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Mehrheitsprinzip, Stabilität und Gesamtinteresse

(1978)

In der Kritik des Mehrheitsprinzips stehen zwei Punkte im Vordergrund:

Zum einen existiert nicht immer eine Mehrheitsalternative, die gegenüber allen andern Alternativen im paarweisen Vergleich eine Mehrheit der Stimmen erringen kann. Durch die Möglichkeit zyklischer Mehrheiten ergeben sich Schwierigkeiten bei der theoretischen Bestimmung des Resultats von Mehrheitsentscheidungen.

Zum andern führt das Mehrheitsprinzip u. U. zu Ergebnissen, die nach normativen Kriterien als problematisch angesehen werden, weil sie eine nicht zu rechtfertigende Benachteiligung der Minderheit durch die Mehrheit darstellen.

Beide Kritikpunkte lassen sich an einem einfachen Beispiel veranschaulichen, bei dem die 3 Individuen A, B und C 10 Äpfel nach dem Mehrheitsprinzip unter sich aufteilen sollen. Eine solche Aufteilung soll im Folgenden durch 3 aufeinander folgende Zahlen wiedergegeben werden, z. B. (6,3,1), die in dieser Reihenfolge die individuellen Anteile für A (=6 Äpfel), B (=3) und C (=1) darstellen. Die Alternativen, die hier zur Entscheidung stehen, bestehen also aus allen möglichen Folgen von 3 positiven ganzen Zahlen, deren Summe gleich 10 ist, wie z. B. (10,0,0), (8,1,1), oder (3,3,4).

Wenn man nun die zwei Annahmen macht, dass zum einen jedes Individuum bei der Abstimmung versucht, seine Interessen möglichst weitgehend durchzusetzen, und dass zum andern die Interessen jedes Individuums in der Weise eigennützig sind, dass jedes Individuum den Besitz von mehr Äpfeln gegenüber dem von weniger Äpfeln vorzieht, so wird sofort deutlich, dass in diesem Fall keine Mehrheitsalternative existiert: Es gibt keine Aufteilung der Äpfel auf die 3 Individuen A, B und C, zu der nicht eine andere mögliche Aufteilung existiert, die von einer Mehrheit vorgezogen wird: In jedem Fall können sich zwei der drei Individuen besser stellen, wenn sie den Anteil des Dritten unter sich aufteilen und diesen überstimmen.

Zum andern läst sich an diesem Beispiel das normative Problem der Benachteiligung einer Minderheit durch die Mehrheit veranschaulichen. Wenn man annimmt, dass die Individuen bei der Abstimmung ihren Besitz an Äpfeln maximieren wollen, so liegt der Schluss nahe, dass die jeweiligen Mehrheitskoalitionen nur solche Aufteilungen ins Auge fassen werden, zu denen keine alternative Aufteilung existiert, die jedes Mitglied der Mehrheitskoalition besser stellen würde.

In diesem Sinne optimal in Bezug auf die Mehrheitskoalition können nur solche Aufteilungen sein, bei denen die Minderheit leer ausgeht (oder höchstens 1 Apfel erhält), denn andernfalls könnte jedes Mitglied der Mehrheitskoalition besser gestellt werden, indem die Äpfel der Minderheit auf die Mitglieder der Mehrheit aufgeteilt werden.

Da z. B. die Aufteilung (5,5,0) sowohl für A als auch für B vorteilhafter ist als die Aufteilung (4,4,2) und insofern "koalitionsoptimal" ist, scheint die letztere Aufteilung als mögliches Ergebnis einer Mehrheitsabstimmung auszuscheiden.

Auch das von Vickrey im Anschluss an v. Neumann und Morgenstern entwickelte Konzept einer "starken Lösung" (" strong solution" ) für kooperative Mehrpersonenspiele legt als Ergebnis eine der drei Aufteilungen (5,5,0), (5,0,5) oder (0,5,5) nahe, bei denen die Minderheit leer ausgeht und der Gewinn gleichmäßig unter die Mitglieder der Mehrheitskoalition aufgeteilt wird 1). Im Anschluss an derartige spieltheoretische Überlegungen haben Buchanan und Tullock ihre z. T. massive Kritik am Mehrheitsprinzip vorgetragen 2).

Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass die dem Mehrheitsprinzip zugeschriebenen Probleme der Instabilität und der Benachteiligung der Minderheit unter bestimmten Annahmen abgeschwächt bzw. völlig aufgehoben werden. Als erstes kann in Frage gestellt werden, ob die Annahme individueller Rationalität tatsächlich die Beschränkung auf koalitionsoptimale Alternativen impliziert.

Wenn die Mitglieder einer potentiellen Mehrheitskoalition sicher sein könnten, dass die von ihnen angestrebte Vereinbarung auch tatsächlich bestehen bleibt, so wären sicherlich allein koalitionsoptimale Aufteilungen rational. Diese Sicherheit ist jedoch durch die oben aufgezeigte Instabilität jeder möglichen Aufteilung gerade nicht gegeben. Für jedes Individuum besteht also immer das Risiko, dass eine intendierte Mehrheitsvereinbarung nicht zustande kommt und es letztlich selber zur Minderheit wird. Es entspricht also auch seinem Eigeninteresse, dies Risiko möglichst gering zu halten und möglichst stabile Mehrheitsvereinbarungen anzustreben.

Damit stellt sich die Frage, wovon die Stabilität einer Mehrheitsvereinbarung bestimmt wird.

Das im Folgenden skizzierte Stabilitätskonzept geht davon aus, dass die Stabilität einer Koalitionsvereinbarung von der Präferenzintensität abhängt, mit der eine Mehrheit der Individuen irgendeine andere mögliche Vereinbarung anstrebt.3)

Wenn man im obigen Beispiel annimmt, dass die Intensität, mit der ein Individuum eine mögliche Aufteilung gegenüber einer anderen vorzieht, seinem dabei erzielten Gewinn quantitativ entspricht, so lassen sich folgende individuelle Präferenzintensitäten (PI) z. B. hinsichtlich der Aufteilungen (8,2,0) und (2,3,5) bestimmen:

PI(A)= - 6,  PI(B) = +1 und PI(C) = +5.

Es besteht also eine Mehrheit in Gestalt von B und C, die die Aufteilung (2,3,5) der Aufteilung (8,2,0) vorzieht, allerdings mit individuell unterschiedlicher Intensität.

Zu beachten ist nun, dass die Stabilität von (8,2,0) gegenüber (2,3,5) keineswegs von der durchschnittlichen Präferenzintensität der Mitglieder der potentiellen Mehrheitskoalition aus B und C abhängt. C kann noch so stark die neue Aufteilung vorziehen, für das Zustandekommen der Koalition ist das allein nicht hinreichend. Entscheidend ist, was B macht. So wie bei einem geschlossenen Schiffskonvoi das langsamste Schiff das Tempo angibt, so entscheidet über das Zustandekommen einer bestimmten Mehrheitskoalition das dazu am wenigsten motivierte Individuum.

Allgemein formuliert hängt die Stabilität einer Alternative x gegenüber einer Alternative y davon ab, wie groß die Präferenzintensität desjenigen Mitglieds einer möglichen neuen Mehrheitskoalition ist, das die relative geringste Präferenzintensität für y gegenüber x besitzt.

So entscheidet in unserm Fall die Präferenzintensität von B über die Stabilität der Aufteilung (8,2,0) gegenüber der Alternative (2,3,5). 4)

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass eine Aufteilung gegenüber unterschiedlichen alternativen Aufteilungen und Koalitionen auch unterschiedlich stabil ist. Für das Problem möglichst stabiler Koalitionsvereinbarungen geht es jedoch um die Bestimmung derjenigen Aufteilung, die sich gegenüber allen möglichen Aufteilungen und Mehrheitskoalitionen am stabilsten erweist.

Am stabilsten in diesem Sinne ist diejenige Aufteilung, bei der die Präferenzintensität irgendeines Mitglieds irgendeiner Mehrheitskoalition hinsichtlich irgendeiner alternativen Aufteilung am geringsten ist.

Hier zeigt sich nun sehr leicht, dass unter der Voraussetzung der quantitativen Entsprechung von Gütergewinn und Präferenzintensität eine Aufteilung umso instabiler ist, je größer der maximale Anteil eines einzelnen Individuums ist. Denn umso größer wird der Anreiz für die beiden übrigen, diesen Anteil mithilfe ihrer Mehrheit unter sich aufzuteilen. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch noch die "starken Lösungen", bei denen zwei der Individuen je 5 der 10 Äpfel erhalten, relativ instabil. Sie stellen aufgrund ihrer gleichmäßigen Gewinnverteilung zwar die stabilsten aller koalitionsoptimalen Aufteilungen dar, aber bei (5,5,0) bietet z. B. die Alternative (0,7,3) für jedes Mitglied der neuen Mehrheitskoalition immer noch einen Gewinn von mindestens 2 Äpfeln. Am geringsten wird der Anreiz zur Bildung einer neuen Mehrheitskoalition mit veränderter Aufteilung, wenn der maximale Anteil irgendeines Individuums möglichst gering ist. Dies ist bei der Aufteilung (3,3,4) der Fall, die jedem Individuum einen möglichst gleich großen Anteil verschafft.

Mit diesem Stabilitätskonzept ist also eine Antwort auf das anfänglich genannte Wahlparadox gegeben. Wenn man in das theoretische Modell der Mehrheitsabstimmung quantitative Annahmen über die Präferenzintensitäten der Individuen hinsichtlich der Alternativen aufnimmt, lässt sich die relativ stabilste Alternative bestimmen. Selbst bei Fehlen einer Mehrheitsalternative ergibt sich damit im theoretischen Modell ein - wenn auch empfindliches - Gleichgewicht.

Zugleich ist unter normativem Gesichtspunkt mit diesem Ergebnis der Makel der völligen Nichtberücksichtigung von Minderheitsinteressen vom Mehrheitsprinzip genommen. Bei völlig unbehinderter Koalitionsbildung ist im Mehrheitssystem jedes einzelne Individuum als Mitglied der Mehrheitskoalition ersetzbar. Diese Konkurrenz um die Mitgliedschaft in der letztlich bestimmenden Mehrheitskoalition verhindert, dass sich die Interessen der Mehrheit ohne Rücksicht auf die Minderheitsinteressen durchsetzen können. Zu untersuchen bleibt allerdings noch, inwieweit dies positive Ergebnis auch auf andere Entscheidungssituationen mit andern Interessenkonstellationen und Alternativenstrukturen übertragbar ist.

Die Frage ist natürlich, inwiefern das hier skizzierte theoretische Modell der Koalitionsbildung in Mehrheitssystemen, das zu relativ stabilen und normativ akzeptablen Resultaten führt, realen Abstimmungsprozessen bereits entspricht bzw. inwieweit es durch geeignete institutionelle Vorkehrungen realisierbar ist. Bei Beachtung des obigen Vorbehalts hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit des Ergebnisses lassen sich aus den obigen Überlegungen doch einige praktische Schlussfolgerungen hinsichtlich der Organisierung demokratischer Entscheidungsprozesse ziehen.

Entscheidend sowohl für den Verzicht auf besondere individuelle Vorteile innerhalb der Mehrheitskoalition als auch für den Verzicht auf die Durchsetzung koalitionsoptimaler Alternativen ohne Rücksicht auf die Interessen der Minderheit ist die Befürchtung, dass derartige Vereinbarungen aufgrund ihrer Instabilität letztlich nicht haltbar sind. Für die institutionelle Gestaltung demokratischer Entscheidungsprozesse kommt es also darauf an, diese Befürchtung möglichst real zu machen. Das bedeutet z. B., dass vor der endgültigen Abstimmung alle relevanten Koalitionen und Alternativen auch ins Spiel gebracht werden müssen und dass der Verhandlungsprozess zwischen allen Beteiligten völlig unbehindert und mit möglichst geringen Kosten für die Beteiligten ablaufen muss.

Wo von vornherein Beteiligte von Koalitionsverhandlungen ausgeschlossen werden oder wo man sich ohne Verhandlungen mit Dritten von vornherein auf eine Koalition festlegt, wächst die Gefahr einer Benachteiligung der Minderheit oder auch von Mitgliedern der Mehrheit. Auf keinen Fall darf z. B. das Führen von parallelen Verhandlungen mit verschiedenen potentiellen Koalitionspartnern als "Unzuverlässigkeit" abgewertet werden.



Fußnoten:

1)   S. dazu die Ausführungen in Luce, D. / Raiffa, H.: Games and Decisions, New York 1957, Kap. 9.

2)   S. Buchanan, J.M. / Tullock, G.: The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962, Teil III.

3)   Zur Unterscheidung von anderen Stabilitätskonzepten könnte man dieses Stabilitätskonzept auch als "i-Stabilität" bezeichnen, da es auf den Intensitäten der Präferenzen basiert.
4)   Individuum C könnte in diesem Fall durch das Versprechen einer Übergabe von 2 Äpfeln an B dessen Präferenzintensität erhöhen und seiner eigenen angleichen, aber damit ginge es nicht mehr um die Stabilität der Aufteilung (8,2,0) gegenüber (2,3,5) sondern gegenüber (2,5,3).


 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    Mehrheitsprinzip

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Letzte Bearbeitung 03.10.2005 / Eberhard Wesche

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