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Demokratietheorie - Ideengeschichte

 

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Inhalt:

Die Ideen der Aufklärung
Naturrechtliche Ideen
Der Ursprung der staatlichen Souveränität
Das Recht des Volkes, sich selber eine Verfassung zu geben
Die gleichberechtigte Mitwirkung an der Gesetzgebung
Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrages



Textanfang


Die Ideen der Aufklärung

Den geistigen Ursprung der modernen Theorie der Demokratie bildeten – also abgesehen von den klassischen griechischen Philosophen - die Ideen der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert vor allem in England und Frankreich entwickelt wurden. "Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen, alles sollte seine Existenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder auf die Existenz verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt." 1)

So schrieb Denis Diderot (1713 - 84) in der "Enzyklopädie" (die 17 Bände der "Enzyklopädie" erschienen zwischen 1751 und 1764): "Heute, da die Philosophie mit großen Schritten fortschreitet und ihrer Herrschaft alle Gegenstände in ihrem Bereich unterwirft, da sie tonangebend ist und da man das Joch der Autorität und des Vorbilds abzuwerfen beginnt, um sich an die Gesetze der Vernunft zu halten, gibt es kaum noch ein elementares Lehrbuch, von dem man völlig befriedigt ist. Man findet, dass diese Produkte auf den Fiktionen der Menschen, nicht aber auf den Wahrheiten der Natur beruhen."  2)

Die absolutistischen oder feudalen Staaten ihrer Zeit erschienen den Enzyklopädisten keineswegs als "vernünftig". Wie konnten Menschen als vernünftige Wesen jemals einer politischen Ordnung zustimmen, in der einige alle Rechte und Reichtümer besaßen und die andern nur Gehorsam schuldeten? Staaten waren durch Menschen geschaffen. Menschen sind jedoch vernünftige Wesen und streben von Natur aus nach ihrem Glück.

So schrieb der britische Philosoph John Locke (1632 -1704) gegen Ende des 17. Jahrhunderts: "Die Natur hat den Menschen den Wunsch nach Glück und den Widerwillen gegen das Elend mitgegeben. Es sind dies angeborene, grundsätzliche Einstellungen zum Leben, die unser Leben, die unsere Handlungen immer wieder und unaufhörlich beeinflussen." 3)

Ähnliches formulierten die französischen Enzyklopädisten. Diderot schrieb z. B.: "Alle Menschen sind sich einig in dem Wunsch nach Glück." 4)

Naturrechtliche Ideen

Zugleich stand für die Aufklärer fest, dass die Menschen von Natur aus frei und mit gleichen Rechten ausgestattet sind. Sie vertraten eine Theorie des "Naturrechts". So heißt es in der "Enzyklopädie" unter dem Stichwort "politische Autorität" : "Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, den anderen Menschen zu gebieten. Die Freiheit ist ein Geschenk des Himmels, und jedes Individuum derselben Art hat das Recht, sie zu genießen, sobald es Vernunft besitzt." 5)

Auch Locke hatte diese ursprüngliche Freiheit der Menschen im so genannten "Naturzustand" behauptet: "Um die politische Autorität ('power') richtig zu verstehen und sie aus ihrem Ursprung abzuleiten, müssen wir berücksichtigen, in welchem Zustand sich alle Menschen von Natur aus befinden, und das ist ein Zustand völliger Freiheit, ihre Handlungen zu steuern und über ihre Besitztümer und Personen zu verfügen, wie sie es für richtig halten, innerhalb der Grenzen des Naturrechts ('law of nature') ..." Wenn die Menschen aber von Natur aus frei und gleich sind, so kann es nach Auffassung der Aufklärer nur dadurch zu einer rechtmäßigen politischen Autorität über diese Menschen kommen, dass sie selber der Errichtung dieser Autorität zustimmen: "Insofern die Menschen ... von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand aus diesem Zustand entfernt und der politischen Autorität ('power') eines andern unterworfen werden ohne seine eigene Zustimmung, was dadurch geschieht, dass er mit andern Menschen übereinkommt, sich in einer Gemeinschaft zusammenzuschließen und zu vereinigen." 6)


Der Ursprung der staatlichen Autorität

Die Rechtfertigung des Anspruchs auf Gehorsam durch die vertragliche Übereinkunft der ursprünglich freien Menschen war ein durchgehendes Denkmuster der Aufklärer. So schrieb Rousseau (1712 -78) in seinem "Gesellschaftsvertrag": "Da kein Mensch eine natürliche Gewalt über seinesgleichen hat, und da die Stärke kein Recht gewährt, so bleiben folglich die Verträge als die einzige Grundlage jeder rechtmäßigen Gewalt unter den Menschen übrig." 7)

In der "Enzyklopädie" hieß es unter dem Stichwort "Souveräne" : "Im Naturzustand kennt der Mensch keinen Souverän, jedes Individuum ist einem andern gleichgestellt und genießt die vollkommenste Unabhängigkeit ... Bald darauf bemerkte man aber Folgendes: wenn jeder weiterhin seinen Willen ausübte, seine Kräfte und seine Unabhängigkeit geltend machte und seinen Leidenschaften freien Lauf ließe, so wäre die Lage jedes Individuums unglücklicher, als wenn es für sich lebte. … Man sah also ein, dass jeder Mensch auf einen Teil seiner natürlichen Unabhängigkeit verzichten müsste, um sich einem Willen zu unterwerfen, der den der ganzen Gesellschaft repräsentierte und der sozusagen der gemeinsame Mittelpunkt und der Sammelpunkt aller ihrer Willensäußerung wäre. Das ist der Ursprung der Souveräne. Man sieht, dass ihre Macht und ihre Rechte nur auf der Zustimmung der Völker beruhen." 8) 


Das Recht des Volkes, sich selber eine Verfassung zu geben

Vor dem Hintergrund der Probleme, die der Zustand natürlicher Freiheit mit sich bringt, erscheint die Errichtung einer politischen Autorität oder Macht, der die freien Individuen dann gehorchen, als eine vernünftige Entscheidung.

Allerdings lässt sich für die Aufklärer nicht jede Form politischer Herrschaft als Resultat eines Vertrages zwischen freien und vernünftigen Individuen deuten. Zum Beispiel lassen sich Despotismus, Sklaverei und Absolutismus ihrer Ansicht nach dadurch nicht rechtfertigen.

In der "Enzyklopädie" heißt es: "Bei der Gründung der Gesellschaft haben die Menschen auf einen Teil der Unabhängigkeit, in der die Natur sie zur Welt kommen ließ, nur deshalb verzichtet, um sich die Vorteile zu sichern, die sich aus ihrer Unterwerfung unter eine rechtmäßige und vernünftige Autorität ergeben; sie haben niemals beabsichtigt, sich vorbehaltlos willkürlichen Herrschern auszuliefern, der Tyrannei und der Unterdrückung Vorschub zu leisten und anderen das Recht zu verleihen, sie unglücklich zu machen." 9)

Rousseau schreibt zur Sklaverei: "Die Behauptung, ein Mensch verschenke sich unentgeltlich, ist eine unbegreifliche Albernheit; eine solche Handlung ist schon deswegen ungesetzlich und nichtig, weil derjenige, der sich dazu hergibt, nicht bei gesunder Vernunft ist. Wer dies einem ganzen Volk nachsagt, muss es für ein Volk von Verrückten halten. Verrücktheit verleiht kein Recht ... Kurz, es ist ein nichtiger und mit sich selbst in Widerspruch stehender Vertrag, auf der einen Seite eine unumschränkte Macht und auf der andern Seite einen schrankenlosen Gehorsam festzusetzen." 10)

Bereits bei Locke hieß es mit kritischen Seitenblick auf Thomas Hobbes (1588 - 1679), dass die absolute Monarchie unvereinbar mit einer staatsbürgerlichen Gesellschaft ('civil society') sei. "Denn es ist das Ziel der staatsbürgerlichen Gesellschaft, die Missstände des Naturzustandes zu vermeiden, die sich notwendig daraus ergeben, dass jedermann Richter in eigener Sache ist, indem eine anerkannte Autorität errichtet wird, an die sich jeder richten kann, wenn ihm ein Schaden zugefügt wurde oder wenn ein Streit entsteht, und der jedes Mitglied der Gesellschaft gehorchen sollte. Wo immer es jedoch irgendwelche Personen gibt, für die keine derartige Autorität existiert, an die sie sich wenden können, um irgendwelche Differenzen zwischen sich zu entscheiden, dort sind diese Person noch im Naturzustand. Und dies gilt für jeden absoluten Fürst in Bezug auf jene, die seiner Herrschaft unterliegen." 11)
Die Idee einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes schlug sich in den Proklamationen der amerikanischen und der französischen Revolution nieder.

So heißt es in der von Thomas Jefferson (1743 - 1826) verfassten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776:

"Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich:
          dass alle Menschen gleich geschaffen sind;
          dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind;
          dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören;
          dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten;
          dass wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solche Grundsätze aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glücks geboten zu sein scheint." 12)

In der dreizehn Jahre später - also 1789 - von der französischen Nationalversammlung angenommen "Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers" heißt es ganz ähnlich:
            "1. Die Menschen werden frei und mit gleichen Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur auf den gemeinsamen Nutzen gegründet sein.
            2. Der Endzweck aller politischen Vereinigungen ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, der Widerstand gegen Unterdrückung.
            3. Der Ursprung der Souveränität liegt seinem Wesen nach beim Volke. Keine Körperschaft, kein Einzelner kann eine Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich hiervon ausgeht." 13)

Die Übereinstimmung zwischen der französischen und der amerikanischen Proklamationen der Menschenrechte ist nicht zufällig, da es zahlreiche, auch persönliche Verbindungen gab. So war Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und spätere Präsident der Vereinigten Staaten, amerikanischer Botschafter in Frankreich. Jefferson beriet den Marquis de Lafayette, der den Antrag auf die Verkündung der Menschenrechte stellte und der im Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer mitgekämpft hatte. Jefferson war auch befreundet mit Thomas Paine (1737 - 1809), dem Verfasser der populären "Rights of Man". Paine war Engländer, der 1774 nach Amerika ging und dort publizistisch und politisch im Sinne der Unabhängigkeitsbewegung aktiv war. Sein Buch, das 1791 erschien, war eine Entgegnung auf Edmund Burkes (1729 - 97) konservative Kritik an der französischen Revolution. Paine war selber 1792 Abgeordneter von Calais in der französischen Nationalversammlung.

Mit diesen Proklamationen war zumindest im Prinzip der verfassunggebenden Gewalt der Staatsbürger zum Durchbruch verholfen worden. Dies bedeutete jedoch noch nicht notwendig "Demokratie" im Sinne einer Gesetzgebung durch die Bürger.


Die gleichberechtigte Mitwirkung an der staatlichen Gesetzgebung

Im Verlauf der Jahrhunderte hat es innerhalb der Vertragstheorie Entwicklungen von der absoluten Monarchie hin zu demokratischen Inhalten ergeben. Für Hobbes, dessen "Leviathan" 1651 erschien, und der den Naturzustand als einen Krieg aller gegen aller auffasste, war es vernünftig, dass sich sämtliche Individuen einer Macht unterwerfen, der sie alle Rechte abtreten. Dieser Vertrag jedes Individuums mit jedem anderen lautet: "Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtretest. Auf diese Weise werden alle Einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen" 14).

Gegen diese höchste Gewalt, den Staat, gab es nach Hobbes keine Rechte der Staatsbürger mehr, denn die höchste Gewalt ist selber nicht vertragsschließende Partei. Es "schließt ja derjenige, welchem die höchste Gewalt übertragen wird, mit denen, die sie ihm übertrugen, eigentlich keinen Vertrag, und folglich kann er kein Unrecht tun, weswegen ihm die höchste Gewalt genommen werden dürfte" 15). Es gibt also bei Hobbes gegen die einmal errichtete höchste Gewalt kein Widerstandsrecht.

Dies ist bei Locke, dessen "Zwei Abhandlungen" rund 40 Jahre  später (1690) veröffentlicht wurden, bereits anders. Im Naturzustand gibt es für Locke nicht nur den Konflikt eigeninteressierter Individuen wie bei Hobbes, denn bereits im Naturzustand gilt das natürliche Gesetz der Vernunft, oder wie man heute sagen würde, die Moral, die verlangt, dass, "da alle gleich und unabhängig sind, niemand dem andern, seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll." 16)

Allerdings reicht für Locke die moralische Vernunft zur Sicherung dieser Werte nicht aus, "denn obwohl das Naturrecht für alle vernünftigen Geschöpfe klar und verständlich ist, so werden die Menschen doch durch ihre Interessen beeinflusst." 17) "Die Unzuträglichkeiten, denen sie (im Naturzustand) ausgesetzt sind durch die unregelmäßige und unbestimmte Ausübung der Macht, die jeder Mensch hat, die Übertretung anderer zu bestrafen, veranlassen Sie, zu den festen Gesetzen der Regierung ihre Zuflucht zunehmend, um dort Schutz und Erhaltung ihres Eigentums (also Leben, Freiheit und Besitz) zu suchen."

Während für Hobbes das Ziel der Individuen bei der Errichtung der politischen Körperschaft allein der Friede zwischen ihren Mitgliedern ist und ansonsten die Inhalte der Herrschaft nicht weiter bestimmt sind, besteht für Locke das Ziel, das die Individuen mit der Errichtung einer politischen Körperschaft verfolgen, in der besseren Sicherung der naturrechtlich gegebenen Rechte jedes Individuums auf Leben, Freiheit und Besitz. Folglich ist auch die gesetzgebende Gewalt an die Beachtung dieser moralischen Rechte gebunden: "Obwohl die Legislative die höchste Gewalt in jedem Staat ist, so ist sie doch erstens nicht eine absolute, willkürliche Gewalt über Leben und Vermögen des Volkes, noch kann sie es sein. ... Ihre Gewalt, in ihren äußersten Grenzen, ist beschränkt auf das öffentliche Wohl der Gesellschaft ... Die Verpflichtungen des Naturrechts hören nicht in der Gesellschaft auf, sondern werden in vielen Fällen nur enger gezogen und haben durch menschliche Gesetze anerkannte Strafen hinzugefügt, um ihre Erfüllung zu erzwingen." 18)

Locke hält deshalb eine absolute Monarchie mit dem staatsbürgerlichen Zustand für unvereinbar und er bestätigt deshalb ein Recht auf Widerstand: "Jeder, der in seiner Autorität über die ihm gesetzlich eingeräumte Macht hinausgeht ... hört in dieser Beziehung auf, Obrigkeit zu sein; und da er ohne Autorität handelt, darf ihm Widerstand geleistet werden." 19)

Trotzdem kann auch Locke noch nicht eigentlich als ein demokratischer Theoretiker angesehen werden. Zwar vertritt er das Prinzip der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes und er verpflichtet den Gesetzgeber auf die Beachtung des allgemeinen Wohls, aber eine Mitwirkung der Bürger an der Gesetzgebung ist für ihn nicht notwendig. Wenn die Bürger z. B. als gesetzgebende Gewalt eine Versammlung eingesetzt hatten, so besaßen sie kein Recht mehr, daran etwas zu ändern: "Wenn die Gesellschaft die Gesetzgebung irgendeiner Versammlung von Männern zugesprochen hat, damit sie bei diesen und ihren Nachfolger verbleibe, dann kann die Gesetzgebung niemals zum Volk zurückkehren, solange diese Regierung besteht, denn dadurch, dass es die gesetzgebenden Gewalt mit der Macht ausgestattet hat, für immer zu dauern, hat es seine politische Macht an die Legislative abgegeben und kann sie nicht wieder erlangen." 20) 

Im Prinzip kann also nach Locke auch eine erbliche Monarchie als gesetzgebende Gewalt Gehorsam verlangen, sofern sie nur Leben Freiheit und Eigentum der Bürger schützt.


Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrages

Der entscheidende Durchbruch zur Mitwirkung der Bürger an der Gesetzgebung geschieht - zumindest auf dem Boden der Vertragstheorie des Staates - bei Rousseau. Dort schließen sich die ursprünglich freien und gleichen Individuen in einem Gesellschaftsvertrag zu einer politischen Einheit zusammen. Dieser Vertrag lässt sich in die Worte fassen: "Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens ("volonté générale"), und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf. ... An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragsschließenden setzt solcher Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen Gesamtkörper, dessen Mitglieder aus sämtlichen Stimmabgebenden bestehen und der durch eben diesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen erhält." 21)

Im Unterschied zu Hobbes wird der Friede zwischen Individuen also nicht dadurch erreicht, dass sich alle einem Dritten unterwerfen sondern dadurch, dass alle sich der Gesamtheit und deren Willen, der volonté générale, unterwerfen. Die Notwendigkeit der Lenkung des Gemeinwesens durch den "allgemeinen Willen" ist für Rousseau eine notwendige Konsequenz aus dem Zweck, mit dem dieses Gemeinwesen durch die Individuen gegründet wurde, nämlich zur Förderung des gemeinsamen Interesses.

So stellt er fest, "dass allein der allgemeine Wille die Kräfte des Staates dem Zwecke seiner Einrichtung gemäß leiten kann, der im Gemeinwohl besteht. ... Erst die Übereinstimmung der gleichen Interessen (hat die Errichtung der Gesellschaften) ermöglicht. … Gäbe es nicht irgendeinen Punkt, in dem alle Interessen übereinstimmen, so könnte keine Gesellschaft bestehen. Einzig und allein nach diesem gemeinsamen Interesse muss die Gesellschaft regiert werden. ... Nur dadurch aber, dass die Gesamtheit der Bürger das Gemeinwesen leitet, ist sichergestellt, dass das gemeinsame Interesse sich durchsetzt. Wenn dagegen die gesetzgebenden Macht an Teile der Gesellschaft abgetreten wird, so wird sich deren besonderer Wille und nicht der allgemeine Wille durchsetzen", denn es kann "jeder einzelne Mensch als Mensch einen besonderen Willen haben, der dem allgemeinen Willen, den er als Staatsbürger hat, zuwider läuft." 22)

Weiter heißt es: "Ist es auch nicht unmöglich, dass der Wille eines Einzelnen in irgend einem Punkte mit dem allgemeinen Willen übereinstimme, so ist es wenigstens unmöglich, dass diese Übereinstimmung von dauerndem Bestand sein könnte, denn seiner Natur nach strebt der Wille des Einzelnen nach Vorteilen, der allgemeine Wille dagegen nach Gleichheit." 23)

Im Unterschied zu Locke besteht Rousseau deshalb darauf, "dass die Staatshoheit, die nichts anderes als die Ausübung des Allgemeinen Willens ist, nie veräußert werden kann und dass sich das Staatsoberhaupt als ein kollektives Wesen nur durch sich selber darstellen lässt. ... (Das Staatsoberhaupt) kann nicht sagen: 'Ich werde auch morgen wollen, was dieser Mensch will', da es sinnlos ist, dass sich der Wille schon für die Zukunft fesselt, und es nicht in der Gewalt irgendeines Willens steht, in etwas einzustimmen, was dem Wohl des wollenden Wesens widerspricht." 24) 

Die gesetzgebenden Gewalt muss nach Rousseau also beim ganzen Volke liegen, gleichgültig ob die Regierung als die rechtmäßige Ausübung der vollziehenden Gewalt nun von einem, von wenigen oder von den meisten Bürgern durchgeführt wird. Damit geht  Rousseau über die Position Lockes hinaus und begründet das Recht aller Bürger zur Gesetzgebung, was als notwendiges Element von Demokratie im Sinne von "Volksherrschaft" angesehen werden muss.

Die Position Rousseaus fand Ausdruck in Artikel 6 der französischen "Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers" von 1789: "Das Gesetz ist Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Staatsbürger haben das Recht, an seiner Bildung  persönlich oder durch ihre Stellvertreter mitzuwirken."

Georg Wedekind, ein Mainzer Arzt und Anhänger der Französischen Revolution, der selbst bei der Mainzer Revolution mitgewirkt hat, schrieb 1793 in seinem Kommentar zur französischen Menschenrechtserklärung: "Die Erhaltung der natürlichen Menschenrechte, unter welchen die Freiheit obenan steht, war der erste Zweck der Verbindung einzelner Familien zu einem Staat, der erste Zweck zur Einrichtung der Regierungen. Auf diesen Zweck müssen alle bürgerlichen Einrichtungen hinwirken; unmöglich kann das aber geschehen, wenn sie nicht lediglich das Werk derjenigen sind, welcher Rechte sie versichern sollen. Sollte daher ein Volk frei sein, so darf es niemand sonst als sich selbst zum Gesetzgeber haben. Das Vermögen, sich selbst Gesetze vorzuschreiben, ist der Schild der Freiheit; überlässt das Volk diese Schutzwehre an andere, so stürzt es sich in Sklaverei. Aus dieser Wahrheit lässt sich folgern, welche Regierungsform das Volk annehmen müsse, um glücklich zu sein? Diejenige, worin man sich selbst zu gehorchen hat, die Demokratie." 25)
Die Begründung der Demokratie durch "unveräußerliche", durch keine staatliche Gesetzgebung abschaffbare Menschen- und Bürgerrechte sowie die Rechtfertigung politischer Autorität aus der Zustimmung der Staatsbürger spielen noch heute eine wichtige Rolle.

Dies wird deutlich, wenn man sich existierende Verfassungen ansieht, wie z. B. das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In dessen Präambel heißt es, dass "das deutsche Volk ... kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik beschlossen" hat. Und in Artikel 1 heißt es: "Das deutsche Volk bekennt sich .. zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten."

***


Fußnoten:

1) Friedrich Engels, "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" 1892, zitert nach dem Wiederabdruck in: Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Bd. II , S.107
2) Denis Diderot, wiederabgedruckt in M. Naumann (Hg.): Artikel aus der von Diderot und D'Alembert herausgegebenen "Enzyklopädie", Reclam jun., Leipzig 1972, S. 41
3) John Locke: Essays, Bd. 1
4) in Naumann S.
5) a.a.O. S. 116
6.) John Locke, Two Treatises of Government, Cambridge University Press 1965, Second Treatise, chapter VII, section 90
7.) Jean Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag "Contrat social", Stuttgart: Reclam 1968, S. 35
8.) in Naumann S. 948 
9.) in Naumann S. 885
10.) Rousseau S. 36
11.) Locke, Two Treatises, S. 394f.
12.) in H.-H. Hartwig u. a. (Hg.): Politik im 20. Jahrhundert. Braunschweig 1968, S. 76
13.) in Hartwig u. a. S. 77
14.) Thomas Hobbes, Leviathan, Harmondsworth 1968, S. 227
15.) Bergsträsser, A. u. D. Oberndörfer (Hg.): Klassiker der Staatsphilosophie, S. 170
16.) in Klassiker S. 184 
17.) in Klassiker S. 188
18.) in Klassiker S. 195
19.) in Klassiker S. 209
20.) Locke, Two Treatises, S. 477
21.) Rousseau S. 44
22.) Rousseau S. 47
23.) Rousseau S. 55
24.) Rousseau S. 54 ff.
25.) Zitiert nach Garber, S. 48.

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Klassische Vertragstheorie: Hobbes - Locke - Rousseau * (13 K)
   
Demokratie bei Rousseau ** (24 K)
    Liberalismus und allgemeines gleiches Wahlrecht * (17 K)

 

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Letzte Bearbeitung 11.11.2012 / Eberhard Wesche

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