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Die Mehrheitsalternative



Überall, wo abgestimmt wird, spielt das Mehrheitsprinzip eine wichtige Rolle. Es lohnt sich deshalb, die Wirkungsweise dieses Kernstücks demokratischer Entscheidungsfindung einmal etwas genauer zu betrachten.

Gewöhnlich versteht man unter der Anwendung des Mehrheitsprinzips, dass eine Entscheidung zwischen mehreren politischen Alternativen durch Abstimmung getroffen wird und dass diejenige Alternative als gewählt gilt, die im Vergleich zu den andern Alternativen die meisten Stimmen erhält (Regel der relativen Mehrheit.) "Alternativen" können dabei Personen, Programme oder Gesetzesvorschläge sein, zwischen denen eine Wahlmöglichkeit besteht.

Dies sieht einfach aus und ist auch einfach zu praktizieren. Wenn man jedoch etwas genauer hinsieht, dann wird die Sache bald komplizierter.

Es kann zum Beispiel sein, dass bei einer Wiederholung der Abstimmung eine andere Alternative die Spitzenposition einnimmt.
 
Daran sieht man, dass je nach taktischem Geschick der Abstimmenden das Ergebnis bei Anwendung der Regel der relativen Mehrheit unterschiedlich ausfallen kann.

Deshalb hatte bereits im 18. Jahrhundert Condorcet (1743 - 94) den Vorschlag gemacht, den Willen der Mehrheit dadurch zu bestimmen, dass zwischen den zur Entscheidung stehenden Alternativen paarweise abgestimmt wird und dass diejenige Alternative als Willen der Mehrheit gilt, die bei einem Paarvergleich mit jeder der anderen Alternative eine Mehrheit der Stimmen erhält. Eine Alternative mit dieser Eigenschaft wird als "Mehrheitsalternative" oder auch als "Condorcet-Sieger" bezeichnet. (Duncan Black: The Theory of Committees and Elections, 1958, S. 18: "Definition: That motion, if any, which is able to obtain a simple majority over all of the other of the motions concerned, is the majority motion. Similarly in an election, that candidate, if any, who is able to obtain a simple majority over each of the others, is the majority candidate. ")

Ein Beispiel aus dem Alltag soll den etwas abstrakten Begriff veranschaulichen. Nehmen wir an, Iris, Peter und Fred wollen den Abend gemeinsam verbringen. Es gibt für sie die 3 Alternativen: Kinobesuch, Essengehen im Restaurant und Konzertbesuch.

Vor die Wahl gestellt, zieht zum Beispiel Iris den Kinobesuch gegenüber dem Restaurant und auch gegenüber dem Konzertbesuch vor. Das Essen im Restaurant zieht sie wiederum gegenüber einem Konzertbesuch vor.

Nehmen wir einmal die folgenden Präferenzen der Beteiligten an:

Iris

Peter

Fred

1. Rang

Kino

Restaurant

Konzert

2. Rang

Restaurant

Konzert

Restaurant

3. Rang

Konzert

Kino

Kino

 

Wenn die 3 Individuen über die Alternativen paarweise abstimmen, ergeben sich folgende Stimmverhältnisse:


Kino

Restaurant

Konzert

Kino

---

1:2

1:2

Restaurant

2:1

---

2:1

Konzert

2:1

1:2

---

 


In diesem angenommenen Fall ist die Alternative "Restaurant" die Mehrheitsalternative, denn sie erhält im paarweisen Vergleich mit allen anderen Alternativen immer die Mehrheit der Stimmen (2:1).

Hier noch ein etwas komplexeres Beispiel, bei dem 5 Individuen A, B, C, D und E über die 4 Alternativen w, x, y und z abstimmen. Bei den Alternativen mag es sich um Kandidaten für ein Amt handeln oder um Anträge, die zur Abstimmung gestellt werden.

Die Präferenzen eines Individuums hinsichtlich der zur Entscheidung stehenden Alternativen - also welche Alternative ein Individuum gegenüber einer anderen Alternative höher bewertet und somit vorzieht - lassen sich wieder durch entsprechende Rangfolgen der Alternativen (Präferenzordnungen) wiedergeben.

In der folgenden Tabelle sind in den Spalten 2 bis 6 die fiktiven Präferenzen der Individuen A, B, C, D und E in Bezug auf die Alternativen w, x, y und z eingetragen:

 

 A

 B

 D

 E  

1. Rang  

y

y

x

z

w

2. Rang  

z

 z

z

x

x

3. Rang  

 w

 x

y

y

y

4. Rang  

x

w

w

w

z

 

Angenommen, es wird über die 4 Alternativen nach der Regel der relativen Mehrheit abgestimmt.

Falls jeder für die von ihm bevorzugte Alternative stimmt, gewinnt Alternative y mit 2 Stimmen, denn die anderen Alternativen erhalten nur je 1 Stimme.

Wie der Blick auf die Tabelle zeigt, ist für die Individuen C, D und E jedoch die Alternative x besser als y. In diesen 3 Spalten rangiert jeweils x vor y. Hätten C, D und E für x gestimmt, so hätte x gesiegt: x hätte 3 Stimmen bekommen und y nur die 2 Stimmen von A und B.

Dies ist nun kein Zufall, denn bei x handelt es sich um die Mehrheitsalternative, die im Paarvergleich allen andern Alternativen überlegen ist. In der folgenden Tabelle sind die Abstimmungsergebnisse aller möglichen Paarvergleiche eingetragen:

 

w

x

y

z

w

-

2:3

2:3

1:4

x

3:2

-

3:2

3:2

y

4:1

3:2

-

2:3

z

4:1

2:3

3:2

-

 

Wie der 3. Zeile zu entnehmen ist, erhält die Alternative x bei allen Paarvergleichen eine Mehrheit der Stimmen.

Die theoretische Bedeutung der Mehrheitsalternative

Die Mehrheitsalternative ist für das Verständnis der Wahlverfahren in der Demokratie von zentraler Bedeutung, denn eine vorhandene Mehrheitsalternative setzt sich bei allen Abstimmungsverfahren durch, in denen die Stimmen der Individuen gleiches Gewicht besitzen. Voraussetzung hierfür ist:

• Jeder Beteiligte kennt die Präferenzen der anderen Beteiligten (Transparenz der Interessen);
• jeder stimmt so ab, dass das für ihn beste Resultat erzielt wird (Rationalverhalten), was nicht seinen "eigentlichen" Präferenzen entsprechen muss;
• Wahlabsprachen sind möglich (unbehinderte Bildung von Koalitionen)
• das Wahlverfahren bevorzugt keine der Alternativen (Bedingung der Neutralität).

Zufallsverfahren erfüllen nicht die Bedingung der gleichgewichtigen Berücksichtigung der Präferenzen, denn sie berücksichtigen die Präferenzen der Individuen überhaupt nicht.

Es spielt also keine Rolle, ob die Individuen jeweils nur 1 Stimme oder 10 Punkte zu vergeben haben oder ob das Wahlverfahren einstufig oder mehrstufig ist: Solange die Individuen gleiches Stimmgewicht haben und die genannten Bedingungen gegeben sind, siegt eine vorhandene Mehrheitsalternative.

Dies ist auch relativ leicht einzusehen, denn wenn das Ergebnis nicht die Mehrheitsalternative ist, dann gibt es eine Alternative, die für eine Mehrheit besser ist als das jetzige Ergebnis. Bei Transparenz der Interessen und rationalem Verhalten hätte sich diese Mehrheit auf eine gemeinsame Abstimmungsstrategie geeinigt und mit ihrem stimmenmäßigen Übergewicht die Mehrheitsalternative durchgesetzt.

Bemerkenswert sind hier vor allem zwei Punkte:

• Es kommt in der politischen Praxis nicht nur auf komplizierte und ausgeklügelte Wahlverfahren an, sofern Meinungsfreiheit herrscht und die Bildung von Wahlbündisse rechtlich und zeitlich möglich sind. Die Regel der einfachen Mehrheit der Stimmen reicht gewöhnlich aus.
• Auch wenn die Beteiligten nur ihre eigenen Interessen verfolgen, ist das Ergebnis in Form der Mehrheitsalternative auch unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls beachtlich.

Mehrheitsalternative und mediane Alternative

Wenn über Alternativen abgestimmt wird, die sich auf einer Dimension anordnen lassen, so ist immer diejenige Alternative, die die mediane Position einnimmt, die Mehrheitsalternative. Dies ist bereits seit den Arbeiten von Duncan Black (1948) und Anthony Downs (1957) bekannt.
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Anmerkung aus 2016:
Nachdem Arrow sein Unmöglichkeits-Theorem veröffentlicht hatte, begann eine rege Forschungstätigkeit, die aber letztlich erfolglos blieb. Damit ergab sich folgende Situation: Da die Existenz einer Mehrheitsalternative ungewiss war, konnten keine theoretischen Verallgemeinerungen vorgenommen werden. Fragen wie:

Wie verhält sich die Mehrheitsalternative zum ethischen Optimum?

Welche Verteilungen der politischen Positionen erzeugen bei Anwendung des Mehrheitsprinzips ethisch problematische Ergebnisse?

Ich vermute, dass das Fehlen einer Mehrheitsalternative weniger katastrophale Konsequenzen hat als angenommen. Ohne diese Annahme hier schlüssig beweisen zu können gibt es m.E. bei den meisten Verteilungen der politischen Positionen einen Set von Positionen, der zusammen genommen nahezu dasselbe leisten kann, wie eine lupenreine Mehrheitsalternative. Es kann zum Beispiel so sein, dass zwar keine Mehrheitsalternative besteht, dass aber mehrere Positionen, die unmittelbar nebeneinanderliegen, von keiner anderen Position besiegt werden. Der Set kann eine relativ kleine Fläche im politischen Raum einnehmen, so dass hinreichend klar bestimmt ist, wohin die Gleichgewichtsbestrebungen bei Anwendung des Mehrheitsprinzips gehen.

(Für einen Informatiker dürfte es nicht schwer sein, im Computer-Modell verschiedene Konstellationen zu testen. Es gibt hier bereits aussichtsreiche Ansätze wie den "Smith Set" oder den "Schwartz Set").

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    Abstimmungsverfahren und Koalitionsbildung *** (30 K)
   
Mehrheitsprinzip § 110 Die Mehrheitsalternative

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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Mehrheitsalternative"
Letzte Bearbeitung 01.05.2007 / Eberhard Wesche

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