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Die doppelte Bedeutung des Wortes "moralisch"

 

Inhalt:
"Moral" im empirischen Sinne
Die Unterscheidung von empirischer Moral und geltendem Recht
"Moral" im wertenden Sinne



Textanfang:

Die Wörter "Moral", "Ethik"  werden nicht immer einheitlich verwendet. Ohne geklärte Begrifflichkeit kann es jedoch keine Erkenntnis geben, die diesen Namen verdient.

Der erste Schritt zur Besserung besteht also darin, dass man sich des Problems bewusst ist und dass jeder jeweils deutlich macht, in welchem Sinne er die Worte "Moral", "moralisch" oder ähnliches verwendet.

Im Folgeden will ich versuchen, die Wörter aus der Ethik ein wenig zu ordnen. Dabei erscheint es sinnvoll, von der Art der Fragen auszugehen, die man unter Verwendung  der Worte "Moral"uam. beantworten will.                                                      
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"Moral" im empirischen Sinne

Es gibt einmal Fragen, die sich auf die Beschaffenheit der tatsächlichen Welt richten (Was gibt es? Wie ist es? Warum ist es? Wie wird es sein?). Dies ist der Bereich der positiven (auf das jetzt, früher oder zukünftig Gegebene bezogenen) Erfahrungswissenschaften (der empirischen Wissenschaften), zu denen vor allem die Naturwissenschaften zählen.

Zum Beispiel kann man als Ethnologe empirisch die Sexualmoral verschiedener Kulturen erforschen. Hier bedeutet "Moral" soviel wie: "die in einer Gruppe tatsächlich geltenden Regeln für das Verhalten" (Gibt es Monogamie oder Polygamie? Gilt die Ehe lebenslang oder ist Trennung möglich? Ist vorehelicher oder außerehelicher Geschlechtsverkehr erlaubt? Gibt es Unterschiede in den Regeln für Männer und für Frauen? Wie wird sexuelle Selbstbefriedigung, Inzest, Homosexualität unter Männern oder unter Frauen bewertet und geregelt? etc.). "Moral" in diesem Sinne ist ein empirisch zu erfassender Sachverhalt, etwas positiv Gegebenes. (Der Begriff "Ethos" wird ebenfalls in diesem empirisch-beschreibenden Sinne verwendet) "Moral" im empirischen Sinne ist immer die Moral einer bestimmten Kultur. Und da es unterschiedliche Kulturen und Subkulturen gibt, kann es auch verschiedene Moralsysteme geben. Man handelt deshalb "moralisch" (im empirischen Sinne), wenn man gemäß den in der betreffenden Gemeinschaft geltenden Regeln handelt. Ob dies der Fall ist, ist eine Faktenfrage und enthält keinerlei Bewertung.

(An der sprachlichen Schwierigkeit, von "Moral" einen Plural zu bilden, zeigt sich, wie ungewohnt es für das allgemeine Denken ist, in Bezug auf "Moral" zu relativieren. Traditionell gibt es nur "die" Moral und das ist die herrschende Moral.)

Zu diesem Bereich der empirischen Moral gehören die faktisch vorhandenen moralischen Einstellungen, Überzeugungen oder Ansichten der Einzelnen, sowie die moralischen Regeln und Vorschriften, wie sie mündlich oder schriftlich verbreitet und an die nächste Generation weitergegeben werden, wie sie durch Lob und Tadel, durch Belohnung und Bestrafung durchgesetzt werden.

In diesem empirischen Sinne von "Moral" hat jede Gemeinschaft eine Moral und hat jeder Mensch moralische Einstellungen und Überzeugungen. Denn die Regel "Tu was Du willst! Alles ist erlaubt" ist auch eine Regelung (wenn auch wahrscheinlich keine akzeptable).

Deshalb kann man auch nichts Grundsätzliches gegen "Moral" im empirischen Sinne haben.

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Unterscheidung von empirischer Moral und Recht

Die empirisch vorfindbare Moral einer Gesellschaft wird noch unterschieden vom Recht, das ja ebenfalls tatsächlich gegebene Regeln bezeichnet. (In Bezug auf das Wort "Recht" gibt es übrigens ganz ähnliche begriffliche Schwierigkeiten wie in Bezug auf das Wort "Moral".)

Eine Norm ist in einer bestimmten Gemeinschaft eine moralische Norm im empirischen Sinne, wenn sie in den Einstellungen der Einzelnen verankert ist und von den allermeisten Gesellschaftsmitgliedern gemeinsam vertreten und durchgesetzt wird.

Eine Norm ist eine Rechtsnorm, wenn sie schriftlich festgelegt ist und wenn sie nach einem institutionalisierten (heutzutage meist staatlichen) Verfahren sanktioniert wird. Normen bekommen also einen rechtlichen Charakter, wenn es einen Gesetzgeber und besondere Institutionen für die Verfolgung und die Verurteilung von Normverletzungen gibt. Die Vorschrift in § 1234, Absatz 5, Satz 6 der Einkommenssteuer-Durchführungsverordnung der Bundesrepublik Deutschland ist also zwar eine positiv geltende Regelung des Verhaltens aber kein Bestandteil der Moral, weil nicht im Bewusstsein der meisten Bürger verankert.

Der Übergang von einer moralischen Ordnung in eine Rechtsordnung ist dabei fließend und es ist schwierig, hier eine klare Trennlinie zu ziehen. Normalerweise decken sich die Moral und die Rechtsordnung einer Gemeinschaft inhaltlich auch weitgehend.

Soviel zur Moral als empirischem Phänomen. Vielleicht sollte man wegen der Doppeldeutigkeiten hier einen gesonderten Begriff einführen. Man könnte z. B. statt von einer "Moral im empirischen Sinne" zur besseren Unterscheidung auch von einem "Sittensystem" sprechen.

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"Moral" im wertenden Sinne

Nun wird das Wort "moralisch" (mit dem Gegenbegriff "unmoralisch" ) auch in einem nicht-empirischen Sinne gebraucht. Der Satz: "Dein Verhalten ist im höchsten Grade mies und unmoralisch" enthält eine stark negative Bewertung und eine moralische Verurteilung. Er enthält die Forderung: "So soll man nicht handeln!"

Für das traditionelle Denken fielen die empirisch vorfindliche Moral und die für richtig erachtete Moral ununterscheidbar zusammen. Die Frage: "Ist diese geltende moralische Regel überhaupt die richtige?" kam gar nicht in das allgemeine Bewusstsein. (In ähnlicher Weise können übrigens auch die "grundsätzlichen" Kritiker "der" Moral diese Unterscheidung nicht machen und schütten konsequenterweise mit der tradierten Moral auch die Moral als solche aus.)

Erst mit der Reformation, der Säkularisierung und der Aufklärung entstand für breitere Kreise der Bevölkerung die Denkmöglichkeit, dass ein (im empirischen Sinne) moralisches Verhalten nicht "moralisch" (im wertenden, emphatischen Sinne) sein könnte.

Die Soziologen führten den Begriff der "Subkultur" ein, um die Verschiedenheit der moralischen Regeln und Überzeugungen in den modernen staatlich organisierten Groß-Gesellschaften zu erfassen. Vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt konnte nun gefragt werden: "Welche moralische Regelung ist wirklich 'moralisch'? Welches ist die richtige? Welche ist besser?"

Diese Fragen und ihre Beantwortung gehören zu dem, was häufig "normative Ethik" genannt wird.

In der Folge wurde dann auch methodische Fragen gestellt: "Welches ist das Kriterium für moralisches Handeln (im wertenden Sinne)? Wie kann man moralische Regeln begründen? Welche Bedeutung haben bestimmte moralische Begriffe? Was unterscheidet die Moral vom Recht? Dieser Bereich von Fragen wird auch als "Meta-Ethik" oder einfach nur "Ethik" bezeichnet. Auch die Bezeichnung "Moralphilosophie" ist gebräuchlich.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   Norizen zu Recht und Moral
 

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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Die doppelte Bedeutung von 'moralisch'" / Letzte Bearbeitung 23.09.2006 / Eberhard Wesche

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