Ethik-Werkstatt - Volltexte im HTML-Format - kostenlos
-->Übersicht -->Alphabetische Liste aller Texte -->Info zu dieser Website -->Lexikon -->Startseite
Demokratie bei Rousseau
***Empfehlung: Nutzen Sie die Suchfunktion Ihres Internet-Browsers! ***
I. Darstellung
a.) Im Gesellschaftsvertrag
ordnen sich die Einzelnen dem allgemeinen Willen unter
b.) Die Abstimmung der Staatsbürger
soll ein Urteil über das allgemeine Beste sein
c.) Einstimmigkeit und
Mehrheitsprinzip
d.) Keine Gesetzgebung durch politische
Vertreter
e.) Die inhaltliche Bestimmung des
allgemeinen Willens (das Gemeinwohl) bleibt offen
f.) Die Form, in der sich der allgemeine
Wille ausdrückt, ist das allgemeine Gesetz
II. Kritik
g.) Die allgemeine
Form eines Gesetzes schließt eine unterschiedliche Betroffenheit nicht aus
h.) Die
Auflösung der inhaltlichen Argumentation in formale Entscheidungsverfahren
***
I. Darstellung der Konzeption
a.)
Im Gesellschaftsvertrag ordnen sich
die Einzelnen dem
allgemeinen Willen unter
Für Jean Jacques Rousseau (1712-78) kann rechtmäßige politische Herrschaft nur durch einen
Vertrag
zwischen den in natürlicher Freiheit und Gesetzlosigkeit lebenden Individuen
entstehen. Der Kern eines solchen Gesellschaftsvertrages ("contrat social") lautet: "Jeder von uns stellt
gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung
des allgemeinen Willens ("volonté générale"), und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des
Ganzen auf." (S. 44. Alle Seitenangaben nach der Reclam-Ausgabe von: Der Gesellschaftsvertrag,
1968).
Dabei kommt es "auf das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschaftsmitgliedes mit
allen seinen Rechten in der Gesamtheit (an), denn indem sich jeder ganz hingibt,
so ist das Verhältnis zunächst für alle gleich, und weil das Verhältnis für alle
gleich ist, so hat niemand ein Interesse daran, es den anderen drückend zu
machen." (S. 43) "Sobald die Menge auf solche Weise zu einem Körper vereinigt
ist, kann man keines seiner Glieder verletzen, ohne den Körper anzugreifen."
Durch den Gesellschaftsvertrag werden die Individuen zu Staatsbürgern ("citoyens"). Die Staatsbürger bilden als Gesamtheit das Staatsoberhaupt. Als
einzelne Staatsbürger sind sie zugleich Untertanen dieses Staatsoberhauptes, die
zur Befolgung der von der Gesamtheit beschlossenen Gesetze notfalls gezwungen
werden können. Rousseau betont, "dass jeder, der dem allgemeinen Willen den
Gehorsam verweigert, ... dazu gezwungen werden soll." (S. 48) "Das Staatsoberhaupt nun, das nur aus den Einzelnen,
aus denen es besteht, gebildet wird, kann kein dem ihrigen zuwiderlaufendes Interesse haben,
folglich bedarf die oberherrliche Macht den Untertanen gegenüber keiner
Bürgschaft, da ja der Körper unmöglich den Willen haben könnte, allen seinen
Gliedern zu schaden." (S. 47) Nach Rousseau ergibt sich daraus, "dass der
allgemeine Wille beständig der richtige ist und immer auf das allgemeine Beste
abzielt." (S. 58)
Diese Überlegungen ähneln den Überlegungen, die bereits
Diderot (1713-84)
in der "Enzyklopädie" (1751-65)
angestellt hatte: "Wenn wir … dem Individuum das Recht absprechen,
über die Natur des Gerechten und des Ungerechten zu entscheiden, wohin werden
wir dann diese große Frage bringen? Vor die Menschheit! Nur ihr steht es zu, sie
zu entscheiden, weil das Wohl aller die einzige Leidenschaft ist, die sie hat.
Der besondere Wille ist verdächtig; er kann gut oder böse sein, doch der
allgemeine Wille ist immer gut, er hat nie getäuscht und wird nie täuschen."
b.) Die Abstimmung der Staatsbürger soll ein Urteil über das allgemeine Beste sein
Bei der Beschlussfassung kommt es für Rousseau darauf an, dass sich alle
Staatsbürger die Frage vorlegen, was zum allgemeinen Besten ist. Rousseau
macht dies am
Beispiel eines Staatsbürgers klar, der seine Stimme für Geld verkauft: "Der
Fehler, den er begeht, besteht in der Änderung der Fragestellung; er antwortet
auf etwas ganz anderes, als er gefragt ist. Anstatt durch die Abgabe seiner
Stimme zu sagen: 'Es ist dem Staat vorteilhaft', sagt er: 'Es ist diesem oder
jenem Manne, dieser oder jener Partei vorteilhaft, dass dieser oder jener Antrag
durchgeht'." (S. 151)
Die Staatsbürger sollen bei Beschlüssen also nicht entsprechend ihren privaten
Interessen entscheiden, sondern sie bilden eine Art Jury, die diejenige
Alternative aussuchen soll, die dem Gemeinwohl am besten entspricht.
Wenn
die einzelnen Staatsbürger bei einer Entscheidung unterschiedlich abstimmen, so dürfen sich
nach Rousseau darin also höchstens Meinungsverschiedenheiten über das
Gemeinwohl, jedoch keine privaten Interessenunterschiede ausdrücken.
c.) Einstimmigkeit und Mehrheitsprinzip
Unbedingt erforderlich ist Einstimmigkeit beim Abschluss
des Gesellschaftsvertrages. Wer hier nicht zustimmt bleibt als Fremder
außerhalb der Gesellschaft.
Im
Idealfall eines intakten Gemeinwesens stellt sich für Rousseau die Einstimmigkeit bei
der Beschlussfassung über die Gesetze von selber her. "Solange mehrere Menschen sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie
nur einen einzigen Willen, der die gemeinsame Erhaltung und die allgemeine
Wohlfahrt zum Gegenstand hat. ... Das Gemeinwohl tritt überall sichtbar hervor,
und es bedarf nur gesunder Vernunft, um es wahrzunehmen."
(S. 149)
Rousseau ist sich jedoch dessen bewusst, dass der Idealfall einstimmiger Beschlüsse
meist nicht gegeben ist. In diesem Fall entscheidet die Mehrheit. Die erforderliche Mehrheit soll dabei umso
größer
sein, je wichtiger das zur Entscheidung anstehende Gesetz ist. Solange das Gemeinwesen intakt ist,
und die partikularen Interessen noch nicht die Oberhand gewonnen haben, hat Stimmenmehrheit "die
Kennzeichen des allgemeinen Willens an sich." (S. 154f.)
"Aus der Stimmenzahl ergibt sich die
Bekundung des allgemeinen Willens. Wenn mithin meine Ansicht der entgegen gesetzten unterliegt, so beweist dies nichts anderes, als dass ich mich geirrt
hatte, und dasjenige, was ich für den allgemeinen Willen hielt, dies nicht war." (S. 134)
Rousseau leitet als einer der ersten aus dem
Gesellschaftsvertrag, der alle Individuen rechtlich gleich stellt, das
gleiche Stimmrecht aller Staatsbürger ab.
Man kann nur dann von jemandem die Befolgung eines Gesetzes verlangen, wenn
er
an der Beschlussfassung über dieses Gesetz mitgewirkt hat.
Ein rationales Individuum wird nach Ansicht von Rousseau niemals freiwillig
seine natürliche Freiheit aufgeben, um sich ohne eigenes Stimmrecht irgendeinem partikularen
Willen zu unterwerfen. "Verrücktheit verleiht kein Recht" (S. 36)
hält Rousseau der Berufung auf die Möglichkeit eines freiwilligen Sklaventums
entgegen, denn Verträge mit Verrückten sind nichtig.
d.) Keine Gesetzgebung durch politische
Vertreter
Rousseau stellt an die Staatsbürger hohe Anforderungen:
"Sobald der Staatsdienst aufhört, die Hauptangelegenheit der Bürger zu sein, ...
ist der Staat schon seinem Untergang nahe. .. Zur Beratung ernennen sie
Abgeordnete und bleiben ... zu Hause. ... Sobald man bei Staatsangelegenheiten
die Worte hören kann: 'Was geht mich das an?' kann man darauf rechnen, dass der
Staat verloren ist." (S. 138f.)
Ein Parlament von gewählten Abgeordneten, die in Vertretung der Staatsbürger die
Gesetze beschließen, ist für Rousseau nicht zulässig. Der allgemeine Wille kann
für ihn nicht durch einen Teil der Staatsbürger formuliert werden: "Die
Staatshoheit ... besteht wesentlich im allgemeinen Willen, und der Wille lässt
sich nicht vertreten. ... Jedes Gesetz, das das Volk nicht persönlich bestätigt
hat, ist null und nichtig." (S. 139f.) "Es ... steht mit sich selbst im
Widerspruch, dass das Staatsoberhaupt einen ihm Vorgesetzten ernennen könne."
(S. 143) "Sobald ein Volk Vertreter ernennt, ist es nicht mehr frei." (S. 142)
Mögliche Einwände gegen eine direkte Gesetzgebung durch die Staatsbürger werden
von Rousseau nicht näher erörtert. In größeren Flächenstaaten - so auch in der
Ersten französischen Republik von 1789 - gab es gesetzgebende Körperschaften,
die aus Abgeordneten bestanden, die von den Staatsbürgern gewählt wurden.
e.) Die inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Willens (das
Gemeinwohl)
bleibt offen
Angesichts der zentralen Stellung, die der Begriff des allgemeinen Willens in
der Theorie des Gesellschaftsvertrages hat, stellt sich die Frage, wie sich
feststellen lässt, was der allgemeine Wille beinhaltet. Denn von der
Menschheit oder der Gesellschaft als von einem mit einem Willen ausgestatteten
Wesen zu reden, ist erstmal nur eine biologische Metapher. Durch den Gesellschaftsvertrag entsteht auch
für Rousseau nur ein "geistiger Gesamtkörper", der nicht mit einer konkreten
staatlichen Organisation gleichgesetzt werden kann. Die Frage ist also, wie
diesem geistigen Gesamtkörper, diesem Staat als "moralischer Person", wie Rousseau auch sagt (S. 47), ein Wille zugeschrieben werden kann
und wie sich dieser Wille äußert.
Da das Staatsoberhaupt durch die Gesamtheit der Staatsbürger gebildet wird, stellt
sich die Frage nach dem allgemeinen Willen dar als die Frage, wie eine Vielzahl
von Staatsbürgern, die als Privatmenschen unterschiedliche und eigenbezogene
Interessen haben (" la volonté de tous" ) zu einem einheitlichen, gemeinsamen Willen
(" la volonté générale" ) gelangen können.
Dies Problem stellt sich in aller Schärfe, weil nach Rousseau "jeder einzelne
als Mensch einen besonderen Willen haben (kann), der dem allgemeinen Willen, den er als
Staatsbürger hat, zuwider läuft." (S. 47) Offensichtlich existiert nach Rousseau
jedes Individuum einmal als Mensch mit Privatinteressen (Privatmann) und einmal als
Staatsbürger, der sich am allgemeinen Willen orientiert, wobei "der Wille des
Einzelnen unaufhörlich gegen den allgemeinen Willen ankämpft." (S. 128)
Durch den Übergang in den staatsbürgerlichen Zustand hat sich allerdings nach Rousseau eine
Moralisierung des Individuums vollzogen: "Der Übergang aus dem Naturzustand in
den bürgerlichen bringt im Menschen eine sehr bemerkbare Veränderung hervor,
indem in seinem Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes tritt
und sich in seinen Handlungen der sittliche Sinn zeigt, der vorher fehlte. Erst
in dieser Zeit verdrängt die Stimme der Pflicht den physischen Antrieb und das
Recht der Begierde, so dass sich der Mensch, der bis dahin lediglich auf sich
selbst Rücksicht genommen hatte, gezwungen sieht, nach anderen Grundsätzen zu
handeln und seine Vernunft um Rat fragt, bevor er auf seine
Neigung hört." (S. 48)
Aber auch durch die Hinweise auf das Entstehen von Pflichtbewusstsein und Vernunft, die den
Staatsbürger als Träger des allgemeinen Willens ausmachen, wird keine
inhaltliche Konkretisierung des allgemeinen Willens erreicht. Immer wieder findet sich der Hinweis, dass der
allgemeine Wille auf das "allgemeine Wohl" bzw. das "Gemeinwohl" gerichtet ist
(S. 54 und S. 149), auf das "allgemein Beste" (S. 58), die "allgemeine Wohlfahrt" (S. 149),
das "gemeinsame Interesse" (S. 150), den "Vorteil des Staates" (S. 151), die "gemeinsame Erhaltung" (S. 149) usw.
Auch die darüber hinausgehenden Hinweise Rousseaus, dass die Bürger bei der
Abstimmung sich nicht von ihren partikulare Interessen sondern vom allgemeinen
Besten leiten lassen sollen, bleiben vage und stellen kein inhaltliches
Kriterium dar, um entscheiden zu können, ob ein konkreter Beschluss dem "allgemeinen Willen" entspricht oder nicht. Eine Konkretisierung und
Systematisierung dieser Vorstellungen vom Gemeinwohl ist bei Rousseau nur
ansatzweise auszumachen, etwa wenn er dem allgemeinen Willen das Ziel der
Gleichheit zuschreibt.
f.) Die Form, in der sich der allgemeine Wille ausdrückt, ist das allgemeine
Gesetz
Es gibt allerdings die formale Bestimmung, dass der allgemeine Wille sich nur in der Form
eines allgemein formulierten Gesetzes ausdrückt. Damit ist eine formale
Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz gewährleistet.
Unter einem Gesetz versteht Rousseau nicht jede Verhaltensnorm für die
Untertanen, sondern nur solche Normen, die einen allgemeinen Gegenstand haben: "Wenn ich sage, dass der Gegenstand der Gesetze immer allgemein ist, so meine
ich damit, dass das Gesetz die Untertanen insgesamt und die Handlungen an sich
ins Auge fasst, dagegen nie einen Menschen als Einzelnen und ebenso wenig eine
besondere Handlung. ... Jedes mit einem einzelnen Wesen vorzunehmende Geschäft
ist der gesetzgebenden Gewalt entzogen." (S. 69 f.)
Gesetze müssen also insofern allgemein formuliert sein, als sie kein Individuum
oder keine Gruppe von Individuen namentlich erwähnen. Sie müssen auf allgemein
definierte Klassen von Individuen oder Handlungen zutreffen.
Offenbar glaubt
Rousseau, dass durch die allgemeine Gesetzesform die Verfolgung partikulare
Interessen bereits ausgeschlossen wird, da niemand gezielt bevorzugt oder
benachteiligt werden kann. "Die Verpflichtungen, die uns an den
Gesellschaftskörper knüpfen (also die Gesetze), sind nur deswegen
verpflichtender Natur, weil sie gegenseitig sind, und ihr Wesen ist derart, dass
man bei ihrer Erfüllung nicht für andere arbeiten kann, ohne auch für sich zu
arbeiten. ... Deshalb ist der allgemeine Wille immer richtig, und deshalb wollen
alle stets das Glück eines jeden unter sich, wenn nicht um dessen willen, weil
es niemanden gibt, der nicht das Wort ' jeder' sich aneignet und nicht an sich
selber denkt, so oft er für alle stimmt" (S. 61) "Sobald das ganze Volk über das ganze Volk beschließt, nimmt es nur auf sich
selbst Rücksicht" (S. 69) und man darf nicht mehr fragen, "ob das Gesetz ungerecht
sein kann, da niemand gegen sich selbst ungerecht ist." (S. 70)
II. Kritik der Rousseauschen Demokratiekonzeption
g.) Die allgemeine Form
eines Gesetzes schließt die unterschiedliche Betroffenheit
nicht aus
Es lässt sich jedoch
leicht zeigen, dass die allgemeine Formulierung eines Gesetzes keineswegs die Möglichkeit
ausschließt, dass dies Gesetz im Interesse bestimmter Teile der Bevölkerung und
gegen das Interesse anderer Teile der Bevölkerung ist. Ein einfaches Beispiel
kann dies klar machen.
Nehmen wir zum Beispiel die gesetzliche Norm: "Jeder, der seine
Schulden nicht rechtzeitig bezahlt, soll in Schuldhaft genommen werden."
Ohne Zweifel hat diese Norm die Form eines allgemeinen Gesetzes, da keine
bestimmten Personen oder Handlungen erwähnt werden, sondern die Adressaten und
die Handlungen allgemein und ohne Ansehen der Person formuliert sind. Trotzdem
ist die Interessenlage der Individuen hinsichtlich eines solchen Gesetzes
zwischen reichen und armen Staatsbürgern sehr unterschiedlich, denn die
Reichen befinden sich als die Gläubiger gewöhnlich nicht in der Gefahr, dass das
Gesetz gegen sie angewandt wird.
Ein anderes Beispiel wäre ein Steuergesetz, das lautet: "Jeder erwachsene Bürger
hat eine jährliche Steuer von 1000 Talern zu entrichten". Auch eine solche Norm
hätte die Form eines allgemeinen Gesetzes, ohne dass man davon ausgehen könnte,
dass ein solches Gesetz immer gerecht ist.
Diese Beispiele zeigen, dass die Annahme Rousseaus irrig ist, dass
die Staatsbürger in ihrer Gesamtheit sich selbst kein Unrecht antun können und dass es deshalb keinerlei
Schranken und Kontrollen für den sich in Gesetzen ausdrückenden allgemeinen Willen
geben dürfe.
Solange die tatsächliche Lage der Individuen in irgendeiner Hinsicht nicht
dieselbe ist, weil die
einen zum Beispiel Bauern und die anderen Handwerker, die einen reich und die
anderen arm, die einen Frauen und die anderen Männer, die einen gesund und die
anderen krank sind, solange ist es irrig anzunehmen, dass allein durch die
allgemeine Form des Gesetzes eine Übereinstimmung der Interessen aller Bürger
hergestellt werden kann.
Nur eine völlige Homogenität der äußeren Lage und
der Bedürfnisse aller Bürger würde dazu führen, dass jeder bei der
Beschlussfassung über ein allgemeines Gesetz nur von sich selber auszugehen
braucht, um zu wissen, was im allgemeinen Interesse ist. Eine solche Homogenität
ist jedoch real nie gegeben.
Rousseau selber dachte wohl mit Blick auf seine
Heimatstadt Genf an eine überschaubare Gesellschaft
selbständiger Produzenten, wo "jeder etwas und keiner allzu viel hat" (S. 53)
und somit die sozialen Unterschiede relativ gering waren.
h.) Die Auflösung der inhaltlichen Argumentation in formale Entscheidungsverfahren
Der entscheidende Fehler in Rousseaus Vorstellung von Demokratie zeigt sich an
Formulierungen wie: "Aus der Stimmenzahl ergibt sich die
Bekundung des allgemeinen Willens. Wenn .. meine Ansicht .. unterliegt, so beweist dies nichts anderes, als dass ich mich geirrt
hatte, und dasjenige, was ich für den allgemeinen Willen hielt, dies nicht war." (S. 134).
Rousseau lässt also die inhaltliche Frage, ob etwas wahr ist, durch ein
Abstimmungsverfahren beantworten.
Fragen nach dem Gemeinwohl bzw. dem allgemeinen Besten, über die man inhaltlich
diskutieren kann und muss, werden bei Rousseau nicht aus praktischen Gründen
verfahrensmäßig durch Abstimmung beendet, sondern das
Verfahren entscheidet bei ihm auch inhaltlich. Ein nicht
unproblematisches Verfahren, denn die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip wird
letztlich gleichgesetzt mit dem Prozess der richtigen Beantwortung politischer
Fragen.
Die unterlegene Minderheit muss deshalb nach der Abstimmung ihre Meinung als irrig
aufgeben. Folglich ist für eine legitime Opposition gegen die
Mehrheitsmeinung im Rahmen von Rousseaus Konzeption von Demokratie kein Platz.
Außerhalb des republikanischen Staates gibt es keine
Sittlichkeit oder Moral, denn die Moralität des Menschen entsteht erst mit
seiner Eigenschaft als Staatsbürger. Und gegen den Mehrheitsbeschluss der
Staatsbürger als Kundgebung
des allgemeinen Willens kann es keine begründete Kritik mehr geben.
Der Staat
und sein Handeln erhält somit eine nicht mehr hinterfragbare Autorität.
Wenn man Rousseaus Konzeption des Staates und des Allgemeinen Willens in
dem beschriebenen Sinne interpretiert, werden die autoritären politischen Konsequenzen
deutlich, die sich aus dieser Theorie ziehen lassen: Unterdrückung aller
Minderheitenmeinungen und Minderheiteninteressen, ungehemmte Entfaltung der
staatlichen Macht und rücksichtslose Bekämpfung politischer Opposition und
politischen Widerstandes.
***
Anhang:Aus einer Diskussion
Hallo Mignon,
Rousseau war wohl folgender Meinung: Dadurch, dass sich
1.) alle Individuen als
Gleichberechtigte in die Republik einordnen und selber den Souverän bilden,
und
2.) nur allgemeine Gesetze erlassen werden dürfen,
können diese Beschlüsse
nicht falsch sein. Da alle Staatsbürger in der gleichen Lage sind und da
alle in gleicher Weise den allgemeinen Gesetzen unterworfen sind, kann niemand
in seiner Rolle als Staatsbürger einem anderen schaden (oder nutzen), ohne sich
damit zugleich selbst zu schaden (oder zu nutzen). Deshalb sind die Beschlüsse
der souveränen Versammlung der Staatsbürger richtig, und die unterlegene Minderheit
hat sich geirrt.
Hallo Mignon,
Du endest mit der Feststellung: "das einzige, was zählt, ist der einzelwille,
und zwar immer und überall. auf die fahnen werden selbstverständlich andere
parolen geschrieben." Soll dieser zynisch klingende Satz heißen, dass Politik immer "ein schmutziges
Geschäft" ist und dass es keine Rechtsordnung gibt und geben kann, die die
Einzelnen schützt, ohne ihnen ihre Souveränität und Freiheit zu nehmen?
Hallo Mignon,
Du schreibst: "politik wird von menschen gemacht und da ich - entgegen rousseaus meinung -
nicht der auffassung bin, daß der mensch von grund auf gut ist, und ich außerdem
leider feststellen muss, daß die masse der menschen zu dumm ist (ob dumm
gehalten oder gern dumm oder was auch immer bleibt dahingestellt), um die dinge
oder geschweige denn sich selbst zu erkennen, ist die politik meistens ein
"schmutziges geschäft".
Rousseau schreibt im ersten Satz des Buches, dass er die Menschen so nimmt,
wie sie sind. Er erwartet jedoch von ihnen, dass sie sich bei der Abstimmung nur
davon leiten lassen, was dem Gemeinwohl entspricht. Die Staatsbürger sind
gewissermaßen eine Art Jury, die zu entscheiden hat, ob ein Gesetzesvorschlag
dem Gemeinwohl förderlich ist oder nicht.
Das setzt voraus, dass die Staatsbürger zum einen erkennen können, was dem
Gemeinwohl entspricht, und dass sie zum andern motiviert sind, dieser Erkenntnis
auch zu folgen. Man kann in der Tat berechtigte Zweifel haben, ob beide Voraussetzungen gegeben
sind.
Ist damit die Demokratie im Sinne politischer Selbstbestimmung durch die Staatsbürger
ein schöner Traum, weil die Menschen nun einmal nicht so sind, wie es der
theoretische Entwurf verlangt - ähnlich wie im Falle der kommunistischen
Gesellschaft?
Dieser Meinung bin ich nicht. Allerdings ist es notwendig, die politischen
Prozesse in einer Demokratie anders zu verstehen als Rousseau das tut, der Mitte
des 18. Jahrhunderts als Anschauungsmaterial ja nur seine Heimatstadt Genf
hatte.
Wenn man die demokratische Abstimmung nicht als eine Art Juryentscheidung der
Staatsbürger zum Gemeinwohl versteht, sondern als Ermittlung derjenigen
politischen Alternative, die von einer Mehrheit der Bürger gegenüber jeder
anderen Alternative unter dem Gesichtspunkt ihres Eigeninteresses vorgezogen
wird, so sieht die Lage schon ganz anders aus.
Denn nun müssen die beiden oben genannten Voraussetzungen nicht mehr gegeben
sein: Der einzelne Staatsbürger muss nur erkennen, welche Alternative in seinem
Eigeninteresse liegt und er darf auch entsprechend abstimmen.
Diese etwas profanere Sichtweise der Demokratie ist zwar ungewohnt aber könntest
Du auch damit leben?
Hallo Mignon,
du schreibst, dass Rousseau unsere Regierungsform nicht als Demokratie
bezeichnen würde, weil die Bürger das Recht zur Gesetzgebung an gewählte
Abgeordnete übertragen haben. Rousseau war insofern ein Anhänger der direkten
Demokratie.
Aber unter den Bedingungen eines modernen Flächenstaates ist die Gesetzgebung
eine Tätigkeit, die mindestens eine 40 Stundenwoche erfordert, wenn man die
Aufgabe ernst nimmt und informiert tun will. Insofern ist eine repräsentative,
parlamentarische Form der Demokratie wohl unvermeidlich.
Ich möchte noch auf ein grundsätzliches Problem bei Rousseau aufmerksam machen.
Er sagt sinngemäß: Wenn das ganze Volk Gesetze erlässt für das ganze Volk, dann
kann man nicht fragen, ob diese ungerecht sind, denn man könne nicht gegen sich
selber ungerecht sein. Der allgemeine Wille könne deshalb nicht falsch sein, er
sei immer auf das allgemeine Beste gerichtet. Die unterlegene Minderheit habe
sich eben geirrt.
Rousseau spricht zwar immer wieder vom Gemeinwohl, er führt jedoch nirgends aus,
wie man dies erkennen kann. Die Ebene einer argumentativen Bestimmung des
Gemeinwohls existiert bei ihm so gut wie gar nicht.
Deshalb identifiziert er das Ergebnis eines Verfahrens, der Abstimmung nach dem
Mehrheitsprinzip, mit dem Gemeinwohl.
Damit ist dieses jeglicher inhaltlicher Kritik entzogen. Die Minderheit hat sich
geirrt. Eine legale Opposition ist nicht denkbar. Die staatlichen Entscheidungen
sind nicht hinterfragbar. Deshalb konnten aus seiner Theorie gefährliche
Schlüsse gezogen werden.
Hallo Mignon,
nachdem ich Rousseau bisher vor allem kritisiert habe, vielleicht mal zu dem,
was ich an Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" positiv finde.
Vor allem ist Rousseau derjenige unter den Vertragstheoretikern, der als einer
der Ersten das allgemeine gleiche Wahlrecht gefordert hat.
Wenn man die älteren Theoretiker des Gesellschaftsvertrages untersucht, dann
stellt man fest, dass für Thomas Hobbes sogar ein absolutistischer Staat
gegenüber dem Naturzustand vorzuziehen ist. Der Hintergrund für seine Theorie
sind die endlosen Greuel und Gemetzel der europäischen Konfessionskriege.
Und für Locke gab es auch kein gleiches Wahlrecht, obwohl er im Unterschied zu
Hobbes einen Verfassungsstaat aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgehen sah, der
Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum zu schützen hatte, wenn er
Anspruch auf den Gehorsam seiner Bürger erheben wollte. Wenn einmal die Befugnis
zur Gesetzgebung an ein bestimmtes Gremium abgetreten sei, dann waren dadurch
nach Lockes Ansicht alle folgenden Generationen daran gebunden.
Anders Rousseau. Ein Vertrag, bei dem jemand seine Rechte aufgibt und sich
verpflichtet, anderen zu gehorchen, war nach Rousseaus Ansicht nichtig, denn ein
solcher Vertrag kann nur von jemandem getroffen werden, der "nicht bei gesunder
Vernunft ist".
Bemerkenswert an dieser Argumentation, dass die Verbindlichkeit des Vertrages
von bestimmten Bedingungen abhängt, ist allerdings, dass damit eigentlich der
Boden der strikten Vertragstheorie verlassen wird, denn diese Bedingungen für
die Verbindlichkeit von Verträgen können ihrerseits nicht vertragstheoretisch
gerechtfertigt werden, sondern basieren offenbar auf anderen Prinzipien.
Die Position Rousseaus fand Ausdruck in Art. 6 der französischen "Erklärung der
Rechte des Menschen und des Bürgers" von 1789: "Das Gesetz ist Ausdruck des
allgemeinen Willens. Alle Staatsbürger haben das Recht, an seiner Bildung …
mitzuwirken."
***
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Mehrheitsprinzip_1976
ROUSSEAUS_Auffassung
Klassische Vertragstheorie: Hobbes - Locke - Rousseau * (13 K)
Zum
Unterschied der Demokratievorstellungen von Jean Jacques Rousseau und Ernst
Fraenkel
***
zum Anfang
Alphabetische Liste aller Texte
Übersicht
Ethik-Werkstatt: Ende der
Seite "Die Demokratie bei Rousseau"
Letzte Bearbeitung 13.03.2008 / Eberhard Wesche
Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, auch Freunde, Kollegen und Bekannte auf die "Ethik-Werkstatt" hinzuweisen.