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Die 'Ökonomische Theorie der Politik'

 und der

modelltheoretische Ansatz

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Inhalt:

Zur Entstehung der 'Ökonomischen Theorie der Politik'
Die positiv-normative Doppelfunktion der Theorie
Modellbildung für Erklärung und Prognose
Das Modell des parlamentarischen Systems bei Schumpeter und Downs
Theoretische Modelle und Max Webers Konzeption des Idealtypus
Hans Alberts Kritik des "Modell-Platonismus"
Die normative Verwendung theoretischer Modelle


Textanfang:

Zur Entstehung der 'Ökonomischen Theorie der Politik'

In der Politikwissenschaft hat ein Ansatz an Bedeutung gewonnen, der als "Neue Politische Ökonomie " oder auch als "Ökonomische Theorie der Politik" bezeichnet wird.

Bei aller Verschiedenheit der einzelnen Positionen kann man als das gemeinsame Charakteristikum dieses Ansatzes hervorheben, dass versucht wird, politische Prozesse mit dem methodischen Instrumentarium der (Mikro-) Ökonomie zu analysieren. Nicht zufällig sind deshalb auch die meisten Vertreter der Ökonomischen Theorie der Politik von Haus aus Ökonomen. Dies gilt z. B. für Anthony Downs, dessen Arbeit "Ökonomische Theorie der Demokratie " (zuerst 1957) die Wirkungsweise eines parlamentarischen Systems analysiert und dessen Arbeit "Inside Bureaucracy" (1967), die Entscheidungsprozesse in hierarchischen Organisationen zum Gegenstand hat.

Die "Logik des kollektiven Handelns" (1965) von Mancur Olson jr. untersucht Probleme der Bildung und des Verhaltens von Interessengruppen, Verbänden und Gewerkschaften.

James Buchanan und Gordon Tullock untersuchen im "Calculus of Consent" (1962) Probleme der Verfassungstheorie und des Mehrheitsprinzips.

Duncan Black untersucht in der "Theory of Committees and Elections" (1958) Entscheidungsprozesse in Gremien, die nach verschiedenen Varianten des Mehrheitsprinzips abstimmen.

Robin Farquharson weitet diese Analyse in der "Theory of Voting" (1969) auf Probleme strategischen Abstimmungsverhaltens isolierter Individuen aus.

Bereits 1951 hatte Kenneth J. Arrow Probleme kollektiver Entscheidungsregeln in "Social Choice and Individual values" unter logischen Aspekten untersucht.

Die Entwicklung einer "Ökonomischen Theorie der Politik" ergab sich aus verschiedenen Gründen. Einer der Gründe war die weitgehende Vernachlässigung politischer Prozesse durch die bisherige Wirtschaftswissenschaft, die in dem Maße problematischer wurde, wie sich die staatliche Wirtschaftstätigkeit ausweitete. "Die Wirtschaftswissenschaft hat sich bis heute fast ausschließlich mit dem Preissystem befasst. ...  Die Eigenschaften der übrigen Entscheidungssysteme sind hingegen noch weitgehend unerforscht." (Frey 1972, S. 38) "Sie (die Nationalökonomie der letzten Jahrzehnte, E.W.) verzichtet meist auf die Analyse von politischen und soziologischen Zusammenhängen, die in der Regel nur als fest gefügter Datenkranz berücksichtigt, aber nicht erklärt werden." (Bernholz 1972, S. 2) "Die Ökonomische Theorie der Politik setzt sich zum Ziel, die Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik wieder herzustellen ... Damit wird deutlich, dass die in einer modernen Gesellschaft agierenden Gruppierungen ... ihre materiellen Interessen sowohl durch wirtschaftliche als auch durch politische Aktivitäten zu fördern suchen. " (Frey 1972, S. 36)

Außerdem wurden in der Theoriediskussion selber die Grenzen des Preissystems immer stärker herausgearbeitet. Zu nennen sind hier die marktexternen Effekte und die kollektiven Güter, für die der Geldmaßstab in Form eines Marktpreises nicht existiert.

In der Finanzwissenschaft, die sich auch mit der Beschaffung und Verteilung kollektiver Güter durch den Staat befasst, wurde deshalb eine Beschäftigung mit Problemen der politischen Willensbildung unumgänglich. (Siehe z. B. die Arbeiten von Musgrave oder Buchanan.) Auch hier bewegte sich die ökonomische Theoriebildung also hinüber auf das Gebiet der Politik.

Weiterhin war die Übertragung von Konzeptionen und Methoden der Ökonomie auf andere soziale Bereiche bereits in ihrer immanenten theoretischen Entwicklung angelegt, insofern als die Ökonomie als Wissenschaft nicht zu sehr von einem Gegenstandsbereich - etwa der Produktion und Verteilung materieller Güter - definiert wurde, sondern als "Wissenschaft von der Verwendung knapper Ressourcen für alternative Zwecke." "Ökonomische Theorie ist in der Tat immer dann relevant, wenn handelnde Individuen bestimmte Wünsche oder Ziele haben, aber zugleich nicht genügend von den Mitteln zum Erreichen dieser Ziele besitzen, damit alle ihre Begehren befriedigt werden ... Dies macht deutlich, dass ökonomische (genauer: mikroökonomische) Theorie in einem grundlegenden Sinne eher eine Theorie des rationalen Verhaltens ist als eine Theorie materieller Güter." (Olson 1969, S. 141 f.)

Dieser Entwicklungsstrang innerhalb der Ökonomie hin zu einer "Praxeologie" (Oskar Lange) im Sinne einer allgemeinen Planungs- und Entscheidungswissenschaft forderte die Übertragung auf administrative und politische Allokations- und Entscheidungsprozesse geradezu heraus.

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Die positiv-normative Doppelfunktion der Theorie

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Stärken und welche Schwächen eine solche Übertragung (mikro)ökonomischer Methoden auf den Bereich der Politik mit sich bringt. Im Mittelpunkt soll dabei die besondere Verbindung von positiver und normativer Theoriebildung stehen, die die Ökonomische Theorie der Politik von der neoklassisch orientierten Preistheorie geerbt hat. Deren "kryptonormativer" Gehalt ist von Theoretikern wie Gunnar Myrdal und Hans Albert hinlänglich herausgearbeitet und kritisiert worden. Heute bemüht man sich in der offiziellen Wirtschaftswissenschaft, zwischen positiver und normativer Theoriebildung (Wohlfahrtsökonomie) zu unterscheiden.

Die besondere positiv-normative Ambivalenz der Theorie ergibt sich dabei aus ihrem präferenz- bzw. nutzentheoretischen Fundament, wobei das Nutzenkonzept sowohl zum Zweck normativer Theoriebildung als auch für die Entwicklung einer positiven Theorie Verwendung finden kann.

Diese Doppelfunktion des Nutzenkonzepts geht bereits auf Bentham zurück, für den der Nutzen (englisch 'utility') und dessen Maximierung sowohl den Standard dessen abgibt, wie gehandelt werden soll, als auch die Beweggründe für das tatsächliche Verhalten der Individuen darstellt. (Bentham 1789)

Unter dem Einfluss der wissenschaftstheoretischen Kritik an der Vermengung von Tatsachenaussagen und Werturteilen ist das Verhältnis der Vertreter einer Ökonomischen Theorie der Politik zur normativen Theoriebildung - ähnlich wie in der Mikroökonomie - eher zurückhaltend, selbst dort, wo letztlich massive Theorien der Rechtfertigung und Kritik sozialer Verhältnisse formuliert werden. Man betont den rein logischen Charakter der Analyse (so Arrow 1951 und die daran anschließende Logik der kollektiven Entscheidung), oder man führt explizit bestimmte normative Zielsetzungen ein (so Dahl/Lindblom 1953 und Bernholz 1972) oder man geht bereits von bestimmten institutionellen Voraussetzungen aus (so z. B. Buchanan/Tullock 1962, die von einer Gesellschaft von Privateigentümern ausgehen, oder Downs 1957, der von einem Modell parlamentarischer Demokratie ausgeht.) Gewöhnlich wird dabei keinerlei Versuch zur Begründung der normativen Prämissen gemacht.

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Modellbildung für Erklärung und Prognose

Im Folgenden soll die Ökonomische Theorie der Politik zuerst als einen positive Theorie untersucht werden, deren Ziel die Aufstellung wahrer und empirisch überprüfbarer Hypothese ist. "Die Ökonomische Theorie der Politik entwickelt nicht nur abstrakte Hypothesen, sondern sie sucht sie auch empirisch zu überprüfen." (Frey 1972, S. 43)

Die Art, wie die Ökonomische Theorie der Politik zu empirisch gehaltvollen Hypothesen gelangt, lässt sich als axiomatisch-deduktives Verfahren kennzeichnen, d. h. es wird von bestimmten Grundannahmen, den Axiomen, ausgegangen, von denen dann auf dem Wege logisch-deduktiver Schlussfolgerungen weitere Aussagen abgeleitet werden. Insofern diese abgeleiteten Hypothesen mit der beobachtbaren Realität übereinstimmen, bestätigen sie die gesamte Theorie einschließlich der axiomatischen Grundannahmen. In Anlehnung an Friedmann (Friedmann 1953 "The Methodology of Positive Economics" in "Essays in Positive Economics", Chicago 1953. Siehe auch die Ausführungen zu den Methoden der Ökonomie in Wykstra 1971, S. 18 ff. u. 22f.) formuliert Downs: "Theoretische Modelle soll man vor allem an der Genauigkeit ihrer Voraussagen, weniger am Realitätsgehalt ihrer Annahmen prüfen." (Downs 1957, S.21)

Die axiomatischen Grundannahmen sollen also nur indirekt an Hand der abgeleiteten Prognosen und Hypothesen überprüft werden. Insofern entspricht dieser Ansatz der Methodologie des logischen Empirismus, wie er z. B. von Popper vertreten wird. Popper fordert einen axiomatisch-deduktiven Aufbau der Theorie sowie die Ableitbarkeit empirisch falsifizierbarer Schlussfolgerungen aus dieser Theorie. (Popper, "Logik der Forschung".)

Bei der Modellkonstruktion der Ökonomischen Theorie der Politik spielt die Annahme eines "rationalen" bzw. "eigeninteressierten" Verhaltens der Individuen eine zentrale Rolle - ähnlich wie im Modell der Marktwirtschaft. Alle Akteure verfolgen also ihre eigenen Interessen, oder in den Begriffen der Nutzentheorie ausgedrückt: "Allen Akteuren wird ein nutzenmaximierendes Verhalten unterstellt. (Frey 1972, S.37) Für die staatliche Bürokratie wird zum Beispiel nicht ein Handeln im Einklang mit dem Gemeinwohl angenommen, sondern ein eigennütziges Verhalten der Beamten."

Die Feststellung, dass ein Individuum eigeninteressiert, d. h. nutzenmaximierend handelt, lässt allein jedoch noch keinen Schluss auf das tatsächliche Verhalten des Individuums zu. Hinzukommen muss noch eine Aussage darüber, was die Interessen eines Individuums in einer gegebenen Situation sind. "Wenn ein Theoretiker die Ziele irgend eines Entscheidungsträgers kennt, kann er auf folgende Weise voraussagen, zu welchen Handlungen dieser greifen wird, um seine Ziele zu erreichen: er berechnet (1) den rationellsten Weg, auf dem der Entscheidungsträger seine Ziele erreichen kann, und nimmt (2) an, dass dieser Weg tatsächlich gewählt wird, weil der Entscheidungsträger rational handelt ... (Dabei) haben die Theoretiker im allgemeinen versucht, die Zwecke jedes Wirtschaftssubjekts auf ein einziges Ziel zu reduzieren, so dass man einen wirtschaftlichsten Weg zu seiner Erreichung finden kann ... (Dazu) setzen die Theoretiker fest, dass die Unternehmungen den Gewinn und die Verbraucher den Nutzen maximieren. Alle anderen Ziele, die beide Seiten haben mögen, werden als Abweichungen betrachtet, die den rationalen Kurs auf das Hauptziel modifizieren." (Downs 1957, S. 4f.)

Ausgehend von den institutionellen Rahmenbedingungen des Marktes wie Eigentumsrechten, Vertragsfreiheit und einer größeren Zahl unabhängig ihre Interessen verfolgender Anbieter bzw. Nachfrager von Gütern wird dann das Modell des Marktes abgeleitet. Hinzu kommen bestimmte zusätzliche Annahmen hinsichtlich der Nutzenfunktion (z. B. sinkende Substitutionsraten auf Grund von Sättigungsphänomenen), oder hinsichtlich der Produktions- bzw. Möglichkeitsfunktionen (z. B. sinkende Erträge) usw.

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Das Modell des parlamentarischen Systems bei Schumpeter und Downs

Die Frage ist nun, inwiefern sich diese Methode der Modellkonstruktion auf den politischen Bereich übertragen lässt. Das heißt vor allem: Wie lässt sich die Annahme eigeninteressierten Verhaltens für den politischen Bereich formulieren und für die Analyse politischer Prozesse fruchtbar machen? Dies soll am Beispiel der ökonomischen Theorie der Demokratie deutlich gemacht werden.

Downs entwickelt ein Modell des Parlamentarismus, das von einem eigeninteressierten Verhalten der Wähler, der politischen Parteien, der Interessengruppen und Regierungen im Rahmen bestimmter Institutionen (allgemeines gleiches Wahlrecht, Koalitionsfreiheit, periodische Wahlen, Verfassung etc.) ausgeht (Downs 1968, S. 23) "Unser Modell beruht auf der Annahme, dass jede Regierung das Ausmaß an Ansehen und Unterstützung, das sie beim Volk genießt, zu maximieren sucht." (Downs 1968, S. 11) Während die Parteien also Stimmen-Maximierer sind, sind die Wähler Nutzen-Maximierer. Sie stimmen für diejenige Partei, deren Programm für sie am vorteilhaftesten ist. Diese Annahmen entsprechen der bereits von Schumpeter in seinem Konkurrenzmodell der Demokratie formulierten Interpretation des parlamentarischen Prozesses als eines Konkurrenzkampfes um Wählerstimmen (Schumpeter 1962, S. 269) analog zum Konkurrenzkampf von produzierenden Unternehmen um die Konsumentenausgaben in der Marktwirtschaft.

Unter Einbeziehung weiterer Faktoren - vor allem Ungewissheit und Informationskosten - entwickelt Downs aus diesem Demokratiemodell auf deduktivem Wege eine Reihe weiterer Hypothesen über ein derartiges kollektives Entscheidungssystem, die zumindest im Prinzip empirisch überprüfbar sein sollen. Zum Beispiel kommt Downs zu dem Schluss, dass in einem solchen Modell bei Existenz eines Zwei-Parteien-Systems "die politischen Konzepte der Parteien (a) verschwommener, (b) einander ähnlicher und (c) weniger direkt mit Ideologien verknüpft (sind) als in einem Mehr-Parteien-System." (Downs 1968, S. 290)

Eine andere abgeleitete Hypothese lautet zum Beispiel: "Viele Bürger, die sich an Wahlen beteiligen und dies für wichtig halten, sind dennoch über die Streitfragen, um die es bei der Wahl geht, nicht gut informiert." (Downs 1968, S. 292) Die ökonomische Theorie der Demokratie von Downs, die der Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Arbeiten auf diesem Gebiet war (s. Bernholz 1975), vermag eine Vielzahl von Ergebnissen der empirischen Wahlsoziologie zu integrieren und in einen systematischen theoretischen Zusammenhang zu stellen. Außerdem kann eine solche theoretische Modellbildung die empirische Forschung anleiten, insofern als aus dem Modell ableitbare Hypothesen zu Fragestellungen empirischer Untersuchungen werden können.

Stimmen die empirischen Ergebnisse mit den nach dem Modell zu erwartenden Ergebnisse nicht überein, so muss entweder das Modell für diesen Gegenstandsbereich verworfen werden, oder es muss durch Einführung zusätzlicher Annahmen bzw. Änderung bestehender Annahmen so modifiziert werden, dass der Widerspruch mit den Fakten verschwindet.

In diesem Verhältnis abstrakter Modelle zur empirischen Realität liegen jedoch noch erhebliche methodologische Schwierigkeiten, die keineswegs als gelöst angesehen werden können.

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Theoretische Modelle und Max Webers Konzeption des Idealtypus

Die Kluft zwischen historisch-deskriptiver und abstrakt-systematischer Forschung ist heutzutage nicht weniger stark als zu Zeiten Max Webers, der die theoretischen Modelle  der österreichischen Grenznutzenlehre als "Idealtypus" interpretierte. "(Der Idealtypus) wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte (hier des ökonomischen Rationalverhaltens, E.W.) und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier näher, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandener Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht ..." (Weber S. 43)

Weber sah dabei die Nationalökonomie allerdings nicht nur als Erfahrungswissenschaft sondern zugleich als Teil einer "verstehenden Soziologie", wobei den theoretischen Modellen die Funktion zukommt, die "Kulturbedeutung" bestimmter Phänomene verstehend aufzuhellen. Bei einem solchen Idealtypus handelt es sich nach Weber um einen "rein idealen Grenzbegriff", an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. "Solche Begriffe sind die Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Fantasie als adäquat beurteilt." (Weber S. 46)

Gegenüber dieser Interpretation theoretischer Modelle als "Idealtypus" wird heute stattdessen ihre erklärende bzw. prognostische Funktionen hervorgehoben. (Vgl. dazu die Friedman-Samuelson-Kontroverse, dargestellt bei Frank 1976, S. 15 f. u. 79 f.)

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Hans Alberts Kritik des "Modell-Platonismus"

Albert spricht den theoretischen Modellen der Wirtschaftstheorie jedoch gerade die Fähigkeit zu Erklärung und Prognose weitgehend ab. Er charakterisiert diesen Stil der Theoriebildung als "Modell-Platonismus", d. h. dass die Modelle als gedankliche Gebilde ihren Bezug zur Wirklichkeit und damit die Korrekturinstanz der Erfahrung vollkommen verloren haben. Albert wirft diesen Theoretikern vor, die Modelle "durch Anwendung konventionalistischer Strategien gegen die Erfahrung zu immunisieren." (Albert S. 338)

Eine dieser Strategien ist die Benutzung einer unqualifizierten Ceteris-paribus-Klausel wie sie bei der Formulierung der Nachfragegesetzes häufig angewandt wird. Dabei wird ein empirischer Zusammenhang zwischen bestimmten Faktoren behauptet, der jedoch nur unter der Bedingung gilt, dass alle übrigen Faktoren konstant bleiben. "Lässt man die konstant zu haltenden Faktoren unbestimmt, arbeitet man also mit einer unqualifizierten Ceteris-Paribus-Klausel ... , so immunisiert man das betreffende (Nachfrage-)Gesetz vollkommen gegen die Tatsachen, da jeder zunächst als konträr erscheinende Fall sich letzten Endes als mit diesem Gesetz vereinbar erweisen muss. Die Klausel stellt hier gewissermaßen ein unbeschränktes Alibi dar, da für jedes anscheinend abweichende Verhalten irgendwelche geänderten Faktoren verantwortlich gemacht werden können. Damit wird die Aussage unüberprüfbar und ihr Informationsgehalt sinkt auf Null." (Albert S. 342)

Als weitere konventionalistische Strategie nennt Albert das Verfahren, "die 'Annahmen' des Systems ... nicht als Hypothesen zu behandeln, sondern sie einfach als Einschränkungen des Anwendungsbereichs des betreffenden Systems aufzufassen. Da bei ökonomischen Aussagen der Realitätsbezug durch die verwendete Sprache meist sichergestellt ist, wird in diesem Falle der Eindruck hervorrufen, man mache inhaltliche Aussagen über die Realität, obwohl das System vollkommen immunisiert und damit haltlos ist." (S. 354) Denn wenn das Modell bei einer empirischen Überprüfung nicht stimmt, ist nicht das Modell fehlerhaft, sondern nur dessen Anwendung auf den jeweiligen Bereich.

Albert weist auch noch auf eine weitere Schwierigkeit der empirischen Überprüfung solcher Modelle hin, die mit der Annahme des Rationalverhaltens arbeiten. In solchen Modellen taucht gewöhnlich die Bedürfnisstruktur der Individuen als einer der ursächlichen Faktoren für das Verhalten auf - meist repräsentiert durch eine Schar von Indifferenzkurven. Wenn nun das Verhalten der Individuen nicht dem theoretischen Modell entspricht (z. B. Zunahme der nachgefragten Gütermenge bei sinkendem Preis), so kann man dies leicht damit erklären, dass sich die Bedürfnisse der Individuen eben geändert haben, so dass sie jetzt trotz des gestiegenen Preises eine größere Menge des Gutes nachfragen. "Solange es nämlich keinen unabhängigen Test für die Konstanz der Bedürfnisstruktur gibt, enthält ein so formuliertes Gesetz immer noch ein unbeschränktes 'Alibi'. ... Um diesen Zustand zu beseitigen, müsste man tiefer in die Probleme der Bedürfnisse und Präferenzen eindringen, was allerdings vielfach für unzumutbar gehalten wird, weil es eine Grenzüberschreitung zur Sozialpsychologie bedeuten würde." (Albert S. 343)

Diese Kritik an den Immunisierungsstrategien gegenüber empirischer Überprüfung der Modelle ist sicherlich weithin berechtigt. Jedoch wird in jüngerer Zeit in der Ökonomischen Theorie der Politik - wie übrigens auch in der Wirtschaftstheorie -  die Abschließung gegenüber anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie Psychologie, Sozialpsychologie und Soziologie nicht mehr hermetisch aufrechterhalten. So finden zum Beispiel bei der Analyse des Wählerverhaltens auch Faktoren wie Wahrnehmungsschwellen, Anspruchsniveaus, Parteiloyalitäten etc. Berücksichtung und modifizieren die einfache Nutzenmaximierungs-Hypothese.

Obwohl die Gefahr bleibt, dass die Modellkonstruktion in der Ökonomischen Theorie der Politik in der Sackgasse logisch-mathematischer Exerzitien endet und jeden Bezug zur Realität verliert, erscheint die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Modellbildung in ständiger kritischer Konfrontation mit der politischen Realität produktiv weiterentwickelt wird. Dazu bedarf es jedoch, wie Frey ausführt, parallel zur Verfeinerung der theoretischen Modelle ihrer empirisch-statistischen Überprüfung in Form einer "Politometrie", analog zur Ökonometrie in den Wirtschaftswissenschaften.

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Die normative Verwendung theoretischer Modelle

Die Erklärung dafür, warum die ökonomische Theorie so beharrlich auf ihren hoch abstrakten Modellen beharrte, ist vor allem in der positiv-normativen Doppelfunktion dieser Modelle zu suchen. (Diese Doppelfunktion hat bereits Anfang der 30er Jahre Gunnar Myrdal kritisch herausgearbeitet. Ähnlich auch Joan Robinson: Economic Philosophy.) So kann man z. B. das Marktmodell der atomistischen Konkurrenz auch normativ interpretieren, denn wenn alle Eigentümer eigeninteressiert tauschen, so ergibt sich bei statischer Betrachtungsweise ein Gleichgewicht, das durch die Eigenschaft der Pareto-Optimalität ausgezeichnet ist. Wenn man nun gleichzeitig von den methodologischen Prämissen eines interpersonal nicht vergleichbaren, nur ordinal messbaren Nutzens ausgeht, so bleibt die Pareto-Optimalität als einziges normatives Kriterium übrig und dies Kriterium hat in der normativen Ökonomie logischerweise eine zentrale Stellung eingenommen.

Sieht man das Pareto-Optimum als entscheidendes normatives Kriterium an - was meiner Ansicht nach falsch ist - so kann man nun das theoretische Modell normativ wenden und die Annahmen des Modells als Vorschriften interpretieren deren Realisierung ein Pareto-Optimum sichert. Statt Rationalverhalten als empirischen Tatbestand anzunehmen, fordert man jetzt Rationalverhalten bzw. verlangt Bedingungen, die ein Rationalverhalten aller Wirtschaftssubjekte ermöglichen, wie z. B. Warentests, Markttransparenz oder Mobilität der Arbeitskräfte. Man interpretiert auch die strukturellen Bedingungen der Konkurrenz normativ und verlangt Kartellverbote, Fusionskontrolle, Bekämpfung von Marktmacht und unlauterem Wettbewerb, Vergesellschaftung von Monopolen etc.

Das bedeutet, dass aus dem angeblich positiv gemeinten Marktmodell der neoklassischen Theorie unversehens eine normative Theorie wird, die die Grundlage der liberalen "Ordnungspolitik" abgibt. Dieser "kryptonormative" Charakter ist praktisch bei allen mikroökonomischen Lehrbüchern festzustellen. Allerdings ist es nicht richtig, dieser Theorie ihren normativen Charakter vorzuwerfen, wie es Albert tut. Kritisieren kann man höchstens, dass die wertenden Schlussfolgerungen häufig unter dem Deckmantel positiver Wissenschaft erfolgen.

Wenn man nicht überhaupt die Möglichkeit einer vernünftigen Argumentation über normative Fragen ausschließen will, so kann man nicht kritisieren, dass eine Theorie normativ ist, sondern wie sie es ist. Man muss ihre inhaltlichen Behauptungen kritisieren, also z. B. die Konzentration auf die Pareto-Optimalität als das zentrale und ausschließlich zu berücksichtigende normative Kriterium.

Entsprechendes gilt für den politischen Bereich, wo ebenfalls die positiv-normative Doppelfunktion der Modelle zu beobachten ist. Wenn man dort ein auf der Annahme des Rationalverhaltens aufgebautes Modell normativ interpretiert, so ist daran als solches noch nichts kritikwürdiges. Problematisch wird es jedoch, wenn Theoretiker hier ebenfalls das Pareto-Optimum als entscheidendes normatives Kriterium einführen, wie es zum Beispiel Buchanan/Tullock tun. Diese Übertragung des Pareto-Kriteriums auch auf den politischen Bereich liegt natürlich bei Leuten nahe, die zugleich führende paretianische Wohlfahrtökonomen bzw. Finanztheoretiker sind und die von dorther das Ideal der Tauschgerechtigkeit mitbringen.

Die normative Interpretation eines auf der Annahme der Nutzenmaximierung basierenden politischen Modells kann anhand meiner eigenen Analyse von Abstimmungsverfahren erläutert werden. Dort wurde nämlich nachgewiesen, dass sich - bei Annahme rationalen Verhaltens - bereits bei Anwendung der relativen Mehrheitsregel eine vorhandene Mehrheitsalternative durchsetzen muss. Die Mehrheitsalternative ist diejenige Alternative, die im paarweisen Vergleich mit jeder anderen Alternative von einer Mehrheit der Individuen vorgezogen wird. Sie ist - unter bestimmten Voraussetzungen - zugleich die Alternative des größten gesamtgesellschaftlichen Nutzens, das heißt dass die Mehrheitsalternative die kollektiv beste Alternative darstellt.

Daraus folgt jedoch, dass man bei Anwendung der relativen Mehrheitsregel die Bedingungen einer rationalen Koalitionsbildung (Kenntnis der gegenseitigen Interessen, ausreichend Zeit für Kommunikation und Verhandlungen, Bereitschaft zu strategischem Verhalten an Stelle von bekenntnishaftem Abstimmungsverhalten etc.) bewusst und gezielt herstellen muss, um der Mehrheitsalternative zur Durchsetzung zu verhelfen.

Das Modell wird also normativ gewendet und Rationalverhalten ist keine faktische Annahme mehr, sondern eine erst herzustellende Verhaltensweise.

In der weiteren theoretischen Entwicklung der Ökonomischen Theorie der Politik wird es darauf ankommen, Modellbildung in positiver und normativer Absicht deutlicher zu unterscheiden, um nicht an wirklichkeitsfremden positiven Modellen zu kleben, nur weil sie normativ so attraktiv sind, wie das in der neoklassischen Preistheorie der Fall war.

Bei den positiv gemeinten Modellen des politischen Prozesses wird es darauf ankommen, die abstrakte Annahme der Nutzenmaximierung durch Ergebnisse der empirischen Motivationsforschung auszufüllen, wie das ansatzweise heute bereits getan wird.

In der normativen Modellbildung, die nicht in der Erklärung sondern der Rechtfertigung und Kritik politisch-ökonomischer Systeme dienen soll, wird es darauf ankommen, Rationalverhalten der Individuen nicht einfach anzunehmen, sondern nach Bedingungen zu suchen, unter denen die Individuen ihre wirklichen Interessen erkennen und artikulieren können.

Literatur:

Albert, Hans: Modell-Platonismus: Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung
Arrow, Kenneth J.: Social Choice and Individual Values. 2nd edition 1963 ( zuerst 1951)
Buchanan, James / Tullock, Gordon: The Calculus of Consent. Ann Arbor 1962
Downs, Anthony: An Economic Theory of Democracy. New York 1957. (Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968)
Myrdal, Gunnar: Das politische Element in der nationalökonomischen Theoriebildung. Hannover 1963
Olson, Mancur: The Logic of Collective Action. Cambridge (Mass.) 1965 (Die Logik des kollektiven Handelns. Tübingen 1968)
Popper, Karl: Logik der Forschung. Wien 1935. (2nd edition The Logic of Scientific Discovery. London 1959)
Schumpeter, Josef: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Bern 1946

 

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    
Demokratie als Parteienkonkurrenz * (11 K)

Ein Hinweis: Der Aufsatz "An Economic Theory of Political Action in a Democracy" in Journal of Political Economy, Vol.65, No. 2 (Apr. 1957) ist online zu finden über Google>mehr>Scholar. Dort den Namen des Autors eingeben und aus der angebotenen Liste der Publikationen auswählen.


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Letzte Bearbeitung 03.10.2005 / Eberhard Wesche

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