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Liberalismus und allgemeines gleiches Wahlrecht
Inhalt:
Theorie und
Praxis der politischen Gleichberechtigung
James Madison: Die Gefahr durch Interessengruppen
Kants Argumente gegen ein allgemeines gleiches Wahlrecht
Das Wahlrecht in der
"Paulskirchen-Verfassung" von 1849
Textanfang:
Theorie und Praxis der politischen Gleichberechtigung
Ende des 18. Jahrhunderts war mit den Schriften von Jean-Jacques Rousseau
(1712-78) , Denis Diderot (), William Godwin ()
und Jeremy Bentham (1748 - 1832) ein Programm formuliert, auf das sich im 19. Jahrhundert alle
sozialen Gruppen beim Kampf um gleiche Bürgerrechte berufen konnten: die
Schwarzen in den USA beim Kampf um die Abschaffung der Sklaverei, die
Industriearbeiter und Frauen beim Kampf um das gleiche Wahlrecht und die
Kolonien beim Kampf um ihre nationale Selbstständigkeit.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verschärften sich jedoch im Zuge der
kapitalistischen Industrialisierung die sozialen Probleme, die im Folgenden von
den politischen Theoretikern thematisiert wurden:
So verstärkte sich die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zwischen
den arbeitenden und den besitzenden Teilen der Bevölkerung, verbunden mit einer
rapiden Zunahme des Anteils der Lohnarbeiter. Das führte zu Befürchtungen vor
allem liberaler Theoretiker, dass die Majorisierung durch eine politisch
gleichberechtigte Klasse von Arbeitern zur Enteignung der Besitzenden, zur Abschaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und
generell zu einer Herrschaft der Ungebildeten führen würde.
Vor dem Hintergrund dieser Befürchtungen diskutierten die Vertreter der
liberalen Demokratie im 19. Jahrhundert Fragen des Wahlrechts, der Funktion von
Volksvertretungen und des Schutzes von Minderheiten durch in der Verfassung
verankerte Beschränkungen des Mehrheitswillens.
Der historische Verlauf der Kämpfe, die von der Arbeiterbewegung und der
Frauenbewegung um das allgemeine gleiche Wahlrecht geführt wurden, soll hier
nicht näher beschrieben werden. Festzuhalten ist nur, dass die Liberalen des 19.
Jahrhunderts in der Regel keineswegs Anhänger eines allgemeinen, gleichen
Wahlrechts waren, sondern das Wahlrecht an Besitz oder Bildung knüpfen wollten.
In der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789 heißt es: "Die
Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es." (Artikel 1 der
französischen Erklärung der Menschenrechte).
Aber diese scheinbar auf völlige politische Gleichberechtigung aller Individuen
hinzielende Bestimmung wurde in den konkreten Verfassungsbestimmungen gewöhnlich
wieder eingeschränkt, was sich vor allem an der Gewährung des Wahlrechts zeigte.
So schränkte die französische Verfassung von 1791 das Wahlrecht auf die "aktiven
Staatsbürger" ein. Aktive Staatsbürger waren nur Männer über 25 Jahren, die seit
einem Jahr ihren Wohnsitz in Frankreich hatten, nicht als Diener in einem
Haushalt angestellt waren und die eine jährliche direkte Steuer zahlten, die dem
Verdienst von drei Tagen eines ungelernten Arbeiters entsprach. (Sektion II,
Art. 2)
Die amerikanische Verfassung von 1787 trifft keine einheitliche Regelung des
Wahlrechts. Wahlberechtigt zum Repräsentantenhaus sollen diejenigen sein, die
bereits wahlberechtigt sind für die gesetzgebende Körperschaft des jeweiligen
einzelnen Staates. Die Bestimmungen in den einzelnen Staaten waren dabei sehr
unterschiedlich. Sklaven, nicht besteuerte Indianer und Frauen waren überall
ausgeschlossen. Um 1796 verlangten 11 der 18 Staaten, die damals der Union
angehörten, den Nachweis von Grundbesitz, um zur Wahl der Unterhausabgeordneten
qualifiziert zu sein. In der vielleicht noch demokratischsten
Verfassung des Staates Pennsylvania von 1776 waren allein männlichen
Steuerzahler über 21 Jahre wahlberechtigt.
James Madison: Die Gefahr durch Interessengruppen
Bereits James Madison, der maßgeblich an der Formulierung der amerikanischen
Verfassung beteiligt war, schrieb in den "Federalist Papers", einer 1788 zur
Unterstützung des amerikanischen Verfassungsentwurfes herausgegebenen Reihe von
Aufsätzen, von der Gefahr der "faction", was man im Deutschen vielleicht am
besten mit "parteilicher Interessengruppe" umschreiben kann. Unter einer "faction"
verstand Madison "eine Anzahl von Bürgern, sei es nun eine Mehrheit oder eine
Minderheit des Ganzen, die durch ein gemeinsames Gefühl oder Interesse vereinigt
und angetrieben werden, das den Rechten anderer Bürger oder den langfristigen
und zusammengefassten Interessen der Gemeinschaft zuwider läuft." (The Federalist
Papers, ausgewählt und herausgegeben von Roy P. Fairfield, Doubleday New York
1961, S. 17. Eigene Übersetzung).
Madison schreibt: "Wenn eine Mehrheit eine parteiliche Interessengruppe ("faction")
bildet, ermöglicht ihr die Form der Volksregierung ..., ihrem bestimmendem
Gefühl oder Interesse sowohl das Gemeinwohl (public good) als auch die Rechte
anderer Bürger zu opfern." (Federalist Papers S. 19)
Im Unterschied zu Mill will Madison dies Problem jedoch nicht durch
Diskriminierungen im Wahlrecht lösen, sondern er sieht die Lösung in einer
repräsentativen und föderalistischen Verfassung, bei der die Macht der Mehrheit
durch ein kompliziertes System von Kontrollen und Gegengewichten ("checks and
balances") begrenzt ist, das durch wechselseitig abhängige politische
Institutionen gebildet wird.
Kants Argumente gegen ein allgemeines gleiches Wahlrecht
Ein gutes Beispiel für die Vorbehalte gegen das allgemeine gleiche Wahlrecht ist die Argumentation Kants,
der in seiner "Metaphysik der Sitten" von 1797 zuerst ganz im Sinne Rousseaus schreibt: "Die
gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen." (Immanuel
Kant, Werke. Herausgegeben von W. Weischedel, Suhrkamp Frankfurt a.M. 1977, Band
8, S. 432. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.)
Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder eines solchen Staates nennt Kant "Staatsbürger". Kant fährt fort: ".. Die rechtlichen, von ihrem Wesen unabtrennlichen Attribute (der Staatsbürger) sind gesetzliche Freiheit ..,
bürgerliche Gleichheit..., das Attribut der bürgerlichen
Selbstständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderem
im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen
Wesens verdanken zu können." Nur die in diesem Sinne Selbstständigen können nach Kant
aktive
Staatsbürger sein.
Zur näheren Bestimmung der passiven Staatsbürger ohne aktive
Mitwirkungsrechte an der Gesetzgebung führt Kant aus: "Der Geselle bei einem
Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienst des
Staates steht) - [wie Kant selbst, E.W.]; der Unmündige..; alles Frauenzimmer,
und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der
Verfügung anderer (außer der des Staates) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung
und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit." (S. 433)
Interessant ist dann, wie Kant diese politische Diskriminierung der
wirtschaftlich Unselbstständigen mit der Gleichheit und Freiheit aller Menschen
als Vernunftwesen zu vereinbaren sucht: "Diese Abhängigkeit von den Willen
anderer, und Ungleichheit, ist gleichwohl keineswegs der Freiheit und Gleichheit
derselben als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen: Vielmehr kann
bloß den Bedingungen derselben (also der Freiheit und Gleichheit als Menschen)
gemäß, dieses Volk ein Staat werden, und in eine bürgerlicher Verfassung
eintreten.
In dieser Verfassung aber das Recht der Stimmgebung zu haben, das ist
Staatsbürger, nicht bloß Staatsgenosse zu sein, dazu qualifizieren sich nicht
alle mit gleichem Recht. Denn daraus, dass sie fordern können, von allen anderen
nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als passive Teile des
Staates behandelt zu werden, folgt nicht das Recht, auch als aktive Glieder den
Staat selbst zu behandeln, zu organisieren oder zur Einführung gewisser Gesetze
mitzuwirken: sondern nur, dass, welcher Art die positiven Gesetze, wozu sie
stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen (Gesetzen) der Freiheit und
der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volk, sich nämlich aus diesem
passiven Zustand zu dem aktiven empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein
müssen." (S. 433 ff.)
Wenn jemand also in seiner wirtschaftlichen Existenz vom Willen eines anderen
abhängt, für den zu arbeiten er sich verpflichtet hat, so fehlt ihm nach Kant
die bürgerliche Selbstständigkeit. Damit zeigt sich, dass er kein
selbstständiger, aus eigenem Willen handelnder Teil des Volkes sein will. Diese
Selbstständigkeit ist jedoch die Bedingung für ein Stimmrecht bei der
Gesetzgebung, denn die Stimmabgabe soll der Ausdruck eines freien, unabhängigen
Willens sein. Allerdings muss jedem die Möglichkeit gegeben werden, sich zum
Zustand der wirtschaftlichen Selbstständigkeit empor zu arbeiten.
Mit dieser Konstruktion waren die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung dieser
Zeit, die Frauen und die Lohnarbeiter von der Mitwirkung an der Gesetzgebung
ausgeschlossen, wobei die Logik der Argumentation keineswegs überzeugen kann.
Denn warum muss jemand, der gegen Lohn seine Arbeitskraft einem anderen zur
Verfügung stellt, deshalb notwendig auch seine aktiven Bürgerrechte verlieren?
Wenn die
aktiven Staatsbürger verbindliche Gesetze auch für die übrige Bevölkerung
erlassen können, so entfällt außerdem die von Kant gegebene Begründung für die
gesetzgebende Gewalt des ganzen Volkes. Kants Begründung dafür, dass die
gesetzgebende Gewalt nur dem vereinigten Willen des ganzen Volkes zukommen
dürfe, war gewesen, dass das Volk in dem, was es über sich selbst beschließt,
kein Unrecht tun könne. Nun sind aber die Individuen, die keine aktiven
Staatsbürger sind, den Beschlüssen der aktiven Staatsbürger ausgesetzt, so dass
die einen den anderen auch nach Kants eigenem Verständnis allerdings Unrecht
antun können.
Das Wahlrecht in der "Paulskirchen-Verfassung" von 1849
Argumentationen, wie die Kants, spielten noch weit in das 19. Jahrhundert eine
Rolle in Deutschland. So legte die Verfassungskommission der
Frankfurter
Nationalversammlung Anfang 1849 einen Wahlrechtsentwurf vor, in dem Dienstboten,
Handwerksgehilfen, Fabrikarbeiter, Tagelöhner und Bezieher von
Armenunterstützung vom Stimmrecht ausgeschlossen waren. Nach
diesem Entwurf hätten nur etwa 11 bis 12 Prozent der Bevölkerung das Wahlrecht
gehabt.
Gegen diesen Entwurf gab es zahlreiche Proteste und im März 1849 wurde
die Entscheidung für die Aufnahme eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts
(allerdings nur für Männer) in den Verfassungstext getroffen. Diese so genannte
"Paulskirchen-Verfassung" trat jedoch wegen der Niederschlagung der
Revolutionsversuche in Deutschland nie in Kraft, und bereits im Mai 1849 wurde
in Preußen das Drei-Klassen-Wahlrecht eingeführt, bei denen die Wähler
entsprechend ihrer Steuerleistung in drei Klassen eingeteilt wurden.
Das Misstrauen gegen
die Macht der Mehrheit, insbesondere was mögliche staatliche Eingriffe in den
privaten Verfügungs- und Eigentumsbereich betrifft, ist das Leitmotiv der
liberalen Demokratietheoretiker und ihre Überlegungen gehen deshalb gewöhnlich
in Richtung einer Kontrolle bzw. Abschwächung dieses Mehrheitswillens. Hier
spielt neben der Gewaltenteilung die repräsentative Verfassung, also der
Parlamentarismus, eine wichtige Rolle.
Literatur:
R.P. Fairfield (ed.):The Federalist Papers. , New York 1961, Doubleday Anchor
Book
Immanuel Kant. Werke in 12 Bänden. Hrsg. W. Weischedel. Frankfurt a. M.
Suhrkamp
1977
***
Siehe auch die folgenden
thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Demokratie bei J.St. Mill * (18 K)
Demokratie - Ideengeschichte * (28 K)
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Wahlrecht"
Letzte Bearbeitung 25.05.2008 / Eberhard Wesche
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