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Rawls: Theorie der Gerechtigkeit

 Darstellung und Kritik


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Inhalt:

Rawls als Vertreter einer modernen Vertragstheorie
Der "Schleier des Nichtwissens" im Urzustand
Die Entscheidung über die grundlegenden Prinzipien der Gesellschaftsordnung
Die Charakterisierung der Ausgangsposition als "fair"
Das "Prinzip der gleichen Freiheit" (principle of equal liberty)
Das "Differenz-Prinzip" (difference principle)
Das Maximin-Kriterium
Die Kritik von Rawls am Nutzenmaximum

Kritische Anmerkungen

Anhang
 


Textanfang:

Rawls als Vertreter einer modernen Vertragstheorie


Die von John Rawls entworfene Theorie der Gerechtigkeit, die er 1971 unter dem Titel "A Theory of Justice" vorlegte, wurde in bewusster Absetzung vom Utilitarismus konzipiert und versteht sich selber in der Tradition der Vertragstheorie: "Mein Ziel ist es, eine Konzeption der Gerechtigkeit darzustellen, welche die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrages, wie sie etwa bei Locke, Rousseau und Kant vorgefunden wird, verallgemeinert und auf ein höheres Abstraktionsniveau hebt." (S.11. Zitate nach der englischen Ausgabe bei Oxford University Press 1973, eigene Übersetzungen.)

Gemäß  der Theorie des Gesellschaftsvertrag besteht der Maßstab für die Rechtfertigung und Kritik einer politischen Ordnung in der Frage: "Hätte diese politische Ordnung aus einer vertraglichen Übereinkunft von freien und rational ihre Interessen verfolgenden Individuen hervorgehen können?" Im Mittelpunkt der Vertragstheorie steht also der Begriff der vertraglichen Übereinkunft bzw. des vertraglichen Konsens.

Letztlich muss sich nach Auffassung der Vertragstheoretiker jede politische Ordnung aus der (zumindest denkbaren) freien Zustimmung der betreffenden Individuen ableiten lassen. Nur dann lässt sich die Verpflichtung der Individuen zur Einhaltung der geltenden politischen Normen auf eine (zumindest denkbare) freiwillige Selbstverpflichtung der Individuen zurückführen.

Die Idee, politische Ordnungen an der Frage zu messen, ob sie in dieser Form hätten einstimmig beschlossen werden können, erscheint als ein ethisch zumindest plausibler Ansatzpunkt. Das Hauptproblem der Vertragstheorie besteht jedoch darin, dass eine vertragliche Übereinkunft nicht frei ist "vom stummen Zwang der Verhältnisse" : Je unerträglicher der vertragslose Zustand für jemanden ist, desto größere Konzessionen wird er bei den Vertragsverhandlungen machen.

Die Anstrengungen der Vertragstheoretiker zielen deshalb vor allem darauf, das Problem der ungleichen Verhandlungsmacht und der daraus resultierenden "ungleichen" Verträge zu lösen.

Rawls bemüht sich in seiner Theorie der Gerechtigkeit deshalb darum, die Situation der vertraglichen Übereinkunft so zu gestalten, dass dieser Kritik der Boden entzogen wird.

Der "Schleier des Nichtwissens" im Urzustand (original position)

Dazu ändert Rawls die Situation, in welcher der Vertrag geschlossen wird. Rawls bezeichnet diese Situation als "original position". In der deutschen Ausgabe seines Werkes wird dies nicht sehr glücklich mit "Urzustand" übersetzt. Rawls schreibt dazu: "Dieser Urzustand entspricht dem Naturzustand der traditionellen Vertragstheorie." (S.12) Der Urzustand ist jedoch kein früher historischer Zustand sondern "wird als eine rein hypothetische Situation aufgefasst, in der niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klassenzugehörigkeit oder seinen sozialen Status kennt. Noch kennt irgend jemand sein Schicksal bei der Zuteilung natürlicher Vermögen und Fähigkeiten wie Intelligenz, Körperkraft und ähnlichem." (S.12)

Die Individuen treffen also ihre Entscheidung hinter einem "Schleier des Nichtwissens" ("veil of ignorance" ) über ihr eigenes späteres Los bei der Verteilung sozialer oder natürlicher Güter. Deshalb "haben die beteiligten Parteien keine Basis für Verhandlungen im üblichen Sinne … und niemand ist in der Lage, Prinzipien zum eigenen Vorteil zu schneidern." (S.139) "Der Schleier des Nichtwissens macht die einstimmige Wahl einer bestimmten Konzeption von Gerechtigkeit möglich." (S.140)

Rawls setzt für die Entscheidung rationale Individuen voraus. "Rationalität" heißt hier nur, dass die Individuen kein Interesse in Bezug auf das Wohlergehen anderer Individuen haben und dass sie die geeigneten Mittel für gegebene Ziele wählen, vergleichbar dem homo oeconomicus der ökonomischen Theorie.

Der Ausgang der Übereinkunft hängt jetzt nicht mehr vom unterschiedlichen Machtpotenzial der Beteiligten ab, wie Rawls betont, sondern "stellt eine echte Versöhnung der Interessen dar." (S.142) Rawls entkräftet also die Kritik an der Vertragstheorie, indem er die Übereinkunft nicht unter den Zwängen eines vorstaatlichen Naturzustandes stattfinden lässt, sondern in einer "rein hypothetischen" Ausgangsposition, in dem ein "Schleier des Nichtwissens" über ihre zu erwartende persönliche Lage die Individuen daran hindert, in die Übereinkunft ihre besonderen persönlichen Interessen einzubringen.

Die Entscheidung über die grundlegenden Prinzipien der Gesellschaftsordnung

Der andere Unterschied zwischen der traditionellen Vertragstheorie und Rawls' Theorie der Gerechtigkeit besteht darin, dass Rawls die Übereinkunft im Urzustand nicht als einen Vertrag auffasst, "um in eine bestimmte Gesellschaft einzutreten oder eine bestimmte Regierungsform zu errichten." (S.11) Der Urvertrag bezieht sich stattdessen nur auf bestimmte "Prinzipien der Gerechtigkeit für die Grundstruktur der Gesellschaft" (S.11), während Konkretisierungen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung späteren Stufen der Übereinkunft vorbehalten bleiben: "Wir müssen uns demgemäß vorstellen, dass diejenigen, die die gesellschaftliche Zusammenarbeit eingehen wollen, diejenigen Prinzipien wählen, die die Grundrechte und Grundpflichten sowie die Aufteilung der sozialen Vorteile festlegen." (S.12) "Wenn über die Gerechtigkeitskonzeption entschieden ist, können wir annehmen, dass die Individuen eine Verfassung wählen sollen, eine gesetzgebende Instanz usw., alles im Einklang mit den Prinzipien der Gerechtigkeit, auf die man sich anfangs geeinigt hat. Unser sozialer Zustand ist gerecht, wenn er so ist, dass wir in dieser Folge hypothetischer Übereinkünfte dasjenige allgemeine System von Regeln vereinbart hätten, das unsere soziale Ordnung ausmacht." (S.13)


Die Charakterisierung der Ausgangsposition als "fair"

Rawls nennt seine Theorie auch eine Theorie der "Gerechtigkeit als Fairness" (" justice as fairness" ), denn die Zustimmung zu den Prinzipien der Gerechtigkeit erfolgt in einer fairen Ausgangssituation, die niemandem einen Vorteil einräumt und allen die gleichen Chancen gibt. Die Fairness wird durch den Schleier des Nichtwissens erzeugt, der die Individuen an der Identifizierung ihres persönlichen Interesses hindert. Bei der Entscheidung über die Prinzipien der Gerechtigkeit kennen die Individuen nur allgemeine Fakten und Theorien der Soziologie, Politik, Ökonomie oder Psychologie, aber sie wissen nichts Konkretes über ihre eigene persönliche Situation. (S.134)

Die interessante Frage ist, welchen Prinzipien freie und gleiche Personen unter Bedingungen der Fairness zustimmen würden. Welche normativen Grundprinzipien erweisen sich unter den Bedingungen des Urzustandes als konsensfähig? Grundsätzlich stehen ja die unterschiedlichsten moralphilosophischen Prinzipien zur Auswahl: utilitaristische Konzeptionen, die an einer maximalen Bedürfnisbefriedigung orientiert sind, perfektionistische Konzeptionen, für die die bestmögliche Vervollkommnung menschlicher Fähigkeiten entscheidend ist, intuitionistische Konzeptionen, die von einer Liste intuitiv einsichtiger Prinzipien ausgehen, oder egoistische Konzeptionen, die dem Einzelnen gestatten, seine eigenen Interessen zu verfolgen.


Das "Prinzip der gleichen Freiheit" (principle of equal liberty)

All diese genannten ethischen Konzeptionen wären für die Individuen in der beschriebenen Ausgangssituation nach Rawls' Auffassung jedoch nicht akzeptabel. Stattdessen würden die Individuen sich für zwei normative Prinzipien entscheiden: "Das erste erfordert Gleichheit in der Zuteilung von grundlegenden Rechten und Pflichten, während das zweite bestimmt, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten, z. B. Ungleichheiten in Bezug auf Reichtum und Autoritätsstellung, nur dann gerecht sind, wenn sie in ausgleichenden Vorteilen für jedermann, insbesondere für die am schlechtesten gestellten Mitglieder der Gesellschaft, resultieren." (S.15)

Das erste Prinzip, das Rawls auch das "Prinzip der gleichen Freiheit" nennt, lautet in der genauen Formulierung: "Jede Person soll ein gleiches Recht auf das umfassendste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten haben, das mit einem entsprechenden System der Freiheit für alle vereinbar ist." (S.60)

Als Beispiel für derartige Grundfreiheiten nennt Rawls aktives und passives Wahlrecht, Freiheit der Meinungsäußerung und Versammlung, Freiheit des Gewissens und des Denkens, Freiheit vor willkürlicher Verhaftung aber auch das Recht persönliches Eigentum zu besitzen. "Entsprechend dem ersten Prinzip müssen alle diese Freiheiten gleich sein, denn die Bürger einer gerechten Gesellschaft sollen die gleichen Grundrechte haben." (S.61)


Das Differenz-Prinzip (difference principle)

Das zweite Prinzip lautet: "Soziale und ökonomische Ungleichheiten sollen so beschaffen sein, dass sie zum größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten sind, und an Ämter und Stellungen geknüpft sind, die allen offen stehen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit." (S.83) 

Mit diesem Prinzip können Unterschiede bezüglich des Reichtums oder des sozialen Ansehens gerechtfertigt werden. 

Rawls verdeutlicht das Differenz-Prinzip, demgemäß soziale Ungleichheiten zum Vorteil der jeweils am schlechtesten Gestellten sein müssen, anhand einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung: "Jene, die in einer auf Privateigentum basierenden Demokratie zur Unternehmer-Klasse gehören, haben bessere Aussichten als jene, die in der Klasse der ungelernten Arbeiter beginnen. … Was kann dann möglicherweise diese Art von anfänglicher Ungleichheit der Lebensaussichten rechtfertigen? Gemäß dem Differenz-Prinzip ist diese Ungleichheit der Erwartungen nur dann zu rechtfertigen, wenn sie zum Vorteil des typischen ungelernten Arbeiters ist. Die Ungleichheit der Erwartungen ist nur dann zulässig, wenn eine Verminderung dieser Ungleichheit die Arbeiterklasse noch schlechter stellen würde." (S.78)  Rawls lässt allerdings offen, ob Letzteres der Fall ist.

Soweit die Erläuterung der beiden Gerechtigkeitsprinzipien, die nach Rawls rationale Individuen im Urzustand wählen würden. Hinzuzufügen ist noch, dass das Prinzip der gleichen Freiheit immer Vorrang besitzt gegenüber dem Differenz-Prinzip. Das heißt, dass Freiheitsbeschränkungen nicht mit der Verbesserung der sozialen oder ökonomischen Lage von Individuen gerechtfertigt werden können.

Wie begründet Rawls nun die Wahl gerade dieser zwei normativen Prinzipien? Warum wählen die Individuen z. B. nicht das utilitaristische 'Prinzip des maximalen Durchschnitts-Nutzens', welches fordert, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, dass die durchschnittliche Bedürfnisbefriedigung der Individuen möglichst groß ist?

Die Begründung, die Rawls hierfür gibt, ist relativ kompliziert und, wie er zugesteht, keineswegs eine streng logische Ableitung aus den Annahmen über den Urzustand und das Entscheidungsverhalten der Individuen (S.123).

Nach Rawls Auffassung würde sich ein repräsentatives Individuum im Urzustand erstmal für das Prinzip der Gleichverteilung entscheiden. "Weil es für (das repräsentative Individuum) keinen Grund gibt, mehr als einen gleichen Anteil bei der Verteilung der sozialen Güter zu erwarten, und da es von ihm nicht rational wäre, sich mit weniger zufrieden zu geben, ist es für das Individuum sinnvoll, als erstes Prinzip eines zu akzeptieren, das Gleichverteilung fordert: … Die Parteien starten mit einem Prinzip, das sowohl gleiche Freiheit für alle errichtet, einschließlich der Chancengleichheit, als auch eine gleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen. Aber es gibt keinen Grund, warum diese Billigung endgültig sein sollte. Wenn Ungleichheiten in der Grundstruktur existieren, die bewirken, dass jedermann besser gestellt wird im Vergleich zum Maßstab der anfänglichen Gleichheit, warum sollen sie nicht zugelassen sein?" (S.151)

Dabei werden die Individuen dem 'Prinzip der gleichen Freiheit' Vorrang gegenüber den Fragen des materiellen und sozialen Wohlergehens einräumen. Allerdings schränkt Rawls ein, dass diese Priorität erst ab einem bestimmten Niveau des materiellen Lebensstandards wirksam wird: "Wenn Personen im Urzustand davon ausgehen, dass ihre Grundfreiheiten wirksam ausgeübt werden können, werden sie nicht eine verminderte Freiheit für eine Verbesserung ihres wirtschaftlichen Wohlergehens eintauschen, zumindest dann nicht, wenn einmal ein bestimmtes Niveau des Reichtums erreicht ist. Nur wenn die gesellschaftlichen Umstände eine wirksame Realisierung dieser Rechte verhindern, kann man ihre Beschränkung billigen. Die Verweigerung gleicher Freiheiten kann nur akzeptiert werden, wenn sie notwendig ist, um die Qualität der Zivilisation in der Weise zu erhöhen, dass in der Folge die gleichen Freiheiten von allen genossen werden können." (S.542).

Damit begegnet Rawls dem Einwand, dass Menschen, die vor der Wahl stehen, entweder zu verhungern oder ihre politischen Grundfreiheiten zu verlieren, sicherlich das Letztere wählen werden. Offenbar meint Rawls, dass bei einem bestimmten Grad der Ausstattung mit materiellen Gütern Sättigungsphänomene auftauchen, so dass der Wunsch nach möglichst umfassenden Freiheiten in den Vordergrund tritt: "In dem Maße, wie sich die zivilisatorischen Umstände verbessern, verringert sich für uns der Wert weiterer ökonomische und sozialer Vorteile im Vergleich zum Interesse an Freiheit …" (S.542) "Unter günstigen Umständen nimmt das fundamentale Interesse an der Selbstbestimmung unseres Lebensplanes schließlich einen erstrangigen Platz ein." (S.43)


Das Maximin-Kriterium

Neben dieser Vorrangstellung für die Grundfreiheiten ist das Eigentümliche an der Rawlsschen Konzeption, dass für die Beurteilung von Gesellschaftsordnungen nur die Lage der jeweils am schlechtesten gestellten sozialen Gruppe berücksichtigt werden muss. Rawls hat dies Verfahren entsprechend dem Sprachgebrauch der Entscheidungstheorie "Maximin-Kriterium" genannt.

Das Maximin-Kriterium ist ein gebräuchliches Kriterium für Entscheidungen unter Ungewissheit. Es besagt, dass man in einer solchen Situation diejenige Strategie wählen soll, deren schlechtestes Resultat verglichen mit den schlechtesten Resultaten aller andern möglichen Strategien immer noch das beste ist. Das-Kriterium fordert also eine Entscheidung für das Maximum der Minima, daher der Name "Maximin-Kriterium". [Ein Beispiel zur Erläuterung: Das Maximin-Kriterium wählt bei der Entscheidung zwischen den zwei Zahlenfolgen {3, 17, 19} und {4, 5, 6} die letztere aus, denn deren kleinste Zahl, die "4", ist immer noch größer als die kleinste Zahl der ersteren Folge, die "3".]

In der Spieltheorie wird das Maximin-Kriterium zum Beispiel bei Spielen zwischen zwei Gegnern als rationale Strategie angenommen. So muss ich etwa beim Schachspiel in meinen Überlegungen davon ausgehen, dass mein Gegner von allen ihm möglichen Schachzügen immer diejenigen ausführen wird, die mir die größten Verluste beibringen.

Die Frage ist, warum Rawls meint, dass es für die Individuen im Urzustand rational ist, gesellschaftliche Ordnungen nur nach der für sie schlechtesten Möglichkeit zu beurteilen. Wie lässt sich eine derart vorsichtige und defensive Strategie begründen? Warum maximieren die Individuen nicht ihren zu erwartenden Nutzen, indem sie diejenige Gesellschaft mit dem höchsten durchschnittlichen Niveau des Wohlergehens wählen, wie es etwa utilitaristischen Vorstellungen entsprechen würde?

Die Kritik von Rawls am Prinzip des Nutzenmaximums

Rawls' Hauptargument für sein Differenz-Prinzip und gegen das Prinzip der Maximierung des durchschnittlichen Nutzens besagt, dass für eine Kalkulation des Durchschnittsnutzens im Urzustand die nötigen Informationen fehlen. Da die Individuen hier noch nichts über die Art der möglichen Gesellschaften, die in ihr existierenden Positionen und die zahlenmäßige Aufteilung der Individuen auf diese Positionen wissen, können sie nach Ansicht von Rawls nicht die Kalkulationen vornehmen, die für eine Berechnung des Durchschnittsnutzens notwendig wären.

Doch wie Barry dargelegt hat, geht dieses Argument an der Sache vorbei. Zwar habe Rawls den Schleier des Nichtwissens im Urzustand auch über die Beschaffenheit der möglichen Gesellschaften gelegt, aber das sei noch kein Grund, sich nicht für das Prinzip der Maximierung des zu erwartenden durchschnittlichen Nutzens zu entscheiden, solange es nur um die Entscheidung zwischen normativen Grundprinzipien und nicht um die Entscheidungl zwischen konkreten Gesellschaftsordnungen geht (Brian Barry: The Liberal Theory of Justice. Oxford 1973, S.92) "Die radikale Ungewissheit im Urzustand kommt an einer falschen Stelle, um Rawls' Argument für dessen Maximin-Kriterium zu stützen. Um wirklich ein Argument dafür zu haben, müsste Rawls sagen, dass die Bedingungen, unter denen das gewählte Kriterium angewandt werden soll, derart sind, dass die Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten (mit denen man in bestimmte soziale Position gelangen wird) unmöglich ist." (Barry, S.92) Um das utilitaristische Kriterium auf die Wahl einer Gesellschaftsordnung anwenden zu können, benötigt man in der Tat die Kenntnis der darin existierenden Positionen und deren zahlenmäßige Aufteilung auf die Individuen. Man benötigt dies jedoch noch nicht für die
Auswahl der Grundprinzipien.

Das andere Argument von Rawls besteht darin, dass "die Individuen durch die Anwendung des Maximin-Kriteriums ein befriedigendes Mindestmaß des Wohlergehens für sich sicherstellen können und geschützt sind vor völlig unakzeptablen Resultaten, wie sie etwa mit dem (utilitaristischen) Prinzip des durchschnittlichen Wohlergehens verbunden sein können." (S.154): "Zum Beispiel wurde manchmal die Ansicht vertreten, dass unter bestimmten Bedingungen das Nutzenprinzip - wenn nicht Sklaverei und Knechtschaft - so doch zumindest ernste Beeinträchtigungen der Freiheit rechtfertigen kann zum Zwecke größerer sozialer Vorteile. … Da die (Parteien) jedoch die Alternative der zwei Prinzipien der Gerechtigkeit haben, die ein befriedigendes Minimum sicher stellen, erscheint es unklug wenn nicht irrational für sie, zuzulassen, dass diese (unakzeptablen) Resultate eintreten können." (S.156)

Hinzu kommt nach Rawls, dass Übereinkünfte, die für einige Beteiligte extrem schlechte Folgen haben könnten, schwerer einzuhalten und deswegen instabiler sind: "In dieser Hinsicht haben die beiden Prinzipien der Gerechtigkeit einen entscheidenden Vorteil. Die Parteien schützen nicht nur ihre Grundrechte sondern sie sichern sich auch gegen die schlimmsten Eventualitäten ab. Sie gehen kein Risiko ein, für ihr ganzes Leben an Freiheit zu verlieren, um des größeren Gutes will, das von anderen genossen wird, ein Versprechen, das sie in Wirklichkeit vielleicht gar nicht halten können. … Vereinbarungen dieser Art übersteigen die menschlichen Fähigkeiten." (S.176) "Das Nutzenprinzip scheint eine größere Identifikation mit den Interessen anderer zu verlangen als die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit. Dadurch werden die letzteren eine stabilere Konzeption (der Gerechtigkeit) sein in dem Maße, wie das Erreichen dieser Identifikation mit den Interessen anderer mit Schwierigkeiten verbunden ist." (S.174)

"Gemäß dem Nutzenprinzip sollen wir die größeren Vorteile anderer als hinreichende Begründung ansehen für niedrige Erwartungen hinsichtlich unseres ganzen Lebens. Dies ist sicherlich ein extremes Verlangen. In der Tat, wenn die Gesellschaft aufgefasst wird als System der Zusammenarbeit, entworfen um das Wohl ihrer Mitglieder zu fördern, so erscheint es recht unglaubwürdig, dass von einigen Bürgern erwartet wird, dass sie schlechtere Lebensaussichten um anderer willen akzeptieren. … Die Parteien begreifen, dass es höchst unklug wenn nicht irrational wäre, Prinzipien zu wählen, die derart extreme Konsequenzen haben können, dass sie diese in der Praxis nicht akzeptieren könnten. Sie würden das Nutzenprinzip verwerfen und die realistischere Idee aufnehmen, die sozialer Ordnung nach einem Prinzip des wechselseitigen Vorteils zu gestalten." (S.178)

An diesen Passagen wird noch einmal deutlich, dass Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit vor allem als eine Alternative zum Utilitarismus entworfen hat, demgemäß eine Gesellschaft dann gerecht ist, wenn sie zum möglichst großen durchschnittlichen Wohlergehen der Individuen führt. Rawls ist der Ansicht, dass utilitaristische Konzeptionen die politischen Grundfreiheiten nicht hinreichend sichern können, da diese Freiheiten im Prinzip immer aufgehoben werden können mit der Begründung, die Aufhebung diene dem größeren Wohlergehen der Gesamtheit.

Mit dem gleichen Hinweis auf das Wohlergehen der Gesamtheit könnten vom Utilitarismus auch schwere und lebenslange Opfer von Teilen der Gesellschaft gefordert werden. Beide Möglichkeiten sollen durch die Prinzipien der Gerechtigkeit ausgeschlossen werden: das Prinzip der gleichen Freiheit und dessen Vorrang sichert die Grundfreiheiten gegen alle Einschränkungen zugunsten des allgemeinen Wohlergehens, und das Differenz-Prinzip sichert die Individuen dagegen, mit dem Hinweis auf das überwiegende Wohlergehen der anderen sich mit einer sehr schlechten Lage zufrieden geben zu müssen.


Kritische Anmerkungen zu Problemen bei der Anwendung der beiden Prinzipien

Abschließend soll noch auf einige Schwierigkeiten bei der Anwendung der beiden Prinzipien der Gerechtigkeit hingewiesen werden.

Zum einen ist das "Prinzip der gleichen Freiheit" nicht leicht zu praktizieren. So bleibt unklar, welche Freiheiten dadurch geschützt werden. Ist z. B. auch das Recht auf den privaten Erwerb von Produktionsmitteln mit dem Eigentumsrecht geschützt? Dies Recht ist ja ohne weiteres vereinbar mit einem gleichen Recht auf Erwerb für alle. Rawls macht zwar gelegentlich deutlich, dass die Frage des privaten oder öffentlichen Eigentums an Produktionsmitteln durch seine Gerechtigkeitsprinzipien nicht entschieden ist, aber man könnte aus seinem Prinzip der möglichst umfassenden gleichen Freiheiten für alle auch ein Recht auf Kapitaleigentum folgern.

Außerdem ergeben sich schwierige Abwägungsprobleme, wenn die Ausübung verschiedener Freiheiten kollidiert, wie etwa im Falle der Medienkonzentration, wo Gewerbefreiheit und Freiheit der Information miteinander kollidieren.

Auch das "Differenz-Prinzip" wirft Probleme bei seiner Anwendung in der Praxia auf. Es schließt keineswegs aus, dass von bestimmten Gruppen verlangt wird, zugunsten anderer Gruppen eigene Nachteile in Kauf zu nehmen, denn Verbesserungen für die am schlechtesten gestellte soziale Gruppe können mit Verschlechterungen für besser gestellte Gruppen verbunden sein. Es könnte dadurch z. B. eine andere Gruppe zur relativ am schlechtesten gestellte Gruppe werden. Das Problem der moralischen Überforderung ist also nicht ausgeräumt.

Anhang
(aus der Seite: Kritik an der Ethik-Werkstatt)


Im Wikipedia-Artikel "A Theory of Justice" habe ich die folgende Auflistung der Kritikpunkte (zum Utilitarismus) gefunden, die ich ziemlich überzeugend finde. Was ist Deine Meinung dazu? Gruß Hannes.

 1.) Für Rawls impliziert der Utilitarismus eine unabsehbare Folgensequenz, die von keinem rational handelnden Individuum übersehen werden kann. Er meint damit, dass ein Nutzenmaximierer alle weiteren sich aus der Handlung ergebenden Folgehandlungen berücksichtigen muss. Dies kann ihm wegen der Beschränktheit seines Wissen nicht gelingen. Menschen können nicht über ein vollständiges Konsequenzenwissen verfügen, folglich auch nicht alle Folgen in ihren Entscheidungen berücksichtigen und somit auch nicht in der Lage sein, den Gesamtnutzen einer Gesellschaft zu maximieren.

2.) Eine Beurteilung des Nutzens einer Handlung kann nur aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit folgen. Nun gibt es aber kein Gesetz, das besagt, dass ein einmal stattgefundenes Ereignis in der Zukunft immer wieder die gleichen Folgen mit sich bringt wie in der Vergangenheit.

3.) Die Maximierung des Nutzens kann nur aus der Perspektive der gegenwärtig entscheidenden Personen erfolgen. Damit werden aber auch deren gegenwärtigen Interessenslagen verabsolutiert und in alle Zukunft fortgeschrieben.

4.) Individuelle Interessen sind allenfalls ordinal, nicht aber kardinal messbar.

5.) Für Rawls birgt der Utilitarismus keine Gerechtigkeitserwägungen, da er auf Nutzenmaximierung abstellt und Gerechtigkeitserwägungen nicht explizit formuliert. Ebenso sieht Rawls in diesem Konzept eine Gleichgültigkeit gegen Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit.

6.) Rawls hält die Vorteile eines Individuums nicht mit den Nachteilen eines anderen verrechenbar.

7.) Rawls hält den Utilitarismus für indifferent zwischen den Interessen Einzelner. Als Beispiel vergleicht er den Tierquäler mit dem Sozialarbeiter, dessen beider Beschäftigungen ihnen ein gleiches Maß an Befriedigung bringen. Er sieht nun im Utilitarismus keine Möglichkeit gegeben, zwischen beiden Handlungen zu entscheiden, wenn sie zur Wahl stünden.

8.) Letztes Argument ist für ihn die Degradierung des menschlichen Individuums als reines "Glücksbehältnis".


Entgegnung zur Kritik

1.) Gegen das Prinzip der Maximierung des allgemeinen Nutzens bzw. Interesses wird eingewandt, dass es nicht durchführbar sei, weil kein Mensch alle Konsequenzen seines Handelns bis in die fernste Zukunft erkennen und noch dazu bewerten könne.

Es ist zwar richtig, dass unser Wissen über die Konsequenzen unseres Handelns beschränkt ist, doch hindert uns dies keineswegs daran, das vorhandene Wissen - und sei es auch nur die Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten - unserem Handeln zugrunde zu legen. Wir tun dies ständig bei unseren Alltagsentscheidungen, etwa bei der Einteilung des Geldes, das uns zur Verfügung steht. Wir handeln dabei nach bestem Wissen, nicht nach vollkommenem Wissen.

Eine derart grundsätzliche Ablehnung des Prinzips der Folgenberücksichtigung, wie sie Rawls in dem Wikipedia-Artikel zugeschrieben wird (leider ohne Textbeleg), würde das gesamte Gebäude seiner Theorie zum Einsturz bringen, denn für die Entscheidung in der Ausgangsposition ("Urzustand") nimmt Rawls rationale Individuen an, also solche, die ihre Zwecke mit geeigneten Mitteln verfolgen. Ob ein Mittel für einen bestimmten Zweck geeignet ist, ist aber eine Frage nach den Folgen seiner Anwendung. Insofern ist diese Kritik ein Eigentor.

2.) Entsprechendes trifft auf den zweiten Kritikpunkt zu. Wenn es keinen Grund dafür gibt, dass die bisherigen empirischen Regelmäßigkeiten weiterbestehen werden, dann dürfte ich noch nicht einmal ein Messer nehmen, um mir eine Scheibe Brot abzuschneiden. Von rationaler Entscheidung kann dann keine Rede mehr sein.

3.) Wieso können die Bewertungen im Utilitarismus nur nach den Interessen der heute Lebenden vorgenommen werden? Die Bedürfnisse kommender Generationen (z. B. in Bezug auf die Rodung der Wälder, die Erosion der Böden, die Erwärmung der Atmosphäre, die Erzeugung hochgiftiger Abfälle oder die Zerstörung der Ozonschicht) sind uns doch mit hinreichender Sicherheit bekannt. Deshalb können (und sollten) diese Bedürfnisse bei der Bestimmung dessen, was im allgemeinen Interesse liegt, auch berücksichtigt werden.

4.) Diesen Kritikpunkt (Unmöglichkeit einer Bestimmung von Nutzeneinheiten) fasse ich zusammen mit Kritikpunkt 6.) (Unmöglichkeit einer Abwägung von Interessen verschiedener Personen).

Diese Problematik, die meist unter der Überschrift "Möglichkeit einer interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung" abgehandelt wird, ist in der Tat noch nicht befriedigend gelöst. Für die grundsätzliche Möglichkeit eines interpersonalen Nutzenvergleichs kann man jedoch gute Argumente anführen. Auch Rawls kommt offenbar nicht ohne Vergleiche des Wohlergehens verschiedener Menschen aus.

Das Maximin-Prinzip von Rawls erfordert, innerhalb der zu vergleichenden gesellschaftlichen Ordnungen jeweils diejenige Gruppe mit dem niedrigsten Nutzenniveau zu bestimmen, um dann die Gesellschaftsordnung zu bestimmen, in denen die am schlechtesten gestellten Gruppe noch relativ am geht. Damit setzt Rawls aber selber einen ordinalen (rangmäßigen) interpersonalen Nutzenvergleich voraus.

Wenn es uns nicht möglich wäre, das Wohlergehen verschiedener Individuen oder Gruppen zu vergleichen, und wir die Frage nicht beantworten könnten, wem es besser geht, dann hätten Sätze wie die folgenden keinen Sinn: "Man soll Menschen in unverschuldeter Not helfen!" oder "Von dem Erdbeben wurden die Einwohner der Stadt A am stärksten getroffen" oder "Die Hauptlast bei der Sanierung der Staatsfinanzen tragen die ärmeren sozialen Schichten".

Man kann m. E. darüber hinaus die Vorteile, die eine bestimmte Entscheidung für einen selbst mit sich bringt, auch größenmäßig mit den Nachteilen vergleichen, die eine andere Person durch diese Entscheidung erleidet. Dazu muss man sich in den andern hineinversetzen und den Größenvergleich der Vor- und Nachteile auch aus seiner Sicht machen. Leider gibt es dazu kaum empirische Untersuchungen der Sozialpsychologie, doch ich bin relativ optimistisch, dass dabei keine völlig anderen Größenbestimmungen herauskommen werden.

Bei den Nutzenbestimmungen ist keinerlei Messperfektionismus erforderlich. Die quantitativen Nutzenbestimmungen müssen nur genau genug sein, um die anstehende Entscheidung fällen zu können.
 
5. Am Utilitarismus wird bemängelt, dass er keine Gerechtigkeit kenne. In der Tat spielt dieser Begriff im Utilitarismus keine herausragende Rolle. Allerdings ist der Begriff hochgradig unbestimmt und oft scheint mit der Bezeichnung einer Entscheidung als "gerecht" nicht mehr gemeint zu sein, als dass der Sprecher sie für "gerechtfertigt" hält.

Für den Utilitarismus ist Gerechtigkeit im Sinne von "Gleichbehandlung der Individuen" und "Gleichberücksichtigung der Interessen der Individuen" spätestens seit Sidgwick ein fest verankertes Prinzip. Nicht zufällig war es ein Utilitarist (R.M. Hare), der die Universalisierbarkeit ethischer Sätze als erster analysierte. Und bereits Bentham betonte, dass bei der Bestimmung des allgemeinen Interesses jedes Individuum als eines zählte, nicht weniger und nicht mehr. Deshalb waren Utilitaristen wie William Godwin und seine Frau Mary Wollstonecraft Vorkämpfer des allgemeinen gleichen Wahlrechts, als von deutschen Philosophen noch kaum etwas in dieser Richtung zu hören war.

7. Bemängelt wird, dass der Utilitarismus alle Wünsche bzw. Interessen ohne Unterschied berücksichtigt. Das Beispiel (Tierquäler und Sozialarbeiter) wird den Utilitaristen allerdings nicht gerecht, denn für sie ist Schmerz - auch der von Tieren - das in allererster Linie zu Vermeidende. Tierquälerei ist damit unbedingt schlecht. Im Kampf gegen die Tierversuche standen wiederum Utilitaristen an vorderster Front.

Man müsste dazu noch mehr sagen (Benthams provokante These: "Kegeln ist genauso gut wie Gedichte verfassen", "Pushpin is as good as poetry", aber ich will hier erstmal einen Schnitt machen.

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Verfassungstheorie von Buchanan und Tullock * (19 K)
    Klassische Vertragstheorie: Hobbes - Locke - Rousseau * (13 K)
 

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Letzte Bearbeitung 03.10.2005 (3/13) / Eberhard Wesche

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