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Normativer Diskurs und verbindliche Normen

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Inhalt:
    Zwei Ebenen: Inhaltliche Richtigkeit und Verbindlichkeit

Gültigkeit als argumentative Konsensfähigkeit: die Diskurstheorie
Der normative Diskurs
Der Diskurs garantiert kein definitives Resultat
Der Diskurs abstrahiert von andern Zielen als der Wahrheitssuche
Wahrheitsfrage und Verfahrensfrage
Verbindlichkeit und Wahrheit
Die Stufenfolge Verbindlichkeit erzeugender Verfahren
Das Versprechen als Verbindlichkeit erzeugendes Verfahren
Die Beschränkung der verbindlichen Geltung auf normative Sätze

     Besonderheiten der Verbindlichkeitsebene
Die gezielte Geltungsbeschränkung verbindlicher Normen
Widersprüche und Lücken in Systemen verbindlicher Normen
Soll die Verbindlichkeit von Normen unbedingt gelten?
Systemtranszendente Aufhebung der Verbindlichkeit
Die Einführung genereller Normen: Vorteile und Probleme

     Die Realisierung verbindlicher Normen
Normdiskussion mit und ohne Voraussetzung vollkommener Befolgung
Anthropologische Annahmen und Voraussetzungen
Bedingungen für die Realisierung der Norm
Grenz- und Mischformen mangelnden Wollens und Könnens

***

Textanfang:

Allgemeingültigkeit als argumentative Konsensfähigkeit: die Diskurstheorie

Unter den Versuchen zur Begründung normativer Theorien z. B. ethischer und politischer Art scheinen diskurstheoretische Ansätze besonders Erfolg versprechend zu sein, da sie zum einen den logischen Fehlschluss vom "Sein" auf das "Sollen" vermeiden und da sie zum andern keine willkürliche Setzung bzw. Definition von obersten Werten oder Normen vornehmen. Da ich einen derartigen diskurstheoretischen Ansatz für normative Fragestellungen an anderer Stelle ausgeführt habe (E. Wesche: Tauschprinzip – Mehrheitsprinzip – Gesamtinteresse. Zu finden hier.), sollen hier nur die Hauptgedanken skizziert werden, um dann die Grenzen dieses Ansatzes zu erörtern.

Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass jemand nur dann für eine Behauptung Allgemeingültigkeit im Sinne von Wahrheit oder inhaltlicher Richtigkeit beanspruchen kann, wenn es möglich ist, dass jedes Individuum dieser Behauptung allein auf Grund von Argumenten, d. h. ohne irgendwelche Art von Zwang, Gewalt oder Manipulation dauerhaft zustimmt. Wenn es jemandem nicht um diese Allgemeingültigkeit im Sinne von dauerhafter argumentativer Konsensfähigkeit geht, werden seine Behauptungen buchstäblich "indiskutabel", es findet kein Diskurs statt sondern etwas anderes, etwa ein rhetorischer Appell an Glauben oder Gehorsam.

Aus dem methodologischen Ziel zwangfreier intersubjektiver und intertemporaler Nachvollziehbarkeit aller Behauptungen allein aufgrund von Argumenten lassen sich weitere Regeln ableiten, die die intersubjektive Verständlichkeit der Argumente sicherstellen, die nicht-argumentative Formen der Beeinflussung ausschließen und die Argumente ausschließen, die auf Grund ihrer Struktur nur von bestimmten Individuen, jedoch nicht allgemein nachvollziehbar sind.

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Der normative Diskurs

Diese Diskursregeln gelten für jede Behauptung, für die ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben wird. Für unterschiedliche Arten von Behauptungen (z. B. positive, normative, analytische, oder hermeneutische) sind allerdings unterschiedliche Arten von Argumenten erforderlich.

So müssen sich Argumente für positive, faktische Behauptungen letztlich auf beobachtbare, empirische Sachverhalte stützen, während für die analytischen Behauptungen eines Mathematikers letztlich die Widerspruchsfreiheit entscheidend ist.

Das Spezifische normativer Behauptungen liegt darin, dass sie sich als "Soll-Sätze" formulieren lassen. Eine normative Behauptung entsprechend der allgemeinen Form "x soll sein" kann demnach nur dann Allgemeingültigkeit beanspruchen, wenn alle Individuen gemeinsam wollen können, dass x sei. Es muss also rein argumentativ ein normativer Konsens gefunden, ein "Gesamtwille" gebildet werden.

Dies erscheint jedoch nur dann möglich, wenn dabei jedes Individuum nicht nur von seinem Eigeninteresse ausgeht, sondern die Interessen aller Beteiligten unparteiisch und wohlwollend berücksichtigt. Jeder muss die Interessen der andern so berücksichtigen als seien es seine eigenen. Diskurse über normative Behauptungen und deren Allgemeingültigkeit unterliegen demnach dem Gebot einer "solidarischen" Interessenberücksichtigung, wie man es auch nennen kann.

Soweit in äußerst abgekürzter Form die Ausführungen zur Allgemeingültigkeit normativer Behauptungen.

Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass der Diskurs durch Entscheidungsverfahren ergänzt werden muss, wo es um die direkte Anleitung des Handelns geht. Oder anders ausgedrückt: Es soll gezeigt werden, dass in konkreten Handlungssituationen das Streben nach Allgemeingültigkeit nur ein Ziel unter anderen ist.

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Der Diskurs garantiert kein definitives Resultat

Aus den oben gemachten Ausführungen ergibt sich, dass Behauptungen nur dann als allgemeingültig gelten können, wenn über sie ein argumentativer Konsens möglich ist. Deshalb kann die Allgemeingültigkeit einer Behauptung niemals endgültig, "ein-für-alle-mal" festgestellt werden, denn sowie neue Argumente auftauchen z. B. durch neu in die Diskussion eintretende Individuen oder durch neue Überlegungen und Erfahrungen, wird der Diskurs über diese Behauptung neu eröffnet.

Zwar wird die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens völlig neuer Gegenargumente von Behauptung zu Behauptung sehr verschieden sein, aber aus dem Umstand, dass allgemeingültigen Behauptungen jedermann zustimmen können muss, ergibt sich die prinzipielle Unmöglichkeit, die Allgemeingültigkeit einer Behauptung ein für alle mal festzustellen.

Es kann also immer nur mehr oder weniger haltbare Ansprüche auf Allgemeingültigkeit geben. Selbst wenn sich unter allen Teilnehmern einer Diskussion schließlich ein faktischer Konsens über eine Behauptung herstellt, so folgt daraus also noch nicht die definitive Allgemeingültigkeit dieser Behauptung.

Wo sich faktisch kein Konsens über eine Behauptung herstellt, ist diese Behauptung deshalb umgekehrt noch nicht falsch, denn Allgemeingültigkeit ist auf die Möglichkeit eines argumentativen Konsens bezogen. So mag ein faktischer Konsens über eine Behauptung nur deshalb nicht eintreten, weil ein Individuum in Bezug auf diese Behauptung völlig vorurteilsgebunden und für Argumente nicht empfänglich ist. Oder ein Konsens hat sich nur aufgrund von Missverständnissen faktisch nicht hergestellt.

Auf die Frage, wie die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines argumentativen Konsenses präziser bestimmt werden kann, soll hier nicht näher eingegangen werden. Für die jetzige Fragestellung genügt die Feststellung, dass die allgemeinen Regeln der Argumentation einschließlich ihrer Spezifizierung für die verschiedenen Behauptungsarten einen faktischen und definitiven Konsens nicht garantieren können, so dass der Diskurs auch nicht zu einem definitiven Resultat führen muss.

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Der Diskurs abstrahiert von andern Zielen als der Allgemeingültigkeit

Mit der Bestimmung von Allgemeingültigkeit als "dauerhafter argumentativer Konsensfähigkeit" und der Aufstellung der jeweils spezifischen Argumentationsregeln ist nicht sicher gestellt, dass die Diskussion innerhalb eines bestimmten Zeitraums abgeschlossen werden kann.

Handeln steht aber gewöhnlich unter bestimmten zeitlichen Beschränkungen, d. h. dass Fragestellungen und mit ihnen deren Beantwortung durch die Entwicklung überholt werden können: Wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, dann mögen sich die Gelehrten weiterhin darüber streiten, wie das hätte verhindert werden können, aber aktueller ist jetzt die Frage, wie man das Kind wieder aus dem Brunnen herausbekommt.

Praktisches Handeln steht also im Unterschied zur diskursiven Suche nach Allgemeingültigkeit unter einer zeitlichen Beschränkung.

Außerdem ist das Streben nach allgemeingültigen Erkenntnissen gewöhnlich mit einem bestimmten Aufwand verbunden. Es kann sogar äußerst mühsam und zeitraubend sein. Derartige Kosten des Informationsprozesses sind beim praktischen Handeln von Bedeutung, jedoch bei der Frage der Allgemeingültigkeit.

Anders formuliert: Wo es ausschließlich um die Prüfung von Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit geht, muss ein Diskurs geführt werden, d. h. es muss gefragt werden, ob über die fragliche Behauptung ein rein argumentativer Konsens möglich ist. Die Diskursregeln sind dabei allein am Ziel der Bestimmung allgemeingültiger Behauptungen ausgerichtet und berücksichtigen keine anderen Ziele.

Deshalb kann man angesichts einer bestimmten Fragestellung in einer konkreten Handlungssituation, bei der es nicht nur um Allgemeingültigkeit geht, immer fragen: "Soll über die Beantwortung der Frage ein Diskurs geführt werden oder soll die Frage nach einem anderen Verfahren entschieden werden?"

Das folgende, fiktive Beispiel mag dies verdeutlichen.

Angenommen, eine Gruppe von Individuen fährt mit einem Auto durch ein Waldgebiet. Plötzlich wird bemerkt, dass auf breiter Front ein Waldbrand auf die Straße zukommt. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: weiterfahren oder umkehren. Dabei ist unklar, welche Alternative die bessere ist. Dies hängt davon ab, wo die Feuerfront die Straße zuerst erreicht.

In einer solchen Situation bleibt nicht viel Zeit zur Diskussion. Es geht den Individuen zwar auch um die Wahrheit, also um die richtige Beantwortung der Frage "Sollen wir weiterfahren oder sollen wir umkehren?", aber vor allem geht es ihnen ja darum, nicht in den Flammen umzukommen.

Vielleicht könnten die Beteiligten die Frage, wo das Feuer früher hingelangen wird, durch eine gründliche Diskussion richtig beantworten, aber dann wäre es vielleicht schon zu spät, um sich in Sicherheit zu bringen. Wenn die Beantwortung der Frage länger dauert als die Zeitdifferenz zwischen dem Eintreffen des Feuers am vorderen und am hinteren Straßenabschnitt, so hätte man sich die Wahrheitssuche ganz sparen können, denn sie hat mehr Zeit gekostet als sie schließlich eingebracht hat.

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Inhaltliche Frage und Verfahrensfrage

Damit verschiebt sich das Problem von der inhaltlichen Frage: "Welches ist die richtige Antwort auf diese Frage?" auf die Verfahrensfrage: "Welches ist das beste Verfahren zur Entscheidung der Frage (in der gegebenen Situation)?" Dabei kann die Qualität des Verfahrens nicht allein davon abhängig gemacht werden, ob die daraus resultierende Antwort der Wahrheit möglichst nahe kommt, sondern es sind sämtliche anderen in der Situation relevanten Interessen mit zu berücksichtigen, z. B. solche, die sich aus dem Zeitbedarf und den Kosten der Beantwortung ergeben.

Die beiden Fragen: "Welches ist die richtige Anwort?" und "Welches Verfahren soll zur Beantwortung dieser Frage angewandt werden?" liegen also auf verschiedenen Ebenen und haben beide ihre eigene Berechtigung.

Selbst wenn die Gruppe in unserm Beispiel ein bestimmtes Verfahren praktiziert, wie z. B. die Entscheidung durch einen Anführer oder durch Mehrheitsbeschluss, kann man nachträglich immer noch fragen, ob die gefällte Entscheidung, z. B. "Umkehren", richtig war.

Übrigens können sowohl auf der Ebene des richtigen Handelns wie auf der Ebene des geeigneten Verfahrens entsprechende Diskurse geführt werden. Sowohl die Behauptung: "Das Feuer wird den vorderen Straßenabschnitt früher erreichen!" als auch die Behauptung "In dieser Situation soll die Frage, welchen Straßenabschnitt das Feuer früher erreicht, durch Mehrheit entschieden werden!" können als Behauptungen auf ihre argumentative Konsensfähigkeit überprüft werden.

Aus dem Umstand, dass es bei der Frage nach dem Verfahren nicht nur um die Wahrheit des Resultats geht, sondern z. B. auch um den Zeitbedarf, der für die Gewinnung des Resultats nötig ist, ergibt sich, dass u. U. auch ein Verfahren richtig sein kann, das nicht zum wahren Resultat führt, sondern vielleicht nur zu einer Annäherung an das wahre Resultat.

Allerdings wird es nur im Extremfall so sein, dass es auf die Wahrheit des Resultats überhaupt nicht ankommt, sondern allein Zeitbedarf und sonstige Kosten der Entscheidung maßgebend sind. Dieser Fall wäre z. B. bei völlig gleichwertigen Alternativen der Fall.

Ein Beispiel hierfür wäre eine Situation, in der eine Gruppe von Individuen mit dem Auto unterwegs zu einem Ziel ist, zu dem mehrere gleich lange und gleich gute Routen führen. Hier kommt es bei der Frage: "Welche von den Routen ist die beste?" kaum auf die wahre Antwort an, sondern nur noch darauf, dass ohne Zeitverlust die Entscheidung für irgendeine der Routen getroffen wird.

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Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit

In dem Fall, dass die richtige Antwort und das Resultat des richtigen Verfahrens nicht identisch sind, wird also dem Handeln nicht die wahre Behauptung zugrunde gelegt, sondern die durch das Verfahren bestimmte Behauptung. Eine Behauptung, die durch ein gültiges Verfahren hervorgebracht wurde, soll im Folgenden als "verbindlich" bezeichnet werden.

Das Attribut der "Verbindlichkeit" schließt damit nicht notwendig das Attribut der Allgemeingültigkeit ein. Deshalb müssen beide Ebenen deutlich unterschieden werden.

Der Unterschied zwischen Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit wird bereits an dem Umstand deutlich, dass die Beziehung zwischen dem Verfahren und der resultierenden Behauptung keine logische Beziehung ist. Aus dem Satz: "Die Frage x soll durch das Verfahren v entschieden werden!" folgt nicht logisch ein bestimmtes Resultat. Das Verfahren "erzeugt" eine bestimmte Behauptung, die Behauptung wird jedoch nicht aus dem Verfahren logisch deduziert.

Deshalb kann sich aus der Allgemeingültigkeit der Behauptung "Die Frage x soll durch das Verfahren V entschieden werden!" auch nicht die Allgemeingültigkeit der Behauptung ergeben, die Resultat des Verfahrens ist. Denn die Übertragung der Allgemeingültigkeit eines Satzes auf einen andern ist nur dann garantiert, wenn der erstere logisch aus dem letzteren deduziert wird. Es ist also möglich, dass richtige Verfahren zu falschen Resultaten führen und dass die allgemeingültige und die verbindliche Antwort auseinander klaffen.

Im Unterschied zum Anspruch auf Allgemeingültigkeit ist es zur Begründung eines Anspruchs auf Verbindlichkeit nicht erforderlich, inhaltlich auf die Behauptung einzugehen. Erforderlich ist nur der Nachweis, dass die Behauptung Resultat des richtigen Entscheidungsverfahrens ist. Deshalb kann man in Bezug auf die Ebene der Verbindlichkeit auch von einer "verfahrensmäßigen bzw. formalen Richtigkeit" sprechen im Unterschied zu einer "materialen bzw. inhaltlichen Richtigkeit", die nach der hier gewählten Terminologie der Ebene der Allgemeingültigkeit entsprechen würde.

Das Bestreiten der Allgemeingültigkeit einer Behauptung ist aus diesem Grund auch nicht unmittelbar relevant für die Verbindlichkeit dieser Behauptung.

Letztere könnte jedoch dadurch in Frage gestellt werden, dass die Richtigkeit des Verfahrens bestritten wird, durch das die Norm erzeugt wurde.

Über die Richtigkeit der Anwendung eines bestimmten Verfahrens kann nun ein Diskurs geführt werden, der wiederum mit den oben genannten Problemen verbunden ist, so dass zu Sicherstellung des sozialen Friedens hier ein übergeordnetes Verfahren erforderlich ist, das die Verbindlichkeit des Verfahrens der ersten Stufe verbindlich entscheidet. Insofern entsteht hier ein Regress hinsichtlich der Verbindlichkeit erzeugenden Verfahren der Normsetzung.

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Die Stufenfolge Verbindlichkeit erzeugender Verfahren

Im Vorangegangenen war ausgeführt worden, dass die Verbindlichkeit einer Behauptung nicht unmittelbar durch inhaltliche Kritik, sondern nur durch verfahrensmäßige Kritik in Frage gestellt werden kann. Wenn etwa im obigen Waldbrandbeispiel mit Mehrheit beschlossen wurde, nicht weiterzufahren und umzukehren, so wird die Verbindlichkeit dieses Beschlusses nicht dadurch aufgehoben, dass ein Individuum diesen Beschluss für inhaltlich falsch hält. Problematisch wäre die Verbindlichkeit jedoch dann, wenn dies Individuum das Verfahren des Mehrheitsprinzips nicht für das richtige Verfahren in dieser Situation hält.

Nun wäre für das praktische Handeln jedoch nichts gewonnen, wenn in einer solchen Situation statt des Diskurses über die inhaltliche Frage nun ein Diskurs über die verfahrensmäßige Frage geführt werden müsste, der ja ebenfalls von Zeit und Kosten absieht und kein definitives Resultat erzeugen kann.

Dies Problem wäre nur dadurch zu lösen, dass das anzuwendende Verfahren bereits im voraus verbindlich gemacht wird, so dass für den Satz: "Zur Beantwortung dieser Frage soll das Verfahren x angewandt werden!" nicht Richtigkeit sondern seinerseits Verbindlichkeit beansprucht wird.

Um etwa das Verfahren des Mehrheitsprinzips verbindlich zu machen, bedürfte es eines vorgelagerten Verfahrens. Dessen Richtigkeit ließe sich jedoch ebenfalls in Frage stellen, so dass es wiederum der Ausschaltung bzw. Begrenzung des Diskurses durch ein Verbindlichkeit erzeugendes Verfahren bedürfte.

Einen Endpunkt in Form eines in seiner Verbindlichkeit nicht mehr zu bezweifelnden Verfahrens kann es nach den hier entwickelten Überlegungen nicht geben, da Verbindlichkeit immer nur durch ein Entscheidungsverfahren erzeugt werden kann. Das "letzte" Verfahren bzw. die Norm, die die Anwendung dieses Verfahrens fordert, kann selber nicht Verbindlichkeit sondern allein Allgemeingültigkeit beanspruchen.

Durch verfahrensmäßige Erzeugung von Verbindlichkeit kann der Diskurs deshalb zwar auf eine andere Ebene verschoben werden, er kann dadurch jedoch nicht völlig ersetzt werden.

Wenn eine inhaltliche Entscheidung durch ein Verfahren bzw. eine Stufenfolge von Verfahren für jemanden verbindlich sein soll unabhängig davon, ob er diese Entscheidung inhaltlich für richtig hält oder nicht, so kann diese Verbindlichkeit nur gelten, wenn zumindest beim letzten Verfahren Allgemeingültigkeit im Sinne argumentativer Konsensfähigkeit vorausgesetzt wird.

Der Diskurs ist demnach durch kein System von Verbindlichkeiten restlos eliminierbar.

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Das Versprechen als Verbindlichkeit erzeugendes Verfahren

Gegenüber der hier vertretenen Auffassung, dass jedes System von Verbindlichkeit sich letztlich auf die Ebene der Allgemeingültigkeit beziehen muss und Verbindlichkeit nicht völlig losgelöst vom Diskurs existieren kann, könnte die Auffassung vertreten werden, dass es doch ein Verfahren gibt, das aus sich heraus Verbindlichkeit von Normen erzeugen kann und das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, nämlich das Versprechen.

Im obigen Waldbrandbeispiel könnte etwa das Verfahren des Mehrheitsbeschlusses dadurch verbindlich gemacht werden, dass vor der Fahrt jeder Teilnehmer verspricht, dass die Fahrtroute per Mehrheitsbeschluss festgelegt werden soll. Kern des Versprechens ist, dass ein Individuum selber eine bestimmte Norm als für sich verbindlich anerkennt. Es verpflichtet sich durch Zustimmung zur Einhaltung der betreffenden Norm. Insofern mehrere Individuen aufeinander bezogene Versprechen abgeben, spricht man auch von "Abkommen", "Übereinkünften" oder "Verträgen".

Auch auf ganze Normensysteme kann sich der Akt der Anerkennung beziehen, etwa wenn man mit dem Beitritt zu einer Gruppe bzw. Organisation die dort geltenden Normen und Normsetzungsverfahren als für sich verbindlich anerkennt.

Hieran wird deutlich, dass es sich beim Versprechen bzw. entsprechenden Verfahren nicht nur um ein Verfahren unter anderen handelt, sondern dass es hier um ein außerordentlich weit reichendes Verfahren zur Erzeugung von Verbindlichkeit handelt, das im Prinzip jeden Bereich menschlichen Handelns abdecken kann.

Umso wichtiger ist die Frage, ob das Versprechen aus sich heraus Verbindlichkeit für bestimmte Normen erzeugen kann und ob somit eine gegenüber der Ebene des Diskurses völlig unabhängige Verbindlichkeit existieren kann. Wäre dies möglich, so könnte man normative Systeme der Verbindlichkeit entwerfen, ohne jemals inhaltlich das Für-und-Wider dieser Normen erörtern zu müssen.

In diese Richtung geht etwa der Ansatz, den Ilting entwickelt. (Ilting: "Anerkennung"   in: Probleme der Ethik. Hrsg. G. G. GRAU. Freiburg: Alber 1972. S. dazu auch die Kritik bei J. Habermas: Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. S.   ff.)

Kern der Begründung dieses Ansatzes ist dabei die These, dass es unmittelbar evident oder aber analytisch wahr sei, dass man Versprechen bzw. Verträge einhalten solle. Ilting schreibt: "Dass eine vertragliche Übereinkunft einzuhalten ist, das kann überhaupt nicht strittig sein, weil dies ein analytischer Satz ist." (S.101f.)

Ähnlich schreibt der intuitionistische englische Ethiker David Ross: "Ich glaube, es ist offensichtlich, dass wir bei normalem Denken die Tatsache, dass wir ein Versprechen gegeben haben, in sich für hinreichend erachten, um eine Pflicht zu erzeugen, es einzuhalten. … In der Tat erscheint es bei einiger Überlegung selbstverständlich (self-evident), dass ein Versprechen einfach als solches etwas ist, das prima facie eingehalten werden sollte ..." (D. Ross, The Right and the Good. Oxford 1930 , S.37 u. 40. Übersetzung wie bei allen folgenden fremdsprachlichen Zitaten durch den Verfasser.)

Im Detail ausgeführt wurde diese Argumentation von Searle in dem Text "How to derive 'ought' from 'is'" (" Wie man aus einem 'Sein' ein 'Sollen' ableiten kann" ) (Wiederabgedruckt in Ph. FOOT (ed.), Theories of Ethics, Oxford 1967), der eine umfangreiche Diskussion ausgelöst hat.

Darin leitet Searle aus dem deskriptiven Satz: "Jones äußerte die Worte: Hiermit verspreche ich Dir, Smith, fünf Dollar" über mehrere Zwischenschritte den normativen Satz ab: "Jones soll Smith fünf Dollar bezahlen!" (S.102)

Gegenüber dem möglichen Einwand, dass seine Ableitung auf dem moralischen und insofern werthaltigen Prinzip beruhe, dass man seine Versprechen einhalten solle, entgegnet Searle: "Ich weiß nicht, ob 'Man soll seine Versprechen einhalten' ein 'moralisches' Prinzip ist, aber ob es das ist oder nicht, es ist zugleich tautologisch, denn es ist nichts weiter als eine Ableitung aus den beiden Tautologien: 'Alle Versprechen sind (erzeugen, sind Übernahmen von, sind Anerkennungen von) Verpflichtungen' und 'Man soll seine Verpflichtungen einhalten (erfüllen)'."

Und er betont: "... Als eine Frage in Bezug auf Versprechen und nicht in Bezug auf die Institution des Versprechens ist die Frage: 'Soll man Versprechen halten?' ebenso leer wie die Frage: 'Sind Dreiecke dreiseitig?'. Etwas als Versprechen anerkennen bedeutet zuzugestehen, dass es eingehalten werden soll, sofern die andern Umstände gleich bleiben." (S.108)

Die Frage ist nun, ob der Satz "Versprechen soll man einhalten!" tatsächlich tautologisch-analytisch wahr ist und ob sich damit ein Fundament für ein System verbindlicher Normen finden lässt, das von der Ebene des Diskurses völlig unabhängig ist.

Als erstes ist festzuhalten, dass der obige Satz die Existenz der Institution 'Versprechen' voraussetzt, indem das Wort 'Versprechen' benutzt wird.

Wenn unter der Institution 'Versprechen' nun ein Verfahren zur Erzeugung verbindlicher Normen mittels Selbstverpflichtung verstanden wird, so gehört es zu den zentralen Regeln dieser Institution, dass jemand das, was er verspricht, auch tatsächlich tun soll. Als ein Bericht über die Regel einer derartig konstruierten Institution wäre der Satz "Versprechen soll man einhalten!" also in der Tat tautologisch.

Daraus folgt jedoch noch nicht, dass in einer konkreten Handlungssituation die Regeln dieser Institution auch befolgt werden müssen. Um eine konkrete Handlungsnorm abzuleiten, muss zusätzlich vorausgesetzt werden, dass man die Institution 'Versprechen" nicht nur kennt sondern ihre Anwendung in diesem konkreten Fall auch bejaht.

Man kann ohne weiteres zugeben, dass jemand nach den Regeln der Institution ein korrektes Versprechen abgegeben hat - wie immer diese Regeln auch einzelnen konkretisiert sein mögen - und dass nach den Regeln der Institution das Versprochene verbindlich sein soll; trotzdem kann man ohne logischen Widerspruch behaupten, dass in diesem Fall das Versprechen nicht eingehalten werden sollte, weil das Verfahren 'Versprechen' in diesem Fall nicht hätte angewandt werden sollen.

Damit hat man jedoch bereits einen normativen Diskurs darüber eröffnet, unter welchen Bedingungen das Versprechen ein richtiges Verfahren zur Erzeugung verbindlicher Normen ist und unter welchen nicht. Wer zur Erwiderung des Einwandes nur auf die Regeln der Institution pocht etwa mit den Worten "Versprochen ist versprochen!", der verkennt, dass es keinen logischen Zwang gibt, den Regeln dieser Institution zuzustimmen, was immer auch für sonstige Gründe zugunsten einer Einhaltung des Versprochenen angeführt werden können.

Damit ist die oben gestellte Frage dahingehend beantwortet, dass auch dann, wenn die Verbindlichkeit von Normen durch Verfahren der Selbstverpflichtung erzeugt wurde, wie beim Versprechen, diese Verbindlichkeit nicht unabhängig vom Diskurs über die Gültigkeit normativer Behauptungen erzeugt werden kann. (Ähnlich argumentiert auch MACKIE gegen Searle, wenn er auch nicht die Begriffe 'Verbindlichkeit' und 'Wahrheit' benutzt: "Nur durch Berufung auf die Regeln der Institution (und nicht durch ihr bloßes Berichten) kann man schließen, dass er (Jones, E.W.) sich eine Verpflichtung auferlegte, so dass er nun unter dieser Verpflichtung steht. Das Argument ist nicht gültig aufgrund allgemeiner Logik sondern aufgrund einer speziellen Logik, mit der man innerhalb der Institution 'Versprechen' argumentiert." (J. L. MACKIE: Ethics. Inventing Right and Wrong. Harmondsworth 1977, S.68.)

Es könnte nun jemand zugeben, dass vielleicht für unbeteiligte Dritte der Schluss von der Tatsache der Abgabe eines Versprechens auf die Forderung nach dessen Einhaltung eine Bejahung der Institution 'Versprechen' und ihrer Anwendung in diesem Fall voraussetze, und insofern nicht logisch zwingend sei. Dies gelte jedoch nicht für den Versprechenden selbst, denn dieser habe ja durch die Abgabe des Versprechens selber der Anwendung der Institution in diesem Fall zumindest implizit zugestimmt.

In seiner Diskussion des Beispiels von Searle schreibt MACKIE hierzu: "Es mag argumentiert werden, dass (sich Jones, E.W.) dadurch, dass er das Versprechen einmal abgegeben hat, derart in Bezug auf die Institution Versprechen gebunden (committed) hat, dass es nicht bloß ein Sinneswandel sondern falsch für ihn sei, die Bejahung der Institution zu verweigern, wenn der Zeitpunkt der Zahlung gekommen ist. ... Die behauptete Bindung ist genau genommen ein Versprechen: die Behauptung ist, dass Jones - so wie die Dinge liegen - versprochen hat, weiterhin die Institution Versprechen zu bejahen. Aber dann ist dieser Versuch, die Verbindlichkeit eines Versprechens zu begründen, zirkelhaft: Wir müssen voraussetzen, dass Jones seine Verpflichtung in Bezug auf die Institution Versprechen erfüllen soll, bevor wir derart seine Verpflichtung behaupten können, sein Versprechen gegenüber Smith zu halten" (S.70).

Man muss also nicht eine Widersprüchlichkeit auf Seiten des Versprechenden annehmen, wenn er nachträglich die Meinung vertritt, dass er sein Versprechen nicht einhalten sollte. Er kann ja inzwischen seine Meinung über die Anwendung der Institution Versprechen in diesem Fall geändert haben und ist nun nicht mehr der Meinung, dass das Versprechen hier ein sinnvolles Verfahren war.

MACKIE schreibt hierzu bezogen auf das Beispiel von Searle: "Es stimmt, dass Jones nicht ohne 'Inkonsistenz' ablehnen kann, den Satz (5) (= 'Jones soll Smith fünf Dollar bezahlen', E.W.) als innerhalb der Institution gesprochen zu akzeptieren; dies gilt aber nur insofern, als er seine Meinung geändert hat: es gibt hier keine logische Inkonsistenz" (S.71).

Damit ist auch für den Versprechenden selbst nachgewiesen, dass die institutionelle Regel "Versprechen soll man einhalten" als solche nicht ausreicht, um in einer konkreten Handlungssituation eine Verbindlichkeit zu erzeugen.

Letztlich muss auch in Bezug auf den Versprechenden die Bejahung der Institution einschließlich ihrer Anwendung im konkreten Fall hinzukommen. Es bleibt also dabei, dass auch das Verfahren des Versprechens, das auf der faktischen Anerkennung von Normen durch die Normadressaten beruht, einer diskursiven Rechtfertigung bedarf und als richtiges Verfahren vorausgesetzt werden muss, wenn die damit erzeugten Normen verbindlich sein sollen.

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Die Beschränkung der verbindlichen Geltung auf normative Sätze

Oben war ausgeführt worden, dass in konkreten Handlungssituationen, in denen Fragen unter Zeitdruck beantwortet werden müssen und ein definitives Resultat erforderlich ist, ein allein am Ziel der Allgemeingültigkeit ausgerichteter Diskurs ungeeignet ist. Stattdessen müssen andere geeignete Verfahren zur Entscheidung der gestellten Fragen gefunden werden, wobei den resultierenden Antworten dann zwar Verbindlichkeit aber nicht notwendig auch Allgemeingültigkeit zukommt.

Dabei war im Vorangegangenen die Diskussion bewusst auf den Diskurs ganz allgemein bezogen worden, um deutlich zu machen, dass diese Abgehobenheit vom Handeln für jede Form diskursiver Wahrheitssuche gilt. Andererseits betrifft das Problem des Fehlens eines definitiven Resultats in besonderer Weise Fragestellungen, die direkt auf menschliches Handeln bezogen sind, denn die Ebene der Verbindlichkeit wird ja eingeführt, um trotz eines bestehenden inhaltlichen Dissenses die Vorteile eines koordinierten Handelns nutzen zu können.

Dies ist jedoch bereits dadurch möglich, dass bestimmte Normen des Handelns verbindlich gemacht werden. Wenn deren Verbindlichkeit sichergestellt ist, mögen die beteiligten Individuen über alle sonstigen damit zusammen hängenden Fragen denken, wie sie wollen, das gemeinsame und koordinierte Handeln kann durch unterschiedliche Überzeugungen hinsichtlich dieser nicht unmittelbar das Handeln betreffenden Fragen nicht gefährdet werden.

Deshalb bedarf es z. B. für positive Fragen nach dem, was ist oder sein wird, in der Regel auch nicht einer Ebene der Verbindlichkeit zusätzlich zur Wahrheitsebene.

Am obigen Waldbrandbeispiel kann dies noch einmal demonstriert werden. Hier bedarf es einer möglichst schnellen und möglichst richtigen Entscheidung darüber, ob die Gruppe weiterfahren oder umkehren soll. Dies kann auf dem Wege des Diskurses nicht garantiert werden, weshalb es eines Verfahrens bedarf, das die gewünschte Entscheidung verbindlich erzeugt.

Verbindlichkeit muss dabei jedoch nur für die unmittelbar auf das Handeln bezogenen Normen hergestellt werden, also für die Normen: "Wir sollen umkehren!" bzw. "Wir sollen weiterfahren!". Alle anderen damit zusammenhängenden Fragen, wie z. B. die empirische Frage, welchen Straßenabschnitt der Waldbrand früher erreichen wird, brauchen in ihrer Beantwortung nicht verbindlich gemacht zu werden, solange die Handlungsnormen verbindlich sind.

In Bezug auf Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit braucht die Ebene der Wahrheitssuche also nicht durch eine Ebene der Verbindlichkeit ergänzt zu werden.

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass die Institutionalisierung von Verbindlichkeit vor allem für Normen menschlichen Handelns von Bedeutung ist, weshalb im Folgenden die Diskussion darauf beschränkt bleiben soll. (Hinzu kommt noch die Verbindlichkeit der Auslegung und Anwendung von allgemeinen Normen auf den konkrete Einzelfall, die für ein verbindliches Handeln ebenfalls erforderlich sein kann.)

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Besonderheiten der Verbindlichkeitsebene


Die gezielte Geltungsbeschränkung verbindlicher Normen

Die Erzeugung verbindlicher Normen dient einem bestimmten Zweck, der Ermöglichung eines koordinierten Handelns der Individuen trotz eines faktischen Dissens der Überzeugungen.

Hieraus ergibt sich nun eine Reihe von Unterschieden zwischen der Geltung als verbindlich und der Geltung als inhaltlich richtig. Beide Geltungsebenen müssen deshalb deutlich unterschieden werden.

Bereits oben war ausgeführt worden, dass für oder gegen eine als verbindlich gesetzte Norm nicht direkt inhaltlich argumentiert werden kann wie bei normativen Behauptungen einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern dass sich die Verbindlichkeit dieser verfahrensmäßig gesetzten Normen auch nur durch eine Infragestellung des Normsetzungsverfahrens angreifen lässt.

Der Koordinationszweck, der mit der Setzung einer Norm als verbindlich angestrebt wird, kann ja nur dann erreicht werden, wenn die Individuen diese Norm befolgen, unabhängig von ihren möglicherweise unterschiedlichen Überzeugungen hinsichtlich der inhaltlichen Richtigkeit dieser Norm.

Hinzukommt, dass der Koordinationszweck in Bezug auf eine zeiträumlich bestimmte Handlungssituation bereits dadurch erreicht werden kann, dass die Verbindlichkeit auf diese individuelle Handlungssituation eingeschränkt wird.

Wenn etwa in einer bestimmten Handlungssituation S die Norm N als verbindlich gesetzt wird, so folgt daraus nicht, dass in einer späteren Situation S' nun ebenfalls die Norm N verbindlich sein muss, auch wenn S' vom Sachverhalt her völlig gleichartig ist. Denn trotz Anwendung des gleichen Verfahrens kann nun eine andere Norm M als verbindlich herauskommen.

Am Waldbrandbeispiel demonstriert hieße das, dass es ohne weiteres sein kann, dass bei der ersten Waldbrandsituation der verbindliche Mehrheitsbeschluss lautet: "Umkehren!", während in einer zweiten, sachlich völlig gleich gelagerten Situation der Mehrheitsbeschluss lautet: "Weiterfahren!"

Dies wäre auf der Ebene der Allgemeingültigkeit nicht möglich. Wenn es z. B. in der einen Situation S richtig ist, umzukehren, dann muss es auch in einer andern, sachlich völlig gleichartigen Situation S' richtig sein, umzukehren, denn die Interessenlage der Beteiligten und damit das anzustrebende Gesamtinteresse sind bei den gemachten Annahmen in beiden Situationen ja völlig gleich.

Durch die Abhängigkeit der Verbindlichkeit von einer verfahrensmäßigen Setzung ergibt sich auch, dass eine Norm die Verbindlichkeit frühestens mit dem Abschluss des entsprechenden Normsetzungsverfahrens erlangen kann. Es hat keinen Sinn, vorher die Norm als verbindlich zu behaupten. Demgegenüber ist es völlig unproblematisch, von einer Norm, die man heute für allgemeingültig hält, zu sagen, sie sei es auch früher schon gewesen, man habe es nur noch nicht gewusst.

Da die Verbindlichkeit von Normen bewusst gesetzt wird, kann diese in ihrem Geltungsbereich auch gezielt eingegrenzt werden.

Man kann z. B. die Verbindlichkeit einer Norm auf einen bestimmten Zeitraum, auf ein bestimmtes räumliches Territorium oder auf einen bestimmten Personenkreis beschränken, ohne deshalb für gleichartige Verhältnisse zu anderer Zeit, an anderem Ort oder mit anderen Personen ebenfalls dieselben Normen als verbindlich betrachten zu müssen.

Auch dies ist ein Unterschied zur Ebene der Allgemeingültigkeit: Wenn eine Norm zur einen Zeit richtig ist, so muss sie bei sonst völlig gleichartigen Bedingungen auch zu einer anderen Zeit richtig sein. Entsprechendes gilt auch für räumliche und personenbezogene Beschränkungen.

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Widersprüche und Lücken in Systemen verbindlicher Normen

Mit der verfahrensmäßigen Setzung von Normen ist auch die Möglichkeit gegeben, dass es zur Setzung faktisch unvereinbarer oder gar logisch widersprüchlicher Normen kommt, was auf der Ebene nicht möglich wäre.

Ein Beispiel mag das Problem veranschaulichen. Angenommen, das richtige Verfahren zur Normsetzung für eine Gruppe in einer Kriegssituation sei die Leitung durch einen Gruppenführer, dessen Befehle verbindlich sind.

Nun kann es ohne weiteres vorkommen, dass dieser Führer einem Individuum den Befehl erteilt, am nächsten Tag den besten Platz zur Überquerung eines Flusses zu erkunden, ohne daran zu denken, dass er für denselben Tag dem betreffenden Soldaten bereits einen anderen Auftrag gegeben hatte, etwa die Reparatur eines Fahrzeugs, die mit der ersten Aufgabe faktisch unvereinbar ist.

Dann bestehen für das Individuum zwei verbindliche Handlungsnormen, deren Erfüllung faktisch unmöglich ist, da das Individuum entweder nur die eine oder nur die andere Aufgabe erfüllen kann, aber nicht beide zugleich.

Vor allem in mehrstufigen und verfahrensmäßig stark ausdifferenzierten Normsetzungsverfahren ist es aufgrund von Unklarheiten und Überschneidungen der verschiedenen Zuständigkeiten leicht möglich, dass es zu miteinander nicht zu vereinbarenden oder sogar widersprüchlichen Normsetzungen kommt.

Ein Beispiel wäre etwa eine Erdbebenkatastrophe, bei der die Regierung des betroffenen Staates mehrere mit Weisungsbefugnissen ausgestattete Beauftragte in das Erdbebengebiet entsendet, die jeweils unterschiedliche Zuständigkeiten haben. In dieser Situation ist es ohne weiteres möglich, dass aufgrund mangelnder Koordination der für Gesundheitsfragen Zuständige den Polizeikräften andere Aufgaben zuteilt als der für Verkehrsfragen Zuständige.

Bei derartigen Widersprüchen und Unvereinbarkeiten zwischen verbindlich gesetzten Normen kann natürlich das Ziel der Handlungskoordination nicht erreicht werden, das letztlich mit der Erzeugung von Verbindlichkeit verfolgt wird. Es bedarf deshalb zusätzlicher Regelungen, um solche Widersprüche auszuschalten.

Hierzu existieren in der Praxis bereits verschiedene Möglichkeiten. Man kann etwa festlegen, dass Normen einer hierarchisch übergeordneten Instanz die von einer niedrigeren Instanz gesetzten Normen aufheben, oder dass die zeitlich später gesetzte Norm im Falle eines Konfliktes die frühere Norm aufhebt, oder dass die speziellere Norm die allgemeinere Norm aufhebt, oder dass bis zur Entscheidung durch eine für solche Widersprüche zuständige Instanz keine der Normen Verbindlichkeit besitzt.

Die eher technischen Probleme, die mit den verschiedenen Verfahren zur Auflösung von Widersprüchen verbunden sind, werden in der juristischen Methodenlehre diskutiert und sollen hier nicht weiter verfolgt werden.

Insofern solche Widersprüche immer Fehler im Normensystem darstellen, kommt es natürlich darauf an, die Verfahren der Normsetzung von vornherein so zu gestalten, dass solche Widersprüche möglichst gar nicht erst entstehen können, indem in die Verfahren entsprechende Konsistenzprüfungen eingebaut werden und die Zuständigkeiten möglichst genau abgegrenzt werden.

Mit der Abhängigkeit verbindlicher Normen von der verfahrensmäßigen Setzung ist weiterhin die Möglichkeit von Lücken verbunden, d. h. dass u. U. für bestimmte normative Fragen überhaupt keine Entscheidungen vorliegen und dass sie durch die eigentlich zuständigen Instanzen auch nicht mehr rechtzeitig bereitgestellt werden können. "Rechtzeitig" ist dabei bezogen auf den Entscheidungsdruck einer konkreten Handlungssituation.

Auch die Lückenproblematik wird in der juristischen Methodenlehre abgehandelt, und es werden dort verschiedene Lösungsmöglichkeiten angegeben.

Eine Methode zur Schließung von Lücken ist die Schaffung von Ersatzinstanzen, die in der Lage sind, rechtzeitig die nötigen schnellen Entscheidungen zu treffen. Insofern diese jedoch nicht die eigentlich "richtigen" Instanzen der Normsetzung darstellen, bedarf es hier zusätzlicher Sicherungen, wie etwa der nachträglichen Bestätigung durch das eigentlich vorgesehene Verfahren oder der Bindung der Ersatzinstanz an eine "sinngemäße" Lückenfüllung, d. h. ihre Verpflichtung auf eine Entscheidung, die mit den Intentionen der übrigen bereits verbindlichen Normen möglichst übereinstimmt.

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Soll die Verbindlichkeit von Normen unbedingt gelten?

Im Vorangegangenen war ausgeführt worden, dass die Verbindlichkeit einer Norm nicht einfach dadurch in Frage gestellt werden kann, dass inhaltlich gegen diese Norm argumentiert wird, sondern dass die Verbindlichkeit einer Norm nur kritisiert werden kann, indem man das Verfahren in Frage gestellt wird.

Da es immer möglich ist, das betreffende Verfahren in Frage zu stellen, gilt eine Verbindlichkeit im hier entwickelten Sinn niemals unbedingt.

Eine schwierigere Frage ist es, ob man - vorausgesetzt das Normsetzungsverfahren ist unstrittig - eine unbedingte Befolgung der als verbindlich gesetzten Normen fordern soll: Oder sollen in außergewöhnlichen Fällen auch inhaltliche Mängel der Norm einen Grund zur Aufhebung der Verbindlichkeit dieser Norm darstellen.

Wie bereits festgestellt, sollen inhaltliche Einwände eigentlich die Verbindlichkeit einer Norm nicht in Frage stellen können, denn die Schaffung der Verbindlichkeitsebene hatte ja gerade den Zweck, die inhaltliche Diskussion definitiv zu beenden und trotz eines möglichen Dissenses ein koordiniertes Handeln der Individuen zu ermöglichen. Würden inhaltliche Argumente immer voll durchschlagen, so wäre die Etablierung einer besonderen Geltungsebene der Verbindlichkeit völlig überflüssig. Man braucht z. B. keine verbindlichen kollektiven Beschlüsse zu fassen, wenn hinterher trotzdem jeder das Recht hat, so zu handeln, wie er es persönlich für richtig hält.

Andererseits ist die Koordinierung individueller Handlungen selber nicht das einzige Ziel, das erreicht werden soll. Dies zeigt sich bereits daran, dass die perfekte Koordinierung individueller Handlungen auch eine kriminelle Organisation auszeichnen kann.

Koordinierung der individuellen Handlungen ist insofern kein Selbstzweck, sondern soll der Realisierung des Gesamtinteresses dienen. Verbindliche Koordination verhindert, dass bei faktischem Dissens über das Gesamtinteresse ein Resultat entsteht, das nicht im Gesamtinteresse liegt, obwohl jeder sein Handeln an dem ausrichtet, was er für das Gesamtinteresse hält.

Eine andere, ebenfalls unbefriedigende Konsequenz fehlender Verbindlichkeit wäre es, wenn daraufhin nun jeder individuell eine Sicherheitsstrategie wählt, die zwar für ihn selbst das Schlimmste verhindert, die aber die eigentlich mögliche Befriedigung seines eigenen und des Gesamtinteresses bei weitem verfehlt.

Trotzdem bleibt das Problem, dass ein geltendes Verfahren u. U. ein extrem falsches Resultat hervorbringt, das dem Gesamtinteresse völlig widerspricht. Es sind also Fälle denkbar, in denen das Resultat sehr viel besser wäre, wenn statt der Befolgung der als verbindlich gesetzten Norm die Einzelnen entsprechend ihren Überzeugungen vom Gesamtinteresse handeln würden.

Beispiele für katastrophale Mehrheitsbeschlüsse, Befehle oder Verträge lassen sich ohne weiteres finden. Dabei muss das gewählte Verfahren der Normsetzung nicht einmal falsch sein, und es kann auch völlig korrekt angewandt worden sein.

Kein Verfahren ist narrensicher und auch das beste Verfahren kann durch eine Verkettung unglücklicher Umstände einmal extrem falsche Resultate erzeugen. Dies ergibt sich bereits dadurch, dass an den Normsetzungsverfahren gewöhnlich Menschen beteiligt sind und dass diese Menschen in ihren Reaktionen manchmal "unberechenbar" sind.

Die Frage ist, wie in solchen Situationen verfahren werden soll.

Besteht man auf einer unbedingten Verbindlichkeit, so nimmt man Resultate in Kauf, die dem Gesamtinteresse u. U. in katastrophaler Weise zuwiderlaufen.

Erklärt man dagegen in diesem Fall die Verbindlichkeit für aufgehoben, so besteht die Gefahr einer Aushöhlung der Verbindlichkeit, weil die Individuen sich ständig auf ihre abweichenden Überzeugungen vom Gesamtinteresse berufen. Ob es sich dabei um echte Überzeugungen handelt oder nur um vorgeschobene Gründe zur Verdeckung partikularer Interessen, lässt sich sowieso schwer feststellen.

Eine Aushöhlung der Verbindlichkeit erzeugenden Verfahren und Institutionen bedeutet, dass auch in den unproblematischen Fällen die Vorteile verbindlicher Normsetzung nicht mehr genutzt werden können, weil kein Vertrauen mehr in die tatsächliche Befolgung der verfahrensmäßig gesetzten Normen besteht. Die Folge ist, dass die Verfahren nicht mehr ernst genommen oder gar nicht mehr praktiziert werden.

Der ideale Weg zur Vermeidung dieses Dilemmas ist der Einbau von Korrektur- und Revisionsmöglichkeiten in das Normsetzungssystem selber. d. h. die Entscheidung darüber, ob eine bisher verbindliche Norm befolgt werden soll oder nicht, wird selber verbindlich getroffen, so dass die Ebene der Verbindlichkeit nicht durchbrochen wird und die Koordination nicht aufgehoben wird.

Eine Möglichkeit dazu besteht darin, dass das Problem, das falsch entschieden wurde, von derselben Institution erneut entschieden wird. Beispiele hierfür wären eine Gremium, das seine bereits gefällten Mehrheitsentscheidung nach erneuter Beratung abändert, ein Befehlshaber, der seinen Befehl zurücknimmt und durch einen neuen Befehl ersetzt, ein Gericht, das den Fall eines bereits rechtskräftig Verurteilten wieder aufnimmt, oder Vertragsparteien, die ihren bereits geschlossenen Vertrag einvernehmlich ändern.

Allerdings ist auch die Wiederholung des Verfahrens mit Problemen verbunden. Zum einen garantiert auch die Wiederholung des Verfahrens nicht die Verbesserung des Resultats. Zum andern kann die Korrektur der Entscheidung zu spät kommen, weil das unerwünschte Resultat bereits eingetreten ist.

Als weiteres Problem sind die Entscheidungskosten zu nennen, die durch eine wiederholte Behandlung derselben Frage sehr stark ansteigen können, bis hin zur völligen Überlastung und Blockierung der Institution durch Revisionsversuche.

Für beide Probleme lassen sich natürlich wiederum Lösungen finden. So kann zur Vermeidung irreparabler Schäden ein vorläufiges beschleunigtes Verfahren wie z. B. eine "einstweilige Verfügung" institutionalisiert werden, durch die bis zur endgültigen Entscheidung bestimmte Handlungen untersagt werden.

Gegen das Problem der Überlastung mit Revisionsversuchen lassen sich Beschränkungen des Rechts auf Revision denken.

Wenn eine Frage demselben Verfahren zur Revision erneut vorgelegt wird, so besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die Gründe für die bisherige Fehlentscheidung fortbestehen. Außerdem wirken sozialpsychologische Faktoren bei den beteiligten Personen dahingehend, dass eigene Fehler nur ungern zugegeben werden. Aus diesem Grund ist es meist sinnvoll, dass eine andere, möglichst "unvorbelastete" Instanz zuständig für die Korrektur ist. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Einrichtung von Verwaltungsgerichten zur Überprüfung und Korrektur von Verwaltungsentscheidungen.

Doch bringt eine derartige Aufspaltung der Kompetenz zur Setzung verbindlicher Normen andere Probleme mit sich, weil dadurch die Abstimmung sachlich interdependenter Normen aufeinander weniger gut gewährleistet ist.

Ein Beispiel hierfür wäre es etwa, wenn ein Verwaltungsgericht einer Gemeinde die Ansiedlung eines Industrieunternehmens verbietet, während die Gemeinde bereits eine Vielzahl weiterer Entscheidungen unter der Voraussetzung getroffen hat, dass die Ansiedlung stattfinden wird.

Bei Revisionen bereits verbindlich gewesener Entscheidungen stellt sich generell das Problem, dass inzwischen Individuen im berechtigten Vertrauen auf die Verbindlichkeit der aufgehobenen Norm ihrerseits Entscheidungen getroffen haben, die sich angesichts der neuen Normenlage als vollkommen falsch und nachteilig erweisen.

Auch hier lassen Lösungen denken wie Bestimmungen über den Vertrauensschutz betroffener Individuen bei nachträglicher Feststellung der "Nichtigkeit" oder "Unwirksamkeit" bestimmter Normen bzw. "Rechtsgeschäfte".

In modernen Rechtssystemen existiert zu dieser Problematik ein hoch differenziertes begriffliches Instrumentarium, dessen Diskussion jedoch den Rahmen dieser Überlegungen sprengen würde.

In Fällen, wo nicht genügend Zeit vorhanden ist, um eine formelle Korrektur auf dem verfahrensmäßig vorgesehenen Wega herbeizuführen, können Verfahren institutionalisiert werden, die nachträglich verbindlich entscheiden, ob eine unter akutem Handlungsdruck vorgenommene Abweichung von verbindlich gesetzten Normen erlaubt war oder nicht, so dass in diesem Fall die Durchbrechung der Verbindlichkeitsebene zumindest nur zeitweilig ist.

Beispiele hierfür sind etwa die Bestimmungen über "Notstand" oder "Notwehr" in modernen Rechtsordnungen. Entsprechendes gibt es auch im Bereich nicht rechtlich geregelter Verbindlichkeiten.

Angenommen Individuum A hat dem Individuum B das Versprechen gegeben, es pünktlich um 20 Uhr vom Bahnhof abzuholen. A fährt mit seinem Auto rechtzeitig los. Er wird aber unterwegs Zeuge eines schweren Unfalls, bei dem er den Verletzten Erste Hilfe leistet, so dass er die Verabredung nicht einhalten kann.

In diesem Fall kann B nachträglich das Verhalten von A billigen und damit das gegebene Versprechen nachträglich in seiner Verbindlichkeit aufheben.

Wie die Beispiele zeigen und wie eine gründlichere Untersuchung moderner Rechtsordnungen noch deutlicher zeigen würde, sind im Normsetzungssystem selber vorgesehene Wege zur Korrektur verbindlicher Normen von außerordentlicher Bedeutung, Damit kann das Problem einer möglichen Diskrepanz zwischen den verbindlichen und den inhaltlich richtigen Normen zumindest teilweise entschärft werden.

Die Frage, inwiefern innerhalb eines bestimmten Normsetzungssystems eine effektive Revision falscher aber verbindlicher Normen möglich und wahrscheinlich ist, ist selber ein wichtiger Gesichtspunkt dafür, ob dieses Normsetzungssystem als Ganzes richtig und argumentativ konsensfähig ist oder nicht.

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Systemtranszendente Aufhebung der Verbindlichkeit

Wie bereits oben festgestellt wurde, kann keine verfahrensmäßige Regelung garantieren, dass inhaltlich falsche Normen tatsächlich korrigiert werden. Wenn das System jedoch eine falsche Norm setzt und diese nicht korrigiert, lässt sich das aufgezeigte Dilemma zwischen der Erklärung des möglicherweise extrem Falschen als verbindlich einerseits und der Gefahr einer Aushöhlung außerordentlich nützlicher Institutionen andererseits nicht umgehen.

Es erscheint nun nicht sinnvoll, dies Dilemma völlig zugunsten des einen oder des anderen Gesichtspunktes aufzulösen. Stattdessen muss die Berechtigung zur Nichtbefolgung inhaltlich falscher aber aus richtigen Verfahren resultierender Normen durch ein Abwägen der Vor- und Nachteile im konkreten Einzelfall geprüft werden.

Eine solche Abwägung kann auch dazu führen, dass eine verbindlich gesetzte Norm nicht befolgt werden sollte, weil die Norm selber extrem falsch ist und die schädlichen Rückwirkungen auf die an sich richtigen Verfahren der Normsetzung weniger schwer wiegen. Da keine systemimmanente Korrektur stattgefunden hat, kann diese Berechtigung nur argumentativ erwiesen werden. Sie besteht also nur auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit, nicht jedoch auf der Ebene verfahrensmäßig erzeugter Verbindlichkeiten.

In juristischen Begriffen ausgedrückt heißt das: Auch wo ein verfahrensmäßige richtiges Rechtssystem in einem bestimmten Fall einen "Notstand" bei der Verletzung einer verbindlichen Rechtsnorm nicht anerkennt, kann es trotzdem eine moralische Berechtigung zur Nichtbefolgung dieser Norm geben.

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Die Einführung genereller Normen: Vorteile und Probleme

Im Vorangegangenen wurde dargestellt, aus welchen Gründen es sinnvoll ist, zusätzlich zur Ebene der argumentativen Wahrheitsfindung eine Ebene der verbindlichen Normsetzung durch Verfahren zu schaffen. Hauptargument war hier, dass sich nur durch die Setzung verbindlicher Normen die positiven Möglichkeiten der sozialen Kooperation im Sinne einer Befriedigung des Gesamtinteresses voll ausgeschöpft werden können. Die Setzung verbindlicher Normen stellt insofern eine notwendige Konkretisierung des Normenproblems dar.

Eine andere Konkretisierung, die für die Gestaltung realer Normensysteme ebenfalls von großer praktischer Bedeutung ist, besteht in der Anwendung genereller Normen anstelle von spezifischen Normen für jeden einzelnen Fall.

Ein Beispiel für eine spezifische Norm, die nur für ein bestimmtes Individuum in einer ganz bestimmten Situation gilt, wäre der Satz: "Ich verbiete dir, dies Grundstück jetzt zu betreten!"

Dagegen wäre die Norm: "Ich verbiete dir ein für alle mal, dies Grundstück zu betreten!" bereits genereller in Bezug auf die zeitlicher Dimension.

Und die Norm: "Ich verbiete jedem, jemals dies Grundstück ohne Genehmigung des Eigentümers zu betreten!" wäre zusätzlich genereller in Bezug auf die Normadressaten, von denen die Handlung bzw. deren Unterlassung gefordert wird. (Zum unterschiedlichen Allgemeinheitsgrad von Normen s. a. WRIGHT, Norm and Action, London 1963, S.81. WRIGHT unterscheidet dabei Generalisierungen in Bezug auf die Normadressaten und in Bezug auf die Anwendungsbedingungen der Norm.)

Derartige Generalisierungen können nicht nur für die inhaltlichen Handlungsnormen durchgeführt werden, sondern sie können auch für Verfahrensnormen der Normsetzung Anwendung finden, wenn ein Verfahren nicht nur auf einen individuellen Fall sondern auf mehrere Fälle angewandt werden soll.

Eine vollkommen spezifische Verfahrensnorm dieser Art wäre z. B. der Satz: "Individuum A soll entscheiden, ob Individuum B jetzt dies Grundstück jetzt betreten darf!"

Dagegen wäre der Satz: "Individuum A soll jeweils entscheiden, ob irgendein Individuum dies Grundstück betreten darf!" eine in Bezug auf die Situation und die Normadressaten generellere Verfahrensnorm.

Für die Setzung generellerer Normen anstelle von spezifischeren Normen gibt es nun eine Reihe von Gründen.

Vorteilhaft ist die dadurch mögliche Senkung der Entscheidungskosten: Wenn man statt für jede Situation eine spezifische Norm zu setzen für mehrere Situationen oder für bestimmte Arten von Situationen gemeinsam geltende Normen setzt, so verringern sich natürlich die Entscheidungskosten erheblich, weil der Vorgang der Normfindung und ihrer verbindlichen Setzung nur ein einziges Mal durchgeführt werden muss. Das setzt allerdings voraus, dass nicht mit jedem Fall die generelle Norm geändert wird. Insofern ist nicht nur die generelle Formulierung der Norm entscheidend sondern zusätzlich deren zeitliche Stabilität und die dadurch ermöglichte Anwendung auf mehr als nur eine Situation.

Weitere Vorteile genereller Normen hängt ergeben sich daraus, dass es mit ihrer Hilfe möglich ist, auch zukünftiges Verhalten festzulegen. Die Anwendung spezifischer Einzelnormen für zukünftige Situationen scheitert meist daran, dass sich die zukünftigen Situationen nicht detailliert genug vorherbestimmen lassen.

Dagegen ist die Normierung zukünftigen Verhaltens kein Problem, wenn man für bestimmte Arten von Situationen generelle Normen formuliert, unabhängig davon, ob und wann diese Situationen tatsächlich eintreten. (S. dazu auch LUHMANN über die Vorteile konditionaler Normen innerhalb von Hierarchien, in: Politische Planung, S. …)

Durch die Setzung genereller Normen, die auch für die Zukunft Geltung haben, kann die Normfindung vom Zeitdruck befreit werden, der bei spezifischen Normsetzungen in der jeweiligen Situation meist besteht. Mit dieser Entlastung vom direkten Handlungsdruck besteht die Möglichkeiten zur Anwendung von Normsetzungsverfahren, die in starkem Maße Elemente des Diskurses enthalten. Damit kann die Diskrepanz zwischen wahren Normen und verbindlichen Normen kleiner gehalten werden.

Eine solche Bewahrung diskursiver Elemente auch in den Verfahren verbindlicher Normsetzung ist jedoch unter dem Gesichtspunk des Gesamtinteresses immer von Vorteil, sofern nicht übermäßige Entscheidungskosten dagegen stehen. (Ein analoges Argument für generelle Prinzipien gibt es auch bei Entscheidungen, die allein der Verfolgung des Eigeninteresses dienen. Solche generellen Entscheidungsprinzipien können in Ruhe überlegt und überprüft werden, während man bei Einzelentscheidungen von Fall zu Fall meist unter Zeitdruck steht.)

Durch die bereits in der Vergangenheit erfolgte Setzung genereller Normen können zwei weitere Probleme vermieden werden.

Zum einen können dadurch Kosten vermieden werden, die durch verzögerte Entscheidungen entstehen, wenn schnelles Handeln zum Erzielen besserer Resultate erforderlich ist.

Ferner kann vermieden werden, dass man vor völlig ungeregelten Situationen steht, weil überhaupt keine entsprechende Normsetzung stattgefunden hat. Normlosigkeit bedeutet jedoch im besten Fall, dass jeder nach seinen eigenen normativen Überzeugungen handelt. Sie kann jedoch auch einen Machtkampf provozieren, der nur durch das Eigeninteresse der Beteiligten beschränkt ist.

In beiden Fällen sind die Auswirkungen unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses eher negativ. Nicht zuletzt zur Vermeidung eines normlosen Zustandes sind deshalb generelle Normen üblich, die automatisch solange in Kraft bleiben, bis sie durch eine andere Normsetzung abgelöst werden.

Die stabile Normierung zukünftiger Situationen, die mit Hilfe genereller Normen möglich ist, schafft auch die Bedingung für eine längerfristige Planung und Koordination individueller oder kooperativer Handlungsabläufe. Die Individuen wissen, welche Normen zukünftig gelten werden und mit welchem Verhalten der andern sie zu rechnen haben. Dadurch können sie sich darauf einstellen und Ziele erreichen, die sonst unerreichbar wären.

Die Argumente, die oben für die Einführung einer Ebene der Verbindlichkeit angeführt wurden, treffen also in verstärktem Maß für die verbindliche Setzung genereller Normen zu.

Ein anderer Gesichtspunkt, unter dem es vorteilhaft ist, möglichst generelle Handlungs- und Verfahrensnormen zu setzen, besteht in der Vereinfachung des Erlernens und Behaltens der Normen durch die Normadressaten. Dadurch, dass Normen für sehr viele Fälle gelten, können Umfang und Komplexität des geltenden Normensystems erheblich reduziert werden.

Damit wird zugleich eine wichtige Vorbedingung für die Realisierung der Normen erfüllt, denn man kann nur dann eine Norm gezielt befolgen, wenn man sie auch kennt. In der Gesetzgebungstechnik wird deshalb auf die möglichst generelle Formulierung, die eine übersichtliche und kurze Darstellung des normativen Gehalts erlaubt, zu Recht besonderer Wert gelegt. (Weitere Gründe für die Setzung genereller Normen, die sich aus Problemen ihrer Realisierung ergeben, werden unten noch gesondert behandelt.)

Unter bestimmten Bedingungen findet durch die Formulierung genereller Normen auch eine Erleichterung des Konsensbildungsprozesses statt. Dies ist immer dann der Fall, wenn Nutznießer und Benachteiligte der generellen Norm von Fall zu Fall wechseln und nicht personell identisch sind. Dann ist das Eigeninteresse bezüglich der generellen Norm sehr viel unbestimmter als bei spezifischen Normen für einen Einzelfall.

Schließlich sei noch angeführt, dass auch methodische Gründe für die Setzung genereller Normen sprechen. Wenn Normen nur dann wahr sein können, wenn sie auf einer solidarischen Berücksichtigung aller Interessen beruhen, dann müssen Normen, die für ein bestimmtes Individuum gelten, auch für jedes andere Individuum gelten, sofern es sich in einer entsprechenden Situation befindet.

Deshalb sollten als Normadressaten nicht spezifische Individuen genannt sein, sondern die Norm sollte generell für Individuen mit bestimmten Merkmalen formuliert werden.  Hier liegt die Berechtigung dafür, dass die liberale Theorie des Rechtsstaats den allgemeinen Gesetzen, deren Normadressat jeder Bürger sein könnte, den Vorzug gab gegenüber Normen, die Einzelfälle regeln, wie etwa Verwaltungsakte.

Neben diesen Vorteilen, die mit der verbindlichen Setzung genereller Normen verbunden sind, gibt es jedoch dabei auch Nachteile, die in bestimmten Bereichen einen Verzicht auf generelle Normen sinnvoll machen.

Wie bereits die Redewendung sagt, "liegt jeder Fall anders" und man "darf nicht alles über einen Leisten schlagen". Den Besonderheiten des Einzelfalls kann eine generelle Norm jedoch nicht Rechnung tragen.

Zum einen deswegen, weil in der Zukunft Fälle auftauchen können, von denen man sich bei der Setzung der generellen Normen noch gar keine Vorstellung machen konnte und deren normativ relevante Besonderheiten deshalb in der Formulierung noch nicht berücksichtigt werden konnte.

Ein Beispiel hierfür ist etwa der Stromdiebstahl, der in die herkömmliche Definition des Diebstahls als "Wegnahme einer fremdem, beweglichen Sache" nicht passte.

Zum andern sind der Differenzierung genereller Normen durch Ausnahmeregelungen Grenzen gesetzt, wenn man nicht die Vorteile wieder zunichte machen will, die gerade auf der Einfachheit und Stabilität solcher Normen beruhen.

Wollte man die feinsten normativ relevanten Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen bei der Formulierung der generellen Norm berücksichtigen, so wäre diese schließlich so unübersichtlich und kompliziert, dass sie weder unter dem Gesichtspunkt des Entscheidungsaufwands noch unter dem Gesichtspunkt der Information und verbindlichen Orientierung der Normadressaten eine große Verbesserung gegenüber der Setzung spezifischer Normen von Fall zu Fall darstellen würde. Ein gewisser Schematismus erscheint deshalb unvermeidlich.

Ein Beispiel soll die Vor- und Nachteile genereller Normen noch einmal verdeutlichen.

Angenommen es geht um die Frage, ab wann in einem Haus mit mehreren Bewohnern die Nachtruhe eingehalten werden soll, um einen ungestörten Schlaf zu ermöglichen. Weiterhin sei angenommen, dass bereits die generelle Verfahrensnorm besteht, dass alle die Hausordnung betreffenden Fragen von den Bewohnern durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden sollen. Weiterhin sei bereits festgelegt, dass die beschlossenen Normen für alle Hausbewohner in gleicher Weise gelten sollen, also keine Normen spezifisch für bestimmte Individuen gesetzt werden sollen.

Wollte man nun von Abend zu Abend entscheiden, ab wann die Nachtruhe einzuhalten ist, so wäre der Entscheidungsaufwand gewaltig. Dasselbe würde natürlich auch gelten, wenn zwar generelle Normen gesetzt würden, diese aber jeden Tag umformuliert würden.

Zum andern bestünde immer die Gefahr, dass man in Zeitdruck gerät, weil die Entscheidung vor dem betreffenden Abend gefällt sein muss. Die Gefahr fehlender Regelung wäre nicht auszuschließen und angesichts des Zeitdrucks würde die inhaltliche Argumentation wahrscheinlich zugunsten bloßer Abstimmung zurücktreten.

Bei der Festsetzung der Nachtruhe von Fall zu Fall besteht außerdem ein größeres Informationsproblem, denn die Bewohner müssen sich jeden Abend auf Neue erkundigen, welcher Zeitpunkt gilt und müssen sich unter Umständen ständig wechselnde Zeiten merken. Eine Planung und Koordination über längere Zeit im Voraus ist kaum möglich. Man kann z. B. nicht wissen, wie lange man mit seinen Gästen am nächsten Tag Geburtstag feiern darf.

Schließlich ist auch einsichtig, dass bei einer Festsetzung der Nachtruhe von Abend zu Abend eine argumentative Einigung durch die akuten individuellen Interessenkonflikte erschwert wird, weil die gerade Ruhebedürftigen eher für einen frühen Zeitpunkt plädieren werden und diejenigen, die gerade feiern wollen, eher für einen späten.

Auch die Nachteile genereller Normen lassen sich an diesem Beispiel veranschaulichen. Es könnte z. B. ohne weiteres sein, dass an bestimmten Tagen die schematisch festgesetzte Nachtruhe, angenommen sie sei auf 22 Uhr festgelegt, sehr unpassend ist, weil aus irgendwelchen Gründen die Interessen fast der gesamten Bewohner in dieselbe Richtung gehen, z. B. die Nachtruhe erst später anzusetzen. Hier ist die generelle Norm dann inflexibel, und im Einzelfall mögliche Verbesserungen unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses können nicht realisiert werden.

Natürlich ließe sich das Problem der Starrheit und des Schematismus gegenüber besonders gelagerten Fällen durch Ausnahmeregelungen entschärfen, die von vornherein in die generelle Norm mit einbezogen werden. Man könnte etwa formulieren: "Ab 22 Uhr ist die Nachtruhe einzuhalten. Ausnahmen können gemacht werden, wenn mindestens dreiviertel aller Bewohner dies wünschen."

Allerdings werden solche Aufweichungen der generellen Norm immer einen Kompromiss darstellen zwischen dem einen Ziel möglichst großer Sicherheit hinsichtlich zukünftig geltender Normen und dem andern Ziel einer möglichst guten Anpassung der Normen an unvorhergesehene Situationen. Beide Ziele stehen im Widerspruch zu einander.

Bei Entscheidungen von Fall zu Fall ist die gezielte Diskriminierung oder Bevorzugung bestimmter Individuen sehr viel leichter als bei generellen Regelungen. Da Normsetzungsverfahren gegen Machtverhältnisse nicht immun sind. spricht auch dies für generelle Regelungen. Vielleicht nur ein einziger Bewohner in seinem Vertrauen auf die generelle 22-Uhr-Regelung enttäuscht wurde, so ist doch niemand mehr mit der Möglichkeit dieser Ausnahmeregelung vollständige Sicherheit in Bezug auf die Dauer der Nachtruhe gegeben. Welches Ausmaß an Generalisierung sinnvoll ist und welcher Raum für Ausnahmen von der generellen Regel gelassen werden soll, muss deshalb im jeweiligen Fall aufgrund einer Abwägung der dargestellten Vor- und Nachteile entschieden werden.

So wie es bei generellen Normen mehr oder weniger starke Aufweichungen durch Ausnahmeregelungen gibt, so kann es auch bei Einzelentscheidungen Generalisierungsprinzipien geben, etwa wenn eine Bindung an frühere Entscheidungen, also an Präzedenzfälle vorgeschrieben ist. Dadurch besteht auch bei Einzelentscheidungen die Möglichkeit, relativ stabile Erwartungen hinsichtlich zukünftig geltender Normen zu schaffen,

Wie diese Überlegungen deutlich machen, erfordert die Existenz verbindlicher genereller Normen vom Individuum einen weitgehenden Verzicht auf ein Handeln gemäß den eigenen Überzeugungen. Wie oben dargelegt wurde, muss eine verbindliche Norm - abgesehen von Extremfällen - trotz inhaltlicher Mängel befolgt werden. Bei generellen Normen können diese inhaltlichen Mängel im individuellen Einzelfall besonders auffällig sein, und es mag sogar der Fall sein, dass bei einer Normsetzung für den Einzelfall die Anwendung desselben Normsetzungsverfahrens eine von der generellen Norm abweichende Regelung erbringen würde. Trotzdem mag es zur Erhaltung der mit einer generellen Normsetzung verbundenen Vorteile und insbesondere zum Schutz derjenigen, die auf die weitere Geltung der generellen Norm vertraut haben, sinnvoll sein, die generelle Norm auch in solchen Fällen zu befolgen, in denen sie inhaltlich zu bemängeln ist.

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                 Die Realisierung verbindlicher Normen

Normdiskussion mit und ohne Voraussetzung vollkommener Befolgung

Im Vorangegangenen wurde von der Frage ausgegangen, welche Normen befolgt werden sollen, wobei zwischen den beiden Ebenen der Allgemeingültigkeit und der Verbindlichkeit unterschieden wurde. Dabei wurde offen gelassen, wie man die Allgemeingültigkeit einer Norm diskutieren soll: ob unter der Annahme, dass die Norm auch tatsächlich von allen befolgt wird, oder unter der Annahme einer nur teilweisen bzw. völlig fehlenden Befolgung.

Je nachdem, welche Annahme man macht, kann die Bewertung einer Norm jedoch unterschiedlich sein. Es kann ohne weiteres sein, dass eine bestimmte Norm N dem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse entsprechen würde, wenn sie vollständig befolgt würde, dass dieselbe Norm jedoch bei teilweiser Nichtbefolgung zu außerordentlich schlechten Resultaten führen würde.

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Angenommen für die Bauern eines Gebiets ist es das Beste, die Obstsorte X anzubauen, da diese die besten Erträge bringt. Allerdings ist diese Sorte besonders anfällig gegen bestimmte Schädlinge.

Die systematische Schädlingsbekämpfung wird nun als Norm verbindlich gemacht, etwa durch einstimmigen Beschluss.

In der Folge hält sich jedoch einer der Bauern nicht an diese Norm und vernachlässigt die Schädlingsbekämpfung. Da sich die Schädlinge von seinem Grundstück schnell auf die umliegenden Grundstücke ausbreiten, wird die Ernte des gesamten Gebietes schwer in Mitleidenschaft gezogen. Da also die Norm (Pflicht zur Schädlingsbekämpfung) nicht vollständig befolgt wurde, wäre es in diesem Fall besser gewesen, gar keine solche Norm zu haben. Dann hätten die Bauern wahrscheinlich auch nicht im Vertrauen auf die Existenz dieser Norm die anfällige Obstsorte gepflanzt, sondern hätten sich mit weniger ertragreichen aber widerstandsfähigeren Sorten begnügt. Paradox formuliert war es also falsch, die "an sich" richtige Norm der Schädlingsbekämpfung als verbindlich zu setzen.

Es besteht allerdings noch eine weitere Möglichkeit, die unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses u. U. zu den besten Ergebnissen führt. Diese Möglichkeit sieht so aus, dass die Bauern zwar die ertragreiche Obstsorte anpflanzen und die Schädlingsbekämpfung für verbindlich erklären, dass sie aber zusätzlich alle Beteiligten dazu verpflichten, diese Norm auch tatsächlich zu befolgen. Damit wird das Realisierungsproblem ausdrücklich in die Überlegungen mit einbezogen und der zusätzliche Aufwand, der mit der Durchsetzung der Schädlingsbekämpfung verbunden ist, kann dann durch die damit gesicherte Ertragssteigerung u. U. mehr als aufgewogen werden.

Das Beispiel zeigt, dass es bei der Frage: "Welche Norm soll gesetzt werden?" nicht hinreicht, die zur Entscheidung stehenden Normen unter der Voraussetzung zu diskutieren, dass sie auch tatsächlich befolgt werden, sondern dass in die Überlegungen mit einbezogen werden muss, welcher Grad an Durchsetzung mit welchen zusätzlichen Kosten zu erreichen ist. Denn Maßnahmen zur Normdurchsetzung sind keine durch den guten Zweck unbedingt gerechtfertigten Mittel, sondern sie tangieren selber das Gesamtinteresse, um dessen Realisierung es ja letztlich geht.

Deshalb ist die Norm, die dem Gesamtinteresse am besten entsprechen würde, wenn sie befolgt würde, nicht unbedingt diejenige Norm, die gesetzt werden sollte, etwa wenn die Durchsetzung der Befolgung unter den gegebenen Bedingungen unmöglich oder zu aufwendig wäre. Ob eine bestimmte Norm gesetzt werden soll oder nicht, hängt somit auch von den Bedingungen ihrer Durchsetzbarkeit ab, wozu nicht zuletzt die Motivation und die Befähigung der Normadressaten zur Befolgung dieser Norm gehören.

Während man bei der Frage: "Welche Norm soll befolgt werden?" auf einer ersten Stufe der Überlegungen noch von der Frage der Durchsetzbarkeit abstrahieren kann, muss bei der Frage: "Welche Norm soll gesetzt werden?" dies Problem in die Überlegungen notwendig mit einbezogen werden.

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Anthropologische Annahmen und Voraussetzungen

Bevor das Problem der Durchsetzbarkeit näher analysiert wird, muss noch auf einen möglichen Einwand eingegangen werden. Es könnte nämlich gefragt werden, ob mit der Einbeziehung der Durchsetzungsproblematik nicht bereits ein bestimmtes, womöglich pessimistisches Menschenbild vorausgesetzt wird, etwa dass der Mensch von Natur aus egoistisch sei.

Dem ist zu entgegnen, dass es hier nur darum gehen kann, von möglichst realistischen Annahmen über das Verhalten der Normadressaten auszugehen, die für Menschen der Gegenwart und eine absehbare Zukunft zutreffen. Die Frage, inwiefern es sich dabei um unveränderliche Eigenschaften der menschlichen Natur handelt, kann dabei völlig offen bleiben.

Geht man von dieser Fragestellung aus, so ist nicht zu sehen, inwiefern das Durchsetzungsproblem, das in der Gegenwart ja existiert, in absehbarer Zukunft verschwinden wird, selbst wenn man weitgehende Veränderungen politischer, ökonomischer, kultureller oder technischer Art annimmt. Es besteht nämlich weder Grund zu der Annahme, dass das Eigeninteresse als wichtige Motivationsquelle verschwinden wird, noch kann davon ausgegangen werden, dass Diskrepanzen zwischen individuellen Interessen und Gesamtinteresse verschwinden werden.

Folgende Überlegungen können die letztere These verdeutlichen. Nach der hier vertretenen Position ist das zu realisierende Gesamtinteresse durch eine solidarische Zusammenfassung aller Interessen zu bestimmen. Eine Übereinstimmung zwischen allen individuellen Interessen und dem Gesamtinteresse kann deshalb nur dann eintreten, wenn die individuellen Interessen untereinander identisch sind. Eine solche Übereinstimmung muss jedoch nicht immer gegeben sein. Selbst wenn man annimmt, dass die Menschen einander in ihrer Bedürfnisstruktur sehr ähnlich sind und folglich unter gleichartigen Lebensbedingungen auch gleichartige Interessen entwickeln, bedeutet das noch keine Übereinstimmung ihrer Interessen. Denn gleichartige Interessen führen unter Bedingungen der Knappheit von Mitteln der Bedürfnisbefriedigung nicht zu Interessenübereinstimmung sondern zu Interessenkonflikt.

Wenn etwa die Interessen von zwei Frauen darin übereinstimmen, dass sie den gleichen Mann heiraten möchten, so führt das zumindest unter den Bedingungen der Monogamie zu einem Interessenkonflikt. Selbst wenn man die Annahme der Motivation auch durch Eigeninteresse einmal fallen lässt und voraussetzt, dass im Zweifelsfall die Motivation zur Realisierung des Gesamtinteresses stärker ist als das individuelle Interesse, so folgt daraus noch nicht eine Befolgung der gesetzten Normen. Denn wie die obige Erörterung des Diskurses gezeigt hat, kann in konkreten Handlungssituationen der Dissens oft nicht argumentativ beseitigt werden, so dass eine Divergenz möglich ist zwischen derjenigen Norm, die nach Überzeugung der Individuen die richtige ist, und derjenigen Norm, die schließlich durch das gewählte Verfahren verbindlich gemacht wurde.

Wenn man nun weiterhin davon ausgeht, dass die Überzeugung von dem, was inhaltlich richtig ist, ebenfalls eine wichtige Motivationsquelle darstellt, so ergibt sich hier eine weitere Tendenz zur Verletzung verbindlich gesetzter Normen. Es ist nicht einzusehen, weshalb zumindest diese beiden Quellen normwidrigen Verhaltens – abweichendes individuelles Interesse und abweichende Überzeugungen vom Gesamtinteresse - in absehbarer Zukunft verschwinden werden.

Außerdem gibt es weitere Faktoren abweichenden Verhaltens wie Fahrlässigkeit, Willensschwäche, Intelligenzmängel, psychische Erkrankungen etc., die hier nicht berücksichtigt wurden. Deshalb muss die Problematik der Durchsetzung von Normen gesondert untersucht werden.

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Bedingungen für die Realisierung der Norm

Normen drücken nicht aus, was ist, war oder sein wird, sondern was sein soll. Sie fordern insofern ein bestimmtes Eingreifen in den Gang der Dinge, sie fordern zu einem bestimmten Handeln auf. Eine indirekte Aufforderung zum Handeln liegt dann vor, wenn ein bestimmter Zustand als gesollt vorgeschrieben wird, ohne dass explizit gemacht wird, wer mit welchen Handlungen dieses Ziel erreichen soll. Ein Beispiel wäre: "Im nächsten Jahr soll die Zahl der Verkehrstoten um mehr als 5 % gesenkt werden!".)

Wenn die Erfüllung einer Norm, d. h. die Realisierung des Gesollten entscheidend vom Handeln bestimmter Normadressaten abhängt, so erscheinen dafür drei Bedingungen von besonderer Wichtigkeit:

1. Der Normadressat muss die Norm kennen, die er erfüllen soll

2. Er muss sie erfüllen wollen und

3. Er muss sie erfüllen können.

Die Normerfüllung kann also scheitern an mangelnder Kenntnis der Norm, am mangelnden Willen zur Normerfüllung und an der mangelnden Fähigkeit dazu. Diese drei Bedingungen der Normerfüllung durch die Normadressaten, die im Alltag meist unproblematisiert Verwendung finden, sollen im Folgenden näher analysiert werden. (Da in der juristischen Literatur bereits ein differenziertes Instrumentarium zur Klassifizierung der verschiedenen Gründe für die Normverletzung entwickelt wurde, kann auf diese Literatur verwiesen werden. S. dazu etwa CREIFELDS, Rechtswörterbuch, Stichwort "Verschulden" und die dort gegebenen Hinweise.) Hier sollen nur die für den weiteren Gang der Überlegungen notwendigen Unterscheidungen kurz erläutert werden.

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Mangelnde Kenntnis der Norm

Wenn man nicht voraussetzt, dass der Normadressat sowieso so handelt, wie die Norm es von ihm verlangt - wodurch eine Normgebung eigentlich überflüssig wird -, so ist dessen Kenntnis der Norm eine notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Norm. "Normverletzungen aus Unkenntnis der Norm" lassen sich in verschiedene Unterarten gliedern. Zu nennen wären etwa folgende Gründe der Unkenntnis:

1. Die Norm wurde dem Normadressaten überhaupt nicht mitgeteilt.

2. Die Norm wurde fehlerhaft, missverständlich, unpräzise oder lückenhaft mitgeteilt

3. Dem Normadressaten fehlte die notwendige Intelligenz, um den Sinn der Norm zu verstehen, etwa wenn sie sehr kompliziert oder mit Fachbegriffen formuliert wurde.

4. Dem Normadressaten fehlte das notwendige Gedächtnis, um die Norm zu behalten, etwa wenn die Zahl der Normen sehr groß ist und die Normen sehr kompliziert sind.

5. Der Normadressat hat nicht die notwendigen Anstrengungen unternommen, um sich über den Inhalt der Norm zu informieren, obwohl dies von den äußeren Umständen her möglich war. Die Grenzen, die der Normkenntnis durch beschränkte menschliche Intelligenz- und Gedächtnisleistungen gegeben sind, lassen sich dabei durch spezielle Informationseinrichtungen erweitern, wie z. B. geschriebene Gesetzesbücher, Gesetzeskommentare, Rechtsberater und Rechtsanwälte.

Doch angesichts des Zeitdrucks in vielen Handlungssituationen ist eine bestimmte Normkenntnis bei den Normadressaten selber unersetzbar. Wenn jemand immer erst einen Rechtsanwalt anrufen muss, um zu wissen, ob er nach geltendem Recht einen flüchtenden Einbrecher notfalls mit Gewalt festhalten darf, so nützt ihm dessen Auskunft nichts mehr, weil der Einbrecher inzwischen längst über alle Berge ist.

An den genannten Punkten wird weiterhin deutlich, dass man die die Gründe für die Unkenntnis der Norm wiederum unterteilen kann in mangelndes Können und mangelnden Willen zur Normkenntnis.

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Mangelnder Wille zur Normerfüllung

Selbst wenn jemand weiß, was von ihm gefordert wird, und er dies auch ausführen kann, so wird er dann nicht entsprechend handeln, wenn es ihm am nötigen Willen zur Einhaltung der Norm fehlt.

Ohne den Begriff des "Willens" hier bereits näher zu analysieren, lassen sich dabei folgende Arten einer "Normverletzung mangels Willen zur Normerfüllung" unterscheiden:

Bereits angesprochen wurde die Möglichkeit, dass zwischen der Befolgung der Norm und Befriedigung des Eigeninteresses für den Normadressaten eine Diskrepanz besteht und dass er sein eigenes Interesse verfolgt, anstatt die Norm zu erfüllen. Diesen Fall könnte man "Normverletzung aus Eigeninteresse" nennen.

Ebenfalls bereits angesprochen wurde die Möglichkeit, dass das Individuum die Norm inhaltlich für falsch hält und in seinem Handeln sich gemäß seiner Überzeugung und nicht gemäß der geltenden Norm verhält. Dies wäre "Normverletzung aus Überzeugung".

Ein weiterer Fall willentlicher Normverletzung könnte als "Normverletzung aus Misstrauen" bezeichnet werden. Hier hält das Individuum die Norm nur dann für richtig, wenn sie auch tatsächlich befolgt wird. Da es aber an der Normbefolgung durch die anderen Individuen zweifelt, hält es sich auch selber nicht an die Norm.

Während es in vielen Fällen sicherlich unproblematisch ist, eine Normverletzung auf mangelnden Willen zurückzuführen, so z. B. beim "Überzeugungstäter" oder beim erklärten Egoisten, so gibt es zahlreiche Fälle, wo es keineswegs klar ist, inwiefern man hier von "mangelndem Willen" sprechen kann. Man denke z. B. an Normverletzungen, die im Affekt oder aus Fahrlässigkeit begangen wurden. Bevor darauf näher eingegangen wird, soll jedoch erst die "Normverletzung aus Unfähigkeit zur Normerfüllung" behandelt werden.

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Mangelnde Fähigkeit zur Normerfüllung

Selbst wenn ein Individuum die an ihn adressierte Norm kennt und auch den Willen zu ihrer Erfüllung hat, wird es trotzdem eine Norm dann nicht erfüllen, wenn ihm die entsprechende Fähigkeit dazu fehlt.

Auch hier lassen sich wiederum verschiedene Fälle unterscheiden. Der eine wäre "Normverletzung wegen logischer Unmöglichkeit der Erfüllung". Wenn z. B. ein Normensystem dieselbe Handlung sowohl gebietet als auch verbietet, so ist diese Normensystem beim besten Willen unerfüllbar, da eine der beiden Normen mit logischer Notwendigkeit verletzt werden muss, wenn ein entsprechender Fall auftaucht.

In ähnlicher Weise logisch unmöglich ist die Erfüllung von Normen wie "Verhaften sie den Brandstifter!", wenn ein Brand durch Selbstentzündung entstanden ist, oder "Schließen Sie das Fenster!", wenn das Fenster bereits geschlossen ist.

Ebenfalls beim besten Willen unerfüllbar sind Normen, die etwas fordern, dessen Realisierung naturgesetzlich oder technisch unmöglich ist.

Ein Beispiel für die "naturgesetzliche Unmöglichkeit der Erfüllung" wäre der Befehl: "Konstruieren Sie ein Perpetuum mobile!" oder "Machen Sie das Unglück von gestern ungeschehen!"

Ein Beispiel für die "technische Unmöglichkeit der Erfüllung" wäre gegeben, wenn, Individuum A aus New York mit Individuum B in Berlin telefoniert und von ihm verlangt: "Du musst in einer halben Stunde bei mir sein!".

Während in den bisherigen Fällen die Normerfüllung für niemanden möglich war, gibt es auch Fälle, in denen es nur von den entsprechenden Kenntnissen, Fertigkeiten und Hilfsmitteln des jeweiligen Normadressaten abhängt, ob er eine Norm erfüllen kann oder nicht.

Wenn ich jemandes Telefonnummer nicht kenne, so kann ich ihn nicht anrufen. Wenn ich nicht schwimmen kann, kann ich den Fluss nicht durchqueren. Wenn ich keine Säge habe, kann ich den Balken nicht zersägen.

Normen, die von einem Individuum derartiges fordern, sind aus "Mangel an Kenntnissen, Fertigkeiten oder Hilfsmitteln" vom betreffenden Normadressaten nicht erfüllbar.

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Grenz- und Mischformen mangelnden Wollens und Könnens

Während es in vielen Fällen unproblematisch ist, eine Normverletzung auf mangelnden Willen oder mangelndes Können des Normadressaten zurückzuführen, gibt es weite Bereiche menschlichen Verhaltens, wo es nicht einfach möglich ist zu sagen: "Er wollte nicht so handeln, wie es die Norm verlangt" oder "Er konnte nicht so handeln, wie es die Norm verlangt".

Dies ist allerdings nicht verwunderlich angesichts der erheblichen begrifflichen und empirischen Probleme, die eine nähere Bestimmung menschlichen Willens und menschlicher Fähigkeiten aufwirft.
(………..)

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von Normen *** (66 K)
    Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von Normen - Notizen** (10 K)
 

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Letzte Bearbeitung: 28.11.07 / Eberhard Wesche

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