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Soziale Verbindlichkeit und

inhaltliche Richtigkeit von Normen

Notizen


Inhaltliche Richtigkeit und soziale Verbindlichkeit

Der argumentative Konsens ist nicht geeignet, in der Praxis eine soziale Koordination zu erreichen. Dazu bedarf es Verfahren, die – trotz unterschiedlicher Überzeugungen der Einzelnen - Normen als für alle Beteiligten verbindliches "Recht" in Kraft setzen.

Die Verfahren der Normsetzung (Abstimmungen, Wahlen, Verträge, Entscheidungsbefugnisse, etc.) sollen die soziale Koordination ermöglichen. Insofern sind sie danach zu bewerten, inwiefern durch ihre Anwendung die soziale Koordination gelingt.

Zugleich sollen die durch Verfahren als "verbindlich" gesetzten Normen auch inhaltlich möglichst richtig, also allgemein akzeptabel sein. Insofern sind die Verfahren der Normsetzung auch danach zu bewerten, inwiefern die daraus hervorgehenden Normen inhaltlich richtig sind.

Die Verfahren der Normsetzung erfordern einen bestimmten Aufwand. Insofern sind sie auch nach der Höhe dieses Aufwands zu bewerten.

Damit ergibt sich eine komplexere Situation als bei der rein inhaltlichen Diskussion.

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Bei vielen normativen Fragen sind unterschiedliche Antworten rational vertretbar, weil man risikobehaftete Annahmen machen muss. In diesem Fall kommt es nicht zum Konsens, auch wenn alle danach streben. Wenn in dieser Situation jeder sich gemäß der Norm verhält, die er für inhaltlich richtig hält, ist keine soziale Koordination möglich. 

Die eigene Überzeugung, dass die geltenden Normen nicht dem Gemeinwohl entsprechen, ist für sich genommen deshalb noch keine ausreichende Rechtfertigung für die Nicht-Befolgung dieser Normen.

Ohne soziale Koordination gibt es keine Kooperation, keine Konfliktvermeidung und keine Verständigung zwischen den Einzelnen. Ohne soziale Koordination sind die Einzelnen letztlich nicht überlebensfähig.

Koordinationsabhängig ist der Bereich der Kommunikation. Wenn jemand die Kommunikation verbessern will, so nützt ihm die individuelle Praktizierung der neuen verbesserten Sprachelemente (Worte, Abkürzungen, Schriftzeichen etc.) nichts, wenn die andern deren Bedeutung nicht kennen. Bei der Einführung eines neuen Begriffs bedarf es deshalb einer Erläuterung des eigenen Handelns (z. B. in Form einer Übersetzung des neuen Begriffs in bereits bekannte Begriffe) und einer Erläuterung der hinter dieser Neuerung stehenden Überlegungen.

Koordinationsabhängig ist auch der Bereich der symbolischen Umgangsformen. Wenn es in einer Gesellschaft Sitte ist, die Anwesenden in der Reihenfolge ihres sozialen Ranges zu begrüßen, so kann es von den Ranghöchsten als persönliche Missachtung verstanden werden, wenn jemand aus demokratischer Überzeugung die Anwesenden in der räumlich gegebenen Reihenfolge begrüßt. Es bedarf auch hier einer Erläuterung des eigenen Handelns und der dahinter stehenden abweichenden Überzeugung.

Wenn in einer Gesellschaft die Frauen ihre weiblichen Reize verbergen müssen, wenn sie ihre Frauenehre behalten und nicht als "Flittchen" gelten wollen, so kann es als Aufforderung zur sexuellen Kontaktaufnahme missverstanden werden, wenn eine junge Frau ihr schönes langes Haar zeigt. Dabei handelt sie nur gemäß ihrer Überzeugung, dass es für eine Frau nichts Entehrendes ist, die Aufmerksamkeit und Bewunderung fremder Männer zu erregen. Auch hier bedarf es der Erläuterung des eigenen Handelns und der dahinter stehenden veränderten Überzeugung.

Stark koordinationsabhängig ist die Zusammenarbeit bei der Herstellung eines gemeinsamen Werkes. Jemand mag inhaltlich Recht haben mit seiner Überzeugung, dass eine veränderte Arbeitsorganisation (z. B. Einschieben einer halbstündigen Pause um 10 Uhr vormittags) besser wäre als durchzuarbeiten. Er würde jedoch das Gegenteil von dem erreichen, was er beabsichtigt, wenn er als Einziger um 10 Uhr das Werkzeug ablegen und die Frühstücksbrote herausholen würde. Hier würde auch eine Erläuterung seiner Überzeugung hinsichtlich der positiven Auswirkung der Pause nicht ausreichen, weil die Arbeitsabläufe real gestört bleiben.

Die verschiedenen Handlungsbereiche sind also in unterschiedlichem Maße abhängig von der sozialen Koordination und empfindlich gegen unkoordiniertes Handeln.

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Wenn mehrere Individuen eine "Gesellschaft" bilden, die gemeinschaftlich handeln soll, bedarf es sozialer Institutionen, die Normen setzen, die für alle Mitglieder verbindlich sind, unabhängig davon, ob die Mitglieder die getroffenen Entscheidungen für die besten halten oder nicht.

Andererseits sollen diese verbindlichen Normen inhaltlich möglichst dem unparteiisch bestimmten und abgewogenen Gemeinwohl entsprechen.

Eine Möglichkeit zur Lösung dieses Problems besteht darin, dass die Gesellschaftsmitglieder in einem ersten Schritt eine "verfassunggebende Versammlung" bilden und gemeinsam beschließen, wie die Entscheidungen der Gesellschaft zustande kommen sollen, die dann für alle verbindlich ist.

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Dies "In-Kraft-Setzen von Normen" kann durch verschiedenste Verfahren erfolgen:

Aufteilung der Entscheidungsbefugnisse über Sachen und Personen durch Eigentumsrechte, Elternrechte, Erbrechte, Gemeindeselbstverwaltung, Länderhoheit, Staatssouveränität,

 - Verträge wie Tauschvertrag, Kaufvertrag, Mietvertrag, Werkvertrag, Arbeitsvertrag, Gesellschaftsvertrag, Ehevertrag,

 - Abstimmungen nach verschiedenen Kriterien wie relative, absolute, dreiviertel Mehrheit oder Einstimmigkeit,

 - Befehlsbefugnisse und Hierarchien.

Es können auch Kombinationen dieser Verfahren angewendet werden.

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Die Ebene der inhaltlichen Richtigkeit von Normen und die Ebene der sozialen Verbindlichkeit bestehen nebeneinander und keine der beiden ist durch die andere ersetzbar.

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Ein alltäglicher Konflikt

Rentner Müller sieht, dass Leute im Park grillen, obwohl das verboten ist. Bevor Rentner Müller wegen des unerlaubten Grillens die Polizei holt, versucht er es noch einmal mit Argumenten. Es ergibt sich zwischen Rentner Müller und einem der Grillfreunde folgender Dialog:

Rentner Müller: "Dass Sie das Grillverbot für sachlich unbegründet halten, kann doch kein Argument gegen die Verbindlichkeit des Gesetzes zum Schutz der Grünanlagen sein. Ich bin auch mit manchen Gesetzen nicht einverstanden, z. B. mit der Benzinsteuer, aber deswegen bin ich doch nicht berechtigt, diese Gesetze zu ignorieren. Wenn jeder nur das tut, was er inhaltlich für richtig hält, dann klappt doch gar nichts mehr und wir stehen ständig vor ungelösten Konflikten, so wie z. B. jetzt."

Der Grillfreund: "Und wenn schon! Na und?"

Rentner Müller: "Soll das heißen, dass das geltende Recht für Sie keinerlei Verbindlichkeit besitzt?"

Der Grillfreund: "Sie sagen es!"

Rentner Müller: "Wenn ich jetzt meinen Schäferhund auf sie hetzen würde, und sie nach einigen schmerzhaften Bissen die Flucht ergreifen würden, dann würden sie mich also nicht wegen gefährlicher Körperverletzung anzeigen?"

Der Grillfreund kommt ins Grübeln. Aber dann antwortet er: "Ich würde nicht auf rechtliche Schritte verzichten, um meinen Überzeugungen Geltung zu verschaffen, aber die Rechtsordnung ist für mich dabei nur ein Mittel zum Zweck. Wo das Recht mit meinen Überzeugungen konform geht, benutze ich es. Wo es meinen Überzeugungen nicht entspricht, versuche ich, es zu umgehen."

Für den Grillfreund gibt es also nur die moralische, inhaltliche Geltungsebene von Normen. Die Probleme, die aus einem möglichen moralischen Dissens entstehen, sieht er nicht oder legt ihnen zumindest keine Bedeutung bei.

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Verbindlichkeit und inhaltliche Richtigkeit von Normen *** (66 K)
   
Normativer Diskurs und verbindliche Normen *** (93 K)

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Letzte Bearbeitung 14.07.2007 / Eberhard Wesche

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