-  Ethik-Werkstatt - Volltexte  im HTML-Format - kostenlos -

Übersicht     Alphabetische Liste aller Texte     -->Info zu dieser Website     -->Lexikon     -->Startseite

 

 

Demokratie verstehen


Eine problemorientierte Einführung

Inhalt:

Vorbemerkung

Teil I.)  Die plebiszitäre Demokratie

Teil II.) Die parlamentarische Demokratie

Teil III.) Die präsidiale Demokratie


Anhang 1:

Die Verteilung der Sitze im Parlament:
        bei Mehrheitswahl (Personenwahl)
        bei Verhältniswahl (Listenwahl)


Anhang 2:

Parteien und andere politische Bündnisse

Anhang 3
:
Zwei Interpretationen der Abstimmung in der Demokratie

Anhang 4:

Was ist mit "Mehrheitsprinzip" genau gemeint?
Verfassungsmäßige Rahmenbedingungen für die Anwendung des Mehrheitsprinzips
Probleme des Mehrheitsprinzips

Anhang 5:
Dezentralisierung und Föderalismus

Anhang 6:
Existenzbedingungen einer parlamentarischen Demokratie


Schlussbemerkungen

***************************************************************************************************************************

Beginn des Textes

Vorbemerkungen

Da das Wort "Demokratie" heutzutage einen guten Klang hat, versuchen die verschiedensten politischen Strömungen, das Etikett "demokratisch" für sich mit Beschlag zu belegen und in ihrem Sinne zu definieren. Dadurch sind die Wörter "Demokratie" und "demokratisch" zu unscharfen politischen Kampfbegriffen verkommen.

Es erscheint deshalb als sinnvoll, den unproduktiven Streit um das, was "echte" Demokratie ist, dadurch zu beenden, dass man die unterschiedlichen Formen von Demokratie durch entsprechende Attribute begrifflich unterscheidet.

Im Folgenden sollen drei Formen der Demokratie näher untersucht werden:
        die plebiszitäre Demokratie, die auch als "direkte" Demokratie bezeichnet wird, weil die Staatsbürger nicht indirekt durch gewählte Repräsentanten vertreten werden;
        die präsidiale Demokratie, in der ein auf Zeit gewählter Präsident die Staatsbürger repräsentiert und
        die parlamentarische Demokratie, in der auf Zeit gewählte Abgeordnete ein Parlament bilden, das die Staatsbürger repräsentiert.

Diese drei Arten von Demokratie kommen jedoch in reiner Form nicht vor. Real handelt es sich immer um Mischformen.

Das Wort "Demokratie" stammt aus dem Griechischen. Wörtlich übersetzt bedeutet "Demokratie" "Herrschaft des Volkes" (von griechisch "demos" = "Volk" und griechisch "kratia" = "Herrschaft"). Als "Demokratie" wurde eine bestimmte Form der Entscheidungsfindung auf der Ebene der "Polis", des Stadtstaates im antiken Griechenland, bezeichnet (daher das Wort "politisch").

Kennzeichnend für die antike Demokratie war die öffentliche Diskussion der politischen Entscheidungen, sowie die Gestaltung der Politik gemäß dem Willen der freien Bürger der Polis. Wenn man sich nicht einig wurde, galt der Wille der Mehrheit als Wille der Polis. Die freien Bürger stellten allerdings im antiken Griechenland nur einen Anteil von weniger als 1/10 an der Gesamtbevölkerung. Der überwiegende Teil der Bevölkerung wie z. B. die Sklaven, die Frauen und Kinder besaßen keine politischen Rechte.


Das Wort "Demokratie" hatte nicht zu allen Zeiten einen positiven Klang. So zählt Aristoteles die Demokratie nicht zu den guten Verfassungen. Demokratie führt seiner Ansicht nach dazu, dass die die arme Mehrheit der Staatsbürger eine Politik betreibt, die sich am eigenen Vorteil anstatt am allgemeinen Wohl orientierte. Auch für Kant war die Demokratie eine problematische politische Ordnung, weil dort der allgemeine Wille durch eine Mehrheit ausgedrückt werde, was ein Widerspruch sei. Ähnlich wie Aristoteles legte Kant Wert auf die Bindung der politischen Entscheidungsträger an die Gesetze und insbesondere die Verfassung. Diese Haltung bezeichnet Kant als "republikanisch" (von lateinisch "res publica" = "die öffentliche Sache", Staat, Gemeinwesen).

Die Frage, ob ein bestimmter Staat eine Demokratie ist, findet nicht selten eine verwirrende Antwort. So gilt Großbritannien einerseits als die Wiege der parlamentarischen Demokratie. Andererseits ist Großbritannien aber auch eine Monarchie mit einer Königin als Staatsoberhaupt. Dieser Widerspruch erklärt sich dadurch, dass die Briten - so wie auch andere Nationen - gern an traditionellen politischen Formen und Institutionen festhalten, auch wenn diese nur noch eine symbolische Bedeutung besitzen. Das britische Königshaus ist heute kein politischer Machtfaktor mehr und will dies auch gar nicht sein. Die eigentliche politische Macht liegt heute beim Parlament, insbesondere beim Unterhaus, dem "House of Commons", das aus allgemeinen Wahlen hervorgeht.

Bei den politischen Institutionen eines bestimmten Staates handelt es sich meist um historisch gewachsene Gebilde, die sich nur unter Schwierigkeiten in allgemeine Begriffe pressen lassen. So entspricht z. B. das Amt des deutschen Bundeskanzlers dem Amt des britischen Premierministers insofern, als deren Inhaber für die Führung der Regierungsgeschäfte zuständig sind. Andererseits bestehen zwischen beiden 4Ämtern aber auch erhebliche Unterschiede, was ihre Rechte betrifft. So kann z. B. der britische Premierminister das Parlament auflösen und damit Neuwahlen erzwingen, wozu der Bundeskanzler nicht berechtigt ist.

Die politische Begriffsbildung wird auch dadurch erschwert, dass es Staaten gibt, in denen die politischen Institutionen den realen Machtverhältnissen gar nicht entsprechen. In solchen Scheindemokratien gibt es dann:
 - Wahlen, bei denen es nichts zu wählen gibt;
 - Parlamente, in denen keine offenen Aussprachen stattfinden;
 - Regierungen, die politische Weisungen aus dem Ausland befolgen;
 - Republiken, in denen die Macht dynastisch vererbt wird oder
 - Rechte, die nicht eingeklagt werden können.


Sechs
Einwände gegen jegliche Form von Demokratie

Bevor allerdings die drei Demokratieformen im Einzelnen diskutiert werden, soll noch auf die grundsätzliche Kritik an jeglicher Form von Demokratie eingegangen werden. Dazu sind hier sechs zentrale Argumente der Demokratiekritiker wiedergegeben. Mögliche Gegenargumente werden aufgeführt.

144.) "Die Stimme eines gebildeten Staatsbürger muss größeres Gewicht haben als die eines ungebildeten."
"Die breite Masse der Staatsbürger ist ziemlich ungebildet und außerdem noch schlecht informiert. Ihnen fehlt jegliche politische Kompetenz. . Die gleichberechtigte Mitwirkung aller Staatsbürger an der politischen Willensbildung muss deshalb zu schlechten Ergebnissen führen."
          Gegenargument:
Nicht jede Bildung schützt vor politischen Irrtümern, wie das nationalsozialistische Deutschlamd gezeigt hat. Außerdem ist zu befürchten, dass dann die Gebildeten ihre eigenen Interessen wichtiger nehmen als die der einfachen Leute. Außerdem setzt die Gewichtung der Stimmen nach dem Bildungsgrad einen allgemein akzeptierten Maßstab für den Bildungsgrad voraus, den es bisher nicht gibt.

2.) "Das allgemeine gleiche Wahlrecht führt zur Ausplünderung einer vermögenden Minderheit durch die eigentumslose Masse."
"Wenn sich die vermögenden Staatsbürger in der Minderheit befinden, ist deren Eigentum gefährdet, denn die wirtschaftlich durchschnittlich oder schlecht gestellte Mehrheit der Bürger wird die Reichen enteignen. Eine Enteignung kann auch auf "kaltem Wege" durch eine entsprechende Besteuerung des Reichtums erfolgen."
          Gegenargument:
Dies muss nicht eintreten. Zum einen kann man das Eigentum durch die Verfassung schützen. Zum andern ist die Ansicht weit verbreitet, dass ohne den Motor des Eigeninteresses die wirtschaftliche Entwicklung stagniert. Solange die Besteuerung nicht die privaten Vermögen (Unternehmen, Immobilienbesitz, Wertpapierbesitz etc.) beseitigt, kann man nicht von "Enteignung" sprechen. Eine Marktwirtschaft hat außerdem die Tendenz, die Reichen noch reicher zu machen, denn ihr hohes Einkommen gestattet es, einen Teil davon gewinnbringend zu investieren und so das Vermögen noch zu vergrößern. Dem muss durch eine gezielte Umverteilung entgegengewirkt werden, wenn das Gemeinwesen nicht auf lange Sicht in eine Zerreißprobe kommen soll.

3.) "Die kurzen Wahlperioden führen zu einer verantwortungslosen und kurzsichtigen Politik."
"Die Politiker in der Demokratie machen hemmungslos Staatsschulden, weil die negativen Folgen dieser Politik erst viel später sichtbar werden, wenn sie selber gar nicht mehr an der Regierung sind."
          Gegenargument:
Einer solchen Politik kann man durch gesetzliche Vorschriften zum Staatshaushalt entgegenwirken und dies ist in Ansätzen auch bereits geschehen. Außerdem werden Parteien von den Wählern auch für länger zurückliegende Fehler verantwortlich gemacht. Der Vorschlag längerer Legislaturperioden hat den Nachteil, dass dann die Politiker den Wählern noch seltener Rechenschaft ablegen müssen.

4.) "Eine Demokratie hat zu viel innere Reibungsverluste. Sie kann nicht schnell genug auf Veränderungen reagieren."
"In der Politik muss manchmal entschlossen und schnell gehandelt werden. Man denke nur an Kriegsgefahr oder drohende Naturkatastrophen. Da darf man nicht lange diskutieren und umständlich abstimmen."
          Gegenargument:
Daran ist etwas Richtiges. Jedoch muss man wegen solcher Ausnahmesituationen nicht das gesamte Regierungssystem danach ausrichten. Eine Demokratie hat zahlreiche Möglichkeiten, auf die jeweiligen Bedrohungen angemessen zu reagieren. Dass Demokratie nicht nur eine "Schönwetter-Veranstaltung" sein muss, hat z. B. Großbritannien im 2. Weltkrieg gezeigt.

5.) "Der ständige Streit der Parteien mit ihren gegensätzlichen politischen Meinungen ist schädlich für einen Staat."
"Durch Meinungsstreit und Parteiengezänk wird eine Gesellschaft geschwächt, weil nicht alle an einem Strang ziehen und weil sich falsche Meinungen ausbreiten können."
          Gegenargument:
Im Gegenteil: Die Meinungsfreiheit auch für die Kritiker stärkt eine Gesellschaft, weil dadurch bestehende Misstände aufgedeckt werden und neue Problemlösungen entwickelt werden. Ob eine Meinung falsch ist, kann sich nur in einer freien, öffentlichen Diskussion erweisen, in der alle relevanten Argumente vorgebracht werden. In der freien öffentlichen Diskussion wird die einzelne Meinung mit Gegenargumenten konfrontiert. Nur wenn Meinungsfreiheit herrscht, werden bei den Staatsbürgern stabile eigene Überzeugungen ausgebildet, die auf kritisch geprüften Argumenten und nicht nur auf Indoktrination beruhen.

6.) "Die rechtliche Form des politischen Systems ist zweitrangig angesichts der ökonomischen Klassengesellschaft."

"Die beste formale Demokratie bedeutet nichts, solange die Klassengesellschaft in der Wirtschaft fortbesteht. Auch ein demokratischer Staat wird immer nur ein Instrument der jeweils wirtschaftlich herrschenden Klasse sein."
          Gegenargument:
Eine solche Sichtweise verwischt den wichtigen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur und ist insofern irreführend. So bestanden z. B. zwischen dem demokratischen Schweden und dem nationalsozialistischen Deutschland 1939 wichtige Unterschiede, obwohl beide Staaten eine kapialistische Wirtschaftsordnung hatten. Krass gesagt: Es ist keineswegs nebensächlich, ob ich als Kritiker der Regierung Meinungsfreiheit genieße oder ob ich wegen meiner Kritik an der Regierungspolitik ermordet werde.

Bedrohung der Demokratie angesichts ungleicher Meinungsmacht
Dass vorhandene soziale Machtpositionen auch das Ergebnis freier, gleicher und geheimer Wahlen beeinflussen können, ist wohl nicht strittig. Dies gilt nicht nur für wirtschaftliche Macht, sondern z. B. auch für militärisch oder weltanschaulich verankerte Macht. Von besonderer politischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Bereich der öffentlichen Kommunikation, also der Bereich der Massenmedien (Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen, Internet o. ä.). Zwischen der "öffentlichen" Meinung und der "veröffentlichten" Meinung kann auch in einer Demokratie ein erheblicher Unterschied bestehen.

Besonders mit dem Internet haben sich globale Informations-Monopole herausgebildet, die bis in das private Leben des Durchschnittswählers reichen. Wo durch mehr oder weniger ausdrückliche Weisungen an die politischen Journalisten oder durch bezahlten Auftragsjournalismus die veröffentlichte Meinung gelenkt und gefiltert wird, haben die Wähler es schwer, die sachlichen Zusammenhänge und ihre eigenen Interessen dabei klar zu erkennen. Nur eine kritisch und kontrovers diskutierende Öffentlichkeit ermöglicht den Wählern die Aufklärung ihrer eigenen Interessen. Sie ist deshalb für die Entwicklung einer Demokratie von allergrößter Bedeutung.

Regelungen im Grundgesetz
zur Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk:
Maßgebend für die Gestaltung d
er politischen Ordnung in Deutschland ist das "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" von 1949 (im Folgenden abgekürzt: "GG").
Das Grundgesetz ist die deutsche Verfassung. Es ist im Unterschied zu einfachen Gesetzen nicht in Paragraphen sondern in Artikel unterteilt. Dort heißt es in GG Artikel 20:

"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. ... Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt." 
Im Artikel 29 des Grundgesetzes wird auf die "Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates ... im Sinne dieses Grundgesetzes" Bezug genommen.
 

 Im Folgenden sollen nun die drei wichtigsten Formen staatlicher Demokratie mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen dargestellt werden. Zusätzlich werden jeweils die Regelungen zitiert, die im Grundgesetz dazu getroffen werden.

Teil I.) Die plebiszitäre Demokratie


Die einfachste Form der Demokratie besteht darin, dass alle stimmberechtigten Bürger eines Staates über die politischen Fragen beraten und im Falle der Uneinigkeit nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden. (Zum Mehrheitsprinzip siehe unten Anhang 4.) Volksentscheide (Plebiszite, von lateinisch "plebs" = im antiken Rom die nichtadeligen Bürger und lateinisch "scitum" = "Beschluss") sind für diese Form der Demokratie zentral. Deshalb bezeichnet man ein solches politisches System als "plebiszitäre Demokratie". Man spricht hier auch von "direkter Demokratie", weil die Staatsbürger direkt und ohne die Zwischenschaltung von Repräsentanten (Vertretern) entscheiden.

Wegen des großen Aufwands, der mit einer derartigen Verfahrensweise verbunden ist, ist der Volksentscheid häufig nur für allgemeine Gesetze vorgesehen, während für die laufenden Entscheidungen eine gewählte Vertretung zuständig ist.

Auch eine plebiszitäre Demokratie benötigt eine Verfassung in Form einer Geschäftsordnung, in der u.a. geregelt ist:
 - wann die Volksversammlungen stattfinden,
 - wer diese Versammlungen leitet,
 - wer das Recht hat, einen Antrag zur Abstimmung zu stellen,
 - wer stimmberechtigt ist,
 - in welcher Reihenfolge über die Anträge abgestimmt wird,
 - nach welcher Regel die Abstimmung erfolgt.

Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess (Partizipation)
In einer plebiszitären Demokratie gestalten die Staatsbürger die Politik unmittelbar selber. Damit ist die Erwartung vebunden, dass die Staatsbürger stärker motiviert werden und eine "Politikverdrossenheit" nicht entstehen kann. Andererseits muss der einzelne Staatsbürger in der plebiszitären Demokratie für die Politik eine erhebliches Maß an Zeit und Mühe aufwenden, wenn das Ganze einen Sinn haben soll. Wenn Entscheidungen nicht ohne die Einholung spezieller Informationen sachgerecht getroffen werden können und wenn viele Entscheidungen die Interessen vieler Staatsbürger nur am Rande betreffen, dann kann jedoch auch der entgegengesetzte Effekt in Form von Nichtbeteiligung und Wahlmüdigkeit eintreten. Nicht selten sind Volksentscheide daran gescheitert, dass sie das erforderliche "Quorum" (die zur Beschlussfassung erforderliche Mindestbeteiligung der Stimmberechtigten, z. B. 1/4 der Stimmberechtigten) nicht erreicht haben.

Unvermeidbare Interessenunterschiede
Die direkte Demokratie wird von Rousseau und anderen nicht selten als die einzig "echte" Demokratie angesehen. Nach dieser Auffassung geben sich die Staatsbürger allgemein formulierte Gesetze, die also für alle Staatsbürger gleichermaßen gelten. Dadurch kommen die Interessen der Einzelnen zur Deckung. Da niemand sich selber schaden will, kommt es automatisch zu einer Politik im Sinne des Gemeinwohls.

Dabei wird jedoch übersehen, dass sich die einzelnen Staatsbürger häufig nicht in der gleichen Lage befinden. Deshalb kann auch ein allgemein formuliertes Gesetz die Einzelnen unterschiedlich treffen. So trifft z. B. ein Gesetz, das besagt, dass jeder jährlich eine bestimmte Summe Geld als Steuer an das Gemeinwesen zu zahlen hat, Arme anders als Reiche. Ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs trifft Frauen anders als Männer. Interessenunterschiede in der Wählerschaft sind in modernen, hochdifferenzierten Gesellschaften unvermeidbar.

Notwendigkeit der Einrichtung von politischen Ämtern
Es existiert nirgendwo eine politische Gemeinschaft, in der immer alle Bürger über alle Entscheidungen abstimmen. Ohne eine Arbeitsteilung und eine spezielle Ausbildung der im politischen Bereich Aktiven ist die Erhaltung einer modernen Gesellschaft nicht möglich. Zumindest für die Erledigung von Routineentscheidungen und für besonders eilbedürftige Entscheidungen werden deshalb Ämter geschaffen, die in meistens durch Wahl, seltener durch das Los personell besetzt werden. Insofern gibt es die plebiszitäre Demokratie nirgends in "reiner" Form.

Dass es sich bei den Regierenden und den Regierten um dieselben Personen handelt, trifft dort nicht zu, wo es Staatsbürger gibt, die politische Ämter bekleiden und solche, die keine solchen Ämter bekleiden. Versuche, gegen diese Ungleichheit durch einen regelmäßigen Austausch der jeweiligen Amtsinhaber ("Rotationsprinzip") anzugehen, führen dazu, dass die Vorteile einer Arbeitsteilung (bessere Leistungen durch Spezialisierung und klare Verantwortlichkeit) wieder verlorengehen.


Undurchführbarkeit in großen Staaten
Eine weitgehend auf Abstimmungen der Staatssürger beruhende plebiszitäre Demokratie war in überschaubaren Stadtstaaten wie dem antiken Athen praktikabel. Die Volksversammlungen tagten dort 30mal im Jahr. In der Zwischenzeit regierte der "Rat der Fünfhundert", dessen Mitglieder jährlich neu durch Los ermittelt wurden. Die Entfernungen innerhalb des Staatsgebietes betrugen hier nur einige Kilometer und die Anzahl der stimmberechtigten Staatsbürger hielt sich in engen Grenzen.

In großen Flächenstaaten mit Entfernungen von Tausend und mehr Kilometern und vielen Millionen Einwohnern ist eine Versammlung, Beratung und Abstimmung aller Stimmberechtigten in kurzen zeitlichen Abständen jedoch rein praktisch nicht durchführbar. (Dies mag sich allerdings durch die Entwicklung der elektronischen Kommunikationstechnik ändern.)

Auch gegen eingeschränkte Formen einer plebiszitären Demokratie gibt es Einwände:

Überforderung des einzelnen Staatsbürgers
Der einzelne Staatsbürger ist - zumindest unter heutigen Bedingungen - als "Freizeit-Politiker" nicht in der Lage, auf allen Gebieten der Politik mit der erforderlichen Sachkenntnis abzustimmen. Angesichts der großen Zahl von teilweise sehr komplexen Entscheidungen, die in den verschiedensten Bereichen zu treffen sind, fehlt ihm die Zeit, um sich ausreichend über alles zu informieren. Sicherlich fehlt dem durchschnittlichen Staatsbürger auch die Motivation, sich gründlich zu informieren - vor allem bei denjenigen Entscheidungen, die seine Interessen überhaupt nicht oder aber nur am Rande berühren.

Fehlende Berücksichtigung der unterschiedlichen Wichtigkeit der einzelnen Entscheidungen
In der plebiszitären Demokratie besteht die Politik aus einer Folge von Einzelentscheidungen. Dabei kann es jedoch vorkommen, dass die einzelnen Abstimmungen zusammengenommen nicht das ergeben, was die Staatsbürger eigentlichen wollten. Konkret gesprochen: Wenn über mehrere Anträge "im Paket" abgestimmt wird, so fällt das Ergebnis oft anders aus, als wenn über dieselben Anträge einzeln nacheinander abgestimmt wird.

Dies liegt daran, dass die Anträge, über die entschieden wird, für den einzelnen Staatsbürger nicht immer von gleicher Wichtigkeit sind, dass sie ihn unterschiedlich stark betreffen. So betrifft z. B. einen Rentner eine Entscheidung über die Höhe der Renten in der Regel stärker als eine Entscheidung über die Höhe des Schulgeldes. (Man spricht hier auch von unterschiedlichen "Präferenzintensitäten" des Wählers in Bezug auf die einzelnen Entscheidungen.)

Die unterschiedliche Wichtigkeit kann nicht berücksichtigt werden, wenn jeder zu jeder Entscheidung eine Stimme zu vergeben hat, unabhängig davon, wie stark er von der jeweiligen Entscheidung betroffen ist. Wenn dagegen die Anträge "gebündelt" werden und darüber "im Paket" abgestimmt wird, kann der Einzelne die unterschiedliche Wichtigkeit der einzelnen Entscheidungen bei seiner Stimmabgabe zum Ausdruck bringen.


Dazu ein Beispiel. Angenommen, es soll über 3 Anträge abgestimmt werden. Den Anträgen 1 und 2 kann Staatsbürger Meier zwar zustimmen, aber es ist ihm nahezu egal, wie diese beiden Entscheidungen ausfallen. Wenn dagegen Antrag 3 durchkommt, wird Meier höchst wahrscheinlich arbeitslos werden, was für ihn katastrophal wäre. Es ist für Meier außerordentlich  wichtig, dass der Antrag 3 abgelehnt wird.

Wenn über die 3 Anträge einzeln nacheinander abgestimmt wird, stimmt Meier dementsprechend bei den Anträge 1 und 2 mit "Ja" und beim Antrag 3 mit "Nein".

Wenn über die 3 Anträge "im Paket" abgestimmt wird, stimmt Meier nur für solche Pakete, in denen der Antrag 3 abgelehnt wird, denn die Annahme des Antrags 3 würde ihn arbeitslos machen. Auch bei dem Paket, in dem alle 3 Anträge abgelehnt werden, stimmt Meier folglich mit "Ja". Damit bekommen die Anträge 1 und 2 - anders als bei den Einzelabstimmungen - nun von Meier ein "Nein" (s. u. in Anhang 4). 


Keine Politik "aus einem Guss"
Isolierte Einzelentscheidungen sind auch dann problematisch, wenn zwischen ihnen eine ursächliche oder wertmäßige Abhängigkeit ("Nutzen-Interdependenz") besteht, die man berücksichtigen muss, wenn man das bestmögliche Ergebnis erzielen will. Ein Beispiel für die Nichtberücksichtigung bestehender Abhängigkeiten zwischen zwei Entscheidungen wäre es, wenn mit der einen Abstimmung beschlossen wird, die Schulklassen zu verkleinern, und mit der anderen beschlossen wird, die Zahl der Lehrer zu verringern. Diese beiden Entscheidungen haben eine entgegengesetzte Wirkung und sind kaum miteinander zu vereinbaren.

Ein unvermeidlicher Zusammenhang besteht auch zwischen allen Entscheidungen, deren Umsetzung mit Kosten verbunden ist. Da die finanziellen Mittel des Gemeinwesens begrenzt sind, wirkt sich jede Geldausgabe bei dem einen Punkt auf die Entscheidungen bei den andern Punkten aus, denn für diese steht nun entsprechend weniger Geld zur Verfügung. Ohne eine vorausschauende Planung der gesamten Einnahmen und Ausgaben des Gemeinwesens (Staatshaushalt) kommt es zu Einzelentscheidungen, die "populär" sein mögen, aber deren Folgen eigentlich niemand will. Aufgrund der wechselnden Mehrheiten bei den Abstimmungen zu den einzelnen Punkten ist in der plebiszitären Demokratie eine Politik "aus einem Guss" kaum zu erwarten.


Regelungen im Grundgesetz zu Wahlen und Abstimmungen

Volksentscheide auf gesamtstaatlicher Ebene sind im Grundgesetz nicht vorgesehen, ausgenommen bei einer Neugliederung von Bundesländern (GG Artikel 29 Absatz 2).
Allerdings heißt es in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt."
Volksbegehren und nachfolgender Volksentscheid sind auf der Ebene der Bundesländer und der Gemeinden möglich. Aber auch die Länder und die Gemeinden sind vorwiegend parlamentarisch organisiert: "In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben..." (GG Artikel 28 Absatz 1). Volksentscheide sind auch hier die Ausnahme.


Arbeitsteilung in der Politik
Statt ständig alle politischen Fragen unmittelbar selbst zu entscheiden, können die Staatsbürger auch Personen ernennen, die für eine begrenzte Zeit stellvertretend für sie die politischen Entscheidungen treffen. In den komplexen modernen Gesellschaften ist auf dem Gebiet der Politik eine Arbeitsteilung und Spezialisierung kaum zu umgehen. Dadurch bekommen die Berufspolitiker und die politischen Fachleute eine Machtstellung, die ihrerseits zum Problem werden kann ("Expertokratie").

Wenn die Staatsbürger sich politisch vertreten lassen, spricht man von einer "indirekten" oder "repräsentativen Demokratie". Es bieten sich dafür zwei Formen an: zum einen die präsidiale Demokratie, bei der eine einzelne, frei gewählte Person bevollmächtigt wird, im Namen der Allgemeinheit zu entscheiden und zu handeln; zum andern die parlamentarische Demokratie, bei der ein Gremium (das Parlament), das aus gewählten Abgeordneten besteht, bevollmächtigt wird, im Namen der Allgemeinheit zu entscheiden und zu handeln.

Die Notwendigkeit einer handlungsfähigen Regierung 
Präsident bzw. Parlament geben ihrerseits bestimmte Entscheidungsbefugnisse an eine Regierung weiter, die im Rahmen der Verfassung und der geltenden Gesetze die laufenden Geschäfte führt. Die Regierung ist entsprechend den verschiedenen Bereichen der Politik (Außenpolitik, Innenpolitik, Justiz, Wirtschaftspolitik, Staatsfinanzen, Sozialpolitik, Kulturpolitik, Umweltpolitik etc.) arbeitsteilig organisiert. Für jedes Politikfeld ist ein Minister zuständig, dem zur Erfüllung seiner Aufgaben eine Verwaltung untergeordnet ist (die Ministerialbürokratie, englisch: "administration"), wobei ein Ministerium mehrere Tausend Mitarbeiter umfassen kann. Jeder Minister übernimmt für das Handeln des Ministeriums, dem er vorsteht, die politische Verantwortung.

Der Regierungschef (Bundeskanzler, Premierminister etc.) bildet zusammen mit den Ministern das Kabinett. Dort laufen die Fäden der Politik zusammen. Die Aktivitäten auf den verschiedenen Gebieten werden vor allem hier aufeinander abgestimmt, insbesondere in Bezug auf die Verwendung der finanziellen Mittel, die den einzelnen Ministerien (den Ressorts, von französisch "ressort" = "Zuständigkeitsbereich") aus dem Staatshaushalt zugeteilt werden. Diese politischen Organisationsformen sind als solche nichts spezifisch demokratisches. Dies ist nur dann der Fall, wenn alle Amtsinhaber ihre Ämter direkt oder indirekt aus der freien Wahlentscheidung der Staatsbürger ableiten können.

Die Bedeutung einer unabhängigen Justiz
Eine Sonderrolle nimmt in demokratischen Systemen dabei der Bereich der staatlichen Rechtsprechung ein. Die beamteten Richter, die in den verschiedenen Gerichten Recht sprechen, sind nicht Teil des Ministeriums für Justiz. Sie sind auch nicht, wie in Verwaltungen üblich, in eine Hierarchie von Vorgesetzten und Untergebenen eingeordnet. Die Richter sind - anders als die Staatsanwälte - auch nicht dem Justizmininister unterstellt. Die Richter sind nach ihrer Ernennung zwar an die Gesetze und auch an die Rechtsprechung höherer Gerichte gebunden, sie legen diese jedoch nach freiem Ermessen aus. Die Richter unterliegen in ihrer Rechtsprechung keinerlei Weisungen. Dadurch wird erreicht, dass niemand - auch nicht die an der Macht befindlichen Politiker - Richter in eigener Sache sein kann. Dies ist eines der zentralen Prinzipien des Rechtsstaates und entspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung.

Angesichts dieser vielgliedrigen Kette ausgehend vom Willen der Wähler bis hin zum  Handeln eines Staatsbeamten besteht die ständige Gefahr, dass "unterwegs" die Inhalte entstellt werden und es so ist, wie es der etwas sarkastische Spruch ausdrückt: "Alle Gewalt geht vom Volke aus - und kehrt nie wieder dahin zurück".



II.) Die präsidiale Demokratie

In einer präsidialen Demokratie wählen die Staatsbürger für die Dauer von einigen Jahren einen Präsidenten (von lateinisch "praesideo" = "ich leite", "ich befehle"). Die Wahlverfahren sind dabei unterschiedlich. Wenn es sich allerdings bei einem Präsidialregime um eine Form der Demokratie handeln soll, so müssen bestimmte Erfordernisse erfüllt sein. Dazu gehört:
     dass der spätere Präsident in einer freien Wahl eine Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte,
     dass auch der Präsident an die Verfassung gebunden ist und diese nicht außer Kraft setzen kann und
     dass die Übertragung des Präsidentenamtes zeitlich begrenzt ist. 


Das Präsidentenamt ist gewöhnlich mit einer großen Machtfülle ausgestattet. So ist der Präsident häufig zugleich Oberbefehlshaber der Armee. Der Präsident führt entweder selbst die Regierungsgeschäfte (wie in den USA) oder er hat zumindest das Recht, den Regierungschef zu ernennen (wie in Frankreich). Der Präsident ist dadurch so etwas wie ein "republikanischer Wahlkönig auf Zeit".

Weil angesichts der Machtfülle seines Amtes die Versuchung für den Präsidenten groß ist, sich über die Verfassung hinwegzusetzen und die Macht zu ergreifen ("Putsch"), werden meist institutionelle Gegengewichte ("checks and balances") in der Verfassung verankert, wie z. B. ein Oberstes Gericht, das die Maßnahmen des Präsidenten auf deren Vereinbarkeit mit Recht und Gesetz prüfen kann, oder ein Parlament, das die Staatsausgaben, die personellen Vorschläge und die Gesetzesvorhaben des Präsidenten genehmigen muss. Durch eine solche Gewaltenteilung zwischen  den Institutionen der Gesetzgebung ("Legislative" von lateinisch "lex" = "Gesetz"), der Ausführung ("Exekutive" von lateinisch "exsecutio" = "Ausführung", "Vollziehung") und der Rechtsprechung ("Judikative" von lateinisch "ius" = "Recht") unterliegt auch der Inhaber des Präsidentenamtes einer gewissen politischen Kontrolle.

Möglichkeit zu einer Politik "aus einem Guss"
Die präsidiale Demokratie ermöglicht wie keine andere Form eine Politik aus einem Guss, die "die Handschrift des Präsidenten trägt". Durch die Hinzuziehung fachkundiger Berater können die erforderlichen Informationen bei vertretbaren Kosten in den Entscheidungsprozess einfließen. Dabei bleiben die internen Reibungsverluste gering.

Stabilisierung der Politik
Da der Staatspräsident für mehrere Jahre gewählt wird und während dieser Zeit nur sehr schwer legal abgesetzt werden kann, kommt es äußerst selten vor, dass der Präsident vor dem Ablauf seiner Amtszeit das Amt aufgeben muss. Dadurch wird der politische Prozess stabilisiert und von Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung unabhängiger. Damit können auch längerfristige Planungen verwirklicht werden. Um bei Krankheit oder Tod eines amtierenden Präsidenten kein Machtvakuum entstehen zu lassen, steht in der Regel ein Vizepräsident bereit.  

Erhöhtes Risiko bei problematischen Präsidenten
Die präsidiale Demokratie enthält ein erhöhtes Risiko, denn sollte einmal ein Präsident gewählt werden, der unfähig oder politisch fehlorientiert ist, so kann dieser Mangel nur schwer behoben werden. Ein Präsident, der die bestehende Verfassung nicht als verbindlich akzeptiert, kann aufgrund seiner Machtfülle erheblichen Schaden anrichten.

Schwächung der Opposition
Die politische Opposition (von lateinisch "opponere" = "entgegenstellen") hat es in einer präsidialen Demokratie schwerer als in einer parlamentarischen Demokratie. Die Stimmen, die für ihren gescheiterten Bewerber um das Präsidentenamt abgegeben wurden, werden nicht weiter berücksichtigt. Die Opposition  ist nur durch ihre Abgeordneten im Parlament vertreten. Die Befugnisse des Parlamentes sind relativ eingeschränkt. So hat der Präsident meist das Recht, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.
 

Gefahr einer vorwiegend von Gefühlen (Sympathie - Antipathie) bestimmten politischen Orientierung
Dadurch, dass die Wahl einer bestimmten Politik über die Wahl einer Person erfolgt, besteht die Gefahr, dass ein vorwiegend emotionaler Wahlkampf geführt wird, in dem an problematische Motivationen bei den Wählern angeschlossen wird (kollektive Selbstüberschätzung, gekränkter Notianalstolz, Schuldzuweisungen an Minderheiten usw.).


Verdeckte Macht der Berater
Ein schwacher Präsident kann sich Berater wählen, die einen großen Einfluss auf ihn ausüben. Dieser Einfluss unterliegt keiner Kontrolle durch die Öffentlichkeit ("graue Eminenzen").


Regelungen im Grundgesetz zur Rolle des Bundespräsidenten

"Der Bundespräsident wird ... von der Bundesversammlung gewählt ... Die Bundesversammlung besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder ... gewählt werden" (GG Artikel 54, Absatz 1 und 2).
Der Bundespräsident wird nicht direkt vom Volk gewählt und er verfügt somit nicht über die damit verbundene starke Legitimation.
"Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit ausländischen Staaten" (GG Artikel 59).
"Anordnungen ... des Bundespräsidenten bedürfen ... der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler ..." (GG Artikel 58).
"Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik ..."  (GG Artikel 65). Die Bundesrepublik Deutschland ist deshalb keine präsidiale sondern eine parlamentarische Demokratie. Das Grundgesetz des Jahres 1949 unterscheidet sich hier bewusst von der Weimarer Verfassung von 1919, die dem Reichspräsidenten weitgehende Vollmachten einräumte.


III.) Die parlamentarische Demokratie

Statt durch einen Präsidenten können sich die Staatsbürger auch durch eine Körperschaft aus gewählten Abgeordneten vertreten lassen. Die Abgeordneten bilden die "Volksvertretung" bzw. das "Parlament".

Das Wort "Parlament" stammt aus dem Englischen, wo die zwei "Häuser", das Unterhaus ("House of Commons") und das Oberhaus ("House of Lords") als "parliament" bezeichnet werden. Das englische Wort "parliament" leitet sich ab vom französischen "parler" = "sprechen". Daran wird die wichtige Rolle deutlich, die der Aussprache (Diskussion, Debatte) in dieser Form der politischen Willensbildung zukommt. 

Wie das Wort "Volksvertretung" bereits deutlich macht, soll das Parlament das gesamte Staatsvolk repräsentieren (von englisch "to represent" = "vertreten"). Die Mitglieder des Parlamentes erhalten von den Staatsbürgern für eine Wahlperiode (Legislaturperiode) ein "Mandat" (von lateinisch "ex manu datum" = "aus der Hand gegeben"), die politische Macht im Rahmen der Verfasssung und des geltenden Rechts auszuüben. Das Mandat, das den Abgeordneten erteilt wird, ist in der Regel frei, so dass diese an keine Weisungen gebunden sind.

Die Hauptaufgaben des Parlaments sind die Gesetzgebung sowie die Bestellung und Kontrolle der Regierung. Dazu gehört auch die Kontrolle der staatlichen Verwaltung (Ministerialbürokratie). Da das Parlament aus vielen Abgeordneten besteht (der Bundestag hat ca. 600), bedarf es einer Geschäftsordnung, damit ein so großes Gremium überhaupt arbeitsfähig ist. In dieser Geschäftsordnung sind u. a. die Wahl des Versammlungsleiters und die Verteilung der Redezeit geregelt. Außerdem werden die Rechte und Aufgaben der Fraktionen und Ausschüsse festgelegt.

Abgeordnete derselben Partei schließen sich in Fraktionen (von englisch "fraction" = "Bruchteil") zusammen. Eine Fraktion verfolgt ihre politischen Ziele durch verbindliche Absprachen hinsichtlich des Verhaltens ihrer Mitglieder, insbesondere durch Geschlossenheit bei Abstimmungen ("Fraktionszwang").

Die Entscheidungen des Parlaments, insbesondere wichtige Gesetzesvorhaben, werden durch Ausschüsse in den Einzelheiten vorbereitet. In die Ausschüsse werden von den verschiedenen Fraktionen fachkundige Abgeordnete entsandt.

Durch die Einrichtung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und die Vorladung auch hochgestellter politischer Entscheidungsträger können politische Skandale und Katastrophen öffentlich "durchleuchtet" werden.

Die Entscheidungen des Parlaments werden durch Abstimmungen getroffen. In sehr vielen Fällen sind sich die Abgeordneten bzw. die Parteien einig. Wo dies nicht der Fall ist, wird nach dem Willen der Mehrheit der Abgeordneten entschieden. Dabei wird gewöhnlich gefragt, wer für den Antrag ist, wer gegen den Antrag ist und wer sich enthält (s. u. in Anhang 4).


Bessere Sachkenntnisse der Abgeordneten
Einem Abgeordneten des Parlamentes steht für seine politische Arbeit meist ein Büro zur Verfügung sowie ein hauptberuflicher Mitarbeiter, der ihm zuarbeitet. Hinzu kommen finanzielle Mittel ("Diäten") und weitere Vergünstigungen. Die Abgeordneten sind dadurch wirtschaftlich unabhängig und können sich ganz auf ihre politische Arbeit konzentrieren - und dies über mehrere Jahre. Sie können so zu "Experten" auf Teilgebieten der Politik werden. Dies ist auch notwendig, um den Spezialkenntnissen von fachkundigen Ministerialbeamten und Interessenvertretern ("Lobbyisten") kompetent begegnen zu können. Dadurch wird das Problem mangelnder Sachkompetenz gegenüber der plebiszitären Demokratie erheblich gemildert, doch kann auch der fleißigste Abgeordnete nicht den gesamten Bereich der Politik abdecken.

Gefahr einer Korrumpierung der Abgeordneten
Aus der relativen Unabhängigkeit eines gewählten Abgeordneten ("freies Mandat") ergeben sich Möglichkeiten für dessen Korrumpierung. Damit ist gemeint, dass der Abgeordnete im Tausch gegen persönliche Vorteile die Interessen einer speziellen Gruppe fördert und nicht die Interessen derjenigen Wähler, die er eigentlich vertreten sollte.

Um der Gefahr der Bestechlichkeit entgegen zu wirken, hat es immer wieder Vorschläge gegeben, wie die Wähler die Abgeordneten stärker kontrollieren können. Eine Möglichkeit ist das "imperative Mandat" (von lateinisch "imperare" = "befehlen"), das den Abgeordneten an Beschlüsse der Wähler bindet. Das scheitert oft jedoch bereits an der fehlenden Antwort auf die Frage, welche Wähler das denn genau sein sollen. Außerdem erlaubt ein imperatives Mandat praktisch keine Verhandlung und Abstimmung der Abgeordneten untereinander. Damit behindert es die Formulierung einer mehrheitsfähigen Politik und die Bildung einer regierungsfähigen Koalition im Parlament.

Um die Abgeordneten enger an den Willen der Wähler zu binden, wurde auch gefordert, dass Abgeordnete von ihren Wählern jederzeit abwählbar sein sollten. Der dadurch erzeugte Dauerwahlkampf begünstigt jedoch eher eine kurzsichtige Politik. Zeitweilige "Durststrecken" mit unpopulären Maßnahmen können im Rahmen einer längerfristig angelegten Politik manchmal notwendig sein, aber welcher Abgeordnete wird sich für unpopuläre Maßnahmen einsetzen, wenn ihm jederzeit die Abwahl droht?

Nicht vorhersehbare Regierungsbildung durch Koalitionsbildung erst nach der Wahl
Wenn sich zur Wahl des Parlamentes nicht zwei große Lager bilden sondern mehrere Parteien getrennt in den Wahlkampf ziehen, dann bekommt oft keine der Parteien eine Mehrheit im Parlament. Eine regierungsfähige Mehrheit ist dann nur durch eine Koalition (von lateinisch "coalescere" = "zusammenwachsen") mehrerer Parteien zu erreichen. Dann hängt es von den Verhandlungen nach der Wahl ab, wer mit wem die Regierungskoalition bildet und wer den Regierungschef stellt. Insofern kann es bei den erforderlichen Koalitionsverhandlungen zu einem Ergebnis kommen, das von vielen Wählern nicht erwartet und womöglich auch nicht gewollt wurde.

Regelungen im Grundgesetz zur parlamentarischen Demokratie:
"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt" (GG Artikel 20 Absatz 2). "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (GG Artikel 38).
"Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen" (GG Artikel 77). 
Die Bundesrepublik Deutschland ist demnach eine parlamentarische Demokratie.
"Zur Vorbereitung der Verhandlungen setzt der Bundestag ständige Ausschüsse ein" (Geschäftsordnung des Bundestages § 54). 
"Die Fraktionen sind verpflichtet, ihre Organisation und Arbeitsweise auf den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie aufzubauen und an diesen auszurichten" (Abgeordnetengesetz § 48).
Zur Regierungsbildung heißt es: "Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ... gewählt. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt" (GG Artikel 63).


Schlussbemerkung


Abschließend sei noch auf folgende Punkte hingewiesen:

 - 1.) Kein politisches System - auch nicht die Demokratie - kann alle sozialen Probleme lösen. Es gibt Probleme, denen gegenüber Gesellschaften mit den verschiedensten politischen Systemen weitgehend machtlos sind. Dazu gehören z. B. die Krisen einer marktwirtschaftlich funktionierenden Weltwirtschaft. Dann kann auch die Abwahl einer Regierung und ein Austausch der Koalitionsparteien keine wirkliche Besserung bringen.
 

Die Betroffenen neigen verständlicherweise dazu, dies der demokratischen Regierungsform anzulasten, und sind vielleicht "von der Demokratie enttäuscht". Eine nüchterne Analyse würde ihnen jedoch zeigen, dass es an der Natur der Probleme und nicht am politischen System liegt, wenn bestimmte Probleme nicht behoben werden.

 - 2.) Die demokratische Regierungsform ist keine Garantie gegen schwere politische Fehlentscheidungen und Versäumnisse. Sie besitzt jedoch mit der Freiheit der Meinungsäußerung - auch für die Opposition - die besten Voraussetzungen für eine Aufdeckung und Korrektur dieser Fehler.

 -3.) Ein demokratischer Staat bietet keine sichere Gewähr für eine friedliche und solidarische Außenpolitik. Es gibt auch den kollektiven Egoismus ganzer Völker. Dieser kann letztlich nur durch eine wirksame internationale Rechtsordnung gezügelt werden.

 
+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Anhang 1

Regeln für die Verteilung der Parlamentssitze

Um die Mitglieder des Parlaments zu bestimmem, sind unterschiedliche Verfahren denkbar. Ginge es nur um eine auf Gleichheit beruhende, kostensparende Regelung, so könnte man eine Zufallsstichprobe aus der Gesamtheit aller Wahlberechtigten  ziehen,   Eine Volksvertretung in Form einer repräsentativen Stichprobe findet man in der politischen Realität allerdings nirgends. Das hängt offenbar damit zusammen, dass dann jeder zufällig ausgewählte Staatsbürger auch bereit sein müsste, für einige Jahre Parlamentarier mit Vollzeit-Beschäftigung zu werden und seine eigentliche Berufstätigkeit aufzugeben.
 
Ein anderes schwerwiegendes Argument gegen die Anwendung einer Zufallsstichprobe geht davon aus, dass ein Parlamentarier für die Bewältigung seiner Aufgaben gewisse Voraussetzungen mitbringen sollte wie z. B. Verhandlungsgeschick, Diskussionserfahrung, Redegewandtheit, hinreichende Intelligenz, Kenntnis der zu regelnden Sachverhalte etc.. Da diese Fähigkeiten jedoch nicht bei allen Wählern im erforderlichen Maß vorhanden sind, können die Ergebnisse der parlamentarischen Arbeit nicht die besten sein.


Wenn es sich bei den Parlamentariern nicht um eine repräsentative Stichprobe handelt sondern z. B. um ein Losverfahren nur unter den aktiven Bewerbern, so taucht neben dem Problem der fehlenden Kompetenz ein weiteres Problem auf. Jeder ausgeloste Parlamentarier hat aufgrund von Alter, Geschlecht, Ausbildung, wirtschaftlicher Lage, ethnischer Zugehörigkeit, religiöser Bindung etc. spezifische Interessen. Diese Interessen wirken sich auf seine Entscheidungen im Parlament aus. Da es sich bei diesen Parlamentariern aber nicht um eine repräsentative Auswahl handelt, gibt es keinerlei Grund zu der Annahme, dass diese Interessen irgendwie repräsentativ für die in der Wählerschaft vorhandenen Interessen sind. Damit gibt es auch keinen Grund zu der Annahme, dass die Entscheidungen dieses Parlaments zum Wohl der Allgemeinheit ausfallen.  

Um die Abgeordneten für das Parlament zu bestimmen, werden gegenwärtig deshalb vor allem zwei Verfahren verwendet, die

Die Verteilung der Parlamentssitze gemäß der Mehrheitswahl (Personenwahl)
Um die Mehrheitswahl anwenden zu können, muss das Staatsgebiet in Wahlkreise aufgeteilt sein. Jeder Wahlkreis entsendet in der Regel einen Abgeordneten als seinen Vertreter in ein zentrales Parlament. Dieser Abgeordnete wird aus der Menge der Kandidaten durch Abstimmung nach der Regel der relativen Mehrheit ermittelt (daher der Name "Mehrheitswahl". (Siehe dazu unten Anhang 4, Regel der relativen Mehrheit). Gewählt ist derjenige Kandidat, der vergleichsweise die meisten Stimmen erhält. Wahlberechtigt sind nur diejenigen Staatsbürger, die in dem Wahlkreis wohnen. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten bleiben unberücksichtigt, auch wenn ein Kandidat nur ganz knapp unterliegt.

Besondere Beziehung zum "eigenen" Abgeordneten des "eigenen" Wahlkreises
Bei Anwendung des Mehrheitswahl hat jeder Staatsbürger einen für ihn "zuständigen" Abgeordneten im Parlament, den Abgeordneten seines Wahlkreises. Auch wenn der Abgeordnete einer bestimmten Partei angehört, so gilt er doch als Vertreter aller Staatsbürger, die im Wahlkreis wohnen. Durch seine lokale Verankerung bildet er eine geeignete Anlaufstelle für die Wünsche und Meinungen in der Bevölkerung seines Wahlkreises.

Weniger Splittergruppen in den Wahlkreisen
Da nur derjenige Kandidat Abgeordneter wird, der die meisten Stimmen auf sich vereint, und die Stimmen für die anderen Kandidaten unberücksichtigt bleiben, ist es wenig sinnvoll, dass sich Kandidaten bewerben, die keine Aussicht auf eine Mehrheit haben. Es besteht insofern von vornherein ein gewisser Druck, Kompromisse zu schließen und sich zusammenzutun. Damit wird - zumindest auf Wahlkreisebene - der politischen Zersplitterung entgegengewirkt. Häufig kommt es deshalb bei der Mehrheitswahl zur Bildung von zwei großen Parteien oder zwei politischen Lagern.

Gefahr einer parteiischen Wahlkreiseinteilung
Von besonderer Bedeutung ist bei der Mehrheitswahl die Einteilung der Wahlkreise. Will man die Gleichgewichtigkeit der Wählerstimmen festhalten, so muss streng genommen jeder Wahlkreis gleichviele stimmberechtigte Wähler umfassen. Wenn z. B. der Wahlkreis A nur 50.000 stimmberechtigte Staatsbürger umfasst, der Wahlkreis B dagegen 100.000, so hat die Stimme eines Wählers aus dem Wahlkreis A ein doppelt so großes Gewicht wie die Stimme eines Wählers aus dem Wahlkreis B. Eine exakt gleiche Anzahl der Wähler in allen Wahlkreisen ist allerdings wohl niemals der Fall, denn die Zahl der Bewohner ändert sich ständig.

Je nachdem, wie man die Wahlkreisgrenzen bestimmt, haben die verschiedenen Parteien davon Vorteile oder Nachteile. Wenn man z. B. aus einem zu großen Wahlkreis zwei Wahlkreise macht, so kann man durch eine geschickte Grenzziehung manchmal erreichen, dass eine bestimmte Partei beide Mandate gewinnt. Derartige Ungleichgewichte müssen durch entsprechende Vorschriften im Wahlrecht ausgeschlossen werden.

Stärkere Stellung des einzelnen Abgeordeten gegenüber der zentralen Parteiführung

Der einzelne Abgeordnete ist beim Mehrheitswahlrecht weniger abhängig von der Parteizentrale, weil der Gewinn seines Sitzes im Parlament nicht auf der Kandidatenliste beruht sondern auf den Mehrheitsverhältnissen in seinem Wahlkreis. Für den Abgeordneten mit Direktmandat hat vor allem die lokale Parteiorganisation Bedeutung, die darüber entscheidet, wer für die Partei kandidieren soll. Wenn ein Abgeordneter bei der nächsten Wahl wiederum als Kandidat seiner Partei aufgestellt werden möchte, dann muss er also vor allem den Kontakt zur Parteiorganisation seines Wahlkreises und zu seiner Wählerschaft pflegen.


Die Verteilung der Parlamentssitze gemäß der Verhältniswahl (Listenwahl)


Bei der Bestimmung der Abgeordneten des Parlaments nach den Regeln der Verhältniswahl soll der Anteil der Parlamentssitze einer Partei möglichst ebenso groß sein wie der Anteil der Wählerstimmen für diese Partei bzw. für deren Liste. Die Größenverhältnisse der Parteien in der Wählerschaft und im Parlament sind also dieselben. (Deshalb die Bezeichnung "Verhältniswahl".) Wenn eine fiktive ABC-Partei z. B. ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, so darf die ABC-Partei auch ein Drittel der Parlamentssitze mit ihren Kandidaten besetzen. Welche Kandidaten dies genau sind, ergibt sich aus den Listen, die die Parteien zur Wahl aufstellen. Die Liste einer Partei enthält die Namen der Kandidaten dieser Partei in der Reihenfolge, in der die Kandidaten bei der Besetzung der von ihrer Partei gewonnenen Abgeordnetensitze zum Zuge kommen. Ein Kandidat, der in der Liste vorne steht, hat also bessere Chancen, als Abgeordneter in das Parlament einzuziehen, als ein Kandidat, der weiter hinten steht. Wenn das Parlament 300 Sitze hat und ein Drittel der Wähler hat die ABC-Partei gewählt, so ziehen die Kandidaten mit den Plätzen 1 bis 100 auf der Liste der ABC-Partei in das Parlament ein. Der Kandidat, der an der 101. Stelle der Liste steht, sowie alle Kandidaten hinter ihm, gehen leer aus.

Kritik
Erhaltung des gleichgewichtigen Stimmrechts
Das Verhältniswahlrecht hat den großen Vorteil, dass die relative Stärke der verschiedenen politischen Positionen in der Wählerschaft auf das Parlament übertragen wird. Eine Partei, die 35% der Wählerstimmen erhalten hat, hat grundsätzlich Anrecht auf 35% der Sitze im Parlament.

Gefahr der regionalen Zersplitterung auf Parlamentsebene
Bei der Verhältniswahl besteht die Gefahr, dass zahlreiche kleine Splitterparteien entstehen, die sich von den andern Parteien abgrenzen. Da jedoch eine Mehrheit der Abgeordneten erforderlich ist, um ein Gesetz zu beschließen oder den Regierungschef zu wählen, muss dazu eine Koalition aus relativ vielen Parteien gebildet werden. Mit der Zahl der Koalitionsparteien wächst jedoch die Gefahr, dass die Koalition noch während der Legislaturperiode auseinanderbricht, weil eine der beteiligten Parteien die Gemeinsamkeit aufgekündigt und die Koalition verlässt. Das kann bedeuten, dass die amtierende Regierung im Parlament nun keine Mehrheit mehr hat. Eine solche Minderheitsregierung kann wenig ausrichten und muss meist bald zurücktreten.

Verstärkter Einfluss der Parteiführungen
Bei Anwendung der Verhältniswahl haben die Parteien einen großen Einfluss auf die personelle Besetzung des Parlaments, denn sie stellen die Listen der Kandidaten zusammen. Ein Abgeordneter erhält seinen Sitz im Parlament nur durch die Entscheidung der Partei, ihn auf einen aussichtsreichen Listenplatz zu setzen. Der Wähler hat hier keine Möglichkeit, einzelne Kandidaten zu unterstützen oder zu verhindern. Er kann seine Vorstellungen nur durch die Wahl oder die Nichtwahl einer Liste zum Ausdruck bringen.

Schlussbemerkung
Wie man sieht, haben beide Verfahren - Verhältniswahl und Mehrheitswahl - ihre Vor- und Nachteile. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass sich die Verfasser des Grundgesetzes für eine Kombination aus beiden Wahlverfahren entschieden haben, die die Vorzüge beider Verfahren in sich vereint. Das hat allerdings den Nachteil, dass das Wahlverfahren dadurch recht kompliziert wird (siehe dazu unten "Überhangmandat")

Regelungen im Grundgesetz
Die rechtlichen Bestimmungen zur Wahl des Bundestages finden sich nicht im Grundgesetz sondern im Bundeswahlgesetz (BWG). Es heißt dort, dass die Abgeordneten des Bundestages "nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt" werden (Bundeswahlgesetz § 1 Absatz 1). "Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste" (BWG § 4). Es gibt also keine zentrale Liste auf Bundesebene sondern nur Landeslisten. "Der Deutsche Bundestag besteht ... aus 598 Abgeordneten. ... Von den Abgeordneten werden 299 .. in den Wahlkreisen und die übrigen nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt" (BWG § 1 Absatz 2).


Zur Personenwahl (Mehrheitswahl)
Personenwahl ist ein anderer Ausdruck für die oben beschriebene Mehrheitswahl. Dazu wird das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in Wahlkreise aufgeteilt. "In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt. Gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt" (BWG § 5).  Gewählt wird also nach der Regel der einfachen (relativen) Mehrheit. Hierbei kommen die Erststimmen zur Anwendung.

"Die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Ländern muss deren Bevölkerungsanteil soweit wie möglich entsprechen" (BWG § 3 Absatz 1). Wenn ein Bundesland z. B. doppelt so viele Einwohner - ohne Ausländer - wie ein anderes Bundesland hat, müssen in diesem Land folglich auch doppelt so viele Wahlkreise eingerichtet werden wie in dem andern Bundesland. Damit wird sichergestellt, dass das Stimmengewicht eines einzelnen Wählers in den verschiedenen Bundesländern annähernd gleich ist.

Zur Verhältniswahl (Listenwahl)
Die noch nicht vergebenen ca. 299 Sitze im Bundestag werden über eine Verhältniswahl besetzt, bei der die Zweitstimmen zur Anwendung kommen. "Für die Verteilung der ... zu besetzenden Plätze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt" (BWG § 6 Absatz 1).

Ziel ist es, die verbleibende Hälfte der Sitze im Bundestag so zu besetzen, dass der Anteil der Abgeordneten jeder Partei dem Anteil der Zweitstimmen für diese Partei möglichst gut entspricht und so die Stärkeverhältnisse im Parlament und in der Wählerschaft dieselben sind. (Allerdings gelangt eine Partei nur dann in den Bundestag, wenn sie mindestens 5% der Zweitstimmen erhält oder aber mindestens 3 Wahlkreise direkt erobert. Mit dieser Hürde soll die Zersplitterung der Parteienlandschaft verhindert werden.)

Die Berechnungen der Sitzverteilung gemäß § 6 des Bundeswahlgesetzes sind durch die zusätzliche Ebene der Bundesländer recht kompliziert und sollen deshalb hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Nur der Begriff der "Überhangmandate" soll erläutert werden.

Was ist ein "Überhangmandat"?
Ein konkretes Beispiel soll dies erläutern. Bei der Bundestagswahl 2009 hatten die Kandidaten der CDU in sämtlichen Wahlkreisen des Landes Baden-Württemberg die meisten Erststimmen erhalten. Somit gewann die CDU alle 38 Direktmandate. Von den Zweitstimmen entfiel auf die Landesliste der CDU ein Anteil von 34,4%. Somit standen der CDU 34,4% von den 76 (2 x 38) Abgeordnetensitzen zu, die Baden-Württemberg gemäß seinem Bevölkerungsanteil im Bundestag besetzen durfte. 34,4% von 76 sind 26,14. Der CDU von Baden-Württemberg standen somit gemäß den Regeln der Verhältniswahl insgesamt nur 26 Sitze im Bundesstag zu. Sie hatte aber bereits 38 Sitze als Direktmandate gewonnen. Damit gab es für die CDU in Baden-Württemberg 12 "Überhangmandate".]

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Anhang 2

Gründe für das Entstehen von politischen Bündnissen und Parteien

Bei den frühen Theoretikern der Demokratie spielen Parteien entweder gar keine oder nur eine störende Rolle. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten sich immer deutlicher politische Organisationen heraus, die eine zunehmende Bedeutung für die politische Willensbildung bekamen (Gewerkschaften, Parteien).

Dies erklärt sich aus den erhebliche Wettbewerbsvorteilen einer politischen Partei gegenüber dem Einzelkandidaten :
 - Eine Partei kann durch Aufteilung der Arbeiten auf ihre Mitglieder alle Bereiche der staatlichen Politik programmatisch abdecken.
 - Einzelne Parteimitglieder können sich auf bestimmte Politikbereiche spezialisieren und ihr vertieftes Wissen in die Partei einbringen.
 - Die Wahlwerbung wird durch ein gemeinsames Parteiprogramm erheblich vereinfacht und verstärkt.
 - Es kann eine Parteikasse geschaffen werden, aus der die Kosten für hauptamtliche Parteifunktionäre, für ein Parteibüro oder für den Wahlkampf bestritten werden.
 - Die Partei konzentriert die vereinten Kräfte ihrer Mitglieder auf das Ziel, die Mehrheit im Parlament zu gewinnen und die eigenen politischen Zielvorstellungen durchzusetzen - notfalls auch durch die Zusammenarbeit mit anderen Parteien.
 - Parteien haben einen Zeithorizont, der mehr als eine Wahlperiode umfasst. Eine Partei kann z. B. bewusst in die Opposition gehen, wenn sie meint, dass sich dadurch ihre Aussichten bei den zukünftigen Wahlen verbessern.
 - Bei Neuwahlen können die bereits vorhandenen Formen der Zusammenarbeit genutzt werden und die Partei ist den Wählern bereits bekannt.

Zur Demonstration der Notwendigkeit von Parteien ein fiktives Beispiel:
Angenommen es handelt sich um einen größeren Staat mit 60 Millionen Staatsbürgern. Wenn auf 100.000 Staatsbürger ein Sitz im Parlament kommt, so erhält man ein Parlament mit 600 Abgeordnetensitze. Wenn sich jeder 20.000ste Staatsbürger um einen Sitz im Parlament bewirbt, dann stehen insgesamt 3.000 Kandidaten zur Wahl. Wenn jeder dieser Kandidaten im Wahlkampf nur 5 Minuten Fernsehzeit erhält, um sich mit seinen politischen Absichten den Staatsbürgern vorzustellen, so müsste ein Wähler mehr als 10 Tage lang rund um die Uhr vor dem Fernseher sitzen, um alle Kandidaten zu sehen. Damit wäre der einzelne Staatsbürger sicher überfordert.

An der Handlungsfähigkeit eines Parlaments aus unorganisierten Einzelkandidaten kann man begründete Zweifel hegen. Wenn 600 Abgeordnete mit unterschiedlichen politischen Zielen zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen wollen, so ist das äußerst zeitraubend, denn der einzelne Abgeordnete muss vor jeder Abstimmung bis zu 300 andere Abgeordnete in seinem Sinne überzeugen, wenn er eine Mehrheit für seine politischen Ziele erreichen will. Kurz gesagt: Ein solches Parlament erfordert einen riesigen Entscheidungsaufwand und bleibt in seinen Entscheidungen trotzdem äußerst schwerfällig.

Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit andern Abgeordneten gehen über die Zusammenfassung Gleichgesinnter hinaus. So kann der Abgeordneter A, dem die Interessen der Rentner sehr wichtig sind, mit dem Abgeordneten B, dem das Wohlergehen der Studenten am Herzen liegt, im beiderseitigen Interesse vereinbaren, dass B bei allen Anträgen, die die Rentner betreffen, im Sinne von A abstimmt und dass im Gegenzug A bei allen Anträgen, die die Lage der Studenten betreffen, im Sinne von B abstimmt. Auf diese Weise können Abgeordnete die Aussichten auf eine Mehrheit für ihre politischen Anliegen verbessern.

Trotz aller Kritik an den Parteien ist eine parlamentarische Demokratie unter heutigen Bedingungen ohne Wahlbündnisse und ohne Parteien kaum denkbar. Das Verhalten der Parteien und ihrer Führung ist ein zentraler Teil des politischen Geschehens. Dass trotzdem in den Verfassungen von den Parteien wenig die Rede ist, mag daran liegen, dass sich Wahlbündnisse und Parteien praktisch von selbst bilden, wenn die Freiheit zur Bildung solcher Vereinigungen besteht, da die Einzelnen ihre eigenen Interessen organisiert besser verfolgen können.

Folgen der Parteibildung für den einzelnen Staatsbürger
Auch für die wahlberechtigten Staatsbürger bringt die Organisierung der Kandidaten in Parteien und Wahlbündnissen gewisse Vorteile. Die Wähler können nun die politische Landschaft besser überblicken und die angebotenen politischen Programme besser beurteilen. Durch langjährige Erfahrung mit den politischen Parteien und deren Führungspersonal können sich die Wähler ein realistisches Bild von den verschiedenen Parteien machen.

Wenn eine Partei den politischen Zielvorstellungen eines Staatsbürgers entspricht, kann er dieser Partei beitreten, um sie zu unterstützen. Er kann auch versuchen, innerhalb der Partei für eine bestimmte politische Ausrichtung dieser Partei zu werben oder sich als Kandidat der Partei bei Wahlen aufstellen zu lassen. Da meist nur solche Kandidaten eine Chance haben, die von einer der größeren Parteien unterstützt werden, besitzen diese Parteien allerdings auch eine gewisse Machtstellung, an der niemand vorbeikommt, der Parlamentsabgeordneter werden will.

Regelungen im Grundgesetz
"Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei" (GG Artikel 21 Absatz 1). "Mitglieder des Bundestages können sich in Fraktionen zusammenschließen" (Abgeordnetengesetz § 45). "Die Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens fünf von Hundert der Mitglieder des Bundestages, die derselben Partei angehören" (Geschäftsordnung des Bundestages § 10).

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Anhang 3

Zwei Interpretationen der Abstimmung in der Demokratie
Staatliches Handeln soll sich nach verbreiteter Anschauung am Wohl aller Staatsbürger, am Gemeinwohl ausrichten. Dagegen orientieren sich Interessengruppen und Parteien häufig ganz offen an ihren Sonderinteressen. Frühe Theoretiker der Demokratie wie Rousseau haben sich deshalb gegen die Bildung politischer Parteien oder Interessengruppen ausgesprochen.  

Im Hintergrund der Kontroverse über die Rolle von Interessengruppen und Parteien stehen zwei unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Frage der einzelne Staatsbürger mit seiner Stimmabgabe eigentlich beantwortet.

Nach dem "klassischen" Verständnis von Demokratie antwortet der Staatsbürger mit seiner Stimmabgabe auf die Frage: "Welche Politik ist für das Gemeinwesen bzw. die Gesamtheit aller Staatsbürger am besten?"

Nach dem modernen Verständnis (entwickelt vor allem durch Schumpeter und Downs) antwortet der Staatsbürger mit seiner Stimmabgabe auf die Frage:
"Welche Politik ist für mich am besten?"

Beide Fragen fallen nicht notwendig zusammen, obwohl sie sich im Bewusstsein der Wähler sicherlich häufig vermischen. Beide Fragen weisen dem Mehrheitsprinzip unterschiedliche Funktionen zu.

I. Die Wähler als Jury zur Ermittlung des Gemeinwohls
Wenn man die erste Auffassung teilt, dann bilden die Wähler eine Art Jury, die diejenige Politik bestimmen soll, die dem allgemeinen Wohl am besten entspricht. Allen Staatsbürgern wird demnach dieselbe Frage gestellt ("Welche Politik ist für die Gesamtheit aller Staatsbürger am besten?"). Diese Frage kann von den einzelnen Wählern unterschiedlich beantwortet werden, wobei nur eine Antwort richtig sein kann. In diesem Fall entscheidet in einer Demokratie die Mehrheit. Dabei ist zu beachten, dass die Mehrheit nicht darüber entscheidet, welche Antwort die inhaltlich richtige ist (das kann sie garnicht), sondern darüber, welche Antwort als für alle verbindlich gelten soll. Das Mehrheitsprinzip ist ein Verfahren, mit dem eine Gruppe verbindliche kollektive Entscheidungen treffen kann, aber es ist kein Weg zur Ermittlung des Wahren und Richtigen.

Hier stellt sich die Frage: Warum nimmt man das Mehrheitsprinzip, um festzustellen, welche Meinung die richtige ist? Warum soll die Meinung der Mehrheit eher richtig sein als die Meinung der Minderheit?

Eine Begründung für die Richtigkeit der Mehrheitsmeinung stützt sich auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Es lässt sich zeigen, dass unter bestimmten Voraussetzungen Folgendes gilt: Wenn die Staatsbürger mit ihrer Meinung zum Gemeinwohl häufiger recht haben als unrecht, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die Mehrheit bei einer Abstimmung irrt, sehr viel geringer als die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die Minderheit irrt.

Eine andere mögliche Begründung für die Anwendung des Mehrheitsprinzips im Falle des Jury-Verständnisses lautet: Eine kollektive Fehlentscheidung ist umso leichter zu bewältigen, je mehr Staatsbürger diese Fehlentscheidung als ihre eigene Fehlentscheidung ansehen.

II. Die Wähler als Träger unterschiedlicher eigener Interessen
In modernen Konzeptionen der Demokratie drücken die Staatsbürger bei Abstimmungen nicht ihre Meinung vom Gemeinwohl aus, sondern sie bringen mit der Abstimmung ihre eigenen Interessen in den politischen Willensbildungsprozess ein. Sie stimmen so ab, dass ihre politischen Zielvorstellungen möglichst weitgehend durchgesetzt werden.

Gleichzeitig wird durch das Mehrheitsprinzip dafür gesorgt, dass sich nur diejenigen Interessen durchsetzen, die von einer Mehrheit der Staatsbürger geteilt werden.

Nach diesem Verständnis des demokratischen Verfahrens widersprechen sich zwei Staatsbürger nicht, wenn sie ihre Stimme unterschiedlichen Kandidaten oder Parteien geben. Dies bedeutet nur, dass sie ihre Interessen durch unterschiedliche Parteien bzw. Kandidaten am besten vertreten sehen.

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Anhang 4

Was ist mit "Mehrheitsprinzip" genau gemeint?
Im Vorangegangenen war wiederholt vom Mehrheitsprinzip die Rede. Was mit dem Ausdruck "Anwendung des Mehrheitsprinzip" gemeint ist, scheint klar und einfach zu sein: "Der Wille der Mehrheit soll entscheiden". Wenn man jedoch genauer hinsieht, ist keineswegs klar, was der Wille der Mehrheit ist und wie man ihn feststellen kann.

Die übliche Methode, um den Willen der Mehrheit eines Kollektivs zu ermitteln, ist die Durchführung einer Abstimmung. Doch das Problem ist, dass es unterschiedliche Abstimmungsverfahren gibt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.

Abstimmung über einzelne Anträge ohne Einbeziehung von Alternativen
Ein häufig angewandtes Abstimmungsverfahren besteht darin, dass ein Antrag zur Abstimmung gestellt wird und dass - nach einer Aussprache - über den Antrag mit "ja" oder "nein" abgestimmt wird. Dies kann durch einfaches Handaufheben erfolgen. Wird nur ein einziger Antrag zur Abstimmung gestellt, ohne dass weitere Alternativen einbezogen werden ("Es wird beantragt, dass die Regelung x eingeführt wird"), so geht es um die Frage, ob der bestehende Zustand (der Status quo) im Sinne des Antrages verändert werden soll oder nicht.

Ein fiktives Beispiel:
Angenommen in einem Parlament mit 60 Abgeordneten wird der Antrag gestellt, die Hundesteuer, die gegenwärtig jährlich 80 Euro beträgt auf 50 Euro zu senken. Nach dem Ende der Diskussion über den Antrag lässt der Parlamentspräsident abstimmen. Es werden 31 Ja-Stimmen, 27 Nein-Stimmen und 2 Enthaltungen gezählt.

Folgt aus dieser Abstimmung nun, dass die Senkung der Hundesteuer von 80 auf 50 Euro dem Willen der Mehrheit der Abgeordneten entspricht?

Es scheint zwar so, aber genau genommen kann man aufgrund des Abstimmungsergebnisses nur sagen, dass die Senkung der Hundesteuer auf 50 Euro eher dem Willen der Mehrheit entspricht als die Beibehaltung der 80 Euro. Denn es ist ohne weiteres möglich, dass z. B. ein Antrag auf Abschaffung der Hundesteuer ebenfalls eine Mehrheit bekommen hätte, wenn er zur Abstimmung gestellt worden wäre. Aber welcher Antrag entspricht dem Willen der Mehrheit, wenn das Ergebnis davon abhängt, in welcher Reihenfolge die Anträge zur Abstimmung gestellt werden?

Die aufgezeigte Problematik isolierter Abstimmungen über einzelne Anträge wird allerdings dann abgemildert, wenn der jeweilige Antrag zuvor diskutiert und verhandelt wurde und wenn Richtung und Stärke der Meinungen bzw. Präferenzen bei den Beteiligten zu erkennen sind. Dann kann ein Fall wie bei der Hundesteuer gar nicht erst entstehen, weil sich bereits im Vorfeld die mehrheitsfähige Alternative herausschält.  Auch im deutschen Bundestag werden die Anträge so formuliert, dass sie mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden können. Allerdings kommen dort die Gesetzesvorlagen nicht unvermittelt zur Abstimmung, sondern sie werden ausführlich diskutiert, sie gehen durch die Ausschüsse des Parlaments und durch den Bundesrat. Und nicht zuletzt werden Gesetzesvorhaben auch in den Medien und an anderen Orten diskutiert.

Abstimmung nach der Regel der relativen Mehrheit
Bei Vorliegen mehrerer alternativer Anträge ("Abschaffung der Hundesteuer", "Senkung der Hundesteuer auf 30 Euro", "Senkung der Hundesteuer auf 50 Euro" und "Erhöhung der Hundesteuer auf 200 Euro") fasst man diese Anträge häufig in einer Abstimmung zusammen. Wenn dabei der Antrag "Senkung der Hundesteuer auf 30 Euro" die meisten Stimmen erhält (19 Stimmen), d. h. mehr Stimmen als "Abschaffung der Hundesteuer" (11), mehr Stimmen als "Senkung der Hundesteuer auf 50 Euro" (13) und mehr Stimmen als "Erhöhung der Hundesteuer auf 200 Euro" (17), so geht der Antrag "Senkung der Hundesteuer auf 30 Euro" als Sieger aus der Abstimmung hervor.

Dies Verfahren nennt man auch "Abstimmung nach der Regel der relativen Mehrheit". Die geforderte Mehrheit ist dabei insofern "relativ", als eine Mehrheit der Stimmen nur im Verhältnis zu den andern Anträgen gefordert wird, jedoch keine "absolute" Mehrheit von mehr als der Hälfte aller Stimmen. Statt von einer "relativen" Mehrheit spricht man auch von einer "einfachen" Mehrheit, da es sich nicht um eine "qualifizierte" Mehrheit handelt, bei der z. B. mindestens 2/3 aller Stimmen erforderlich sind, damit ein Antrag als kollektiv gewählt gilt.


Aber entspricht der Antrag "Senkung der Hundesteuer auf 30 Euro" wirklich dem, was die Mehrheit will?

Genau genommen kann man nur sagen, dass es mehr Abgeordnete gibt, die den Antrag ("Senkung auf 30") für den besten halten, als es Abgeordnete gibt, die einen der anderen Anträge ("Senkung auf 50" / "Abschaffung" / "Erhöhung auf 200") für den besten halten. Das schließt jedoch nicht aus, dass es einen weiteren möglichen Antrag gibt ("Senkung der Hundesteuer auf 40 Euro"), der bei einer Stichwahl gegen den Antrag "Senkung auf 30 Euro" die Mehrheit der Stimmen erhalten und somit siegen würde. Das hieße dann aber, dass der Antrag "Senkung auf 40 Euro" eher dem Willen einer Mehrheit entspricht als der Antrag "Senkung auf 30 Euro".

Abstimmung nach der Regel der absoluten Mehrheit
Wenn es bei einer Abstimmung mehrere Anträge gibt, kann es sein, dass sich die Stimmen so auf die Anträge verteilen, dass ein Antrag auch mit einer relativ geringen Stimmenzahl siegen kann. Um diesem Problem zu begegnen, kann man die Entscheidungsregel so verschärft, dass ein Antrag die absolute Mehrheit der Stimmen, d. h. mehr als die Hälfte aller Stimmen auf sich vereinigen muss. Die Regel der absoluten Mehrheit hat allerdings den Nachteil, dass es dabei häufiger zu gar keiner Entscheidung kommt, weil kein Antrag eine absolute Mehrheit der Stimmen erhält. Häufig wird dann eine Stichwahl durchgeführt, bei der nur noch die beiden Anträge mit den meisten Stimmen zur Wahl stehen.

Dass ein Antrag die absolute Mehrheit der Stimmen erhält, schließt nun keineswegs aus, dass es nicht einen anderen möglichen Antrag gibt, der bei einer Stichwahl zwischen zwischen den beiden Anträgen die Mehrheit der Stimmen bekommen würde.

Die Mehrheitsalternative und ihre Durchsetzung
Nur wenn es eine Antrag gibt, der bei einer paarweisen Abstimmung mit jeder der übrigen Alternativen eine Mehrheit der Stimmen e rhält, ist man berechtigt zu sagen: "Dieser Antrag entspricht dem Willen der Mehrheit". Ein solcher Antrag, der jedem anderen Antrag im Paarvergleich überlegen ist, wird als "Mehrheitsantrag" bzw. "Mehrheitsalternative" bezeichnet. (Man spricht auch vom "Condorcet-Sieger", weil Condorcet die Methode der paarweisen Abstimmung vorgeschlagen hat.)

Allerdings steigt die Zahl der Paarvergleiche, die zur Ermittlung der Mehrheitsalternative erforderlich sind, mit wachsenden Zahl der Alternativen steil an. Dies Problem wird jedoch dadurch entschärft, dass sich eine vorhandene Mehrheitsalternative in allen Abstimmungsverfahren mit gleichem Stimmrecht der Abstimmungsberechtigten durchsetzt, also z. B. auch bei Abstimmungen nach der Regel der relativen Mehrheit. Voraussetzung dafür ist, dass die Beteiligten sich über ihre Präferenzen informieren können und für die Abstimmung Vereinbarungen treffen können.

Verfassungsmäßige Rahmenbedingungen für die Anwendung des Mehrheitsprinzips
Dem Mehrheitsprinzip kommt als isoliertem Verfahren kein besonderer ethischer Wert zu, wenn man einmal von der damit verbundenen Gleichberechtigung der Stimmberechtigten absieht. Auch eine Räuberbande kann sich des Mehrheitsprinzips etwa bei der Bestimmung eines Anführers bedienen. Damit das Mehrheitsprinzip ethisch akzeptable Wirkungen entfalten kann, müssen bestimmte normative Vorentscheidungen getroffen sein. Diese Vorentscheidungen sind gewöhnlich in einer Verfassung (Konstitution) niedergelegt, die ihrerseits nicht dem Mehrheitsprinzip unterworfen ist.

Vor einer Anwendung des Mehrheitsprinzips muss geregelt sein ...
 - ... wer überhaupt stimmberechtigt ist; (so dürfen z. B. unmündige Kinder und Ausländer, die nicht die Staatsbürgerschaft besitzen, gewöhnlich nicht mit abstimmen);
 - ... wer Anträge zur Abstimmung stellen darf und in welcher Weise über diese Anträge abgestimmt wird; (dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Ergebnisse, wie oben gezeigt wurde);
 - ... wer darüber entscheidet, ob ein Antrag überhaupt zulässig ist; (dies ist dann wichtig, wenn es auch Bereiche gibt, über die nicht mehrheitlich entschieden werden darf, wie z. B. bestimmte Grundsätze der Verfassung);
 - ... welche Formen der Information und Argumentation der Abstimmung vorausgehen müssen; (eine bloße Abstimmungsmaschinerie nützt wenig, denn die Politik kann nicht besser sein als die Meinungen der Wähler, auf denen sie beruht);
 - ... wer die Mehrheitsbeschlüsse in die Tat umsetzt; (dass etwas dem Mehrheitswillen entspricht, erzeugt aus sich heraus noch bei niemandem eine ausreichende Motivation, das Beschlossene auch auszuführen oder durchzusetzen);
 - ... wer die bereits getroffenen Mehrheitsbeschlüsse im Falle der Uneinigkeit verbindlich auslegt; (ohne eine unabhängige Auslegung durch Gerichte werden die besten Gesetze verdreht);
 - ... für wen und unter welchen Umständen die Beschlüsse gelten sollen und von wem die Befolgung der Beschlüsse verlangt wird; (meist gelten die Mehrheitsbeschlüsse nur auf dem Territorium des betreffenden Staates).

Die Regelung dieser Fragen erfordert die Existenz eines Gemeinwesens (Staat) und einer allgemein anerkannten Verfassung. Beides sind insofern notwendige Rahmenbedingungen dafür, dass das Mehrheitsprinzip überhaupt sinnvoll angewendet werden kann.

Probleme des Mehrheitsprinzips

Hohe Informations- und Entscheidungskosten
Damit die Staatsbürger mit dem nötigen Sachverstand abstimmen können, müssen sie über die betreffenden Bereiche hinreichend informiert sein. Sie müssen die zur Abstimmung gestellten Alternativen und deren voraussichtliche Konsequenzen überblicken und bewerten. Folglich ist jede Abstimmung mit relativ hohen Informations- und Entscheidungskosten verbunden. Hinzu kommt der Aufwand für die Abgabe und Auszählung der Stimmen.

Deshalb kommt die Anwendung des Mehrheitsprinzip nur für Entscheidungen in Betracht, die von besonderer Wichtigkeit sind (z. B. Abstimmungen über grundlegende Alternativen oder über allgemeine Normen, Auswahl von Personen für bestimmte Ämter oder Funktionen o. ä.). Dass alle Staatsbürger über alle politischen Entscheidungen abstimmen ist praktisch unmöglich und wenig sinnvoll.

Keine Berücksichtigung der unterschiedlich starken Betroffenheit von der Entscheidung
Es kommt immer wieder vor, dass die Staatsbürger in höchst unterschiedlichem Maße von einer Entscheidung betroffen sind. Wenn z. B. darüber entschieden werden muss, wie hoch Lastkraftwagen besteuert werden sollen, so steht für die einen ihre wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel, für die anderen handelt es sich eher um ein Randproblem.

Bei Anwendung des Mehrheitsprinzips ist es nun möglich, dass eine - vielleicht nur knappe - Mehrheit schwach betroffener Individuen die anderen, elementar betroffenen Individuen überstimmt: Z. B. überstimmen die Individuen A und B das Individuum C und stimmen für eine Alternative, bei deren Verwirklichung sie jeweils 10 € gewinnen, aber Individuum C 1000 € verliert.

Dies Problem entsteht dadurch, dass das Mehrheitsprinzip jedem Staatsbürger immer das gleiche Gewicht bei jeder Abstimmung gibt, ganz unabhängig davon, wie stark jemand von der jeweiligen Abstimmung betroffen ist.

Mögliches Fehlen einer Mehrheitsalternative

Viel diskutiert ist unter Theoretikern der Politikwissenschaft das Problem, dass sich manchmal "zyklischen Mehrheiten" ergeben. Dies Problem ist unter dem Namen "Condorcet-Paradox" oder "Wahlparadox" bekannt. Ein solches Wahlparadox liegt z. B. vor, wenn bei der Durchführung von Paarvergleichen die Alternative x mehrheitlich über die Alternative y siegt, y über z siegt, aber z wiederum über x siegt. Damit schließt sich der Kreis, so dass sich aus den Präferenzordnungen der Individuen keine Mehrheitsalternative ableiten lässt.

Dies gilt z. B. für Fragen, die sich auf die Verteilung von Gütern auf die Beteiligten beziehen. Ein einfaches Beispiel soll das Problem anschaulicher machen:

3 Personen wollen 10 rohe Eier unter sich aufteilen. Wenn jede Person so abstimmt, dass sie selber möglichst viele Eier erhält, dann ergibt sich bei Anwendung des Mehrheitsprinzips keine stabile Aufteilung der Eier auf die 3 Personen. Denn wie auch immer die augenblickliche Verteilung der Eier ist - immer können sich 2 Personen zu ihrem eigenen Vorteil zusammentun und per Mehrheitsentscheid die Eier des Dritten unter sich aufteilen. Das zeigt, dass das Mehrheitsprinzip zur Lösung solcher Verteilungskonflikte nicht geeignet ist.

Schlussbemerkung zum Mehrheitsprinzip
Das Mehrheitsprinzip führt als isoliertes Verfahren keinesfalls immer zu akzeptablen Ergebnissen. Es muss durch andere Prinzipien ergänzt und eingeschränkt werden, damit seine Schwächen - wie hohe Entscheidungskosten und Nichtberücksichtigung von unterschiedlichen Graden der Betroffenheit - sich nicht auswirken können.

Zu nennen sind hier folgende ergänzende Prinzipien:
 - Existenz einer Verfassung, die nicht mit einfacher Mehrheit verändert werden kann,
 - Menschenrechte, insbesondere Meinungsfreiheit und Organisationsfreiheit auch für Oppositionelle,
 - Rechtsstaatlichkeit,
 - Bindung an Internationales Recht,
 - Gewaltenteilung, insbesondere eine von der Regierung unabhängige Justiz,
 - Kontrolle politischer Macht durch "checks and balances",
  - Beschränkung wirtschaftlicher Macht und deren Einfluss auf die Medien und die Politik.

Gesetzliche Regelungen
"In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt. Gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt" (Bundeswahlgesetz § 5).
"Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich" (GG Artikel 42 Absatz 2). "Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder .. anwesend ist" (Geschäftsordnung des Bundestages § 45).
"Der (Bundestags-)Präsident stellt die Fragen so, dass sie sich mit 'Ja' oder 'Nein' beantworten lassen. (Geschäftsordnung des Bundestages § 46) Es "... entscheidet die einfache Mehrheit" (Geschäftsordnung des Bundestages § 48 Absatz 2) .
"Das Deutsche Volk bekennt sich ... zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ... Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" (GG Artikel 1 Absatz 2 und 3).
"Ein solches (das Grundgesetz änderndes) Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates" (GG Artikel 79 Absatz 2).
"Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikel 1 (zur Menschenwürde) und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig" (GG Artikel 79 Absatz 3).
"Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung (gebunden)" (GG Artikel 20 Absatz 2).
"Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof" (Bundesverfassungsgerichtsgesetz § 1).
"Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen" (GG Artikel 97 Absatz 1)

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Anhang 5

Dezentralisierung und Föderalismus
In einem zentralistischen politischen System werden die politischen Entscheidungen in der Hauptstadt für das gesamte Staatsgebiet getroffen. Das Staatsgebiet ist in Verwaltungsgebiete unterteilt, doch besitzen diese keine Rechte zur Selbstverwaltung sondern sind der jeweils größeren Gebietseinheit untergeordnet.

In zentralistischen Staaten wirken sich die Probleme des Mehrheitsprinzips (Nichtberücksichtigung der unterschiedlich starken Betroffenheit und hohe Entscheidungskosten) besonders scharf aus. Man kann beiden Problemen jedoch dadurch begegnen, dass man nicht alle politischen Entscheidungen zentral auf der gesamtstaatlichen Ebene trifft, sondern die Entscheidungen auf mehrere Ebenen verteilt. Dazu bietet sich eine räumliche Unterteilung an (in Länder, Regionen, Städte, Kreise, Gemeinden o.ä.) Auf den dezentralen Ebenen werden - ähnlich wie auf der gesamtstaatlichen Ebene - politische Institutionen (Landtage, Bezirksverordnetenversammlungen, Gemeindräte etc.) und politische Ämter (Ministerpräsidenten, Bürgermeister, Landräte, Gouverneure etc.) geschaffen. Entscheidungen, die vor allem die in einem bestimmten Gebiet ansässige Bevölkerung betreffen, können dann dezentral von den entsprechenden regionalen und lokalen politischen Institutionen getroffen werden. Dies ist das Prinzip des Föderalismus (von lateinisch "foedus" = Bündnis, Vertrag). Eine Föderation ist der Zusammenschluss von mehreren kleineren Staaten zu einem Staat, wobei diese jedoch nicht alle Befugnisse abgeben, sondern bestimmte Rechte behalten.


Durch die räumliche Untergliederung wird sowohl das Problem der Informationskosten als auch das Problem der unterschiedlichen Betroffenheit erheblich entschärft. Es müssen sich nun nicht mehr alle über alles informieren, sondern nur noch jeder über seines. Außerdem wird verhindert, dass die Stimmen weit entfernter und kaum betroffener Staatsbürger bei einer Entscheidung den Ausschlag geben.

Regelungen im Grundgesetz
Schon das Wort "Bundesrepublik" beinhaltet, dass der deutsche Staat aus einer Verbindung kleineren Einheiten besteht.
"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (GG Artikel 20 Absatz 1).
"Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung ..." (GG Artikel 70).
"In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. ... Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln" (GG Artikel 28 Absatz 1 und 2).

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Anlage 6

Existenzbedingungen einer parlamentarischen Demokratie
Kann Demokratie in allen Gesellschaften und unter allen Bedingungen eingeführt werden? Gibt es notwendige Existenzbedingungen für die Demokratie? Hierzu im Folgenden einige Thesen:

Eine Demokratie kann nicht ohne Demokraten bestehen.
Wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung anti-demokratisch eingestellt ist, wenn Politiker sich der demokratischen Verfahren nur bedienen, solange dies für sie von Vorteil ist, dann ist der Zusammenbruch der Demokratie abzusehen. Besonders gefährdet ist eine Demokratie, wenn in wichtigen staatlichen Institutionen (Militär, Rechtsprechung, staatliche Verwaltung) antidemokratisches Denken verbreitet ist.

Ohne Bejahung der grundlegenden Verfassungsgrundsätze (Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit der organisierten Opposition, friedliche Abgabe der Macht an den Wahlsieger u.a.m.) durch die wichtigsten Parteien droht der Kampf um die Mehrheit der Wählerstimmen jederzeit in eine gewaltsame Auseinandersetzung umzuschlagen. Der Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit kann nur ausgehalten werden, wenn es diesen Bereich gibt, in dem Konsens besteht.  

Wenn ein großer Teil der staatlichen Amtsträger korrupt ist, kann eine Demokratie nicht überleben.
Es muss für die Berufspolitiker eine als verbindlich anerkannte Amtsmoral geben, auch wenn deren Regeln immer wieder verletzt werden. Ein Indiz für die Wirksamkeit einer Amtsmoral ist die Bereitschaft zum Rücktritt vom Amt, wenn ein Fehlverhalten aufgedeckt wird. 

Ohne eine freie öffentliche Diskussion verkommt die Demokratie zu einer Abstimmungsmaschinerie,

Es muss regierungsunabhängige Zeitungen sowie  Rundfunk- und Fernsehsender geben, die ihrer Informationsaufgabe nachkommen können, ohne dass die Journalisten deswegen ihre Verhaftung oder gar Ermordung befürchten müssen. Ohne Meinungsfreiheit fehlt der Politik das Korrektiv. Ohne die Möglichkeit einer Aufklärung der Wähler über die verfügbaren Alternativen und über ihre eigene Position dabei sind Wahlen wertlos.

In traditionellen Gesellschaften, in denen die Zugehörigkeit zu einem Familienclan (einem "Stamm") für den Einzelnen das Entscheidende ist, kann eine Demokratie im modernen Sinne nicht funktionieren.
Die Loyalität des Einzelnen gegenüber der Großfamilie ist dann stärker als die Loyalität gegenüber dem Staat. Wahlfälschungen und Vetternwirtschaft sind unter diesen Bedingungen unausrottbar. Über die richtige Politik wird dann nicht öffentlich im Parlament gestritten und an der Wahlurne abgestimmt, sondern die Oberhäupter der Clans handeln auf dem Hintergrund ihrer relativen Stärke hinter verschlossenen Türen die Politik aus.
In solchen Gesellschaften fehlt es meist auch an Beamten, die die politischen Entscheidungen loyal umsetzen, unabhängig davon, wer gerade an der Macht ist. Das fängt bereits mit der geordneten Durchführung der Wahlen an. Posten in der staatlichen Verwaltung werden den eigenen Leuten ("Vetternwirtschaft") als Einnahmequelle (Bestechungsgelder) zugeschoben. Die Korruption gehört hier zum politischen System, während die Korruption in den modernen Gesellschaften eher eine kriminelle Ausnahmeerscheinung darstellt.

In ethnisch, religiös und/oder sprachlich in zwei gegensätzliche Lager gespalten Gesellschaften mit voneinander abgegrenzten Subkulturen führt ein zentral angewendetes Mehrheitsprinzip dazu, dass sich die zahlenmäßig größere Gruppe gegen die kleinere Gruppe in allen wesentlichen Punkten durchsetzt (Majorisierung einer Minderheit). Unter diesen Bedingungen macht eine Demokratie keinen Sinn. In solchen Staaten ist die Gefahr eines Bürgerkriegs und des Auseinanderbrechens des Staates groß. Eine Demokratie kann in solchen Ländern nur dann Bestand haben, wenn gleichzeitig eine Dezentralisierung der politischen Entscheidungen und eine weitgehende Selbstverwaltung der Gruppen eingeführt wird.

 Ende des Textes
++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++
 
Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Die Demokratie bei Rousseau ** (15 K)
Das Mehrheitsprinzip *** (1976) (349 K)
Mehrheitsprinzip - eigene Diskussionsbeiträge * (127 K)
Demokratie und Macht *** (12 K)
Demokratie als Parteienkonkurrenz * (11 K)
Demokratie - Ideengeschichte * (28 K)
Demokratie bei J.St. Mill * (18 K)
Demokratiebegriff und Amtsgedanke bei Hennis * (7 K)
Mehrheitsalternative * (15 K)
Marxistische Staatstheorie und politische Demokratie
Mehrheitsprinzip, Stabilität und Gesamtinteresse *** (16 K)

 

-->Übersicht -->Alphabetische Liste aller Texte -->Info zu dieser Website -->Lexikon -->Startseite

zum Anfang

Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Demokratie verstehen" / Letzte Bearbeitung 19.10.2014 - 09.01.2015 - / Eberhard Wesche

Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, auch Freunde, Kollegen und Bekannte auf die "Ethik-Werkstatt" hinzuweisen.