger moralische Präferenzen verlangen.

*IV - 206*

"Unmündig" ist, wer nicht für sich selber sprechen kann.

*IV - 207*

Terminologisches: Man könnte bei rein subjektiv bezogenen Entscheidungen von "Richtigkeit" im Gegensatz zur "Gültigkeit" von kollektiven Entscheidung sprechen.

*IV - 208*

Rekonstruktion der Präferenzen von X: "Wie würde sich X entscheiden, wenn er jetzt hier wäre. Dazu muss man sich in die Lage von X hineinversetzen.

*IV - 209*

Verhandlungsmacht (bargaining power): Zeit haben. Warten können. Die Zeit arbeitet für mich. Nicht auf den Vertragsabschluss angewiesen sein.

*IV - 210*

Herausarbeiten, welche Anforderungen die einzelnen Entscheidungsregeln bzw. ihre institutionellen Realisierungen an die Beschaffenheit der Individuen stellen. Von hieraus ergeben sich für verschiedene Gesellschaften verschiedene normative Systeme als die geeignetsten.

*IV - 211*

Terminologisches: Die Verbindung von Konsensregeln und Status quo Regel sollte man "Vetoregel" nennen. Konsensregel wäre dann nur die völlige Übereinstimmung, die z. B. am Beginn der Verfassung zu stehen hätte.

*IV - 212*

Der Konsens ist eine regulative Idee, die Korrekturen in die richtige Richtung aufzeigt. Er ist kein zu realisierendes Ideal.

*IV - 213*

Rationale Protestwähler: Sie haben zwar auf die Bildung der Mehrheits Regierung keinen Einfluss, aber unter Umständen auf die Regierungspolitik, wenn die Regierungspartei versucht, diese Wähler für sich zurückzugewinnen bzw. zu verhindern, dass es noch mehr werden.

*IV - 214

Es ist richtig, einen weiten Zeithorizont zu haben, weil man später einmal sagen müsste: "Hätte ich doch damals anders gehandelt." Der "rationale" Mensch ist sich seiner zukünftigen Präferenzen bewusst. Er muss hierin eine Kontinuität bis in die Gegenwart finden. Er muss seine zukünftigen Interessen so wie seine gegenwärtigen Interessen berücksichtigen. Beides sind seine Interessen. Jemand, der dies nicht täte, würde als identitätsgestört angesehen, denn er würde implizit sagen: "Ich bin nur heute ich. Später bin ich nicht mehr ich."

*IV - 215*

Große Bedeutung kommt in der Praxis bestimmten gemischten Entscheidungsverfahren zu. z. B. werden für ein großes Sportereignis die Karten gleichzeitig nach verschiedenen Verfahren verteilt, z. B.:
1.) Der eine (größere) Teil wird nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage (Zahlungsfähigkeit) mit dem Ziel der Gewinnmaximierung verkauft.
2.) Ein Teil billiger Karten wird gesondert verkauft, was zur Verteilung nach der Wartezeit führt. Deshalb wird pro Wartenden nur eine begrenzte Anzahl von Karten abgegeben.
3.) Ein Teil wird über die Sportverbände an verdiente Sportler und Funktionäre billiger oder gar umsonst abgegeben.

Allerdings kann diese Mischung von der tatsächlichen gesellschaftlichen Finanzkraftverteilung wieder modifiziert und überlagert werden, indem für alle Karten ein schwarzer Markt entsteht, auf dem verdiente Sportler und Warteschlangenkäufer ihre Karten mit finanziellem Gewinn verkaufen. (Es sei denn, die Karten sind nicht übertragbar). Außerdem könnte ein Reicher einen Anderen für sich warten lassen, den er dafür bezahlt. So setzen sich die Eigentumsverhältnisse wieder durch.

*IV - 217*

Wartezeiten in Warteschlangen: In der normalen Warteschlange ist die Wartezeit jedes Einzelnen so groß wie die Summe der Abfertigungszeiten aller Individuen vor ihm (bei pausenloser Abfertigung)

Minimiert das Prinzip: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" die Gesamtwartezeit aller Individuen? Nein. Das Minimum der Gesamtwartezeit wird dann erreicht, wenn die Wartenden entsprechend der Dauer ihrer Abfertigungszeit - beginnend mit der kürzesten – abgefertigt werden.
Dies Ergebnis könnte man auch dadurch annähernd erreichen, dass man Wartende mit ähnlicher Abfertigungsdauer jeweils an einem Schalter zusammenfasst. Dies wird in Supermärkten ansatzweise bereits gemacht, indem ein besonders schneller Schalter für Kunden, die wenig gekauft haben, eingerichtet wird.
Solche Verteilungen auf mehrere Schalter müssen jedoch der Zusammensetzung der Abfertigungszeiten entsprechen, weil sonst einzelne Schalter Leerlauf haben, wenn gerade kein Kunde mit passender Abfertigungsdauer wartet.

Warum wird nun im Alltag doch meist nach dem Prinzip "Reihenfolge der Ankunft gleich Reihenfolge der Abfertigung" verfahren? Ein Grund ist sicherlich, dass sich bei den anderen Verfahren extrem ungleiche Wartezeiten ergeben können. Im äußersten Fall muss derjenige, der die längste Abfertigungszeit hat, alle anderen vorlassen müssen. Angenommen, es würden immer neue Wartende hinzukommen, so käme er nie an die Reihe. Bei derart extremer Ungleichheit der Wartezeiten wird das Ziel der Minimierung der Gesamtwartezeit problematisch.

Es wird deutlich, dass "Zeit" kein nutzenmäßig homogenes Gut ist und sich insofern nur bedingt als kardinales Nutzenmaß eignet. Die einzelnen Individuen haben gewöhnlich Zeitpläne mit bestimmten Terminierungen. Wenn ich z. B. um 10:00 Uhr komme und um 12:00 Uhr einen wichtigen Termin habe (bei einer halben Stunde Wegzeit), so habe ich eineinhalb Stunden Zeit, aber jede Minute darüber verursacht unter Umständen riesige Kosten.

Wenn meine Wartezeit mit weiteren Kosten (z. B. für Dritte) verknüpft ist, dann wiegt meine Wartezeit natürlich viel schwerer, meine Abfertigung ist dringlicher.

Die Dringlichkeit schnellt bei Terminierungen schlagartig in die Höhe. Dann kann die Zeit nicht mehr als  Nutzenmaß genommen werden.

Denkbar ist, dass steigende Grenzkosten der Wartezeit auftreten: Jede zusätzliche Einheit an Wartezeit kostet dann mehr als die vorangehende Einheit.

Bei der Regel: "Reihenfolge der Ankunft gleich Reihenfolge der Abfertigung" kann jedes Individuum seine Wartezeit dadurch verkürzen, dass es dann kommt, wenn die aufsummierte Abfertigungszeit der Wartenden am kürzesten ist.

Häufig wird die Reihenfolge der Ankunft erfasst, ohne dass die Individuen bis zur eigenen Abfertigung warten müssen. Stattdessen werden bei der Ankunft fortlaufende Nummern ausgegeben, die zugleich die Reihenfolge der Abfertigung festlegen. Dadurch werden die Kosten für die Anwendung der Entscheidungsregel bei den Individuen radikal gesenkt.
 
Die Regel "Reihenfolge der Abfertigung nach der kürzestensten Abfertigungsdauer" ist nur dann anwendbar, wenn die Dauer vorher bekannt ist oder zumindest einigermaßen zuverlässig geschätzt werden kann.

Ein weiteres Verfahren zur Minimierung ist die Vereinbarung von Terminen für die Abfertigung. Dies kann Wartezeiten radikal beseitigen, setzt jedoch eine (ungefähre) Vorausbestimmung der jeweiligen Abfertigungsdauer voraus.

Um Dringlichkeit und Termine zu berücksichtigen, könnten die Individuen dies auch mitteilen. Auf der Grundlage dieser Daten würden dann optimale Abfertigungspläne erstellt (Hier entsteht jedoch das Problem der Vortäuschung von Dringlichkeit).

Oft kommt es auch nur darauf an, dass auf den vereinbarten Termin Verlass ist. Je nach sonstiger Belastung wird dann ein Termin mitgeteilt, der auch eingehalten werden sollte. ("Ab nächsten Mittwoch können Sie die Filme abholen.")

 

Ende von Heft IV

Aus meinen Notizbüchern Heft I   II   III   IV   V   VI   VII   VIII   IX   X   XI   XII.

_____________________________________________________________________________________________ 

-->Übersicht   -->Alphabetische Liste aller Texte   -->Info zu dieser Website  -->Lexikon   -->Startseite

zum Anfang

 Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Aus meinen Notizbüchern Heft IV" / Letzte Bearbeitung 04.07.2011 / Eberhard Wesche

*** Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, Freunde, Kollegen und Bekannte auf die Ethik-Werkstatt hinzuweisen ***