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Sinn und Rechtfertigung der Strafe


Inhalt
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Die Fragestellung
Die Bestrafung und deren Androhung schwächen den Willen zur Normverletzung
Alternativen zur Strafe
Nicht-willentliche und eingeschränkt willentliche Normverletzung
Strafe zur Wiederherstellung einer konsensfähigen Ordnung
Strafe als Genugtuung für die Opfer der Normverletzung


Textbeginn:
 
Die Fragestellung

Die besten Handlu
ngsnormen sind vergebens, wenn sie nicht befolgt werden. Deshalb muss eine Theorie der Normsetzung die Probleme ihrer Durchsetzung mit einbeziehen. In den folgenden Überlegungen geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen die Androhung und Durchführung einer Strafe zur Durchsetzung von Normen verwendet werden soll. Als "Strafe" wird hier jeder Schaden (Nachteil, Übel oder Leid) bezeichnet, der einem Menschen deswegen zugefügt wird, weil dieser eine gesetzte Norm willentlich verletzt hat. Um die verschiedenen Probleme nicht zu vermischen, wird im Folgenden angenommen, dass die verletzten Normen nicht korrekturbedürftig sind. Das Problem nicht zu rechtfertigender Normen und unberechtigter Strafen wird hier also ausgeklammert. Auch auf besondere Bereiche wie Bestrafung in der Erziehung oder die Bestimmung des Strafmaßes wird hier nicht eingegangen.

Von einer "Strafe" wird nach der obigen Definition nur dann gesprochen, wenn die normverletzende Handlung "willentlich" geschieht. Damit ist gemeint, dass die normverletzende Handlung - im Folgenden als "Tat" bezeichnet - mit voller Absicht und freiem Willen geschieht. Nur dann kann man ein Individuum für sein Tun verantwortlich machen und entsprechend bestrafen.



Die Strafe und deren Androhung schwächen den Willen zur Normverletzung
Wer eine Norm willentlich verletzt, will sich in der Regel dadurch einen Vorteil verschaffen. So vergrößert ein erfolgreicher Dieb durch die Verletzung der Eigentumsnormen seinen Besitz. Die Strafe setzt der Normverletzung einen Nachteil entgegen. Der ertappte Dieb muss das gestohlene Fahrrad an den Eigentümer zurückgeben und zusätzlich eine Strafe verbüßen. Durch die Androhung einer Strafe für die willentliche Verletzung einer bestimmten Norm wird der Wille der Normadressaten, also derjenigen, die die Norm befolgen sollen, verändert.  Wenn das Parken im Parkverbot nahezu ausnahmslos zu einer fühlbaren Geldstrafe führt, wird der Autofahrer eher das Falschparken unterlassen, als wenn er nur mit einer Belehrung rechnen muss. Wenn man annimmt, dass die Einzelnen in aller Regel keinen Schaden erleiden wollen, dann wird durch eine Bestrafung bzw. deren Androhung ihr Wille (ihre Motivation) zur Verletzung der betreffenden Norm geschwächt.

Alternativen zur Strafe

Zur Verringerung von Normverletzungen gibt es neben der Strafandrohung eine Reihe weiterer Möglichkeiten:

 - Man kann durch Argumentation, Belehrung, Information und Aufklärung die vernünftige Einsicht in die Notendigkeit und Richtigkeit der Norm (Rechtsbewusstsein, Moralverständnis) fördern. Wenn es gelingt, die Normadressaten von der Berechtigung einer Norm zu überzeugen, so ist dies die denkbar stabilste Grundlage für die Durchsetzung einer Norm.

 - Man kann durch Einübung, Gewöhnung und vorbildliches Verhalten der Erziehungspersonen bereits im Kindesalter die Aneignung ("Verinnerlichung") von Normen fördern. Dabei wird in der Persönlichkeit des Einzelnen eine Instanz in Form des Gewissens ("Über-Ich") ausgebildet und geschärft, die auch das eigene Handeln vom Standpunkt der verinnerlichten Normen aus beurteilt und bei Normverletzungen mit "Gewissensbissen", Scham- und Schuldgefühlen sowie Selbstvorwürfen reagiert. Wie die Redewendung vom "gewissenlosen" Normverletzer anzeigt, ist diese Instanz jedoch von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgebildet. Außerdem sind die Inhalte des Gewissens von Mensch zu Mensch wegen der unterschiedlichen Erziehungsinhalte nicht immer gleich.

 - Man kann in der moralischen Erziehung an das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung (Ansehen, Achtung, Ehre etc.) anknüpfen, das bei den allermeisten Menschen vorhanden ist. Ein Normverletzer, der allgemein verachtet wird, kann dies Bedürfnis nicht befriedigen. Ihm bleibt höchstens die Anerkennung im kriminellen Milieu. Da der Mensch ein geselliges, soziales Wesen ist, das als isoliertes Einzelwesen normalerweise nicht überleben kann, ist seine Stellung in den verschiedenen sozialen Einheiten (Familie, Verwandtschaft, Staat, Schule, Betrieb, Nachbarschaft, Verein, Gemeinde etc.) für den Einzelnen in der Regel großer Bedeutung.

 - Man kann bestimmte Arten von Normverletzungen wie Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung etc. durch besondere Schutzvorkehrungen verhindern oder zumindest erschweren (Zäune, Mauern, Gräben, Ketten, Schlösser, kugelsichere Westen, Bunker, Alarmanlagen, Wachpersonal, künstliche Beleuchtung, Elektrozäune o. ä.) .

 - Man kann wichtige Normen durch begleitende Normen vor ihrer Verletzung schützen ("flankierende Maßnahmen"). So kann man z. B. das Verbot der Einnahme einer berauschenden Droge dadurch stützen, dass man bereits die Herstellung und den Handel damit unter Strafe stellt.

 - Man kann denjenigen, die die Norm befolgen, eine Belohnung in Aussicht stellen und so den Willen der Einzelnen zur Normbefolgung verstärken ("positive Sanktionierung").

Weitere Maßnahmen sind denkbar und neue Maßnahmen können entdeckt werden. Wie sich jedoch bei den unterschiedlichsten Gesellschaftsordnungen zeigt, kann zwar auf den oben genannten Wegen vieles erreicht werden. Letztlich reichen die genannten Maßnahmen jedoch nicht aus, um die geltenden Normen hinreichend vor Verletzungen zu schützen, so dass auf eine Bestrafung nicht verzichtet werden kann.   

Nicht gewollte Normverletzungen und eingeschränkt gewollte Normverletzungen
Bisher wurde davon ausgegangen, dass jemand, der etwas tut, dies auch tun will, dass also jemand, der eine Norm verletzt, diese Norm auch verletzen will. Diese Voraussetzung ist normalerweise gegeben. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen jemand etwas tut, was seinem eigentlichen Willen nicht entspricht. Solche nicht oder nur eingeschränkt gewollten Normverletzungen treten z. B. auf ...

 - ... wenn der Normverletzer (im Folgenden auch kurz als "Täter" oder "Straftäter" bezeichnet) zur Normverletzung (im Folgenden als "Tat" oder "Straftat" bezeichnet) gezwungen wird. Ein Beispiel: Der Kassierer einer Bank wird durch die Drohung mit einer geladenen Pistole zur Herausgabe von Geld an einen nicht Berechtigten genötigt.

 - ... wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat "nicht er selber ist". Dies kann der Fall sein bei der Einnahme von Rauschmitteln wie Alkohol oder Kokain, bei psychischen Erkrankungen, die mit Wahnvorstellungen oder triebhaften Zwangshandlungen einhergehen, unter Hypnose, bei extremen psychischen Belastungen etc.
   
 -... wenn dem Täter die Tat versehentlich oder unabsichtlich "passiert" ist, z. B. wenn eine Krankenschwester zwei ähnlich verpackte Medikamente verwechselt und der Patient nach deren Einnahme stirbt.

 - ... wenn dem Täter gar nicht bewusst ist, dass er mit seinem Handeln eine bestimmte Norm verletzt, wie z. B. bei Unkenntnis einer geltenden Norm oder bei Missverständnissen in Bezug auf den Inhalt einer Norm etc. Dies ist generell der Fall bei unmündigen Kindern, die viele Normen und deren Wichtigkeit nicht kennen.

In den genannten Fällen ist der Wille zur Normbefolgung vorhanden und kann auch durch eine Bestrafung nicht mehr verstärkt werden. Deshalb ist in diesen Fällen eine Bestrafung zumindest unter dem Gesichtspunkt der Normdurchsetzung sinnlos. (Es kann allerdings sinnvoll sein, Handlungen, die voraussehbar zu derart ungewollten Normverletzungen führen, unter Strafe zu stellen wie z. B. die Nichtbeachtung von Informationspflichten hinsichtlich der geltenden Normen, den unkontrollierten Konsum von Rauschmitteln oder die mangelnde Sorgfalt bei besonders wichtigen oder gefährlichen Tätigkeiten.)

Die Bestrafung eines Normverletzers ist unter dem Gesichtspunkt der Normdurchsetzung außerdem dann überflüssig, ...

  ... wenn der Täter sein Denken und Handeln nach der Tat glaubhaft verändert hat, wenn er die Tat aufrichtig bereut und wenn nicht zu erwarten ist, dass er eine solche Tat noch einmal begeht. Dazu ist jedoch ein entsprechendes Verhalten erforderlich (Mitgefühl mit den Opfern, Bemühen um eine Wiedergutmachung des Schadens, Bitte um Vergebung, Mitarbeit bei der lückenlosen Aufklärung der Tat etc.).

  ... wenn ein Täter durch die Begleitumstände der Tat "bereits genug bestraft ist". Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der Täter bei der Ausführung der Tat abstürzt und in der Folge sein weiteres Leben lang auf einen Rollstuhl angewiesen ist.


 Eine Betrafung ist auch dann nicht gerechtfertigt, ...

  ... wenn der Täter die Norm verletzt hat, um nicht eine andere wichtigere Norm verletzen zu müssen. Ein Beispiel für einen solchen Normenkonflikt ist es, wenn jemand trotz Verbotsschild ein privates Grundstück betritt, um schnelle Hilfe für einen lebensgefährlich Verletzten zu holen.

Man kann in Bezug auf den Willen zur Normverletzung verschiedene Varianten unterscheiden:

 - die vorsätzliche normverletzende Tat. Der Täter kennt die Norm, die er verletzt, und er kennt die angedrohten Strafen. Ihm geht es dabei allein um seinen Vorteil; 
 - die Überzeugungstat: Der Täter ist von der Ungültigkeit und Ungerechtigkeit der von ihm verletzten Norm überzeugt und bekennt sich zu seiner Tat.
 - die bedingt vorsätzliche Tat. Der Täter tut etwas, was im Grenzbereich zwischen ungewollter und gewollter Normverletzung liegt. So kann der Gebrauch einer Schusswaffe für den Täter notwendig werden, wenn eines der Opfer den ihm bekannten Täter erkennt. Er weiß von dieser Gefahr, denn die Tat findet im eigenen Milieu statt. Der Täter nimmt diese Möglichkeit trotzdem billigend in Kauf.
 - die fahrlässige Tat. Der Täter will keine Normverletzung, jedoch kommt es dazu, weil er die notwendige erhöhte Sorgfalt vermissen lässt.
 - die Tat im Affekt. Der Täter befindet sich in einer emotionalen Ausnahmesituation.
 - die Tat in einer außergewöhnlichen Versuchungssituation
        Ein Beispiel: Der Täter ist bettelarm und steckt das goldene Armband ein, das jemand unbeaufsichtigt liegengelassen hat.
 - die Tat eines Individuums, das generell nicht zur bewussten Selbststeuerung in der Lage ist.
        Ein 3-jähriger löst in einem unbeobachteten Moment die Feststellbremse und das Auto rollt gegen eine Wand.

Strafe als Wiederherstellung des konsensfähigen Zustands
Neben der Bekämpfung von Normverletzungen hat die Strafe auch noch eine Bedeutung bei der Herstellung einer allgemein akzeptablen Sozialordnung. Jede Verletzung einer gültigen Norm verschafft dem Täter gegenüber jenen, die die Norm befolgen, einen ungerechtfertigten Vorteil: Der Normverletzer beteiligt sich nicht an den Kosten der Norm in Form der mit der Einhaltung der Norm verbundenen Einschränkungen des eigenen Handelns. Trotzdem genießt er den Vorteil der schützenden Norm. Bei bei straflos gebliebenen Normverletzungen besteht ein Zustand, der demjenigen ähnelt, in dem Individuen unbegründete Sonderrechte genießen. Beide Zustände sind jedoch nicht allgemein akzeptabel. Erst durch die Bestrafung des Normverletzers wird dessen unbegründete Besserstellung ausgeglichen und ein konsensfähiger Zustand erreicht.

Strafe als Genugtuung für das erlittene Leid des Opfers der Normverletzung
In vielen Fällen trifft eine Normverletzung nicht direkt die Allgemeinheit, sondern Opfer der Normverletzung sind bestimmte Individuen oder Gruppen. So führt die Tötung eines Menschen nicht nur zu einer allgemeinen Alarmierung und Verunsicherung. Die Tat nimmt auch einem bestimmten Individuum das Leben und nimmt dessen Angehörigen meist das Wertvollste in ihrem Leben. Der Täter schuldet diese von ihm zerstörten Werte und Güter den Opfern, wobei es Güter wie z. B. das Leben eines Menschen gibt, die im Falle ihrer Zerstörung nicht wieder herzustellen sind.

Auch hier kann die zukünftige Vermeidung einer solchen Tat nicht der alleinige Gesichtspunkt sein, unter dem die Reaktion der Allgemeinheit erfolgt. Selbst wenn man genau wüsste, dass der Täter einen vollkommenen Sinneswandel vollzogen hat und nie wieder eine solche Tat begehen würde, bliebe es dabei, dass der Täter dem Opfer und dessen Angehörigen ein Menschenleben schuldet.

Bei der Beurteilung einer Norm geht man oft von der Annahme aus, dass die Norm allgemein befolgt wird, aber dies muss ja nicht der Wirklichkeit entsprechen: Wenn normverletzende Individuen von der Selbstbeschränkung der anderen profitieren, so verliert die Norm an allgemeiner Anerkennbarkeit.

[Merkposten: ... Rachebedürfnis, Genugtuung, ausgleichende Gerechtigkeit, Verbüßen der Strafe, Sühne, Strafe als Tilgung der Schuld, Kosten des Sanktionsmechanismus, Anforderungen an den Sanktionsmechanismus: Ermittlung des Täters, Festnahme des Täters, Probleme bei niedriger Aufklärungsrate,  Probleme der irrtümlichen Bestrafung .." im Zweifel für den Angeklagten", "Justizirrtum" bei Todesstrafe, Strafen als Kosten (Leiden),  Bemessung der Strafe, "verdiente Strafe", Selbstjustiz, Anforderungen an das Gericht (Befangenheit), Geringfügigkeit, abschreckende Wirkung der Strafe (ohne Kosten), öffentliche Wirkung der Strafe, bessernde Wirkung auf den Regelverletzer, Kosten der Bestrafung, Bemesssung der Strafe, Erlass der Strafe, Begnadigung, Fehlurteile, ...]

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:

   Durchsetzung von Normen - Notizen * (23 K) 

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Letzte Bearbeitung / 02 / 2011 /       / 02 / 2016 /
Eberhard Wesche

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