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Mehrheitsprinzip - eigene Diskussionsbeiträge
(aus der Diskussion bei PhilTalk)
***
Was ist der der Wille der
Mehrheit?
Nehmen wir ein Beispiel, bei dem sich ein Kollektiv, bestehend aus den 5
Individuen A, B, C, D und E zwischen den 4 Alternativen w, x, y und z entscheiden muss.
[Es muss also feststehen, wer wahl- oder abstimmungsberechtigt ist.]
Die Bewertung der Alternativen durchy die einzelnen Individuen wird durch eine
entsprechende Rangfolge der Alternativen wiedergeben.[Dabei ist zu beachten,
dass hier jeder Teinehmer seine Präferenzordnung selber bestimmt. Wenn die
"wirklichen" Präferenzordnungen der Individuen herangezogen werden, kann es zu
anderen Ergebnissen kommen. Um Missverständnisse möglichst zu vermeiden, sollte
man zwischen einem "Mehrheitssystem" und einer "Mehrheitsregel" unterscheiden.
Das Mehrheitssystem ist eine soziale Institution, die Mehrheitsregel ein
mathematischer Algorhythmus.]
In der folgenden Tabelle sind die angenommenen Präferenzen der Mitglieder A, B,
C, D und E in Bezug auf die Vorschläge w, x, y und z eingetragen:
A | B | C | D | E | |
1.Rang | y | y | x | z | w |
2.Rang | z | x | z | x | x |
3.Rang | w | z | y | y | y |
4.Rang | x | x | w | w | z |
Die Frage ist: Welche der
Alternativen entspricht dem Willen der Mehrheit?
Um das herauszufinden, wird abgestimmt.
Angenommen, die Individuen stimmen "aufrichtig" ab, d. h. jeder gibt seine
Stimme der von ihm favorisierten Alternative, seiner "Spitzenalternative". Dann
stimmen A und B für y, C stimmt für x, D für z und E für w.
In diesem Fall erhält keine der Alternativen eine (absolute) Mehrheit
(englisch 'majority') der Stimmen.
Die Alternative y erhält jedoch eine relative Mehrheit (englisch 'plurality')
der Stimmen gegenüber
den andern Alternativen. Y bekommt
mit 2 Stimmen mehr Stimmen als irgendeine andere Alternative, da diese jeweils
nur 1 Stimme erhalten.
Das Abstimmungsverfahren, bei dem derjenige Vorschlag siegt, der die meisten
Stimmen erhält, wird als "Verfahren der relativen
(einfachen) Mehrheit" bezeichnet.
Ist y nun das, was die Mehrheit will?
Aus den Präferenzordnungen der Tabelle ist zu ersehen, dass für eine Mehrheit
(C, D und E) die Alternative x besser ist als y. Insofern will die Mehrheit also
eher x als y.
Angenommen, anschließend wird nach der "Regel der absoluten Mehrheit ("Als kollektiv gewählt gilt diejenige
Alternative, die mehr als die Hälfte der Stimmen erhält") und mit den Stimmen
von A, C und D wird die
Alternative z gewählt.
Ist z nun das, was die Mehrheit will?
Aus den Präferenzordnungen der Tabelle ist
zu ersehen, dass für eine Mehrheit (B, C und E) die Alternative x besser ist als
z. Insofern will die Mehrheit also eher x als z. Die Alternative x wird auch
gegenüber den Alternativen w und y von einer Mehrheit vorgezogen.
Eine solche Alternative, die bei paarweisen Abstimmungen mit jeder der anderen
Alternative eine Stimmenmehrheit erhält, wird als "Mehrheitsalternative"
oder nach ihrem "Entdecker" auch als Condorcet-Sieger (englisch: Condorcet
winner)
bezeichnet. In unserem Beispiel ist x die Mehrheitsalternative. Die
Mehrheitsalternative ist also das, was die Mehrheit will.
Wie man sieht, sind die Ergebnisse der verschiedenen Wahlverfahren (Regel der
relativen Mehrheit, Regel der absoluten Mehrheit etc.) von der jeweiligen
Abstimmungsstrategie der
Individuen abhängig und sind deshalb wenig aussagekräftig. Man kann jedoch zeigen,
dass sich eine vorhandene
Mehrheitsalternative in allen gleichgewichtigen Wahlverfahren durchsetzt, wenn
jedes
Individuum so abstimmt, dass das bestmögliche Ergebnis für es selbst erzielt wird.
Alle gleichgewichtigen Wahlverfahren, bei denen sich
eine vorhandene Mehrheitsalternative durchsetzen kann, stehen insofern im
Einklang mit dem Mehrheitsprinzip.
Dazu noch eine Anmerkung: Wenn die
Gruppenentscheidung nicht nur aus den
Präferenzrangfolgen der Individuen abgeleitet wird, sondern Zufallsverfahren
wie z.B. Losentscheid dabei mitwirken, so handelt es sich nicht mehr um ein gleichgewichtiges
Wahlverfahren im obigen Sinne, weil die Präferenzrangfolgen gar nicht
berücksichtigt werden. Dies gilt auch für Verfahren mit
Chancengleichheit der Individuen. Eine ungerechte Verteilung der Nutzen und
Kosten auf die Individuen wird nicht dadurch akzeptabler, dass die Verteilung
ausgelost wurde. Dass die Auslosung "fair" im Sinne von Chancengleichheit war,
macht sie nicht gerechter.
***
Die Äquivalenz aller Abstimmungsverfahren, die den Präferenzen der Einzelnen ein gleiches Gewicht geben
Das Mehrheitsprinzip als Regel einer kollektiven Entscheidung besagt, dass
derjenige Vorschlag kollektiv gewählt ist,
der bei einer paarweisen
Abstimmung mit jedem anderen Vorschlag siegt.
(Wenn kein Vorschlag diese Bedingung erfüllt und somit keine
Mehrheitsalternative existiert, bleibt es beim Status quo.)
Nun muss man ein derart aufwendiges Verfahren, bei dem jeder Vorschlag einzeln
mit jedem andern Vorschlag verglichen wird, zum Glück nicht tatsächlich
durchführen, denn es lässt sich zeigen,
dass sich eine vorhandene Mehrheitsalternative in jedem Abstimmungsverfahren
durchsetzt, sofern die folgenden Bedingungen gegeben sind:
1. Die Präferenzen der Teilnehmer an der Abstimmung in
Bezug auf die zur Entscheidung stehenden Alternativen (Kandidaten) bilden die
alleinigen Daten für die Aggregation. Die Individuen haben gleiches Gewicht.
2. Jeder
Teilnehmer kennt die Präferenzordnungen der anderen Teilnehmer
bezüglich der zur Abstimmung stehenden Vorschläge (Alternativen).
3. Die Teilnehmer können verbindliche Absprachen darüber treffen, wie sie stimmen
werden.
4. Jeder Teilnehmer trifft diejenigen Absprachen, die zu dem für ihn selbst
bestmöglichen Ergebnis führen.
(Achtung: Zufallsverfahren sind keine
Abstimmungs- bzw. Wahlverfahren im obigen Sinne, weil dabei die
Präferenzen der Teilnehmer überhaupt nicht berücksichtigt werden!.)
Unter diesen Bedingungen
setzt sich eine vorhandene Mehrheitsalternative z. B. auch bei einer Abstimmung
durch, die nach der Regel der relativen (einfachen) Mehrheit abläuft. ("Der Vorschlag, der die meisten
Stimmen bekommt, gilt als kollektiv
gewählt.")
Die Begründung für das skizzierte Äquivalenz-Theorem ist einfach:
Wenn eine vorhandene Mehrheitsalternative m nicht gewählt wird sondern
stattdessen
irgendeine andere Alternative y, dann hätten diejenigen, für die m besser ist
als y, sich zusammentun können und mit ihrer Mehrheit und ihrem größeren
Stimmgewicht die für sie bessere Mehrheitsalternative m durchsetzen können.
***
Die "unsichtbare Hand in der Demokratie
Die hier vertretene Interpretation des
Mehrheitsprinzips
fordert jeden Wähler auf, so zu wählen, dass
das für ihn selber beste Ergebnis herauskommt.
Dabei kommt es automatisch zu Wahlabsprachen und Wahlbündnissen.
Diese Freisetzung des "(Gruppen-)Egoismus"
erscheint auf den ersten Blick unverständlich und falsch.
Das Überraschende bei Abstimmungen
nach dem Mehrheitsprinzip ist aber nun, dass das eigeninteressierte
Verhalten der Beteiligten zur Durchsetzung der Mehrheitsalternative führt, also
derjenigen Alternative, die im Paarvergleich "jeder gegen jeden" immer die
Mehrheit der Stimmen gewinnt.
Es wirkt hier eine Art "invisible
hand" wie in einer Marktwirtschaft unter Konkurrenz. Weil die
Kapitaleigentümer möglichst
hohe Profite machen wollen, fließt Kapital in Branchen mit hohen Gewinnspannen
und starker Nachfrage.
Dadurch erhöht sich jedoch das Angebot. Die Preise sinken und die
Gewinnspannen gleichen sich dem Durchschnitt an. Gerade das eigeninteressierte
Verhalten der Einzelnen in der Marktwirtschaft führt also unter Konkurrenzbedingungen zu einer Lenkung
der Investitionen in Bereiche mit relativ starker Nachfrage und damit zu einem allgemein
erwünschten Ergebnis.
In analoger Weise führt
im politischen Bereich gerade die Orientierung an den eigenen Interessen bei der
Bildung von Wahlbündnissen zur
Durchsetzung einer vorhandenen Mehrheitsalternative und damit zu einem Resultat, das in der
Regel auch unter dem
Gesichtspunkt des Gemeinwohls akzeptabel ist.
***
Die Nicht-Berücksichtigung der Präferenzintensitäten bei Einzelentscheidungen
Wenn man annehmen kann, dass die
Abstimmenden von der anstehenden Entscheidung
in ihren Interessen annähernd gleich stark betroffen sind,
so gibt es gute Gründe dafür, dass die Befriedigung der Interessen der Mehrheit
Vorrang erhält gegenüber der Befriedigung der Interessen der Minderheit.
Das Mehrheitsprinzip kann jedoch auch dazu führen,
dass eine schwach betroffene
Mehrheit eine elementar betroffene Minderheit überstimmt. Dies ist umso
problematischer, je knapper die Mehrheit dabei ist. In solchen Fällen
sollte das Mehrheitsprinzip nicht angewendet werden.
Bei isolierten Abstimmungen über einzelne Probleme besteht die erhöhte Gefahr, dass
Minderheiten in ihren elementaren Interessen überstimmt werden. (Dies gilt nicht
bei Abstimmungen über Punkte, die alle gleichermaßen angehen wie z. B. Verfassungsänderungen.)
Wenn dagegen über umfangreiche
Programme abgestimmt wird, die ein Bündel zahlreicher Vorschläge beinhalten,
ist diese Gefahr weitaus geringer, denn die Abstimmenden wählen die Programme
danach aus, ob diese in Bezug auf die für sie entscheidenden Punkte
in
ihrem Sinne gestaltet sind und weil von der Politik einer ganzen
Legislaturperiode alle Bürger annähernd gleich stark betroffen sind.
***
Das Mehrheitsprinzip erfüllt
verschiedene wünschenswerte Bedingungen:
Es erfüllt zum einen die Bedingung der
Anonymität in Bezug auf die
Abstimmenden.
Es spielt
keine Rolle, um wessen Präferenzen es sich handelt. Die Stimmzettel können
deshalb geheim ausgefüllt werden, ohne die Identität des betreffenden
Individuums zu erfassen.
Weiterhin erfüllt das Mehrheitsprinzip die Bedingung der
Neutralität gegenüber den zur
Entscheidung stehenden Alternativen.
Das heißt, dass kein Vorschlag gegenüber den anderen Vorschlägen irgendwie
bevorzugt oder benachteiligt wird. Das ist z.B. der Fall bei Veto-Regeln und
Sperrminoritäten.
Selbstverständlich erfüllt das Mehrheitsprinzip auch die Bedingung der
Nicht-Diktatur.
Das heißt dass kein Individuum mit seinen Präferenzen allein entscheidend ist.
Schließlich erfüllt das Mehrheitsprinzip auch noch die Bedingung der
positiven Berücksichtigung der
individuellen Präferenzen.
Es aggregiert die individuellen Interessen gewissermaßen "wohlwollend".
***
Das Mehrheitsprinzip führt bei
Anwendung auf mehrere Entscheidungen zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem,
ob und wie
man die einzelnen Entscheidungen zu einem Bündel zusammenfasst.
Man kann über jeden Tagesordnungspunkt einzeln abstimmen - also gar keine
Bündelung vornehmen - , man kann alle Punkte zu einem umfangreichen "Paket"
bündeln. Denkbar sind jedoch auch mehrere Teilbündel. Ich schlage vor, diese Eigenschaft
von kollektiven Entscheidungsregelnals "Bündelungsempfindlichkeit" zu bezeichnen.
Diese Bündelungsemfindlichkeit hängt damit zusammen, dass die Mehrheitsregel als
Entscheidungsgrundlage nur die Präferenzordnungen der Abstimmenden
berücksichtigt. Das bedeutet, dass nur erfasst wird,
ob eine Alternative x für ein Individuum besser ist als die
Alternative y oder nicht. Es wird jedoch nicht erfasst, um
wieviel die
Alternative x für das Individuum besser ist als y. Der wertmäßige Abstand
zwischen den Alternativen bleibt also unberücksichtigt.
Es spielt deshalb für das Ergebnis einer Abstimmung keine Rolle, ob eine
Alternative x für den Abstimmenden nur unwesentlich besser ist als eine
Alternative y oder ob x ideal und y katastrophal für das Individuum ist: In
beiden Fällen ergibt sich x > y.
***
Wenn man Serien von
Einzelentscheidungen zu einer Gesamtentscheidung bündelt, dann wirken sich die
subjektiven Wertabstände zwischen den Alternativen aus.
Weil bei einer
Bündelung der Einzelentscheidungen zu umfassenden Programmen berücksichtigt
wird, wie wichtig einem Individuum die einzelnen Punkte des Programms sind, ist
eine Entscheidung über solche Programme aussagekräftiger als isolierte
Abstimmungen über die einzelnen Punkten, bei denen dies nicht möglich ist.
Eine Parteiendemokratie ist deshalb einer direkten Demokratie mit voneinander
isolierten Abstimmungen zu den einzelnen Punkten überlegen.
Dazu ein konkretes Beispiel.
Rentner A
steht vor der Entscheidung zwischen dem Wahlprogramm der Orange-Partei und dem
Wahlprogramm der Blau-Partei.
Am Programm der Orange-Partei gefallen Rentner A mehrere Punkte nicht: 1. dass
die Benzinsteuer erhöht werden soll, 2. dass Schulgebühren eingeführt werden
sollen und 3. dass im öffentlichen Dienst Personal abgebaut werden soll.
Am Programm der Blau-Partei gefällt Rentner A nur ein Punkt nicht, der besagt,
dass die Rentenversicherung nicht mehr aus Steuermitteln bezuschusst werden
soll.
Da die Höhe der Rente für A von elementarem Interesse ist während die andern 3
Punkte für A keine so große Rolle spielen, wählt Rentner A trotzdem die
Orange-Partei.
Dadurch bekommen die Punkte Benzinsteuererhöhung, Schulgebührenerhöhung und
Personalabbau im öffentlichen Dienst die Stimme von Rentner A, die sie bei
Einzelabstimmungen niemals erhalten hätten.
Auf parlamentarischer Ebene folgt daraus, dass die Abgeordneten der regierenden
Koalitionsparteien auf das gesamte Regierungsprogramm eingeschworen werden
müssen und sich bei den Abstimmungen zu den einzelnen Gesetzen an die
Fraktions- und Koalitionsdisziplin
halten müssen.
***
Im Mehrheitsprinzip haben alle
Beteiligten das gleiche Stimmrecht. D.h., dass ihre Interessen gleichgewichtig
in die kollektive Entscheidung eingehen. Man könnte annehmen, dass dadurch die
Vormachtstellung von Gruppen unmöglich gemacht wird. Dies ist jedoch ein
Irrtum.
Demokratie kann ohne weiteres einhergehen mit der Vorherrschaft
einzelner Gruppen.
Wenn in einer gegebenen Wahlsituation eine bestimmte Gruppe Machtpositionen
innehat, so kann sie diese Machtposition zur Beeinflussung des Wahlergebnisses
einsetzen.
Sie kann dies auf zweierlei Wegen tun.
Erstens kann sie mit ihren Machtmitteln auf die Meinungsbildung Einfluss
nehmen.
Zum andern kann sie ihre Machtposition auch dazu gebrauchen, dass es bei einem
für sie ungünstigen Wahlergebnis, zu Folgewirkungen kommt, die für eine
Mehrheit der Wähler sehr negativ sind. Da die Wähler dies wissen, verzichten
sie von vornherein auf ein Votum, das die mächtige Gruppe beeinträchtigen
würde.
Ein Beispiel für diesen Mechanismus ist das Problem der Kapital- und
Steuerflucht. Wenn mehrheitlich eine Politik beschlossen würde, die die
Interessen der Vermögenden angreift, so wären Kapitalflucht und Steuerflucht
die Folge. Dies würde zu erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen.
Es ist also im Interesse der Wähler, dass ein solcher Fall nicht eintritt.
Wie ist so etwas möglich, wo doch die Wahlentscheidung aller Beteiligten
geheim bleibt und frei von Sanktionen und Sanktionsdrohungen ist?
Durch ihre Machtpositionen können die Mächtigen die zur Verfügung stehenden
Alternativen einschränken. Dies kann völlig legal sein und stellt insofern
keine unzulässige Erpressung dar.
Dass es bei der Einführung einer drastischen Vermögenssteuer zu einer Kapital-
und Steuerflucht ins Ausland kommt, ist allerdings kein Naturgesetz sondern
beruht auf menschlichen Entscheidungen und Handlungen.
Das heißt: Eine eigentlich vorhandene Alternative (Die Vermögenssteuer wird
erhöht, die Vermögen bleiben im Lande und die erhöhten Abgaben werden gezahlt)
ist nicht verfügbar, weil die Vermögenden in einer bestimmten Weise auf einen
für sie nachteiligen Mehrheitsbeschluss reagieren würden.
Entsprechendes gilt für andere Machtpositionen. Etwa wenn zum Zeitpunkt der
Wahl das Militär eine Machtposition einnimmt und im Falle eines Wahlerfolges
einer radikalen Partei, deren Ziele sie nicht billigen, per Staatsstreich die
Macht übernimmt.
Um dies zu vermeiden, verzichten viele Wähler dann von vornherein auf die Wahl
der radikalen Partei.
Durch die Machtposition wird die äußerlich freie Wahlentscheidung insofern
verändert, als der Bereich der verfügbaren Alternativen eingeschränkt wird.
Die eigentlich mögliche Alternative: "Die radikale Partei erhält die Mehrheit
und das Militär hält still" ist damit nicht mehr verfügbar.
Damit werden die Wähler in ihrer Wahlfreiheit jedoch auf eine schwer zu
fassende Weise eingeschränkt. Auch in dieser Hinsicht ist die Anwendung des
Mehrheitsprinzips also kein Allheilmittel.
***
Die
Wahl des
Landesparlaments in Bremen 2007
ist ein Anlass, einige von uns diskutierte Punkte des Mehrheitsprinzips daran
festzumachen, und auf Aspekte zu verweisen, die bisher nicht zur Sprache
kamen.
Zuerst noch mal das
Ergebnis anhand der Sitze in der Bremer Bürgerschaft.
SPD: 33 / CDU: 23 / Grüne: 14 / Linke: 7 / FDP: 5 / DVU: 1
Es gibt also insgesamt 83 Sitze im Parlament. Für die Wahl der Landesregierung
wird somit eine absolute Mehrheit von 42 Sitzen benötigt.
Rein rechnerisch
erreichen folgende 5 Koalitionen mindestens 42 Sitze und könnten damit theoretisch
regieren:
(SPD + CDU) = 33+23 = 56
(SPD + Grüne)
= 33+14 = 47
(SPD + Linke + FDP) = 33+7+5 = 45
(CDU + Grüne + FDP) = 23+14+5 = 42
(CDU + Grüne + Linke) = 23+14+7= 44
Dies ist eine gewisse Bestätigung für die These, dass die eigentliche Wahl der
Bürger keine direkte Entscheidung über die Politik der nächsten Jahre
darstellt. Die Regierungskoalition und das Regierungsprogramm ergeben sich
erst aus den Verhandlungen der Parteien, die hinter verschlossenen Türen
geführt werden.
Aufgrund der unterschiedlich großen Differenzen zwischen den politischen
Positionen der Parteien scheiden davon einige rechnerisch mögliche Koalitionen
als unwahrscheinlich aus.
Wenn man versucht, die Parteien auf einer politischen Links-Rechts-Dimension
anzuordnen, ergibt sich folgendes Bild:
---Linke (7)---- Grüne (14)------------------ SPD (33)--------- FDP
(5)------- CDU (23)---- DVU (1)---
--|||||||-------||||||||||||||---|||||||||||||||||||||||||||||||||---|||||---||||||||||||||||||||||---|----
Bei dieser Anordnung besetzt
die SPD die Mitte. Der "mediane" Abgeordnete ist der 42. Abgeordnete: 41
Abgeordnete sind "rechter" als er und 41 Abgeordnete sind "linker" als er. Jede Koalition gegen die SPD wäre instabil, sodass
als realistische Koalitionen nur die Kombinationen SPD + CDU und SPD + Grüne in Frage
kommen.
Wenn man jedoch die SPD links von den Grünen einordnet und die FDP rechts von
der CDU, so ergibt sich folgendes Bild:
---Linke (7)--------------- SPD (33)-------------- Grüne (14)---------- CDU
(23)----- FDP (5)- DVU (1)
---|||||||---|||||||||||||||||||||||||||||||||------||||||||||||||---|||||||||||||||||||||||--|||||------|----
In diesem Fall besetzen die
Grünen die Mitte und hätten die Wahl zwischen einer Koalition mit der SPD und
einer Koalition mit CDU und FDP.
Gegenwärtig erscheint eine Koalition aus Grünen, CDU und FDP aber als
ausgeschlossen. Außerdem wäre die Mehrheit in der Bürgerschaft mit 42 Sitzen
denkbar knapp, wenn man die zu erwartende Zerreißprobe bei den Grünen im Falle
einer Koalition mit der CDU und der FDP berücksichtigt. Wenn nur ein Grüner aus
Protest zur SPD wechseln würde, so wäre die Mehrheit bereits dahin.
Die Wahl hat weiterhin gezeigt, dass das parlamentarische System das Aufkommen
neuer Parteien nicht prinzipiell verhindert.
Das große Problem bei dieser Wahl sind allerdings die 43 % der Wahlberechtigten,
die gar nicht zur Wahl gegangen sind,
***
Durch die Zweistufigkeit wird
das Mehrheitsprinzip in seinem Funktionieren schwer überschaubar.
Stufe 1: Die Wähler wählen das Parlament, das entsprechend den
Stimmenverhältnissen für die Parteien zusammengesetzt wird
(Verhältniswahlrecht).
Stufe 2: Das Parlament wählt mit der Mehrheit der Abgeordneten eine Regierung.
Wenn keine Partei eine absolute Mehrheit (d.h. mehr als die Hälfte der
Abgeordneten) erhält, müssen Koalitionen gebildet werden. Über die Koalitionen
entscheiden die Abgeordneten. Die Wahl eines Regierungschefs, die gewöhnlich
in geheimer Abstimmung erfolgt, kann u. U. durch einen einzigen, anonym
bleibenden Abgeordneten verhindert werden, wie bei der letzten Regierungsbildung
in Schleswig-Holstein geschehen.
Eine derartige
Verselbständigung von Vertretern gegenüber denen, die sie vertreten sollen,
ist in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht üblich. Nach § 168 des
Bürgerlichen Gesetzbuches kann derjenige, der eine Vertretungsvollmacht erteilt
hat, diese auch jederzeit widerrufen.
Durch das
Verhältniswahlrecht kommen jedoch viele Abgeordnete nicht durch Direktwahl in
einem Wahlkreis in das Parlament sondern über Listenplätze, d.h. über
Parteibeschlüsse. Die Abgeordneten repräsentieren nach dem Verständnis des
Grundgesetzes nicht eine bestimmte Gruppe von Wählern, sondern nach § 38 des
Grundgesetzes sind sie Vertreter des ganzen
Volkes. Sie sind nicht an Weisungen oder Aufträge gebunden sondern nur ihrem
Gewissen verantwortlich.
In dieser Formulierung
bleibt unklar, ob der Passus: "Sie sind Vertreter des ganzen Volkes" bedeutet,
dass alle Abgeordneten zusammen das ganze Volk vertreten sollen, oder ob jeder
einzelne Abgeordnete das ganze Volk vertreten soll.
In dieser Konstruktion
haben die Bürger ihre Entscheidungsgewalt tatsächlich unwiderruflich für die
Dauer der Legislaturperiode an die Abgeordneten abgetreten.
Wenn man die Formulierung "Sie sind Vertreter des ganzen Volkes" so versteht, dass das Parlament als
Ganzes das ganze Volk vertreten soll, dann wäre das Parlament eine Art
verkleinertes Modell der Wählerschaft, das nun an Stelle der Gesamtheit der
Wähler die politischen Entscheidungen erzeugt.
Die Frage ist, ob sich
das Parlament als Modell analog zur Gesamtheit der Wähler verhält.
Um nur ein Problem einer
solchen Repräsentationstheorie zu nennen:
Wo sind im Parlament diejenigen
repräsentiert, die ihr Wahlrecht nicht ausgeübt haben? Wie die Wahl in Bremen zeigt, können
die
Nichtwähler ja einen großen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen. Müsste es
deshalb nicht konsequenter Weise eine
Wahlpflicht
geben, wie in Belgien, um die
Repräsentativität des Parlamentes in dieser Hinsicht zu sichern?
Um verbindliche Entscheidungen
für ein Kollektiv zu treffen, ist das Mehrheitsprinzip m. E. am besten geeignet,
weil alle anderen Verfahren entweder das
Vetorecht
kleiner Gruppen beinhalten (wie die Einstimmigkeitsregel mit Beibehaltung des
Status quo, wenn keine Einstimmigkeit erzielt wird) oder aber sich von den
Interessen der Einzelnen abkoppeln können (wie z. B. die Einparteienherrschaft
einer selbsternannten Avantgarde mit der entsprechenden Rechtfertigungs-Ideologie).
Allerdings halte ich das Mehrheitsprinzip nur deshalb für notwendig, weil die
rationale Argumentation (der herrschaftsfreie Diskurs, der Streit der Gelehrten)
nicht zu einem definitiven Resultat in Form eines allgemeinen Konsenses führen
muss.
Je größer in einer
Gesellschaft jedoch der Bereich des allgemein einsichtigen Konsenses ist, desto
besser für diese Gesellschaft.
***
Das Mehrheitsprinzip ist ein
praktikables Normsetzungsverfahren, das sich allerdings daran messen lassen
muss, wie nahe seine Resultate einem argumentativ bestimmten Gemeinwohl oder
Gesamtinteresse kommen. Dass dies unter bestimmten Bedingungen nicht der Fall
ist, lässt
sich leicht zeigen.
Bei Einzelabstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip spielen nur die Rangfolgen der
Alternativen eine Rolle. Wie stark die Einzelnen von einer Entscheidung
betroffen sind, wird nicht erfasst. Dadurch bildet im Mehrheitssystem der "mittlere" bzw. mediane Wähler den Gleichgewichtspunkt, zu dem alle
Wahlabsprachen und Koalitionen hin tendieren.
Nehmen wir ein fiktives
Beispiel. Es geht um die Höhe der Mineralölsteuer pro Liter. Wir haben 5 Individuen
(A,B,C,D,E),
die jeweils pro Liter den folgenden Steuerbetrag in Cent (c) befürworten:
A - 10 c ------- B - 20 c ------- C - 70 c ------- D - 80 c ------- E - 100 c
In diesem Fall ist C der mediane Wähler und die Alternative 70 Cent Mineralölsteuer pro Liter setzt sich bei einer Abstimmung durch. Angenommen, A und B würden ihre Meinung ändern und nur für eine weit höhere Steuer plädieren:
A - 60 c ------- B - 60 c ------- C - 70 c ------- D - 80 c ------- E - 100 c
Trotz dieser Veränderung der
Meinungen – immerhin treten jetzt mehr als 1 Drittel der Beteiligten für eine
sehr viel höhere Mineralölsteuer ein als zuvor – ändert sich am Resultat einer
Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip nichts, denn C bleibt weiterhin der mediane
Wähler.
Hier sieht man, wie grob
im Mehrheitssystem die Interessen der Beteiligten erfasst werden. Das
Mehrheitsprinzip ist insofern nicht sakrosankt, sondern es muss nach
sozialethischen normativen Kriterien geprüft werden, wo seine Anwendung sinnvoll
ist und wo nicht.
***
Auseinandersetzung mit einem
Demokratiekritiker
Du behauptest: "Es kann kein Recht geben, dem Pöbel die Verantwortung für ein ganzes Land zu
geben."
Was meinst Du mit dem
Wort "Pöbel" ?
Wenn ich in meinem alten
Sprach-Brockhaus nachsehe, so finde ich unter "Pöbel" die Erläuterung: "gemeines, rohes Volk, niedere Masse" und unter "pöbelhaft" die Erläuterung: "gemein, gewöhnlich, frech".
Da Du schreibst, dass das allgemeine Wahlrecht nichts anderes ist als dem Pöbel
das Recht zu bestimmten Handlungen zu geben, ergibt sich, dass Du mit dem Wort "Pöbel" die Gesamtheit der Wahlberechtigten eines Landes bezeichnest.
Deine Behauptung lässt sich demnach folgendermaßen formulieren: "Es kann kein Recht geben, den Wahlberechtigten die Verantwortung über ein
ganzes Land anzuvertrauen."
Damit ist mir allerdings
schleierhaft, aus welcher Moral und welchem Naturrecht Du diese
Behauptung ableitest.
Du könntest einwenden: "Ich habe nicht umsonst vom Pöbel gesprochen und nicht
von den Wahlberechtigten. Indem ich die Wahlberechtigten als "Pöbel" bezeichne,
sage ich ja etwas über diese Wahlberechtigten aus. Sie sind eine niedere Masse,
ein gemeines und rohes Volk."
Dann würde ich an Dich
die Frage stellen, was Du mit den Wörtern "gemein", "roh" oder "niedrig" wohl
meinst.
Im Sprach-Brockhaus finde ich unter "gemein" die Erläuterung "1.) gewöhnlich,
verbreitet, und 2.) niedrig gesinnt, grob, boshaft" und unter "niedrig" steht "1.) nicht hoch, flach, 2.) geringen Standes, 3.) gemein". Für unseren Kontext
kommt wohl nur die Bedeutung unter 3.) in Frage, womit sich die Erläuterungen im
Kreise drehen:
Wie jeder leicht merken
kann, haben diese Wörter einen minimalen empirischen Gehalt aber einen eindeutig
negativ wertenden Gehalt.
Dass Du die
Wahlberechtigten als "gemein" bewertest und deren Gesinnung als "niedrig",
stellt ein Werturteil dar, das völlig unbegründet im Raum steht. Offenbar setzt
Du voraus, dass dies Werturteil von den Diskussionsteilnehmern geteilt wird.
Auch hier muss ich sagen: Zumindest für meine Person kannst Du diese
Voraussetzung nicht machen, weshalb auch Deine Wertprämissen völlig in der Luft
hängen.
Du behauptest weiterhin,
mit dem allgemeinen Wahlrecht werde den Wahlberechtigten die Verantwortung für
ein Land anvertraut, damit es freie, friedfertige und fleißige Menschen nach
Belieben beherrschen, ausplündern und ausbeuten kann.
Die Frage ist, wen Du mit
den "freien, friedfertigen und fleißigen Menschen" meinst.
Da das allgemeine
Wahlrecht die Grundlage bildet und die daraus resultierende Gesetzgebung gemeint
ist, kann es sich bei den "freien Menschen" nur um die Bevölkerung desselben
Landes handeln, denn nur für diese sind die von der Mehrheit gemachten Gesetze
bindend.
Damit sind wir bei dem
skurrilen Ergebnis angelangt, dass die Wahlberechtigten gemein und von niederer
Gesinnung sind, während die Bevölkerung freie, friedfertige und fleißige
Menschen sind. Da sich beide Gruppen weithin decken und aus den gleichen
Individuen bestehen, sind Deine Behauptungen zumindest überraschend, wenn nicht
sogar widersprüchlich.
Du behauptest nun, durch das allgemeine Wahlrecht werde den Wahlberechtigten die
Macht gegeben, damit sie die Bevölkerung beherrschen und ausplündern können.
Dem kann ich nicht
folgen. Das Wort "damit" kennzeichnet den Zweck. Wenn man sagt: "Person A tut
das, damit …", dann folgt hinter dem Wort "damit" der Zweck, den Person A mit
diesem Tun verfolgt.
Es stellt sich bei Deiner
Behauptung sofort die Frage, wer denn diesen Zweck mit der Einführung des
allgemeinen Wahlrechts verbindet. Und weiterhin stellt sich die Frage, wie eine
derartige Motivunterstellung nachprüfbar begründet werden kann. Auf beide Fragen
findet sich bei Dir keine Antwort. So stehen auch diese Behauptungen völlig
unbegründet im Raum.
Unabhängig von dieser
Motivunterstellung behauptest Du, dass die Wahlberechtigten tatsächlich in
Deutschland die Bevölkerung ausplündern, denn hier gibt es ja das allgemeine
Wahlrecht.
Es stellt sich die Frage,
was Du mit "ausplündern" meinst. Der Brockhaus erläutert "plündern" mit "ausrauben". Wenn Du z. B. das Erheben von Steuern damit meinst, so handelt es
sich dabei nicht um "Raub" im rechtlichen Sinne. Ich vermute deshalb, dass es
sich auch hier um Ausflüsse einer von Dir nicht näher begründeten
Moralkonzeption handelt.
Was bleibt von den starken Worten übrig? Heiße Luft.
***
Das Mehrheitsprinzip schafft keine Gewalt, sondern vermeidet Gewalt, dort wo Einmütigkeit nicht, nicht rechtzeitig oder nur unter nicht vertretbaren Kosten erzielt werden kann und wo die konservative Lösung "Wenn man sich nicht einigen kann, bleibt alles so wie es ist" keine akzeptable Lösung ist, sondern nur Ausfluss der Ideologie von der Souveränität der Eigentümer und der Freiheit ihrer Verträge.
***
Du erhebst einen grundlegenden Einwand gegen
eine Interpretation des Mehrheitsprinzips als eine Methode zur
Zusammenfassung von Interessen. Du weist darauf hin, dass das, was Menschen
wollen, nicht nur von ihren Interessen bestimmt wird, sondern auch von ihren
Werten bzw. Idealen.
Ich stimme Dir hierin zu und muss zugleich sagen, dass auch für mich das
Verhältnis zwischen Interessen und Werten keineswegs geklärt ist. Die Tatsache,
dass ein Individuum die Alternative x der Alternative y vorzieht, sagt noch
nichts darüber aus, ob diese Präferenz seine Interessenlage oder seine
Werthaltungen ausdrückt.
Richtig ist, dass die
Werte, die ein Mensch vertritt, nicht völlig durch seine Interessenlage bestimmt
sind. Zwar bestimmt das gesellschaftliche Sein in starkem Maße auch das
Bewusstsein in Form von Werthaltungen und Einstellungen. Die meisten
Sozialhilfe-Empfänger werden gegen die Kürzung von Sozialleistungen sein und
dies auch mit moralisch/politischen Werten vertreten, und die meisten Millionäre
werden gegen eine höhere Vermögenssteuer sein und dies ebenfalls mit
moralisch/politischen Werten verteidigen.
Aber wir können auch versuchen, einen unparteiischen Standpunkt einzunehmen und für andere
nachvollziehbar zu argumentieren. Wir können versuchen, intersubjektiv
nachvollziehbare und allgemeingültige Antworten auf unsere Fragen zu finden.
Werte und Ideale sind
nach meinem Verständnis im Bereich des Allgemeingültigen angesiedelt. Sie
beanspruchen allgemeine Zustimmung, sie wollen dauerhaft geteilt werden. Über
Werte und Ideale stimmt man nicht ab, sondern sie werden argumentativ begründet
oder kritisch hinterfragt. Oder auch: Man hat sie eben und steht zu ihnen,
gleichgültig, ob andere diese Werte teilen oder nicht. Deshalb werden
Wertentscheidungen auch durch Bündnisse nicht "richtiger".
Interessen dagegen ändern
sich je nach Lebenslage und sozialer Position.
Wertfragen wie: "Sind der
Schwangerschaftsabbruch oder das Experimentieren mit Stammzellen moralisch
verwerflich?" können nicht durch Abstimmungen entschieden werden, sondern nur
durch Argumentation.
Diese (vorläufige)
Antwort befriedigt mich auch selber nicht. Hier bleibt noch viel zu klären.
Soviel zur Rolle der
Werte und Ideale.
***
Die Bildung einer
Gesellschaftsordnung: eine kleine Robinsonade
Mehrere Schiffbrüchige werden auf eine verlassene Insel fernab jeder
Zivilisation verschlagen, abgeschnitten von der übrigen Menschheit. Sie
versuchen zu überleben, bis jemand sie findet. Wann das sein wird, kann niemand
sagen.
Auf der Insel gibt es u.
a. gefährliche Raubtiere, einige Kokospalmen, eine Stelle mit Beerensträuchern,
eine Bucht mit Fischen, zwei Höhlen im Gestein, eine Süßwasserquelle u.a.m.
Die Schiffbrüchigen
beginnen nach dem ersten Schock, jeder für sich nach Wasser und nach Essbarem zu
suchen. Als es dunkel wird, suchen sie nach geschützten Schlafplätzen.
In den nächsten Tagen
kommt es zu ersten Konflikten.
Jemand hat viel mehr
Beeren abgepflückt, als er essen kann, andere gingen leer aus.
Diejenigen, die sich als
erste die Höhlen als sichere Schlafplätze ausgesucht haben, wollen nicht, dass
noch weitere dort schlafen.
Einige haben versucht, in
der Bucht Fische zu fangen, aber dabei wurden sie von anderen gestört, die dort
Baden wollten.
Einer hat in der Nähe der
Bäume ein Feuer gemacht, das sehr leicht zu einem für alle verheerenden
Waldbrand führen kann. Deshalb haben andere das Feuer ausgetreten.
Die Frage ist, wie die
Schiffbrüchigen – ich nenne sie ab jetzt mal "Insulaner" – mit diesen Konflikten
umgehen.
Eine Möglichkeit ist: Die
Insulaner lassen den Dingen ihren Lauf. Wo Konflikte sind, setzt sich der
Stärkere durch und entscheidet die Konflikte in seinem Sinne. Dies geht nicht
immer ohne Kampf ab.
Dabei wird die Sache
dadurch kompliziert, dass sich Insulaner mit anderen zusammentun, um sich gegen
einzelne Starke durchzusetzen. Dabei bildet sich nach einiger Zeit eine "Hackordnung" entsprechend der Stärke der gebildeten Einzelnen oder Gruppen
heraus, die nur noch gelegentlich in Frage gestellt wird. Dabei kann es dann zu
veränderten Rangfolgen kommen.
Diese Ordnung beruht
allein auf den Machtverhältnissen. Das Individuum, das an der Spitze der
Machtpyramide steht, kann seine Interessen gegen die der andern durchsetzen,
aber es kann sich nicht auf irgendeine Berechtigung dazu berufen. Es kann mit
seiner überlegenen Macht drohen und Gehorsam erzwingen, aber es kann die
Forderung nach Befolgung seiner Befehle gegenüber den Adressaten dieser Befehle
nicht einsichtig begründen.
Nun könnte ein Insulaner,
der die Hackordnung nicht gerade berauschend findet, den Vorschlag machen: "Lasst uns unsere Konflikte nicht nach dem Pseudorecht des Stärkeren
entscheiden, sondern einvernehmlich. Die Lösung, die alle einstimmig
befürworten, soll zukünftig für uns maßgeblich sein. Die Einstimmigkeit
garantiert, dass niemand zu etwas gezwungen wird, was er nicht will. Nur so
bleiben wir alle frei."
Nach anfänglicher
Begeisterung für diese ideale Methode der Konfliktlösung gab es jedoch schon
bald lange Gesichter, denn fast immer stimmte irgendjemand gegen eine
vorgeschlagene Lösung, sodass die Regel der Einstimmigkeit ohne praktischen
Nutzen war. Für die Egoismen der einzelnen Insulaner gab es offenbar keinen
gemeinsamen Nenner.
Da ergriff einer der
älteren Insulaner das Wort und sagte: "Die Einmütigkeit für die Lösung von
Konflikten ist nicht einfach vorhanden und muss nur durch Handaufheben
festgestellt werden. Wir müssen uns um Einigkeit bemühen. Wir müssen solche
Argumente und Positionen ausschließen, die eine Übereinstimmung systematisch
verhindern.
Wer nur von seinem
eigenen Interesse ausgeht, der macht eine Einigung unmöglich. Einigung ist dann
möglich, wenn jeder auch die Interessen der andern unparteiisch berücksichtigt.
Wir müssen nach solchen Lösungen suchen, die für alle gemeinsam am ehesten
akzeptabel sind. So sollte das Feuermachen am Wald generell verboten werden, denn
eher kann allen zugemutet werden, einen anderen Feuerplatz zu suchen, als allen
zuzumuten, sich dem Risiko eines Waldbrandes auszusetzen."
Über das vorgeschlagene
Verbot wurde noch bis tief in die Nacht diskutiert, weil zwei Insulaner das
Risiko eines Waldbrandes bei ihrem Grillfeuer ausschlossen. Der Konsens aufgrund
von Argumenten blieb unsicher.
Am nächsten Morgen – noch
etwas unausgeschlafen – machte jemand einen anderen Vorschlag: "Wenn sich hier
immer alle mit allem befassen müssen, kriegen wir überhaupt keinen Schlaf mehr.
Ich schlage vor, wie teilen die Insel in soviel möglichst gleichwertige
Grundstücke auf, wie wir an Köpfen zählen, und verlosen dann die Grundstücke.
Jeder kann dann über sein Grundstück nach Belieben verfügen. Wenn andere etwas
von ihm bzw. von seinem Grundstück wollen, dann müssen sie sich mit ihm einigen,
also einen Vertrag schließen mit den wechselseitigen Verpflichtungen. Damit
sparen wir uns diese ständigen Sitzungen mit allen andern."
Das erschien einigen als
das Ei des Kolumbus: Kein Zwang, keine Dauersitzungen mit endlosen Debatten.
Aber dann kamen doch
einige Fragen auf:
- "Aber wenn auf seinem Grundstück der Wald brennt, dann greift das Feuer doch
auf die Nachbargrundstücke über."
- "Wer kümmert sich um unsere Flaschenpost? Ich sehe da schon einige
Trittbrettfahrer, die einerseits die Mühe, eine Flaschenpost herzustellen,
scheuen, die sich aber andererseits gerne retten lassen, wenn die Flaschenpost
Erfolg haben sollte."
- "Wie soll ich mich denn auf der Insel bewegen können, wenn alles
Privatgrundstücke sind? Soll ich mir jedes Mal eine Genehmigung zum Betreten
holen oder gar kaufen?"
- "Die einzige Trinkwasserquelle liegt auf dem Grundstück eines bestimmten
Insulaners. Soll er mit diesem Monopol über ein lebenswichtiges Gut alle andern
arm machen dürfen?"
Zahlreiche Fragen und
Einwände kamen zu der vorgeschlagenen privaten Eigentumsordnung. Offenbar wurden
einige Konflikte durch dies System nicht vernünftig gelöst und ganz neue
Konflikte tauchten auf: der Gegensatz zwischen armen und reichen Insulanern, der
Gegensatz zwischen Gläubigern und Schuldnern unter den Insulanern.
Wie sollten nun die
Konflikte entschieden werden, die eine Ordnung aus den Institutionen des
Privateigentums und der Vertragsfreiheit nicht zufriedenstellend lösen kann?
Hier gab es wieder
verschieden Vorschläge: "Wir stimmen selber über diese Fragen mehrheitlich ab." "Wir bestimmen einen
König auf Lebenszeit, der die Entscheidungen fällt", "Wir bestimmen ein
Gremium aus 3 klugen Köpfen, um zu entscheiden."
(Aber wie sollte der König bzw. wie sollte das Gremium in seiner personellen
Zusammensetzung bestimmt werden? Nach dem Mehrheitsprinzip?)
Wenn man nicht wollte, dass kleine Gruppen oder gar einzelne die Entscheidungen
blockierten, dann durfte man keine Einstimmigkeit fordern. Die Stimmen der
Beteiligten waren nur dann gleichgewichtig, wenn nicht zur Durchsetzung der
einen Alternative x mehr Stimmen erforderlich waren als zur Durchsetzung einer
konkurrierenden Alternative y. Jede Forderung nach einer Stimmenzahl über der
absoluten Mehrheit der Stimmen führt jedoch zu einer Verletzung der
Gleichgewichtigkeit.
Wenn z. B. eine
Zwei-Drittel-Mehrheit gefordert wurde, um eine Alternative durchzusetzen, so
genügten zur Beibehaltung des Status-quo bereits 1 Stimme mehr als ein Drittel
der Stimmen. Man kann das zu recht als "konservative Schlagseite" bezeichnen.
Ein letzter Vorschlag kam
dann noch. Ein Insulaner sagte: "Was hier gesagt wurde, kann schnell wieder
vergessen werden. Lasst uns aufschreiben, nach welchen Regeln wir die
verschiedenen Konfliktarten lösen wollen." Und so kam es zur Verfassung der
Insulaner, die schließlich von allen unterschrieben wurde.
***
Das Mehrheitsprinzip ist
vielleicht das Herzstück der
Demokratie,
aber es macht keineswegs die ganze Demokratie aus. Dazu gehören
noch: Verfassungsstaat, Verfassungsgericht, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, legale Opposition,
Föderalismus, kommunale Selbstverwaltung, Menschen- und Bürgerrechte, um nur das
Wichtigste zu nennen.
Schwachstellen des
Mehrheitsprinzips sind:
- die verdeckte Beeinflussung der Wähler durch diejenigen, die über die Medien
verfügen (Manipulation),
- der immense Informations- und Entscheidungsaufwand, wenn alle über alles
abstimmen (Entscheidungsaufwand),
- die Benachteiligung von Minderheiten (Minderheitenschutz)
- der unterschiedliche Grad an Informiertheit bei den Wählern
(Informationsgefälle).
Als mögliche
Gegenmaßnahmen wurden genannt:
Zum Problem
"Manipulation" :
- Veränderung der Medienlandschaft durch ein Pressegesetz, das die Konzentration
des Eigentums an Medien in den Händen weniger verhindert,
- Verpflichtung der Medien zur Information.
Zum Problem
"Entscheidungsaufwand" :
- Vertretung der Staatsbürger durch auf Zeit gewählte Abgeordnete,
- Dezentralisierung der Entscheidungsebenen durch Selbstverwaltung von
Gemeinden, Regionen etc. in Bezug auf bestimmte Entscheidungsbereiche,
- Beschränkung der Abstimmungen auf allgemeine Gesetze,
- Delegation der Geschäftsführung an eine Regierung.
Zum Problem
"Minderheitenschutz" :
- Wahlabsprachen und Wahlbündnisse zwischen den verschiedenen
Minderheitsgruppen,
- Bildung von Parteien mit Programmen für Minderheiten (wenn Abgeordnete gewählt
werden),
- in der Verfassung verankerte Grundrechte, die der Mehrheitsentscheidung
entzogen sind,
- regionale Dezentralisierung (zum Schutz regionaler Minderheiten).
Zum Problem
"Informationsgefälle" :
- Ausstattung der Individuen mit Stimmrecht entsprechend dem Grad ihrer
Informiertheit,
- Vertretung durch gewählte Berufspolitiker als Abgeordnete,
- Bildung von Parteien mit Spezialisten für die verschiedenen Politikbereiche.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen werfen jedoch ihrerseits wieder eigene Probleme
auf:
- Die Repräsentation der
Wähler durch Abgeordnete enthält die Möglichkeit, dass die Abgeordneten nicht
die Interessen der Wähler vertreten.
- Außerdem erscheint es
nicht sinnvoll, alle Entscheidungen von den Abgeordneten bzw. der Regierung
treffen zu lassen, sodass die
Zuständigkeit geregelt werden muss. Zumindest alle
Veränderungen der Verfassung sollten von den Staatsbürgern selber beschlossen
werden.
Ungeeignet für Volksabstimmungen sind insbesondere Entscheidungen, von denen
die Staatsbürger in sehr unterschiedlichem Maße betroffen sind.
- Die Dezentralisierung
erfordert Entscheidungen über die Zuständigkeit der verschiedenen Ebenen
und über deren Ausstattung mit Steuergeldern. Die Frage ist auch hier, nach
welchen Kriterien die jeweilige Zuständigkeit festgelegt werden soll.
- Die Festschreibung von
Bürgerrechten in der Verfassung erfordert ein Verfassungsgericht, das diese Rechte auslegt. Da
notwendigerweise nur relativ unpräzise Formulierungen möglich sind ("Die Würde
des Menschen ist unantastbar" oder "Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit" ) besteht die Gefahr, dass durch eine extensive Auslegung der
Bürgerechte der politische Wille der Mehrheit zu stark eingeengt wird und
notwendige Veränderungen behindert werden.
-
Die Einführung nach
Informationsgrad abgestufter Stimmgewichte
erfordert ein Instrument zur Messung des Grades an Informiertheit. Welche
Probleme sich dabei ergeben zeigt die Diskussion der Intelligenztests. Außerdem
erfordert ein solches Verfahren einen erheblichen Aufwand.
***
Wege zur Entschärfung des
Problems
Minderheitenschutz:
1. Die
Dezentralisierung, wodurch Entscheidungen, die vorwiegend eine bestimmte
Gruppe der Bevölkerung betreffen, auch nur von dieser Gruppe entschieden werden.
Sinnvoll ist eine räumliche Aufteilung der Entscheidungsbefugnisse, weil die
meisten physikalischen Wirkungen mit der räumlichen Entfernung abnehmen.
Allerdings stellen sich erhebliche Probleme beim räumlichen Zuschnitt solcher
Selbstverwaltungseinheiten auf kommunaler oder regionaler Ebene.
2. Den Schutz vor bestimmten Eingriffen in das Leben der Staatsbürger durch die
Formulierung von
Menschen- und Bürgerrechten, über die nicht nach dem
Mehrheitsprinzip abgestimmt werden darf.
3.Die Bildung von
Bündnissen zwischen den einzelnen
Minderheitsgruppen.
Die Hundehalter könnten sich z. B. mit den Studenten zusammentun, denen eine
Verdoppelung ihrer Studiengebühren droht (zugegeben kein sehr realistisches
Beispiel). Die Hundehalter sind bereit, gegen die Erhöhung der Studiengebühren
zu stimmen, wenn die Studenten dafür gegen die Erhöhung der Hundesteuer stimmen.
Die Abstimmungsbündnisse sollten letztlich natürlich so groß sein, dass eine
Mehrheit zustande kommt.
Dieser Prozess der Koalitionsbildung, bei dem in Bezug auf verschiedene
anstehende Entscheidungen Wahlabsprachen getroffen werden, führt zur Bildung von
Parteien, die bestimmte Abstimmungspakete in Form eines Parteiprogramms zur
Abstimmung stellen. Die Bewältigung dieser Aufgabe ist außerordentlich wichtig,
um den Schutz der Minderheiten auch bei Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip
zu erreichen. Die Bündnisbildung setzt voraus, dass die Beteiligten sich auch an
die Wahlabsprachen halten. Dies ist übrigens einer der Gründe für die viel
geschmähte "Fraktionsdisziplin".
***
Wenn in einer Gesellschaft eine
freie Koalitionsbildung nicht gegeben ist, ist die Anwendung des
Mehrheitsprinzips problematisch. Man stelle sich z.B. einen Staat vor, der zu
70% aus katholischen, bäuerlichen, Suaheli sprechenden Schwarzen besteht und zu
30 % aus hinduistischen, Handel treibenden, englisch sprechenden Indern besteht.
Hier würde es sicherlich eine Partei der Schwarzen und eine Partei der Inder
geben, und die Partei der Schwarzen würde in allen Entscheidungen die Mehrheit
bekommen. Die Resultate des Mehrheitsprinzips bei einer derartigen Konstellation
werden sicherlich nicht einem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse
entsprechen. Der Bürgerkrieg und eine Spaltung des Landes sind hier
vorprogrammiert.
***
Im Bundestag werden pro Jahr
hunderte von Gesetzen und Gesetzesänderungen beschlossen. Dazu kommen Tausende
von staatlichen Verordnungen auf den verschiedenen politischen Ebenen. Außerdem
müsste noch über die Einzelentscheidungen abgestimmt werden, die jetzt die
Regierung und die Ministerien treffen. Niemand könnte sich auch nur einen
Bruchteil der Informationen beschaffen und sie entscheidungsreif verarbeiten, um
über diese Normen und Einzelentscheidungen mit dem nötigen Sachverstand
abstimmen zu können.
Insofern ist die "Basisdemokratie", in der alle kollektiven Entscheidungen von
den einzelnen Staatsbürgern beschlossen werden, undurchführbar.
Die Wahl von politischen Vertretern, die zur Entscheidung bevollmächtigt sind,
ist deshalb sinnvoll.
Allerdings haben diese Vertreter ein
Eigeninteresse, das sich mit den Interessen derer, die sie vertreten sollen,
nicht decken muss.
Eine zeitliche Befristung der
Vertretung ist eine wichtige Vorkehrung, damit die Abgeordneten im Sinne ihrer
Wählerschaft handeln. Hier wirkt das Interesse der Politiker, wiedergewählt zu
werden. Aber dies Motiv reicht keineswegs aus, vor allem wenn dagegen finanziell
lukrative "Beraterverträge" und Anschlussjobs stehen.
***
Die Versammlung der Abgeordneten, das Parlament, ist zwar die Stätte, wo die Probleme des Gemeinwesens besprochen werden und wo allgemeine Gesetze verabschiedet werden. Die laufenden Entscheidungen werden jedoch von der Regierung getroffen - was in Deutschland ausgedrückt wird durch den Satz der Verfassung: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik". Der Bundeskanzler wird von den Abgeordneten des Bundestags für eine begrenzte Zeit nach dem Mehrheitsprinzip gewählt und kann auch mehrheitlich wieder abgewählt werden. Die laufende Kontrolle der Regierung ist eine der Hauptaufgaben des Parlamentes.
***
Wenn man das Mehrheitsprinzip als eine Methode betrachtet, um die Interessen der Einzelnen zu einem kollektiven Interesse zusammenzufassen, dann geht durch das Prinzip "One man (and one woman), one vote!" das Interesse jedes Wahlberechtigten mit gleichem Gewicht in die Bildung des kollektiven Interesses ein. (Das war im preußischen 3-Klassen-Wahlrecht noch anders.)
***
Da die Wahl geheim ist und nicht bekannt wird, wer wie gewählt hat, kann auch niemand deswegen bedroht oder sanktioniert werden. Jeder kann also so wählen, wie er es für richtig hält und wie es seiner Interessenlage entspricht.
***
Als generelle Rechtfertigung des
Mehrheitsprinzips hatte ich zu Anfang angeführt, dass es dringlicher ist, die
Interessen einer Mehrheit zu befriedigen als die einer Minderheit. Bei diesem
Argument bleibt jedoch
unberücksichtigt, dass die Einzelnen von einer
Entscheidung unterschiedlich stark betroffen sein können.
Den Bewohnern von A-Dorf mag es ziemlich egal sein, wo die Kläranlage von B-Dorf
gebaut wird, während für die Bewohner von B-Dorf einiges auf dem Spiel steht.
Macht das Mehrheitsprinzip hier überhaupt Sinn?
Der Platz für die Kläranlage von B-Dorf war nur ein Beispiel für Entscheidungen,
die eine Minderheit stark betrifft und die Übrigen nur am Rande interessiert.
Diese Konstellation ist in komplexen Gesellschaften nun nicht selten, sondern
eher häufig gegeben. (Das war zu Rousseaus Zeiten noch anders.)
Ob Studenten, Rentner, Behinderte, Hundehalter, Beamte, Industriearbeiter,
Unternehmer, Angler, Hessen oder Leipziger: immer handelt es sich um
Minderheiten.
Wenn es um etwas geht, was vorwiegend eine solche Minderheit
betrifft, dann halte ich es für problematisch, wenn darüber nach dem
Mehrheitsprinzip abgestimmt wird
gehe ich modelltheoretisch vor. Modellannahme ist, dass die
Abstimmungsberechtigten so abstimmen, dass das Ergebnis ihren eigenen Interessen
am ehesten entspricht. In Bezug auf das Beispiel "Erhöhung der Hundesteuer"
hieße das: Es gibt eine Volksabstimmung (also keinen Parlamentsbeschluss!) nach
dem Mehrheitsprinzip.
Nach den Modellannahmen würden die Hundehalter gegen die Verdoppelung der
Hundesteuer stimmen (weil sie nicht gerne mehr Steuern zahlen) und die Andern
würden für die Erhöhung stimmen (weil es ihnen nicht wehtut und die öffentlichen
Einnahmen verbessert werden). Die Hundehalter bleiben also in der Minderheit und
die Steuer wird erhöht. Dies ist offenbar kein Resultat, das einer solidarischen
Berücksichtigung aller Interessen entspricht.
Allgemeines Fazit:
Wenn die Individuen von einer Entscheidung
unterschiedlich stark betroffen sind, führt das Mehrheitsprinzip bei
eigeninteressiertem Abstimmungsverhalten nicht zu akzeptablen Ergebnissen. Dies
ist ein gewichtiges Argument gegen die direkte Demokratie.
***
Als Lösung des Minderheitenproblems wurde vorgeschlagen, dass die Wähler nicht nur eigeninteressiert abstimmen, sondern dabei zugleich Regeln der Fairness beachten. Damit ist das Problem jedoch eher größer als kleiner geworden, denn: Was ist "Fairness" ? Wie erreicht man faires Abstimmungsverhalten?
***
Das Mehrheitsprinzip bei Jury-Aufgaben
Obwohl hier das Mehrheitsprinzip
als eine Methode zur Zusammenfassung der individuellen Interessen zu einem
kollektiven Interesse diskutiert wird, kann das Mehrheitsprinzip auch in anderen
Zusammenhängen angewandt werden.
Auf manche empirische Fragen gibt es z. B. keine eindeutige Antwort der
Wissenschaft, so dass mehrere Positionen wissenschaftlich vertretbar bleiben.
Das bekannteste Beispiel hierfür findet sich in Gerichtsprozessen, wo die
Beweislage darüber, ob der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat begangen hat oder
nicht, strittig bleibt. Auch bei Prognosen über zukünftige Entwicklung findet
sich häufig der Streit der Gelehrten.
In solchen Fällen, kann es angebracht sein, zwar nicht über die Wahrheit der
Positionen abzustimmen aber doch darüber, von welcher Position das Kollektiv in
seinem Handeln ausgehen soll.
Die Begründung hierfür hat der französische Aufklärer und Enzyklopädist
Condorcet bereits 1785 geliefert. Wenn man annimmt, dass die Wahrscheinlichkeit
eines Irrtums bei den einzelnen Mitgliedern einer 10-köpfigen Jury z.B. 40 %
beträgt, so beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich eine Mehrheit von 6
Jurymitgliedern irrt, nur 0,4 x 0,4 x 0,4 x 0,4 x 0,4 x 0,4 = 0,004096, also
weniger als ein Prozent (Nach der Regel für die Wahrscheinlichkeit mehrerer
voneinander unabhängiger Ereignisse).
Eine Frage der Politischen Philosophie ist es, ob man die politische Abstimmung
nach dem Mehrheitsprinzip als eine Art Juryentscheidung über die beste Politik
ansehen sollte oder ob man sie als einen Ausdruck der individuellen Interessen
und deren Zusammenfassung zu einem "allgemeinen Interesse" auffassen soll.
Ich neige zum Letzteren, weil die Orientierung am eigenen Interesse auch für die
Wahlentscheidung das entscheidende Motiv zu bilden scheint. Dafür sprechen schon
die Namen mancher Parteien: "Bauernpartei", "Arbeiterpartei",
"Mittelstandspartei" oder ähnliches.
***
Das Mehrheitsprinzip führt zu
akzeptablen Ergebnissen, wenn alle Beteiligten ihre Interessen mit gleichem
Gewicht einbringen können (Jeder hat gleich viele Stimmen zu vergeben) und wenn
die Einzelnen von der anstehenden Entscheidung ungefähr gleichstark betroffen
sind. Außerdem müssen die Abstimmenden über das zur Entscheidung anstehende
Problem (verfügbare Alternativen, langfristige Folgen etc.) einigermaßen
informiert sein und ihre Stimme frei von Sanktionen (Bestechungen, Drohungen)
abgeben können.
Wenn jedoch der Grad der Betroffenheit von einer Entscheidung für die
Abstimmenden sehr unterschiedlich ist, so besteht die Gefahr, dass z.B. eine
schwach interessierte Mehrheit eine elementar betroffene Minderheit überstimmt.
Je stärker der Grad der Betroffenheit zwischen Mehrheit und Minderheit
auseinandergeht und je knapper die Mehrheit ausfällt, umso problematischer ist
das Resultat unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen Berücksichtigung aller
Interessen.
***
Tendenz zur Mitte
Was manche nur als Problem der
SPD sehen ("Sie verabschiedet Richtlinien, die zwar einer Parteimehrheit, nicht
aber der Mehrheit im Volke entspricht" und "Der Kanzler ist im Volk beliebter
als in der eigenen Partei") ist nicht so sehr ein SPD-Problem, sondern ein
Problem, das sich aus den Eigenschaften des Mehrheitsprinzips ergibt. Was ich
meine, ist in dem Satz enthalten: "Wer die Wahl gewinnen will, muss die Mitte
besetzen."
Man kann sich das folgendermaßen veranschaulichen.
Angenommen, die politischen Positionen lassen sich auf einer Links-Rechts-Skala
wiedergeben und wir haben 5 Wähler. Das könnte z. B. so aussehen:
--- A ----B -----------------C---------------------D-----------------------E-----
In diesem Fall ist C der "mittlere" Wähler, genauer: der Medianwähler. Bei rationalem
Abstimmungsverhalten kann nur ein Programm die Mehrheit erhalten, das der
Position von C entspricht.
Angenommen, A und B versuchen
eine Mehrheit mit C zusammen zu bekommen auf der Position x:
--- A ----B -------x---------C---------------------D-----------------------E-----
Dann könnte C seine Position
dadurch verbessern, dass er eine Koalition mit D und E auf seiner Position
zusammenbringt. Ein Programm, das der Position von C entspricht, wäre für D und
E besser als ein Programm, das der Position von x entspricht.
Dies trifft nun in jedem Fall zu. Angenommen D und E versuchen mit C eine
Mehrheit auf der Position y zustande zu bringen:
--- A ----B -----------------C---------------y------D-----------------------E-----
Dann könnte C an A und B ein
Koalitionsangebot auf der Position C machen, das für A und B eine Verbesserung
gegenüber y darstellt.
Am "mittleren" Wähler geht also kein Weg zur
Mehrheit vorbei. Der Grund hierfür ist der, dass die Position C hier die
Mehrheitsalternative bildet, die bei rationalem Verhalten aller Beteiligten das
Ergebnis bildet.
Dies ist die Logik des Mehrheitsprinzips, die bei Wahlen beachtet werden muss,
wenn man Wahlen gewinnen will.
Da aber Parteien nicht nur auf das Ziel ausgerichtet sind, Wahlen zu gewinnen,
sondern auch aus Mitgliedern bestehen, die bestimmte politische Überzeugungen
haben und diese propagiert und verwirklicht sehen möchten, ergibt sich das Phänomen, dass die
erfolgreichen Spitzenkandidaten meist mehr zur Mitte tendieren als ihre Partei.
Dafür ist Angela Merkel ein gutes Beispiel.
Dies erklärt auch, warum die FDP als "Zünglein an der Waage" trotz ihrer
Kleinheit der "Königsmacher" war, als sie noch nicht rechts von der CDU/CSU
angesiedelt war.
Es wäre sicher etwas gewaltsam, wollte man die politischen Alternativen auf eine
Links-Rechts-Dimension reduzieren. Wie sich die Mehrheitsalternative in
mehrdimensionalen Politikräumen darstellt, entzieht sich meiner Kenntnis. Dann
besteht auch die Möglichkeit des sogenannten "Wahlparadoxes", dass es gar keine
Mehrheitsalternative gibt sondern zirkuläre Mehrheiten bestehen.
Man kennt so etwas vom Fußball: Mannschaft A schlägt Mannschaft B. Mannschaft B
schlägt Mannschaft C. Und Mannschaft C schlägt Mannschaft A. Welches ist nun
die "stärkste" Mannschaft?
Ähnliches kann passieren bei Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip, wenn z. B.
die Präferenzen der 3 Abstimmungsberechtigten A, B und C hinsichtlich der zur
Abstimmung stehenden 3 Alternativen x, y und z folgendermaßen aussehen:
A |
B |
C |
|
1.Rang |
x |
y |
z |
2.Rang |
y |
z |
x |
3.Rang |
z |
x |
y |
Für Individuum B ist demnach y die beste und x die schlechteste Alterantive.
Bei paarweiser Abstimmung
ergibt sich:
x gegen y -> 2:1, y gegen z -> 2:1 und z gegen x -> 2:1, also x > y >
z > x.
Das bedeutet, dass wegen zirkulärer Mehrheiten keine Mehrheitsalternative existiert.
In der Praxis spielt dies gewöhnlich keine Rolle, weil das Mehrheitsprinzip
meist mit
einer Status-quo-Klausel verbunden ist, die besagt, dass alles
beim Alten bleibt, wenn keine Alternative gewählt wird.
Allerdings ist Stimmengleichheit von Alternativen, die sogenannte "Pattsituation" in der Politik, eine mögliche Schwierigkeit bei Abstimmungen
nach dem Mehrheitsprinzip.
***
Wir haben in Deutschland gegenwärtig (2010) die
Situation, dass keine Partei alleine
regiere kann und dass deshalb
Regierungskoalitionen gebildet werden müssen. Auf der Ebene der
Koalitionsvereinbarungen werden dann erst die entscheidenden Pakete
geschnürt,
die nur noch von den Fraktionen mit Mehrheit abgesegnet werden müssen.
Das führt dazu, dass die Wahlprogramme der einzelnen Parteien, die dem Wähler
vorgelegt werden, meist Schnee von gestern sind. Dies bedeutet, dass die
Wähler nur sehr indirekt über das Regierungsprogramm abgestimmt haben und dass
die Wähler von der Politik der Koalitionsregierung eher überrascht werden.
In dieser Hinsicht ist das britische Wahlrecht besser, das meist zu klaren
Mehrheiten führt, und wo die siegreiche Partei für die Regierungspolitik voll
verantwortlich ist,
Ich denke, es ist sinnvoll, von der bestehenden politischen Verfassung dieses
Landes auszugehen und zu fragen, was konkret verbessert werden könnte.
In Bezug auf die Einführung beziehungsweise die Erweiterung plebiszitäre
Elemente im Grundgesetz wäre es sinnvoll, solche Entscheidungsbereiche zu
benennen, in denen das Volk direkt befragt werden muss und wo es mehrheitlich
entscheiden sollte.
Mir fallen da z. B. die folgenden Bereiche ein, die für alle von elementarer
Bedeutung sind:
1. Änderungen der Verfassung (mit mindestens 2/3 der Stimmen),
2. Änderungen des sonstigen Wahlrechts,
3. Änderungen des Staatsgebietes oder der Ländergrenzen
4. Zugehörigkeit zu Militärbündnissen.
"Normale" politische Entscheidungen sollten nicht durch Volksentscheide
getroffen werden wegen des Problems, dass eine schwach interessierte Mehrheit
eine elementar betroffene Minderheit überstimmt.
Wie man den Wählern einen direkten Einfluss auf die Regierungsprogramme geben
kann, weiß ich nicht. Die Parteien vermeiden es, sich vor der Wahl auf eine
Koalition fest zu legen. Sie versuchen sich zu profilieren und möglichst viele
Stimmen zu bekommen, um dadurch gestärkt in die Koalitionsverhandlungen zu
gehen. Dies hat eine gewisse Berechtigung, weil ja nicht feststeht, ob eine
beabsichtigte Koalition die Mehrheit im Bundestag bekommen wird. Die Parteien
wollen sich die Möglichkeit offen halten, in diesem Fall die Koalitionsfrage
neu zu stellen.
Vielleicht wäre es Aufgabe einer unabhängigen Presse, die Programmatik bzw.
Nicht-Programmatik der Parteien kritischer zu durchleuchten und genauer
darüber zu informieren, in welchen Punkten Regierungsparteien von ihrer
Programmatik abgewichen sind, um eine Koalition zu bilden.
Bei allen Verfassungsänderungen sollte man sehr gründlich überlegen und eher
zögerlich vorgehen. Diese grundlegenden Prinzipien sollte man nicht alle paar
Jahre umstoßen.
***
Weshalb ich Vorbehalte gegen
Volksentscheide als normales Mittel der Entscheidungsfindung habe:
Entscheidend ist die These, dass das Mehrheitsprinzip zu unterschiedlichen
Ergebnissen führen kann, je nachdem ob die Abstimmungen zusammengefasst werden
oder nicht.
Man lässt z. B. über 10 Punkte zuerst einzeln abstimmen. Dann fasst man die 10
Punkte zusammen und lässt über die entstehenden Alternativenbündel abstimmen.
Nun ergibt sich u. U. ein ganz anderes Resultat. Jetzt kann ein Bündel die
Mehrheit erhalten, das nicht aus den Resultaten der 10 Einzelabstimmungen
besteht!
Der Grund hierfür liegt daran, dass die einzelnen Entscheidungen für die
Abstimmenden von unterschiedlichem Gewicht sind.
Wenn das richtig ist, so bedeutet das einen schwerwiegenden Einwand gegen
punktuelle Abstimmungen.
***
Mir scheint, dass bei uns der
meiste Unmut am politischen System nicht auf das Mehrheitsprinzip als solches
bezogen ist, sondern auf die Mehrstufigkeit des Verfahrens, auf die Probleme
der Vertretung der Bürger durch Berufspolitiker.
Die Politiker sind ja Menschen, die ihre eigenen Interessen haben und
verfolgen und es bedarf erheblicher Anstrengungen, um deren Interessen mit den
Interessen derjenigen, die sie vertreten sollen, einigermaßen zur Deckung zu
bringen. Die Frage ist: Wird in dieser Hinsicht genug getan? Welche
zusätzlichen Anreize und Kontrollen können zu einer Verbesserung der
Repräsentation der Bürger in der repräsentativen Demokratie führen?
Meiner Ansicht nach haben die Medien hier eine besondere Aufgabe, die sich
auch im Berufsethos des Journalisten ausdrücken müsste.
Die Journalisten haben nicht die Aufgabe, selber Politik zu machen zugunsten
dieser oder jener Partei und Richtung, sondern sie haben die Aufgabe, die
gewöhnlich internen politischen Vorgänge in den Parteien, Parlamenten und
Ministerien öffentlich zu machen, die Tätigkeiten der Politiker zu beobachten,
ihre Beziehungen zu Repräsentanten der Wirtschaft oder der großen Verbände
offenzulegen.
Dies kann durch eigene Recherchen oder durch Zusammenarbeit mit forschenden
Wissenschaftlern und sachkundigen Insidern geschehen. Medien, die sich im
Eigentum einzelner Personen oder Gruppen befinden, können dies nur bedingt
leisten.
Nicht der Tendenzjournalismus linker oder rechter politischer Überzeugungen
ist gefragt, sondern die generelle Aufdeckung von verschwiegenen Fakten, von
verdrängten Problemen und von unangenehmen Wahrheiten.
Hier könnte der deutsche Journalismus von der BBC noch manches lernen.
***
Es wird angeführt, dass die
Wahlberechtigten ihre wahren Interessen gar nicht kennen sondern in ihren
politischen Ansichten und Meinungen durch die Medien manipuliert werden.
Diese Kritik am bestehenden politischen System ist weit verbreitet und muss
ernst genommen werden. Was meint man also, wenn man sagt: "Die Wähler sind in
ihrer politischen Meinung manipuliert worden?"
Zum einen ist damit offenbar gemeint, dass die Wähler nicht entsprechend ihrem
wirklichen Interesse wählen.
Diese Aussage setzt jedoch voraus, dass derjenige, der dies behauptet, selber
die wirklichen Interessen der Wähler kennt, denn sonst könnte er ja keine
Abweichung davon feststellen.
Damit stellt sich die erkenntnistheoretische Frage, wie man die wirklichen
Interessen eines Menschen erkennen kann. Ich, der ich ja auch Wähler bin,
würde z. B. bestreiten, dass ich meine wirklichen Interessen nicht erkennen
kann und in meiner Wahlentscheidung durch die Medien manipuliert bin.
Nun könnte jemand sagen: "Dass du glaubst nicht manipuliert zu werden, das
zeigt ja gerade, dass die Manipulation gelungen ist. Natürlich merkt der
Manipulierte selber nicht, dass er manipuliert wurde."
Gegen ein solches "Argument" ist man natürlich machtlos, weil es den andern entmündigt.
Damit hat der andere mich jedes Argumentes beraubt, denn was ich immer ich
sage, ist bereits manipulierte Meinung.
Damit hat er der Diskussion jedoch die Grundlage entzogen und ich kann nur
noch das Gespräch mit ihm beenden.
So einfach geht es also nicht.
Nun könnte jemand sagen: "Du kannst doch nicht bestreiten, dass Deine Meinung
durch die Medien beeinflusst wird, das heißt doch, dass Du in Deiner
Meinungsbildung nicht frei bist."
Dem würde ich entgegenhalten: "Es stimmt zwar, dass ich in meiner politischen
Meinungsbildung beeinflusst werde, aber nicht jede Beeinflussung bedeutet
Manipulation. Beeinflusst werde ich auch durch Argumente, die andere mir
vermitteln und die mir einsichtig sind." So geht es also auch nicht.
Nach Wikipedia bedeutet "Manipulation" im Lateinischen soviel wie "Handhabung". Heute hat das Wort einen abwertenden Beiklang und man versteht
darunter eine gezielte, aber verdeckte Einflussnahme auf das Denken und Meinen
anderer Menschen.
Wenn es stimmt, dass die Mehrheit der Wähler dieses Landes bei politischen
Wahlen in ihrer Entscheidung fremdgesteuert sind, dann wären die Wahlen reines "Theater", so wie es in der DDR mit den
"99-Komma-und-Resultaten" war oder so,
wie es in Syrien gegenwärtig abläuft, wo nur ein Viertel der Abgeordneten
überhaupt gewählt wird.
Trotz berechtigter Kritik an Stimmungsmache und Nicht-Information in
Fernsehen, Rundfunk und Presse kann die Manipulation der Öffentlichkeit durch
das große Geld so erfolgreich doch nicht sein, wenn die Chefs in Wirtschaft
und Politik vor Gerichte und Untersuchungsausschüsse zitiert werden und manche
daraufhin ihren Hut nehmen müssen.
Die Methoden der irrationalen Meinungsmache anzuprangern und zu analysieren,
halte ich für eine der wichtigsten politischen Aufgaben in einer Demokratie.
Das fängt bei der Sprache an, wo jeder hellhörig werden sollte, wenn statt
Information und Fakten nur stark wertende Worte geliefert werden wie z. B. "Terrorist" oder "Befreiungskämpfer".Fazit:
Das Mehrheitsprinzip erfordert Menschen, die zumindest ihre wichtigsten
Interessen erkennen können.
***
Das Resultat einer Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip kann nicht besser sein, als die individuellen Meinungen, die dem Abstimmungsverhalten der Einzelnen zugrunde liegen.
***
Das Einbringen der eigenen Interessen durch die Individuen selber – wie es bei Wahlen geschieht - macht nur Sinn, wenn diese Individuen auch in der Lage sind, ihre eigenen Interessen selber hinreichend zu erkennen.
***
Das
Mehrheitsprinzip ist ein reines Entscheidungsverfahren. Es erzeugt aus sich
heraus noch keinerlei Motivation zur Realisierung der mehrheitlichen
Beschlüsse. Deshalb
kommt nach manch glorreichem Mehrheitsbeschluss für Verbesserungen aller Art
im örtlichen Verein oft die peinliche Frage auf: "Und wer macht es nun? Wer
führt den Beschluss aus?" Im politischen Bereich entspricht das der Frage: "Und wie soll das finanziert werden?"
Hier unterscheiden sich Abstimmungsverfahren stark von Märkten. Bei letzteren
ist durch den Inhalt des Vertrages klar, wer was zu leisten hat, und es gibt
bei den Vertragspartnern die Motivation zur Erfüllung des Vertrages, weil
sonst der Vertragspartner seine Verpflichtung auch nicht erfüllt.
Zum Mehrheitsprinzip
als Entscheidungsregel gehört deshalb immer eine Exekutive, die mit den nötigen Mitteln
zur Durchsetzung bzw. Durchführung der Beschlüsse ausgestattet ist. Dies ist
in Großkollektiven wie den Staaten gewöhnlich ein "öffentlicher Dienst", also
eine Bürokratie, die durch Abgaben der Staatsbürger finanziert wird, und deren
Mitglieder zu diesem "Dienst" im Sinne der mehrheitlichen Beschlüsse motiviert
werden müssen.
Dies ist einer der Gründe, warum Versuche zur "Demokratisierung der
Wirtschaft" mit großen Problemen belastet sind. Man kann ehrgeizige
Wirtschaftspläne aufstellen, aber
wie werden die Menschen
motiviert, diese Pläne zu erfüllen.
Lenin hatte als Vorbild die deutsche Reichspost. Entsprechend erfolglos war
auch die sowjetische Planbürokratie, wo es darum ging, neue Produkte, neue
Vertriebsformen und neue Produktionsverfahren zu entwickeln, die das A und O
einer modernen dynamischen Wirtschaft sind.
***
Im Großen und Ganzen
entspricht die Politik, die von den Parteien propagiert und von der Regierung
gemacht wird, der Verteilung der politischen Ansichten in der deutschen
Bevölkerung.
Der Einfluss der Bevölkerung auf die Politik erschöpft sich nicht im Ausfüllen
des Wahlzettels. Über die Meinungsumfragen werden die Politiker mit den
vorhandenen Ansichten konfrontiert und sie werden sich hüten, diese
vorherrschenden Meinungen zu politischen Fragen zu ignorieren. Im Gegenteil:
manche werfen den Politikern auch "Populismus" und mangelnde "Meinungsführerschaft" vor.
Außerdem gibt es zahlreiche
Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren: Man
kann Parteien beitreten oder auch selber Wählervereinigungen gründen, um seine
Vorstellungen als Wahlalternative einzubringen, man kann Organisationen mit
politisch relevanten Zielsetzungen wie Umweltschutzverbänden, beruflichen
Interessenverbänden, oder lokalen Bürgerinitiativen beitreten, man kann an
politischen Demonstrationen teilnehmen, Leserbriefe schreiben, den
Abgeordneten des eigenen Wahlkreises ansprechen oder im Internet politische
Aufklärung betreiben.
Das klingt alles klingt nicht so großartig, aber die Summe all dieser
Aktivitäten macht eine demokratische politische Kultur aus.
Ich glaube nicht, dass diese Möglichkeiten in Deutschland mit der nötigen
Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden. Bei der Politik hört offenbar für
viele das nüchterne Denken auf und stattdessen finden sich dort unpolitisches "Ohne-mich" -Denken oder aber unbelehrbarer Fanatismus gepaart mit
Verschwörungstheorien.
Es fällt oft nicht leicht, von unterschiedlichen politischen Ansichten aus
sachlich miteinander zu diskutieren. Allzu schnell wird dem Andersdenkenden
aus seiner Position ein Vorwurf gemacht. Nicht selten gibt es auch einen
Gruppendruck, wo es einen gewissen Mut erfordert, der Gruppenmeinung zu
widersprechen und selbstkritische Fragen zu stellen.
***
Ein geradezu erschreckendes
Beispiel für die Abhängigkeit unseres Denkens von der sozialen Umgebung und
für das
Einknicken der Einzelnen und ihrer rationalen Argumente vor der
Gruppenmeinung war die Art, wie auf die Rinderseuche BSE reagiert wurde.
Obwohl sich die Gefahrenlage seit der hysterischen Reaktion vor ein-zwei
Jahren mit völligem Verzicht auf den Verzehr von Rindfleisch nicht wesentlich
verändert hat, wird heute reichlich Rindfleisch konsumiert, ein völlig
irrationales Verhalten.
Das zeigt, wie schwach der Einzelne gegenüber Massenhysterie und Panikmache in
seinem Denken und Handeln auch jetzt noch ist - und dass dies nicht nur ein
Problem der Weimarer Republik war.
Wenn hier etwas mehr Zivilcourage der Einzelnen vorhanden wäre, stünde es um
die politische Kultur in unserm Lande besser.
***
Du schreibst etwas
sarkastisch: "Ein satter Deutscher opponiert nicht." Ganz so unpolitisch sind
die Deutschen wiederum auch nicht. Ein Gegenbeispiel ist die
Studentenbewegung der 60er Jahre, die auch ein Abschnitt meiner politischen
Entwicklung war. Ich war damals nicht unterernährt, was die Kalorien betrifft,
aber ich war unzufrieden. Ich wollte das, für das die Generation unserer
Eltern nicht die Verantwortung übernommen hatte, offen legen, um es produktiv
verarbeiten zu können, und ich wollte alle überkommenen Autoritäten auf ihre
Berechtigung hinterfragen, um Platz für neue Entwicklungen zu schaffen.
Es kommt meines Erachtens im politischen Leben einer Gesellschaft nicht darauf
an, dass alle gewissermaßen in einer politischen Dauermobilisierung verharren,
sondern es kommt darauf an, dass jeder dann, wenn Gefahren für das Gemeinwesen
heraufziehen, rechtzeitig dagegen aktiv wird. In politischen Krisenzeiten
müssen die Bürger die Bereitschaft zum demokratischen Engagement haben,
während bei "normalem" Ablauf der Dinge es genügt, sich zu informieren und die
Dinge aufmerksam zu beobachten.
Zur Kritik an der Kaste der Politiker, die sich "dem Volk" entfremdet haben.
Ich habe als einen Grund hierfür genannt, dass - wegen des geltenden
Wahlverfahrens - für die Regierungsbildung in der Regel Koalitionen
erforderlich sind. Dies bedeutet, dass das Regierungsprogramm erst nach der
Wahl ausgehandelt wird, ohne dass die Wähler darüber noch einmal befinden
können.
Wenn dagegen das Wahlverfahren direkt zur Mehrheit einer Partei führt, wird
der Wille der Wähler direkter in Politik umgesetzt. Dann hat eine Mehrheit
diese Politik gewählt.
***
Wer
ohne eine zusammenhängende Argumentation die auch von mir frei gewählten
Abgeordneten pauschal als "Verbrecher" und "Mafia" beschimpft und mit Dreck
bewirft, der ist für mich kein radikaler Kritiker unserer Gesellschaftsordnung
sondern er ist jemand, der politischen Schaden anrichtet, indem er kostbare
Rechte wie z. B. das allgemeine, gleiche, freie Wahlrecht zu beschädigen
versucht.
Hier hat für mich die
Toleranz ein Ende, ich schaue nicht einfach zu, wenn - auch meine - politische
Freiheit verbal demontiert wird.
***
Du siehst den Fehler beim
Mehrheitsprinzip darin, dass der Kluge und der Dumme in gleicher Weise eine
Stimme haben, und fragst: Wohin soll das führen?
Wenn man die politische
Abstimmung nicht als Urteil über die für alle beste Politik versteht sondern als
Ausdruck des eigenen Interesses (jeder wählt die Partei, deren politische
Absichten mit dem, was er selber will, am ehesten übereinstimmen), dann spielt
die Klugheit keine entscheidende Rolle.
Zu erkennen, ob eine
Politik im Interesse eines Wählers ist, das kann auch ein weniger kluger Wähler
selber in der Regel am besten. Oder weißt Du jemanden, der die Interessen des
Wählers besser kennt als er selbst und deshalb die Stimme für ihn abgeben
sollte?
***
An einen
Kritiker der parlamentarischen Demokratie:
Du bezweifelst die Möglichkeit der Selbstkorrektur
einer Mehrheitsmeinung durch die kritische öffentliche Diskussion.
Eine
solche Änderung der Mehrheitsmeinung hat aber z. B. bei einer so wichtigen Frage wie
der Nutzung von Atomkraftwerken stattgefunden. In den USA
gab es nach der Ära McCarthy und seinem berüchtigten "Komitee für
anti-amerikanische Umtriebe" eine Korrektur in der öffentlichen Meinung und eine
Rehabilitation von Angeschuldigten.
Du behauptest, die Abschaffung von Rechten
in einem demokratischen Staat sei leicht.
Ein Gegenbeispiel ist das Verfahren gegen die NPD vor dem
Bundesverfassungsgericht, wo der Wunsch von Bundesregierung und
Länderregierungen nach einem Verbot dieser Partei wegen Verfassungsfeindlichkeit keineswegs problemlos erfüllt wird.
Du
sagst, dass sich die Parteien gleichen wie ein Ei dem andern.
Ich möchte mal
wissen, was Anhänger der "Linken" und der NPD zu der Behauptung sagen würden, dass
sich beide Parteien gleichen wie ein Ei dem anderen.
Du
bezeichnest jede Art von Eingriff des Staates in das individuelle
Leben als "Repression".
Soll der Begriff dann weiterhin eine Kritik
beinhalten? Wenn ja, dann wäre ein Polizeieinsatz zur Festnahme
eines Mörders für Dich folglich auch Repression und somit zu
kritisieren. Eine Hausdurchsuchung der Polizei ohne richterliche
Anordnung fällt für Dich in die gleiche Kategorie "Repression" wie eine Hausdurchsuchung aufgrund richterlicher Anordnung. Kannst Du
einen Unterschied sehen zwischen den Nacht-und-Nebel-Aktionen der Gestapo und
einer Drogenrazzia?
Du bewertest die
Demokratie extrem negativ, wenn Du sie den "schlimmsten Diktaturen" gleichstellst.
Als Begründung führst Du "die zusätzlichen Repressionen nach dem 11. September"
an sowie die "Kriege, die von der Demokratie geführt" werden.
Wenn ich Deinen
damit angedeutete Gedanken einmal ausformulieren darf, so meinst Du offenbar:
"Die Demokratie ist als Staatsform nicht besser als die schlimmsten Diktaturen,
weil ein demokratischer Staat wie die USA nach dem Anschlag auf das World Trade
Center zusätzliche Unterdrückungsmaßnahmen ergriffen hat und die Kriege gegen
Afghanistan und den Irak geführt hat."
Dem würde ich entgegen halten, dass die
globale Politik gerade nicht demokratisch organisiert ist,
sondern immer noch ein Vielzahl von mehr oder weniger
selbständig handelnden Staaten die Akteure der globalen Politik sind
und dass Konflikte zwischen den Staaten weiterhin in erster Linie
durch Anwendung von Macht entschieden werden, was letztlich
heißt, dass die Konflikte militärisch entschieden werden. Dass ein Staat, der intern demokratisch
verfasst ist, gegenüber anderen Staaten eine am "nationalen
Interesse" orientiert Machtpolitik betreibt, schließt
sich nicht aus, im Gegenteil: es ist eigentlich auch nichts
anderes zu erwarten. Denn bei der demokratischen Wahl der
Regierung eines Landes werden ja die Interessen anderer Staaten und
Völker kaum berücksichtigt und der amerikanische
Präsident stellt sich ja nicht der Weltbevölkerung zur
Wiederwahl sondern den wahlberechtigten US-Amerikanern.
Was Du als Beleg für das schlimmste Versagen
der Demokratie ansiehst, ist für mich umgekehrt ein
zusätzlicher Beleg für die Notwendigkeit demokratischer
Entscheidungsprozesse auch im globalen Maßstab. Leider besteht gegenwärtig
die große Gefahr, dass das zarte und noch schwache Pflänzchen "Vereinte Nationen", in dessen Rahmen eine vorsichtige
Demokratisierung der internationalen Politik begonnen wurde,
durch die gegenwärtige amerikanische Regierung
selbstherrlich geknickt wird.
Wir sind uns darin einig,
dass auch demokratisch verfasste Staaten nicht zu rechtfertigende Kriege
führen. So haben die USA in der Verfolgung
ihres "nationalen Interesses" wiederholt in Mittel- und
Südamerika in einer Weise militärisch interveniert, dass man über
deren völkerrechtliche und moralische Berechtigung
geteilter Meinung sein kann. Krass gesprochen könnte sogar die
interne Willensbildung einer Räuberbande nach dem
Mehrheitsprinzip organisiert sein.
Allerdings hat ein demokratischer Staat, in
dem Meinungsfreiheit herrscht, gegenüber einer
Diktatur den Vorteil, dass die Kriegsgegner ihre Kritik an
der Politik der eigenen Regierung öffentlich bekunden dürfen
und dass auch ausländische Kritik veröffentlicht werden
darf. Dadurch bleibt eine Selbstkorrektur der
Mehrheitsmeinung möglich im Unterschied zur Diktatur, in der
Kriegsgegner wegen "Wehrkraftzersetzung" hingerichtet werden und
in der das Abhören ausländischer Sender als "Verbreitung von Feindpropaganda" unter Strafe steht.
Du stellst fest, dass Demokratien in der Lage sind, "die Rechte einzuschränken".
Demgegenüber würde ich
betonen, dass es nirgends so schwer ist, Rechte - wie z. B. das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken
- wie in einer konstitutionellen, parlamentarische
Demokratie. In der Bundesrepublik müsste es dazu eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im
Bundesrat geben, der Bundespräsident müsste unterschreiben und das Verfassungsgericht müsste eine Klage dagegen
abweisen. Das sind nicht gerade leicht zu überwindende
Hindernisse.
Du hältst die Rechte in einer Demokratie nur für "Zuckerbrot".
Dies Bild stammt aus der Tierdressur, wo mit "Zuckerbrot und Peitsche" ein Tier gefügig gemacht wird, und wo die
Peitsche immer drohend im Hintergrund steht, falls das
Zuckerbrot nicht wirkt.
Die Argumentation mit Bildern und Metaphern
ist zwar rhetorisch wirkungsvoll und sprachlich ein
belebendes Element, ist jedoch der Wahrheitsfindung in einer
Diskussion nicht unbedingt förderlich. Die von Dir benutzte
Metapher beinhaltet einerseits eine starke negative Wertung der
Grundrechte ohne aber andererseits konkret anzugeben, an
welchen Sachverhalten sich diese Wertung festmacht. Wenn ich gegen
diesen Vergleich sagen würde: "Das Recht auf freie
Meinungsäußerung ist doch kein 'Zuckerbrot!' ", dann könntest Du immer
sagen: "So ist es ja nicht gemeint: es ist ja ein bildhafter
Vergleich." Und da nicht klar ist, wieweit der Vergleich geht
und ab wann der Vergleich "überstrapaziert" wird, bleibt die
genaue Begründung der in dem Bild enthaltenen Abwertung aus.
Ich könnte nur sagen: Dein bildhafter
Vergleich des politischen Willensbildungsprozesses in einer
Demokratie mit einer Tierdressur "hinkt auf allen vier
Beinen" (aber halt: ich wollte ja auf Metaphern verzichten) also
neu formuliert: Dein bildhafter Vergleich wird den wirklichen
Verhältnissen nicht gerecht. Das Recht auf freie
Meinungsäußerung ist keine Belohnung, die irgendwer den Bürgern gewähren
oder vorenthalten kann, um sie sich gefügig zu
machen. Dies Grundrecht ist eben nicht in dieser Weise für
irgendjemanden verfügbar.
Du schreibst weiter, dass Demokratien in der
Lage sind, "die Repressionen zu erhöhen".
Meine Frage ist:
Was meinst Du mit
"Repression"?
Das zugehörige Verb heißt im Lateinischen soviel wie "zurückdrücken" und "repressor"
heißt "Unterdrücker". Wenn jemand von "staatlichen
Repressionen" spricht, so enthält dies einen stark negativen Unterton. Leider geht diese implizite negative
Bewertung mit einer relativ unbestimmten deskriptiven Bedeutung
des Begriffes einher. Ist jede polizeiliche Anwendung von
Zwang eine "Repression"? Ist die unter Einsatz von
Schusswaffen erfolgte Festnahme eines Mörders ebenso eine "staatliche Repression" wie die ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl
vollzogene nächtliche Stürmung der Wohnungen
von Oppositionspolitikern?
Wenn die politischen Verhältnisse mit dem
Begriff "Repression" beschrieben werden, so ist die
Unterscheidung zwischen der gerechtfertigten Anwendung staatlichen Zwanges
zur Durchsetzung legitimierter Normen und der
außergesetzlichen Anwendung staatlicher Gewalt gegen bestimmte Bürger
nicht möglich. Auf diese
Unterscheidung kommt es jedoch gerade an.
Zu Deiner Frage, "ob die
Verletzung von Grundrechten und der Abbau von Demokratie nicht ein Wesen der
Demokratie selbst ist."
Dies kann so generell wohl nicht zutreffen, weil Staaten
wie die USA, Großbritannien, Frankreich oder Schweden bereits seit Jahrzehnten
demokratisch verfasst sind und immer noch den Kernbestand dessen besitzen, der
für mich eine Demokratie ausmacht: eine legale Opposition zur Regierung, die das Recht hat, sich eigenständig zu organisieren, ihre
Positionen zu veröffentlichen und nach dem nächsten Wahltermin selber die
Regierung zu bilden, falls eine Mehrheit der Wähler dafür stimmt.
Andererseits neigen Mächtige eher dazu, ihre Macht auszuweiten als sie
freiwillig wieder abzugeben - auch in demokratischen Systemen. Gegen diese
Tendenz gibt es vor allem ein Mittel: eine wachsame Öffentlichkeit, die
jeden Versuch der regierenden Kräfte, demokratische Rechte und Kontrollen im
eigenen Interesse abzubauen, bereits in den Anfängen entgegentritt.
Wenn das "Ermächtigungsgesetz" erst einmal verabschiedet ist, ist es zu
spät, um einen Hitler auf dessen Worte festzulegen: "Nun, deutsches Volk,
gib uns vier Jahre Zeit, und dann richte selbst!". Da war bereits das
Tausendjährige Reich angebrochen.
***
Voraussetzungen der Demokratie
Politische Systeme sind keine Exportgüter. Man kann sie
auch nicht in beliebige andere Länder verpflanzen. Sie müssen in der Kultur des
Landes verankert sein.
Eine parlamentarische Demokratie setzt bestimmte Elemente einer politischen
Kultur voraus:
Wenn es Sinn haben soll, nach der Zahl der Individuen zu entscheiden
(Mehrheitsprinzip), dann müssen die Individuen auch als Personen so unabhängig
sein, dass sie selber entscheiden wollen und können. Wo dagegen das Individuum
völlig im ethnischen Verband der Familie, der Verwandtschaft oder des Stammes
aufgeht, kann keine Demokratie bestehen.
Wenn bei den einzelnen Bürgern kein selbständiger
Wille existiert, dann lässt sich daraus
auch kein kollektiver Wille ableiten. Wo die sozialen Verbände das
Individuum völlig einbinden, ist für eine öffentliche Debatte kein Platz.
Wo die Medien nur Sprachrohr der jeweiligen Verbände (Sippen, Religionen,
Stämme, Ethnien) sind und keine unabhängige, gruppenübergreifende Kritik üben,
da kann auch keine Demokratie gedeihen.
Wo die familiären und stammesbezogenen Loyalitäten der Individuen stärker sind
als deren Identifizierung mit der staatlichen Verfassung, kann es keine
Verwaltung (Justiz, Armee, Polizei, Behörden) geben, die der gewählten Regierung
gegenüber loyal und gesetzestreu handelt.
Wo der Einzelne ohne die Unterstützung durch die familiären und ethnischen
Verbände nicht selbständig überleben kann, da kann
er auch in seinem Denken und Wollen nur unter Schwierigkeiten selbständig sein.
Wo allein Autorität Quelle der Wahrheit ist und unabhängige Argumente nicht
zählen, da fehlt die ergebnisoffene Diskussion und die Lernfähigkeit, die
Demokratien auszeichnet.
Wo der andere nicht in erster Linie Mitbürger ist, sondern entweder "einer von
uns" oder "einer von den andern", da geht der Rechtsstaat unter.
Wo keine Gemeinsamkeit der Interessen besteht, wo kein Minimum an Vertrauen
unterden politischen Akteuren besteht, da kann auch die Abhaltung von Wahlen nicht
viel bewirken. helfen. Wahlen können immer als "gefälscht" beiseite geschoben
werden.
Wer die Regeln einer demokratischen Verfassung nicht bejaht sondern sie nur
parteiisch benutzt, der gibt die einmal durch Wahl gewonnene Macht am Ende seiner Amtszeit
nicht wieder an die Bürger zurück.
Der
entscheidende Test für das Bestehen einer demokratischen politischen Kultur ist
der freiwillige Rücktritt einer Regierung von der Macht, wenn sie keine Mehrheit
mehr hinter sich hat. Solange in einem Staat noch nie eine Regierung
abgewählt wurde, hat eine
Demokratie ihre Feuerprobe noch nicht bestanden.
Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Mehrheitsprinzip *** (349 K) (1976)
Demokratie verstehen ** (94 K)
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Letzte Bearbeitung 25.04.2010 / Eberhard Wesche
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