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Rawls: Theorie der Gerechtigkeit
Darstellung und Kritik
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Inhalt:
Rawls als Vertreter einer modernen Vertragstheorie
Der "Schleier des Nichtwissens" im
Urzustand
Die Entscheidung über die grundlegenden
Prinzipien der Gesellschaftsordnung
Die Charakterisierung der Ausgangsposition als "fair"
Das "Prinzip der gleichen Freiheit" (principle of equal
liberty)
Das "Differenz-Prinzip" (difference
principle)
Das Maximin-Kriterium
Die Kritik von Rawls am Nutzenmaximum
Kritische Anmerkungen
Anhang
Textanfang:
Rawls als Vertreter einer modernen
Vertragstheorie
Die von John Rawls entworfene Theorie der Gerechtigkeit, die er 1971 unter dem
Titel "A Theory of Justice" vorlegte, wurde in bewusster
Absetzung vom Utilitarismus konzipiert und versteht sich selber in der Tradition
der Vertragstheorie: "Mein Ziel ist es, eine Konzeption der Gerechtigkeit
darzustellen, welche die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrages, wie sie
etwa bei Locke, Rousseau und Kant vorgefunden wird, verallgemeinert und auf ein
höheres Abstraktionsniveau hebt." (S.11. Zitate nach der englischen Ausgabe bei Oxford
University Press 1973, eigene Übersetzungen.)
Gemäß der Theorie des Gesellschaftsvertrag besteht der Maßstab für die
Rechtfertigung und Kritik einer politischen Ordnung in der Frage: "Hätte diese
politische Ordnung aus einer vertraglichen Übereinkunft von freien
und rational ihre Interessen verfolgenden Individuen hervorgehen können?" Im
Mittelpunkt der Vertragstheorie steht also der Begriff der vertraglichen
Übereinkunft bzw. des vertraglichen Konsens.
Letztlich muss sich nach Auffassung der Vertragstheoretiker jede politische
Ordnung aus der (zumindest denkbaren) freien Zustimmung der betreffenden
Individuen ableiten lassen. Nur dann lässt sich die Verpflichtung der Individuen
zur Einhaltung der geltenden politischen Normen auf eine (zumindest denkbare)
freiwillige Selbstverpflichtung der Individuen zurückführen.
Die Idee, politische Ordnungen an der Frage zu messen, ob sie in dieser Form hätten
einstimmig beschlossen werden können, erscheint als ein ethisch zumindest
plausibler Ansatzpunkt. Das Hauptproblem der Vertragstheorie
besteht jedoch darin, dass eine vertragliche Übereinkunft nicht frei ist "vom
stummen Zwang der Verhältnisse" : Je unerträglicher der vertragslose
Zustand
für jemanden ist, desto größere Konzessionen wird er bei den
Vertragsverhandlungen machen.
Die Anstrengungen der Vertragstheoretiker zielen deshalb vor allem darauf, das
Problem der ungleichen Verhandlungsmacht und der daraus resultierenden "ungleichen" Verträge zu lösen.
Rawls bemüht sich in seiner Theorie der Gerechtigkeit deshalb darum, die Situation der vertraglichen
Übereinkunft so zu gestalten, dass dieser Kritik der Boden entzogen wird.
Der "Schleier des Nichtwissens" im
Urzustand (original position)
Dazu ändert Rawls die Situation, in welcher der Vertrag
geschlossen wird. Rawls bezeichnet diese Situation als "original position".
In der deutschen Ausgabe seines Werkes wird dies nicht sehr glücklich mit "Urzustand"
übersetzt. Rawls schreibt dazu: "Dieser Urzustand entspricht dem Naturzustand der traditionellen
Vertragstheorie." (S.12) Der Urzustand ist jedoch kein
früher historischer Zustand sondern "wird als eine rein hypothetische Situation aufgefasst,
in der niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klassenzugehörigkeit oder
seinen sozialen Status kennt. Noch kennt irgend jemand sein Schicksal bei der
Zuteilung natürlicher Vermögen und Fähigkeiten wie Intelligenz, Körperkraft und
ähnlichem." (S.12)
Die Individuen treffen also ihre Entscheidung hinter einem "Schleier
des Nichtwissens" ("veil of ignorance" ) über ihr eigenes späteres Los bei der
Verteilung sozialer oder natürlicher Güter. Deshalb "haben die beteiligten
Parteien keine Basis für Verhandlungen im üblichen Sinne … und niemand ist in
der Lage, Prinzipien zum eigenen Vorteil zu schneidern." (S.139) "Der Schleier
des Nichtwissens macht die einstimmige Wahl einer bestimmten Konzeption von
Gerechtigkeit möglich." (S.140)
Rawls setzt für die Entscheidung rationale Individuen
voraus. "Rationalität" heißt hier nur, dass die Individuen kein Interesse
in Bezug auf das Wohlergehen anderer Individuen haben und dass sie die
geeigneten Mittel für gegebene Ziele wählen, vergleichbar dem homo oeconomicus
der ökonomischen Theorie.
Der Ausgang der Übereinkunft hängt jetzt nicht mehr vom unterschiedlichen
Machtpotenzial der Beteiligten ab, wie Rawls betont, sondern "stellt eine echte
Versöhnung der Interessen dar." (S.142) Rawls entkräftet also die Kritik an der
Vertragstheorie, indem er die Übereinkunft nicht unter den Zwängen eines vorstaatlichen Naturzustandes stattfinden lässt,
sondern in einer "rein hypothetischen" Ausgangsposition, in dem ein "Schleier
des Nichtwissens" über ihre zu erwartende persönliche Lage die Individuen daran
hindert, in die Übereinkunft ihre besonderen persönlichen Interessen einzubringen.
Die Entscheidung über die grundlegenden
Prinzipien der Gesellschaftsordnung
Der andere Unterschied zwischen der traditionellen Vertragstheorie und Rawls'
Theorie der Gerechtigkeit besteht darin, dass Rawls die Übereinkunft im
Urzustand nicht als einen Vertrag auffasst, "um in eine bestimmte
Gesellschaft einzutreten oder eine bestimmte Regierungsform zu errichten." (S.11)
Der Urvertrag bezieht sich stattdessen nur auf bestimmte "Prinzipien der
Gerechtigkeit für die Grundstruktur der Gesellschaft" (S.11), während
Konkretisierungen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung späteren Stufen
der Übereinkunft vorbehalten bleiben: "Wir müssen uns demgemäß vorstellen, dass
diejenigen, die die gesellschaftliche Zusammenarbeit eingehen wollen, diejenigen
Prinzipien wählen, die die Grundrechte und Grundpflichten sowie die Aufteilung
der sozialen Vorteile festlegen." (S.12) "Wenn über die Gerechtigkeitskonzeption entschieden ist, können wir annehmen,
dass die Individuen eine Verfassung wählen sollen, eine gesetzgebende Instanz
usw., alles im Einklang mit den Prinzipien der Gerechtigkeit, auf die man sich
anfangs geeinigt hat. Unser sozialer Zustand ist gerecht, wenn er so ist, dass
wir in dieser Folge hypothetischer Übereinkünfte dasjenige allgemeine System von
Regeln vereinbart hätten, das unsere soziale Ordnung ausmacht." (S.13)
Die Charakterisierung der Ausgangsposition als "fair"
Rawls nennt seine Theorie auch eine
Theorie der "Gerechtigkeit als Fairness" (" justice as fairness" ), denn die
Zustimmung zu den Prinzipien der Gerechtigkeit erfolgt in einer fairen
Ausgangssituation, die niemandem einen Vorteil einräumt und allen die gleichen
Chancen gibt.
Die Fairness wird durch den Schleier des Nichtwissens erzeugt, der die
Individuen an der Identifizierung ihres persönlichen Interesses hindert. Bei der
Entscheidung über die Prinzipien der Gerechtigkeit kennen die Individuen nur
allgemeine Fakten und Theorien der Soziologie, Politik, Ökonomie oder
Psychologie, aber sie wissen nichts Konkretes über ihre eigene persönliche
Situation. (S.134)
Die interessante Frage ist, welchen Prinzipien freie und gleiche Personen unter
Bedingungen der Fairness zustimmen würden. Welche normativen Grundprinzipien
erweisen sich unter den
Bedingungen des Urzustandes als konsensfähig? Grundsätzlich stehen
ja die unterschiedlichsten moralphilosophischen Prinzipien zur Auswahl:
utilitaristische Konzeptionen, die an einer maximalen Bedürfnisbefriedigung
orientiert sind, perfektionistische Konzeptionen, für die die bestmögliche
Vervollkommnung menschlicher Fähigkeiten entscheidend ist, intuitionistische
Konzeptionen, die von einer Liste intuitiv einsichtiger Prinzipien ausgehen,
oder egoistische Konzeptionen, die dem Einzelnen gestatten, seine eigenen
Interessen zu verfolgen.
Das "Prinzip der gleichen Freiheit" (principle of equal
liberty)
All diese genannten ethischen Konzeptionen wären für die Individuen in der
beschriebenen Ausgangssituation
nach Rawls' Auffassung jedoch nicht akzeptabel. Stattdessen würden die
Individuen sich für zwei normative Prinzipien entscheiden: "Das erste erfordert
Gleichheit in der Zuteilung von grundlegenden Rechten und Pflichten, während das
zweite bestimmt, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten, z. B.
Ungleichheiten in Bezug auf Reichtum und Autoritätsstellung, nur dann gerecht
sind, wenn sie in ausgleichenden Vorteilen für jedermann, insbesondere für die
am schlechtesten gestellten Mitglieder der Gesellschaft, resultieren." (S.15)
Das erste Prinzip, das Rawls auch das "Prinzip der gleichen Freiheit" nennt,
lautet in der genauen Formulierung: "Jede Person soll ein gleiches Recht auf das
umfassendste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten haben, das mit einem
entsprechenden System der Freiheit für alle vereinbar ist." (S.60)
Als Beispiel
für derartige Grundfreiheiten nennt Rawls aktives und passives Wahlrecht,
Freiheit der Meinungsäußerung und Versammlung, Freiheit des Gewissens und des
Denkens, Freiheit vor willkürlicher Verhaftung aber auch das Recht persönliches
Eigentum zu besitzen. "Entsprechend dem ersten Prinzip müssen alle diese
Freiheiten gleich sein, denn die Bürger einer gerechten Gesellschaft sollen die
gleichen Grundrechte haben." (S.61)
Das Differenz-Prinzip (difference
principle)
Das zweite Prinzip lautet: "Soziale und ökonomische Ungleichheiten sollen so
beschaffen sein, dass sie zum größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten
sind, und an Ämter und Stellungen geknüpft sind, die allen offen stehen unter
Bedingungen fairer Chancengleichheit." (S.83)
Mit diesem Prinzip können Unterschiede bezüglich des Reichtums oder des sozialen
Ansehens gerechtfertigt werden.
Rawls verdeutlicht das Differenz-Prinzip, demgemäß soziale Ungleichheiten zum Vorteil
der jeweils am schlechtesten Gestellten sein müssen, anhand einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung: "Jene, die in einer auf Privateigentum
basierenden Demokratie zur Unternehmer-Klasse gehören, haben bessere Aussichten
als jene, die in der Klasse der ungelernten Arbeiter beginnen. … Was kann dann
möglicherweise diese Art von anfänglicher Ungleichheit der Lebensaussichten
rechtfertigen? Gemäß dem Differenz-Prinzip ist diese Ungleichheit der
Erwartungen nur dann zu rechtfertigen, wenn sie zum Vorteil des typischen
ungelernten Arbeiters ist. Die Ungleichheit der Erwartungen ist nur dann
zulässig, wenn eine Verminderung dieser Ungleichheit die Arbeiterklasse noch
schlechter stellen würde." (S.78) Rawls lässt allerdings offen, ob
Letzteres der Fall ist.
Soweit die Erläuterung der beiden Gerechtigkeitsprinzipien, die nach Rawls
rationale Individuen im Urzustand wählen würden. Hinzuzufügen ist
noch, dass das Prinzip der gleichen Freiheit immer Vorrang besitzt gegenüber
dem Differenz-Prinzip. Das heißt, dass Freiheitsbeschränkungen nicht
mit der Verbesserung der sozialen oder ökonomischen
Lage von Individuen gerechtfertigt werden können.
Wie begründet Rawls nun die Wahl gerade dieser zwei normativen Prinzipien? Warum
wählen die Individuen z. B. nicht das utilitaristische 'Prinzip des maximalen
Durchschnitts-Nutzens', welches fordert, die gesellschaftlichen Verhältnisse so
zu gestalten, dass die durchschnittliche Bedürfnisbefriedigung der Individuen
möglichst groß ist?
Die Begründung, die Rawls hierfür gibt, ist relativ kompliziert und, wie er
zugesteht, keineswegs eine streng logische Ableitung aus den Annahmen über den
Urzustand und das Entscheidungsverhalten der Individuen (S.123).
Nach Rawls Auffassung würde sich ein repräsentatives Individuum im Urzustand erstmal für das Prinzip der Gleichverteilung entscheiden. "Weil
es für (das repräsentative Individuum) keinen Grund gibt, mehr als einen
gleichen Anteil bei der Verteilung der sozialen Güter zu erwarten, und da es von
ihm nicht rational wäre, sich mit weniger zufrieden zu geben, ist es für das
Individuum sinnvoll, als erstes Prinzip eines zu akzeptieren, das
Gleichverteilung fordert: … Die Parteien starten mit einem Prinzip, das sowohl
gleiche Freiheit für alle errichtet, einschließlich der Chancengleichheit, als
auch eine gleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen. Aber es gibt keinen
Grund, warum diese Billigung endgültig sein sollte. Wenn Ungleichheiten in der
Grundstruktur existieren, die bewirken, dass jedermann besser gestellt wird im
Vergleich zum Maßstab der anfänglichen Gleichheit, warum sollen sie nicht
zugelassen sein?" (S.151)
Dabei werden die Individuen dem 'Prinzip der gleichen Freiheit' Vorrang
gegenüber den Fragen des materiellen und sozialen Wohlergehens einräumen.
Allerdings schränkt Rawls ein, dass diese Priorität erst
ab einem bestimmten
Niveau des materiellen Lebensstandards wirksam wird: "Wenn Personen im
Urzustand davon ausgehen, dass ihre Grundfreiheiten wirksam ausgeübt
werden können, werden sie nicht eine verminderte Freiheit für eine Verbesserung
ihres wirtschaftlichen Wohlergehens eintauschen, zumindest dann nicht, wenn
einmal ein bestimmtes Niveau des Reichtums erreicht ist. Nur wenn die
gesellschaftlichen Umstände eine wirksame Realisierung dieser Rechte verhindern,
kann man ihre Beschränkung billigen. Die Verweigerung gleicher Freiheiten kann
nur akzeptiert werden, wenn sie notwendig ist, um die Qualität der Zivilisation
in der Weise zu erhöhen, dass in der Folge die gleichen Freiheiten von allen
genossen werden können." (S.542).
Damit begegnet Rawls dem Einwand, dass Menschen, die vor der Wahl stehen,
entweder zu
verhungern oder ihre politischen Grundfreiheiten zu verlieren, sicherlich das
Letztere wählen werden.
Offenbar meint Rawls, dass bei einem bestimmten Grad der Ausstattung mit
materiellen Gütern Sättigungsphänomene auftauchen, so dass der Wunsch nach
möglichst umfassenden Freiheiten in den Vordergrund tritt: "In dem Maße, wie
sich die zivilisatorischen Umstände verbessern, verringert sich für uns der Wert
weiterer ökonomische und sozialer Vorteile im Vergleich zum Interesse an
Freiheit …" (S.542) "Unter günstigen Umständen nimmt das fundamentale Interesse an
der Selbstbestimmung unseres Lebensplanes schließlich einen erstrangigen Platz
ein." (S.43)
Das Maximin-Kriterium
Neben dieser Vorrangstellung für die Grundfreiheiten ist das
Eigentümliche an der Rawlsschen Konzeption, dass für die Beurteilung von
Gesellschaftsordnungen nur die Lage der jeweils am schlechtesten gestellten
sozialen Gruppe berücksichtigt werden muss. Rawls hat dies Verfahren entsprechend dem
Sprachgebrauch der Entscheidungstheorie "Maximin-Kriterium" genannt.
Das Maximin-Kriterium ist ein gebräuchliches Kriterium für Entscheidungen unter
Ungewissheit. Es besagt, dass man in einer solchen Situation diejenige Strategie wählen soll, deren
schlechtestes Resultat verglichen mit den schlechtesten Resultaten aller andern
möglichen Strategien
immer noch
das beste ist. Das-Kriterium fordert also eine
Entscheidung für das Maximum der Minima, daher der Name "Maximin-Kriterium".
[Ein Beispiel zur Erläuterung: Das Maximin-Kriterium wählt bei der Entscheidung
zwischen den zwei
Zahlenfolgen {3, 17, 19} und {4, 5, 6} die letztere aus, denn deren
kleinste Zahl, die "4", ist immer noch größer als die kleinste Zahl der ersteren Folge,
die "3".]
In der Spieltheorie wird das Maximin-Kriterium zum Beispiel bei Spielen zwischen
zwei Gegnern als rationale Strategie angenommen. So muss ich etwa beim
Schachspiel in meinen Überlegungen davon ausgehen, dass mein Gegner von allen
ihm möglichen Schachzügen immer diejenigen ausführen wird, die mir die größten
Verluste beibringen.
Die Frage ist, warum Rawls meint, dass es für die Individuen im Urzustand rational ist, gesellschaftliche Ordnungen nur nach der für sie
schlechtesten Möglichkeit zu beurteilen. Wie lässt sich eine derart vorsichtige
und defensive Strategie begründen? Warum maximieren die Individuen nicht ihren
zu erwartenden Nutzen, indem sie diejenige Gesellschaft mit dem höchsten
durchschnittlichen Niveau des Wohlergehens wählen, wie es etwa utilitaristischen
Vorstellungen entsprechen würde?
Die Kritik von Rawls am Prinzip des
Nutzenmaximums
Rawls' Hauptargument für sein Differenz-Prinzip und gegen das Prinzip der
Maximierung des durchschnittlichen Nutzens besagt, dass für eine
Kalkulation des Durchschnittsnutzens im Urzustand die nötigen
Informationen
fehlen. Da die Individuen hier noch nichts über die Art der möglichen
Gesellschaften, die in ihr existierenden Positionen und die zahlenmäßige
Aufteilung der Individuen auf diese Positionen wissen, können sie nach Ansicht
von Rawls nicht die Kalkulationen vornehmen, die für eine Berechnung des
Durchschnittsnutzens notwendig wären.
Doch wie Barry
dargelegt hat, geht dieses Argument an der Sache vorbei. Zwar habe Rawls den
Schleier des Nichtwissens im Urzustand auch über die Beschaffenheit
der möglichen Gesellschaften gelegt, aber das sei noch kein Grund, sich nicht
für das Prinzip der Maximierung des zu erwartenden durchschnittlichen Nutzens zu
entscheiden, solange es nur um die Entscheidung zwischen normativen Grundprinzipien und nicht
um die Entscheidungl zwischen konkreten Gesellschaftsordnungen geht (Brian Barry: The
Liberal Theory of Justice. Oxford 1973, S.92) "Die radikale Ungewissheit im Urzustand kommt an einer falschen Stelle, um Rawls'
Argument für dessen Maximin-Kriterium zu stützen. Um wirklich ein Argument dafür
zu haben, müsste Rawls sagen, dass die Bedingungen, unter denen das gewählte
Kriterium angewandt werden soll, derart sind, dass die Kenntnis von
Wahrscheinlichkeiten (mit denen man in bestimmte soziale Position gelangen wird)
unmöglich ist." (Barry, S.92) Um das utilitaristische Kriterium auf die Wahl
einer Gesellschaftsordnung anwenden zu können, benötigt man in der Tat die
Kenntnis der darin
existierenden Positionen und deren zahlenmäßige Aufteilung auf die Individuen.
Man benötigt dies jedoch noch nicht für die
Auswahl der Grundprinzipien.
Das andere Argument von Rawls besteht darin, dass "die Individuen durch die Anwendung des
Maximin-Kriteriums ein befriedigendes Mindestmaß des Wohlergehens
für sich sicherstellen können und geschützt sind vor völlig unakzeptablen
Resultaten, wie sie etwa mit dem (utilitaristischen) Prinzip des durchschnittlichen Wohlergehens
verbunden sein können." (S.154): "Zum Beispiel wurde manchmal die Ansicht vertreten, dass unter
bestimmten Bedingungen das Nutzenprinzip - wenn nicht Sklaverei und Knechtschaft
- so doch zumindest ernste Beeinträchtigungen der Freiheit rechtfertigen kann
zum Zwecke größerer sozialer Vorteile. … Da die (Parteien) jedoch die
Alternative der zwei Prinzipien der Gerechtigkeit haben, die ein befriedigendes
Minimum sicher stellen, erscheint es unklug wenn nicht irrational für sie,
zuzulassen, dass diese (unakzeptablen) Resultate eintreten können." (S.156)
Hinzu kommt nach Rawls, dass Übereinkünfte, die für einige Beteiligte extrem
schlechte Folgen haben könnten, schwerer einzuhalten und deswegen instabiler
sind: "In dieser Hinsicht haben die beiden Prinzipien der Gerechtigkeit einen
entscheidenden Vorteil. Die Parteien schützen nicht nur ihre Grundrechte sondern
sie sichern sich auch gegen die schlimmsten Eventualitäten ab. Sie gehen kein
Risiko ein, für ihr ganzes Leben an Freiheit zu verlieren, um des größeren Gutes
will, das von anderen genossen wird, ein Versprechen, das sie in Wirklichkeit
vielleicht gar nicht halten können. … Vereinbarungen dieser Art
übersteigen die
menschlichen Fähigkeiten." (S.176) "Das Nutzenprinzip scheint eine größere Identifikation mit den Interessen
anderer zu verlangen als die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit. Dadurch werden die
letzteren eine stabilere Konzeption (der Gerechtigkeit) sein in dem Maße, wie
das Erreichen dieser Identifikation mit den Interessen anderer mit Schwierigkeiten verbunden ist." (S.174)
"Gemäß dem Nutzenprinzip sollen wir die größeren Vorteile anderer als hinreichende
Begründung ansehen für niedrige Erwartungen hinsichtlich unseres ganzen Lebens. Dies
ist sicherlich ein extremes Verlangen. In der Tat, wenn die Gesellschaft
aufgefasst wird als System der Zusammenarbeit, entworfen um das Wohl ihrer
Mitglieder zu fördern, so erscheint es recht unglaubwürdig, dass von einigen
Bürgern erwartet wird, dass sie schlechtere Lebensaussichten um anderer willen
akzeptieren. … Die Parteien begreifen, dass es höchst unklug wenn nicht
irrational wäre, Prinzipien zu wählen, die derart extreme Konsequenzen haben
können, dass sie diese in der Praxis nicht akzeptieren könnten. Sie würden das
Nutzenprinzip verwerfen und die realistischere Idee aufnehmen, die sozialer
Ordnung nach einem Prinzip des wechselseitigen Vorteils zu gestalten." (S.178)
An diesen Passagen wird noch einmal deutlich, dass Rawls seine
Theorie der
Gerechtigkeit vor allem als eine Alternative zum Utilitarismus entworfen hat,
demgemäß eine Gesellschaft dann gerecht ist, wenn sie zum möglichst großen
durchschnittlichen Wohlergehen der Individuen führt. Rawls ist der Ansicht, dass
utilitaristische Konzeptionen die politischen Grundfreiheiten nicht hinreichend
sichern können, da diese Freiheiten im Prinzip immer aufgehoben werden können
mit der Begründung, die Aufhebung diene dem größeren Wohlergehen der Gesamtheit.
Mit dem gleichen
Hinweis auf das Wohlergehen der Gesamtheit könnten vom Utilitarismus auch schwere
und lebenslange Opfer von Teilen der Gesellschaft gefordert werden. Beide Möglichkeiten sollen
durch die Prinzipien der Gerechtigkeit ausgeschlossen werden: das Prinzip
der gleichen Freiheit und dessen Vorrang sichert die Grundfreiheiten gegen alle
Einschränkungen zugunsten des allgemeinen Wohlergehens, und das
Differenz-Prinzip sichert die Individuen dagegen, mit dem Hinweis auf das
überwiegende Wohlergehen der anderen sich mit einer sehr schlechten Lage zufrieden
geben zu müssen.
Kritische Anmerkungen zu Problemen bei der Anwendung der
beiden Prinzipien
Abschließend
soll noch auf einige Schwierigkeiten bei der Anwendung der beiden Prinzipien der Gerechtigkeit
hingewiesen werden.
Zum einen ist das "Prinzip der gleichen Freiheit" nicht leicht zu praktizieren.
So bleibt unklar, welche Freiheiten dadurch geschützt werden. Ist z. B. auch
das Recht auf den privaten Erwerb von Produktionsmitteln mit dem Eigentumsrecht
geschützt? Dies Recht ist ja ohne weiteres vereinbar mit einem gleichen Recht
auf Erwerb für alle. Rawls macht zwar gelegentlich deutlich, dass die Frage des
privaten oder öffentlichen Eigentums an Produktionsmitteln durch seine
Gerechtigkeitsprinzipien nicht entschieden ist, aber man könnte aus seinem
Prinzip der möglichst umfassenden gleichen Freiheiten für alle auch ein Recht
auf Kapitaleigentum folgern.
Außerdem ergeben sich schwierige Abwägungsprobleme, wenn die Ausübung
verschiedener Freiheiten kollidiert, wie etwa im Falle der Medienkonzentration,
wo Gewerbefreiheit und Freiheit der Information miteinander kollidieren.
Auch das "Differenz-Prinzip" wirft Probleme bei
seiner Anwendung in der Praxia auf. Es schließt
keineswegs aus, dass von bestimmten Gruppen verlangt wird, zugunsten anderer
Gruppen eigene Nachteile in Kauf zu nehmen, denn Verbesserungen für die am
schlechtesten gestellte soziale Gruppe können mit Verschlechterungen für besser gestellte
Gruppen verbunden sein. Es könnte dadurch z. B. eine andere Gruppe zur relativ am
schlechtesten gestellte Gruppe werden. Das Problem der moralischen Überforderung
ist also nicht ausgeräumt.
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Verfassungstheorie von Buchanan und Tullock * (19
K)
Klassische Vertragstheorie: Hobbes -
Locke - Rousseau * (13 K)
***
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Übersicht
Ethik-Werkstatt: Ende der
Seite "Zu J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit"
Letzte Bearbeitung 03.10.2005 (3/13) / Eberhard Wesche
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