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Demokratie bei Rousseau

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I.  Darstellung
    a.) Im Gesellschaftsvertrag ordnen sich die Einzelnen dem allgemeinen Willen unter
    b.) Die Abstimmung der Staatsbürger soll ein Urteil über das allgemeine Beste sein
    c.) Einstimmigkeit und Mehrheitsprinzip
    d.) Keine Gesetzgebung durch politische Vertreter
    e.) Die inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Willens (das Gemeinwohl) bleibt offen
    f.) Die Form, in der sich der allgemeine Wille ausdrückt, ist das allgemeine Gesetz

II. Kritik

    g.) Die allgemeine Form eines Gesetzes schließt eine unterschiedliche Betroffenheit nicht aus
   
h.) Die Auflösung der inhaltlichen Argumentation in formale Entscheidungsverfahren


***

Anhang: Aus einer Diskussion

 



I. Darstellung der Konzeption
 

a.) Im Gesellschaftsvertrag ordnen sich die Einzelnen dem allgemeinen Willen unter

Für Jean Jacques Rousseau (1712-78) kann rechtmäßige politische Herrschaft nur durch einen Vertrag zwischen den in natürlicher Freiheit und Gesetzlosigkeit lebenden Individuen entstehen. Der Kern eines solchen Gesellschaftsvertrages ("contrat social") lautet: "Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens ("volonté générale"), und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf." (S. 44. Alle Seitenangaben nach der Reclam-Ausgabe von: Der Gesellschaftsvertrag, 1968).

 Dabei kommt es "auf das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschaftsmitgliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit (an), denn indem sich jeder ganz hingibt, so ist das Verhältnis zunächst für alle gleich, und weil das Verhältnis für alle gleich ist, so hat niemand ein Interesse daran, es den anderen drückend zu machen." (S. 43) "Sobald die Menge auf solche Weise zu einem Körper vereinigt ist, kann man keines seiner Glieder verletzen, ohne den Körper anzugreifen."

Durch den Gesellschaftsvertrag werden die Individuen zu Staatsbürgern ("citoyens"). Die Staatsbürger bilden als Gesamtheit das Staatsoberhaupt. Als einzelne Staatsbürger sind sie zugleich Untertanen dieses Staatsoberhauptes, die zur Befolgung der von der Gesamtheit beschlossenen Gesetze notfalls gezwungen werden können. Rousseau betont, "dass jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, ... dazu gezwungen werden soll." (S. 48) "Das Staatsoberhaupt nun, das nur aus den Einzelnen, aus denen es besteht, gebildet wird, kann kein dem ihrigen zuwiderlaufendes Interesse haben, folglich bedarf die oberherrliche Macht den Untertanen gegenüber keiner Bürgschaft, da ja der Körper unmöglich den Willen haben könnte, allen seinen Gliedern zu schaden." (S. 47) Nach Rousseau ergibt sich daraus, "dass der allgemeine Wille beständig der richtige ist und immer auf das allgemeine Beste abzielt." (S. 58)

Diese Überlegungen ähneln den Überlegungen, die bereits Diderot (1713-84) in der "Enzyklopädie" (1751-65) angestellt hatte: "Wenn wir … dem Individuum das Recht absprechen, über die Natur des Gerechten und des Ungerechten zu entscheiden, wohin werden wir dann diese große Frage bringen? Vor die Menschheit! Nur ihr steht es zu, sie zu entscheiden, weil das Wohl aller die einzige Leidenschaft ist, die sie hat. Der besondere Wille ist verdächtig; er kann gut oder böse sein, doch der allgemeine Wille ist immer gut, er hat nie getäuscht und wird nie täuschen."

b.) Die Abstimmung der Staatsbürger soll ein Urteil über das allgemeine Beste sein

Bei der Beschlussfassung kommt es für Rousseau darauf an, dass sich alle Staatsbürger die Frage vorlegen, was zum allgemeinen Besten ist. Rousseau macht dies am Beispiel eines Staatsbürgers klar, der seine Stimme für Geld verkauft: "Der Fehler, den er begeht, besteht in der Änderung der Fragestellung; er antwortet auf etwas ganz anderes, als er gefragt ist. Anstatt durch die Abgabe seiner Stimme zu sagen: 'Es ist dem Staat vorteilhaft', sagt er: 'Es ist diesem oder jenem Manne, dieser oder jener Partei vorteilhaft, dass dieser oder jener Antrag durchgeht'." (S. 151)

Die Staatsbürger sollen bei Beschlüssen also nicht entsprechend ihren privaten Interessen entscheiden, sondern sie bilden eine Art Jury, die diejenige Alternative aussuchen soll, die dem Gemeinwohl am besten entspricht.
Wenn die einzelnen Staatsbürger bei einer Entscheidung unterschiedlich abstimmen, so dürfen sich nach Rousseau darin also höchstens Meinungsverschiedenheiten über das Gemeinwohl, jedoch keine privaten Interessenunterschiede ausdrücken.

c.) Einstimmigkeit und Mehrheitsprinzip

Unbedingt erforderlich ist Einstimmigkeit beim Abschluss des Gesellschaftsvertrages. Wer hier nicht zustimmt bleibt als Fremder außerhalb der Gesellschaft. Im Idealfall eines intakten Gemeinwesens stellt sich für Rousseau die Einstimmigkeit bei der Beschlussfassung über die Gesetze von selber her. "Solange mehrere Menschen sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie nur einen einzigen Willen, der die gemeinsame Erhaltung und die allgemeine Wohlfahrt zum Gegenstand hat. ... Das Gemeinwohl tritt überall sichtbar hervor, und es bedarf nur gesunder Vernunft, um es wahrzunehmen." (S. 149)

Rousseau ist sich jedoch dessen bewusst, dass der Idealfall einstimmiger Beschlüsse meist nicht gegeben ist. In diesem Fall entscheidet die Mehrheit. Die erforderliche Mehrheit soll dabei umso größer sein, je wichtiger das zur Entscheidung anstehende Gesetz ist. Solange das Gemeinwesen intakt ist, und die partikularen Interessen noch nicht die Oberhand gewonnen haben, hat
Stimmenmehrheit "die Kennzeichen des allgemeinen Willens an sich." (S. 154f.) "Aus der Stimmenzahl ergibt sich die Bekundung des allgemeinen Willens. Wenn mithin meine Ansicht der entgegen gesetzten unterliegt, so beweist dies nichts anderes, als dass ich mich geirrt hatte, und dasjenige, was ich für den allgemeinen Willen hielt, dies nicht war." (S. 134)

Rousseau leitet als einer der ersten aus dem Gesellschaftsvertrag, der alle Individuen rechtlich gleich stellt, das gleiche Stimmrecht aller Staatsbürger ab. Man kann nur dann von jemandem die Befolgung eines Gesetzes verlangen, wenn er an der Beschlussfassung über dieses Gesetz mitgewirkt hat. Ein rationales Individuum wird nach Ansicht von Rousseau niemals freiwillig seine natürliche Freiheit aufgeben, um sich ohne eigenes Stimmrecht irgendeinem partikularen Willen zu unterwerfen. "Verrücktheit verleiht kein Recht" (S. 36) hält Rousseau der Berufung auf die Möglichkeit eines freiwilligen Sklaventums entgegen, denn Verträge mit Verrückten sind nichtig.

d.) Keine Gesetzgebung durch politische Vertreter

Rousseau stellt an die Staatsbürger hohe Anforderungen: "Sobald der Staatsdienst aufhört, die Hauptangelegenheit der Bürger zu sein, ... ist der Staat schon seinem Untergang nahe. .. Zur Beratung ernennen sie Abgeordnete und bleiben ... zu Hause. ... Sobald man bei Staatsangelegenheiten die Worte hören kann: 'Was geht mich das an?' kann man darauf rechnen, dass der Staat verloren ist." (S. 138f.)

Ein Parlament von gewählten Abgeordneten, die in Vertretung der Staatsbürger die Gesetze beschließen, ist für Rousseau nicht zulässig. Der allgemeine Wille kann für ihn nicht durch einen Teil der Staatsbürger formuliert werden: "Die Staatshoheit ... besteht wesentlich im allgemeinen Willen, und der Wille lässt sich nicht vertreten. ... Jedes Gesetz, das das Volk nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig." (S. 139f.) "Es ... steht mit sich selbst im Widerspruch, dass das Staatsoberhaupt einen ihm Vorgesetzten ernennen könne." (S. 143) "Sobald ein Volk Vertreter ernennt, ist es nicht mehr frei." (S. 142)

Mögliche Einwände gegen eine direkte Gesetzgebung durch die Staatsbürger werden von Rousseau nicht näher erörtert. In größeren Flächenstaaten - so auch in der Ersten französischen Republik von 1789 - gab es gesetzgebende Körperschaften, die aus Abgeordneten bestanden, die von den Staatsbürgern gewählt wurden.


e.) Die inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Willens (das Gemeinwohl) bleibt offen

Angesichts der zentralen Stellung, die der Begriff des allgemeinen Willens in der Theorie des Gesellschaftsvertrages  hat, stellt sich die Frage, wie sich feststellen lässt, was der allgemeine Wille beinhaltet. Denn von der Menschheit oder der Gesellschaft als von einem mit einem Willen ausgestatteten Wesen zu reden, ist erstmal nur eine biologische Metapher. Durch den Gesellschaftsvertrag entsteht auch für Rousseau nur ein "geistiger Gesamtkörper", der nicht mit einer konkreten staatlichen Organisation gleichgesetzt werden kann. Die Frage ist also, wie diesem geistigen Gesamtkörper, diesem Staat als "moralischer Person", wie Rousseau auch sagt (S. 47), ein Wille zugeschrieben werden kann und wie sich dieser Wille äußert.

Da das Staatsoberhaupt durch die Gesamtheit der Staatsbürger gebildet wird, stellt sich die Frage nach dem allgemeinen Willen dar als die Frage, wie eine Vielzahl von Staatsbürgern, die als Privatmenschen unterschiedliche und eigenbezogene Interessen haben (" la volonté de tous" ) zu einem einheitlichen, gemeinsamen Willen (" la volonté générale" ) gelangen können.

Dies Problem stellt sich in aller Schärfe, weil nach Rousseau "jeder einzelne als Mensch einen besonderen Willen haben (kann), der dem allgemeinen Willen, den er als Staatsbürger hat, zuwider läuft." (S. 47) Offensichtlich existiert nach Rousseau jedes Individuum einmal als Mensch mit Privatinteressen (Privatmann) und einmal als Staatsbürger, der sich  am allgemeinen Willen orientiert, wobei "der Wille des Einzelnen unaufhörlich gegen den allgemeinen Willen ankämpft." (S. 128)

Durch den Übergang in den staatsbürgerlichen Zustand hat sich allerdings nach Rousseau eine Moralisierung des Individuums vollzogen: "Der Übergang aus dem Naturzustand in den bürgerlichen bringt im Menschen eine sehr bemerkbare Veränderung hervor, indem in seinem Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes tritt und sich in seinen Handlungen der sittliche Sinn zeigt, der vorher fehlte. Erst in dieser Zeit verdrängt die Stimme der Pflicht den physischen Antrieb und das Recht der Begierde, so dass sich der Mensch, der bis dahin lediglich auf sich selbst Rücksicht genommen hatte, gezwungen sieht, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft um Rat fragt, bevor er auf seine Neigung hört." (S. 48)

Aber auch durch die Hinweise auf das Entstehen von Pflichtbewusstsein und Vernunft, die den Staatsbürger als Träger des allgemeinen Willens ausmachen, wird keine inhaltliche Konkretisierung des allgemeinen Willens erreicht. Immer wieder findet sich der Hinweis, dass der allgemeine Wille auf das "allgemeine Wohl" bzw. das "Gemeinwohl" gerichtet ist (S. 54 und S. 149), auf das "allgemein Beste" (S. 58), die "allgemeine Wohlfahrt" (S. 149), das "gemeinsame Interesse" (S. 150), den "Vorteil des Staates" (S. 151), die "gemeinsame Erhaltung" (S. 149) usw.

Auch die darüber hinausgehenden Hinweise Rousseaus, dass die Bürger bei der Abstimmung sich nicht von ihren partikulare Interessen sondern vom allgemeinen Besten leiten lassen sollen, bleiben vage und stellen kein inhaltliches Kriterium dar, um entscheiden zu können, ob ein konkreter Beschluss dem "allgemeinen Willen" entspricht oder nicht. Eine Konkretisierung und Systematisierung dieser Vorstellungen vom Gemeinwohl ist bei Rousseau nur ansatzweise auszumachen, etwa wenn er dem allgemeinen Willen das Ziel der Gleichheit zuschreibt.

f.) Die Form, in der sich der allgemeine Wille ausdrückt, ist das allgemeine Gesetz

Es gibt allerdings die formale Bestimmung, dass der allgemeine Wille sich nur in der Form eines allgemein formulierten Gesetzes ausdrückt. Damit ist eine formale Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz gewährleistet.

Unter einem Gesetz versteht Rousseau nicht jede Verhaltensnorm für die Untertanen, sondern nur solche Normen, die einen allgemeinen Gegenstand haben: "Wenn ich sage, dass der Gegenstand der Gesetze immer allgemein ist, so meine ich damit, dass das Gesetz die Untertanen insgesamt und die Handlungen an sich ins Auge fasst, dagegen nie einen Menschen als Einzelnen und ebenso wenig eine besondere Handlung. ... Jedes mit einem einzelnen Wesen vorzunehmende Geschäft ist der gesetzgebenden Gewalt entzogen." (S. 69 f.)

Gesetze müssen also insofern allgemein formuliert sein, als sie kein Individuum oder keine Gruppe von Individuen namentlich erwähnen. Sie müssen auf allgemein definierte Klassen von Individuen oder Handlungen zutreffen. Offenbar glaubt Rousseau, dass durch die allgemeine Gesetzesform die Verfolgung partikulare Interessen bereits ausgeschlossen wird, da niemand gezielt bevorzugt oder benachteiligt werden kann. "Die Verpflichtungen, die uns an den Gesellschaftskörper knüpfen (also die Gesetze), sind nur deswegen verpflichtender Natur, weil sie gegenseitig sind, und ihr Wesen ist derart, dass man bei ihrer Erfüllung nicht für andere arbeiten kann, ohne auch für sich zu arbeiten. ... Deshalb ist der allgemeine Wille immer richtig, und deshalb wollen alle stets das Glück eines jeden unter sich, wenn nicht um dessen willen, weil es niemanden gibt, der nicht das Wort ' jeder' sich aneignet und nicht an sich selber denkt, so oft er für alle stimmt" (S. 61) "Sobald das ganze Volk über das ganze Volk beschließt, nimmt es nur auf sich selbst Rücksicht" (S. 69) und man darf nicht mehr fragen, "ob das Gesetz ungerecht sein kann, da niemand gegen sich selbst ungerecht ist." (S. 70)

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II. Kritik der Rousseauschen Demokratiekonzeption

g.) Die allgemeine Form eines Gesetzes schließt die unterschiedliche Betroffenheit nicht aus

Es lässt sich jedoch leicht zeigen, dass die allgemeine Formulierung eines Gesetzes keineswegs die Möglichkeit ausschließt, dass dies Gesetz im Interesse bestimmter Teile der Bevölkerung und gegen das Interesse anderer Teile der Bevölkerung ist. Ein einfaches Beispiel kann dies klar machen.

Nehmen wir zum Beispiel die gesetzliche Norm: "Jeder, der seine Schulden nicht rechtzeitig bezahlt, soll in Schuldhaft genommen werden."

Ohne Zweifel hat diese Norm die Form eines allgemeinen Gesetzes, da keine bestimmten Personen oder Handlungen erwähnt werden, sondern die Adressaten und die Handlungen allgemein und ohne Ansehen der Person formuliert sind. Trotzdem ist die Interessenlage der Individuen hinsichtlich eines solchen Gesetzes zwischen reichen und armen Staatsbürgern sehr unterschiedlich, denn die Reichen befinden sich als die Gläubiger gewöhnlich nicht in der Gefahr, dass das Gesetz gegen sie angewandt wird.

Ein anderes Beispiel wäre ein Steuergesetz, das lautet: "Jeder erwachsene Bürger hat eine jährliche Steuer von 1000 Talern zu entrichten". Auch eine solche Norm hätte die Form eines allgemeinen Gesetzes, ohne dass man davon ausgehen könnte, dass ein solches Gesetz immer gerecht ist.

Diese Beispiele zeigen, dass die Annahme Rousseaus irrig ist, dass die Staatsbürger in ihrer Gesamtheit sich selbst kein Unrecht antun können und dass es deshalb keinerlei Schranken und Kontrollen für den sich in Gesetzen ausdrückenden allgemeinen Willen geben dürfe.

Solange die tatsächliche Lage der Individuen in irgendeiner Hinsicht nicht dieselbe ist, weil die einen zum Beispiel Bauern und die anderen Handwerker, die einen reich und die anderen arm, die einen Frauen und die anderen Männer, die einen gesund und die anderen krank sind, solange ist es irrig anzunehmen, dass allein durch die allgemeine Form des Gesetzes eine Übereinstimmung der Interessen aller Bürger hergestellt werden kann.

Nur eine völlige Homogenität der äußeren Lage und der Bedürfnisse aller Bürger würde dazu führen, dass jeder bei der Beschlussfassung über ein allgemeines Gesetz nur von sich selber auszugehen braucht, um zu wissen, was im allgemeinen Interesse ist. Eine solche Homogenität ist jedoch real nie gegeben.

Rousseau selber dachte wohl mit Blick auf seine Heimatstadt Genf an eine überschaubare Gesellschaft selbständiger Produzenten, wo "jeder etwas und keiner allzu viel hat" (S. 53) und somit die sozialen Unterschiede relativ gering waren.

h.) Die Auflösung der inhaltlichen Argumentation in formale Entscheidungsverfahren

Der entscheidende Fehler in Rousseaus Vorstellung von Demokratie zeigt sich an Formulierungen wie: "Aus der Stimmenzahl ergibt sich die Bekundung des allgemeinen Willens. Wenn .. meine Ansicht .. unterliegt, so beweist dies nichts anderes, als dass ich mich geirrt hatte, und dasjenige, was ich für den allgemeinen Willen hielt, dies nicht war." (S. 134).

Rousseau lässt also die inhaltliche Frage, ob etwas wahr ist, durch ein Abstimmungsverfahren beantworten.

Fragen nach dem Gemeinwohl bzw. dem allgemeinen Besten, über die man inhaltlich diskutieren kann und muss, werden bei Rousseau nicht aus praktischen Gründen verfahrensmäßig durch Abstimmung beendet, sondern das Verfahren entscheidet bei ihm auch inhaltlich. Ein nicht unproblematisches Verfahren, denn die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip wird letztlich gleichgesetzt mit dem Prozess der richtigen Beantwortung politischer Fragen.

Die unterlegene Minderheit muss deshalb nach der Abstimmung ihre Meinung als irrig aufgeben. Folglich ist für eine legitime Opposition gegen die Mehrheitsmeinung im Rahmen von Rousseaus Konzeption von Demokratie kein Platz.

 
Außerhalb des republikanischen Staates gibt es keine Sittlichkeit oder Moral, denn die Moralität des Menschen entsteht erst mit seiner Eigenschaft als Staatsbürger. Und gegen den Mehrheitsbeschluss der Staatsbürger als Kundgebung des allgemeinen Willens kann es keine begründete Kritik mehr geben. Der Staat und sein Handeln erhält somit eine nicht mehr hinterfragbare Autorität.

Wenn man Rousseaus Konzeption des Staates und des Allgemeinen Willens in dem beschriebenen Sinne interpretiert, werden die autoritären politischen Konsequenzen deutlich, die sich aus dieser Theorie ziehen lassen: Unterdrückung aller Minderheitenmeinungen und Minderheiteninteressen, ungehemmte Entfaltung der staatlichen Macht und rücksichtslose Bekämpfung politischer Opposition und politischen Widerstandes.


***


Anhang:Aus einer Diskussion


Hallo Mignon,
Rousseau war wohl folgender Meinung: Dadurch, dass sich
1.) alle Individuen als Gleichberechtigte in die Republik einordnen und selber den Souverän bilden, und 
2.) nur allgemeine Gesetze erlassen werden dürfen, 
können diese Beschlüsse nicht falsch sein. Da alle Staatsbürger in der gleichen Lage sind und da alle in gleicher Weise den allgemeinen Gesetzen unterworfen sind, kann niemand in seiner Rolle als Staatsbürger einem anderen schaden (oder nutzen), ohne sich damit zugleich selbst zu schaden (oder zu nutzen). Deshalb sind die Beschlüsse der souveränen Versammlung der Staatsbürger richtig, und die unterlegene Minderheit hat sich geirrt. 

Hallo Mignon,
Du endest mit der Feststellung: "das einzige, was zählt, ist der einzelwille, und zwar immer und überall. auf die fahnen werden selbstverständlich andere parolen geschrieben." Soll dieser zynisch klingende Satz heißen, dass Politik immer "ein schmutziges Geschäft" ist und dass es keine Rechtsordnung gibt und geben kann, die die Einzelnen schützt, ohne ihnen ihre Souveränität und Freiheit zu nehmen?

Hallo Mignon,
Du schreibst: "politik wird von menschen gemacht und da ich - entgegen rousseaus meinung - nicht der auffassung bin, daß der mensch von grund auf gut ist, und ich außerdem leider feststellen muss, daß die masse der menschen zu dumm ist (ob dumm gehalten oder gern dumm oder was auch immer bleibt dahingestellt), um die dinge oder geschweige denn sich selbst zu erkennen, ist die politik meistens ein "schmutziges geschäft".
 
Rousseau schreibt im ersten Satz des Buches, dass er die Menschen so nimmt, wie sie sind. Er erwartet jedoch von ihnen, dass sie sich bei der Abstimmung nur davon leiten lassen, was dem Gemeinwohl entspricht. Die Staatsbürger sind gewissermaßen eine Art Jury, die zu entscheiden hat, ob ein Gesetzesvorschlag dem Gemeinwohl förderlich ist oder nicht.
 
Das setzt voraus, dass die Staatsbürger zum einen erkennen können, was dem Gemeinwohl entspricht, und dass sie zum andern motiviert sind, dieser Erkenntnis auch zu folgen. Man kann in der Tat berechtigte Zweifel haben, ob beide Voraussetzungen gegeben sind.
 
Ist damit die Demokratie im Sinne politischer Selbstbestimmung durch die Staatsbürger ein schöner Traum, weil die Menschen nun einmal nicht so sind, wie es der theoretische Entwurf verlangt - ähnlich wie im Falle der kommunistischen Gesellschaft?
 
Dieser Meinung bin ich nicht. Allerdings ist es notwendig, die politischen Prozesse in einer Demokratie anders zu verstehen als Rousseau das tut, der Mitte des 18. Jahrhunderts als Anschauungsmaterial ja nur seine Heimatstadt Genf hatte.
 
Wenn man die demokratische Abstimmung nicht als eine Art Juryentscheidung der Staatsbürger zum Gemeinwohl versteht, sondern als Ermittlung derjenigen politischen Alternative, die von einer Mehrheit der Bürger gegenüber jeder anderen Alternative unter dem Gesichtspunkt ihres Eigeninteresses vorgezogen wird, so sieht die Lage schon ganz anders aus.
 
Denn nun müssen die beiden oben genannten Voraussetzungen nicht mehr gegeben sein: Der einzelne Staatsbürger muss nur erkennen, welche Alternative in seinem Eigeninteresse liegt und er darf auch entsprechend abstimmen.
 
Diese etwas profanere Sichtweise der Demokratie ist zwar ungewohnt aber könntest Du auch damit leben?

 Hallo Mignon,
 du schreibst, dass Rousseau unsere Regierungsform nicht als Demokratie bezeichnen würde, weil die Bürger das Recht zur Gesetzgebung an gewählte Abgeordnete übertragen haben. Rousseau war insofern ein Anhänger der direkten Demokratie.
 
Aber unter den Bedingungen eines modernen Flächenstaates ist die Gesetzgebung eine Tätigkeit, die mindestens eine 40 Stundenwoche erfordert, wenn man die Aufgabe ernst nimmt und informiert tun will. Insofern ist eine repräsentative, parlamentarische Form der Demokratie wohl unvermeidlich.
 
Ich möchte noch auf ein grundsätzliches Problem bei Rousseau aufmerksam machen. Er sagt sinngemäß: Wenn das ganze Volk Gesetze erlässt für das ganze Volk, dann kann man nicht fragen, ob diese ungerecht sind, denn man könne nicht gegen sich selber ungerecht sein. Der allgemeine Wille könne deshalb nicht falsch sein, er sei immer auf das allgemeine Beste gerichtet. Die unterlegene Minderheit habe sich eben geirrt.
 
Rousseau spricht zwar immer wieder vom Gemeinwohl, er führt jedoch nirgends aus, wie man dies erkennen kann. Die Ebene einer argumentativen Bestimmung des Gemeinwohls existiert bei ihm so gut wie gar nicht.  
 
Deshalb identifiziert er das Ergebnis eines Verfahrens, der Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip, mit dem Gemeinwohl.  
 
Damit ist dieses jeglicher inhaltlicher Kritik entzogen. Die Minderheit hat sich geirrt. Eine legale Opposition ist nicht denkbar. Die staatlichen Entscheidungen sind nicht hinterfragbar. Deshalb konnten aus seiner Theorie gefährliche Schlüsse gezogen werden.


Hallo Mignon,
 
nachdem ich Rousseau bisher vor allem kritisiert habe, vielleicht mal zu dem, was ich an Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" positiv finde.  
 
Vor allem ist Rousseau derjenige unter den Vertragstheoretikern, der als einer der Ersten das allgemeine gleiche Wahlrecht gefordert hat.  
 
Wenn man die älteren Theoretiker des Gesellschaftsvertrages untersucht, dann stellt man fest, dass für Thomas Hobbes sogar ein absolutistischer Staat gegenüber dem Naturzustand vorzuziehen ist. Der Hintergrund für seine Theorie sind die endlosen Greuel und Gemetzel der europäischen Konfessionskriege.
 
Und für Locke gab es auch kein gleiches Wahlrecht, obwohl er im Unterschied zu Hobbes einen Verfassungsstaat aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgehen sah, der Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum zu schützen hatte, wenn er Anspruch auf den Gehorsam seiner Bürger erheben wollte. Wenn einmal die Befugnis zur Gesetzgebung an ein bestimmtes Gremium abgetreten sei, dann waren dadurch nach Lockes Ansicht alle folgenden Generationen daran gebunden.
 
Anders Rousseau. Ein Vertrag, bei dem jemand seine Rechte aufgibt und sich verpflichtet, anderen zu gehorchen, war nach Rousseaus Ansicht nichtig, denn ein solcher Vertrag kann nur von jemandem getroffen werden, der "nicht bei gesunder Vernunft ist".
 
Bemerkenswert an dieser Argumentation, dass die Verbindlichkeit des Vertrages von bestimmten Bedingungen abhängt, ist allerdings, dass damit eigentlich der Boden der strikten Vertragstheorie verlassen wird, denn diese Bedingungen für die Verbindlichkeit von Verträgen können ihrerseits nicht vertragstheoretisch gerechtfertigt werden, sondern basieren offenbar auf anderen Prinzipien.
 
Die Position Rousseaus fand Ausdruck in Art. 6 der französischen "Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers" von 1789: "Das Gesetz ist Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Staatsbürger haben das Recht, an seiner Bildung … mitzuwirken."


*** 


 Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Mehrheitsprinzip_1976 ROUSSEAUS_Auffassung
   
Klassische Vertragstheorie: Hobbes - Locke - Rousseau * (13 K)

    Zum Unterschied der Demokratievorstellungen von Jean Jacques Rousseau und Ernst Fraenkel

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Letzte Bearbeitung 13.03.2008 / Eberhard Wesche

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