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Normative Demokratietheorie
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(siehe dazu auch: "Methodologie der
normativen Politikwissenschaft" )
Inhalt:
Das Mehrheitsprinzip bei
Jury-Entscheidungen
Das Mehrheitsprinzip als
Interessenausdruck
Die Mehrheitsalternative
Das Fehlen einer
Mehrheitsalternative
Die normative
Beurteilung des Mehrheitsprinzips
Die
Auswirkungen sozialer Machtverhältnisse auf die Stimmabgabe
Die fehlende Berücksichtigung der
unterschiedlichen Betroffenheit der Individuen
Hohe Informations- und Entscheidungskosten
Grenzen für die Anwendbarkeit des Mehrheitsprinzips
Textanfang
Das Mehrheitsprinzip
bei Jury-Entscheidungen
Eines der historisch bedeutsamsten Verfahren zur Normsetzung sind
demokratische Verfahren, worunter im Folgenden diejenigen Verfahren verstanden
werden sollen, bei denen das kollektive Interesse durch Abstimmungen nach dem
Mehrheitsprinzip bestimmt wird, an denen alle mündigen Mitglieder des Kollektivs mit
gleichem Stimmrecht beteiligt sind.
Bevor man jedoch zu einer normativen Beurteilung des Mehrheitsprinzips kommt,
muss man zuerst klären, in welcher Weise das Mehrheitsprinzip verwandt wird. Es
kann nämlich verschieden interpretiert werden, je nachdem auf welche Frage die
Individuen mit ihrer Stimmabgabe antworten.
Lautet die Frage: "Welche der
Alternativen ist im allgemeinen Interesse bzw. Gesamtinteresse?", so bilden die
Stimmberechtigten eine Jury, die diese Frage beantworten soll. Allen
Individuen wird die gleiche Frage vorgelegt und das Mehrheitsprinzip dient dazu, bei
unterschiedlichen Antworten der Einzelnen die wahrscheinlich richtige Antwort auszuwählen. Vereinfacht
gesprochen kann man immer dann davon ausgehen, dass die Antwort der Mehrheit
wahrscheinlich die richtige ist, wenn bei den einzelnen Individuen die
Wahrscheinlichkeit für die richtige Beantwortung der Frage größer ist als die
Wahrscheinlichkeit für eine falsche Beantwortung.
Wenn man das Abstimmungsverhalten als ein Urteil über das Gesamtinteresse auffasst, so setzt das erhebliches
Wissen und größere
Denkleistungen bei den Individuen voraus, denn zur Bestimmung des
Gesamtinteresses müssen die Interessen aller Individuen
des Kollektivs bestimmt und gegeneinander abgewogen werden. Ob in
derart schwierigen Fragen jedoch die richtige Antwort bei der Mehrheit liegt,
kann mit Recht bezweifelt werden.
Das Mehrheitsprinzip
als Interessenausdruck
Stattdessen bietet sich in Bezug auf politische Abstimmungen eine andere
Interpretation an. Danach antworten die Individuen mit ihrer Stimmabgabe auf die
Frage, welche der Alternativen in ihrem je eigenen individuellen Interesse ist.
Im Unterschied zur Juryentscheidung können unter diesen Voraussetzungen zwei
Individuen für
verschiedene Alternativen stimmen und trotzdem beide "richtig" stimmen, eben
weil ihre individuellen Interessen unterschiedlich sind.
Hier ist das
Mehrheitsprinzip ein Mittel zur Zusammenfassung (Aggregation) individueller Interessen zu einem
einheitlichen Kollektivinteresse: das Interesse der Mehrheit gilt als das
überwiegende Interesse. Im Folgenden soll von dieser aggregativen Verwendung des
Mehrheitsprinzips ausgegangen werden. Die am eigenen Interesse orientierte
Abstimmung entspricht dem tatsächlichen Wählerverhalten in
parlamentarischen Systemen wahrscheinlich eher als das Jurymodell.
Allerdings stehen empirische Untersuchungen zu dieser Frage noch aus.
Die Mehrheitsalternative
Ein weiteres Problem bei der normativen Beurteilung des Mehrheitsprinzips
ergibt sich daraus, dass sehr viele Varianten davon existieren (einstufige oder
mehrstufige Verfahren, relative oder absolute Mehrheit etc.). Deshalb ist es
nötig, auf diese unterschiedlichen Abstimmungsverfahren kurz einzugehen. In der
entscheidungstheoretischen Literatur wird das Mehrheitsprinzip im Anschluss an
Condorcet, einen französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts formuliert.
Condorcet stand vor dem Problem, dass man bei Abstimmungen nach Regel der
einfachen Mehrheit (als kollektiv gewählt gilt diejenige Alterantive, die die
meisten Stimmen bekommt) nicht sagen konnte, welches das Ergebnis sein würde,
weil sich je nach Abstimmungsstrategie der Beteiligten unterschiedliche
Ergebnisse einstellen konnten. Er schlug stattdessen vor, die Alternativen
paarweise miteinander zu vergleichen. Diejenige Alternative, die in allen
Paarvergleichen jeweils die meisten Stimmen erhielt, sollte als kollektiv
gewählt gelten. Beim paarweisen Vergleich gab es fast keine Möglichkeit, durch
eine geschickte Abstimmungsstrategie das Ergebnis zu beeinflussen.
Diese Formulierung des Mehrheitsprinzips ist nun
nicht bloß eine Variante des Prinzips unter anderen, sondern ihr kommt eine zentrale
Bedeutung zu. Es lässt sich nämlich zeigen, dass sich eine derartige
Mehrheitsalternative in jedem Abstimmungsverfahren
durchsetzt, sofern den
Individuen bei den Abstimmungen gleiches Gewicht zukommt und sofern alle
Individuen die für sie vorteilhaftesten Abstimmungskoalitionen eingehen.
Allerdings muss es nicht in jedem Fall eine solche Mehrheitsalternative geben,
die im Paarvergleich mit jeder anderen Alternative von einer Mehrheit vorgezogen
wird. Es kann sein, dass die Alternative x im Vergleich mit y siegt, dass y im
Vergleich mit z siegt und dass die Alternative z wiederum im Vergleich mit x
siegt Dies sogenannte Wahlparadox war bereits Condorcet bekannt.
Die normative
Beurteilung des Mehrheitsprinzips
Wenn man von diesem Problem einmal absieht, so stellt sich die Frage,
inwiefern durch die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip und mit der Auswahl der
Mehrheitsalternative eine Entscheidung getroffen wird, die als hinreichende
Annäherung an ein Gesamtinteresse angesehen werden kann.
Hierzu ergeben sich verschiedene Problempunkte.
Das Mehrheitsprinzips wird dann normativ problematisch, wenn nicht alle diejenigen
abstimmungsberechtigt sind, deren
Interessen von der Entscheidung berührt werden. Der Anwendung des Mehrheitsprinzips ist also die Abgrenzung der
politischen Einheit vorgelagert, und das Mehrheitsprinzip wird in dem Maße
normativ fragwürdig, wie von den Beschlüssen betroffene Individuen von der Abstimmung ausgeschlossen
werden. Dies ist z. B. unvermeidbar bei Entscheidungen, die die Interessen
zukünftiger Generationen tangieren.
Eine weiteres Problem ergibt sich daraus, dass bei
Abstimmungen die Individuen ihre Interessen jeweils autonom bestimmen können.
Basis zur Bestimmung des Mehrheitsinteresses sind also die faktischen
Interessenäußerungen der Individuen, die jedoch unter verschiedenen
Gesichtspunkten unqualifiziert sein können.
Unwissenheit, Vorurteile, Manipulation, Ideologieabhängigkeit usw. auf Seiten
der abstimmenden Individuen stellen die Anerkennbarkeit der
Abstimmungsergebnisse in Frage.
Ebenso führt natürlich jede Sanktionierung der
Stimmabgabe dazu, dass diese nicht mehr die wirklichen Interessen des
betreffenden Individuums in Bezug auf die zur Entscheidung stehenden
Alternativen ausdrücken. Wenn die Wahl einer bestimmten Partei x für ein
Individuum mit beruflichen Nachteilen verbunden wird, so wählt dies Individuum
nicht mehr zwischen den Alternativen "Partei x" und "Partei y", sondern zwischen
den veränderten Alternativen "Partei x verbunden mit beruflichen Nachteilen für
mich" und "Partei y
ohne berufliche Nachteile für mich". Wenn die Abstimmung derart durch Sanktionierung des
Abstimmungsverhaltens beeinflusst wird - was vor allem dann möglich ist, wenn
das Abstimmungsverhalten nicht geheim bleibt - so ist die
Mehrheitsentscheidung normativ ohne Belang.
Die
Auswirkungen sozialer Machtverhältnisse auf die Stimmabgabe
Schwieriger zu analysieren als die direkte persönliche Sanktionierung der
Stimmabgabe sind Machtverhältnisse, die in die Alternativen selber unbemerkt
eingehen und den Bereich eigentlich möglicher zukünftiger Entwicklungen
einschränken. Dass sich in demokratischen politischen Systemen trotz aufgeklärter
Individuen und sanktionsfreier Stimmabgabe bestehende Machtverhältnisse
das Ergebnis beeinflussen, ist für eine normative Demokratietheorie von erheblicher Bedeutung. Wie
ist dies möglich?
Da bei einer rationalen Entscheidung die anstehenden Alternativen unter
Berücksichtigung der mit ihnen verbundenen Konsequenzen zu bewerten sind, kann die Entscheidung zwischen den
Alternativen insofern durch Machtverhältnisse beeinflusst werden, als
der
Mächtige in der Lage ist, gezielt bestimmte Konsequenzen durch sein Handeln zu
erzeugen. Wenn die Wahl einer Alternative x, die "eigentlich" dem Interesse einer
Mehrheit am besten entspricht, zu einer Reaktion der Minderheit führt, die für
die Mehrheit sehr negative Konsequenzen hat, so ist die Alternative x damit auch
nicht mehr im langfristigen Interesse der Mehrheit.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Angenommen die Mehrheit der Bevölkerung
lebt in Mietwohnungen, die einer Minderheit von Hausbesitzern behören. Es mag
dann im Interesse der Mehrheit liegen, die Mieten durch Gesetz auf einem
niedrigen Niveau festzusetzen. Selbst wenn dies nicht durch eine
verfassungsmäßige Eigentumsgarantie unterbunden wird ( d.h. dass das
Mehrheitsprinzip für diesen Bereich ausdrücklich außer Kraft gesetzt wird), kann diese
Alternative für die Mehrheit durch die zu erwartenden Reaktionen der
Hausbesitzer langfristig nicht mehr wünschenswert werden. Denn bei niedrigen
Mieten werden die Hausbesitzer nicht mehr im Mietwohnungsbau investieren, weil
ihnen die Kapitalverzinsung zu niedrig ist. Damit ist langfristig ein
Wohnungsmangel zu erwarten (es sei denn, es wird gleichzeitig die
privatwirtschaftliche Form des Wohnungsbaus durch einen öffentlichen Wohnungsbau
ersetzt). Außerdem werden die Hausbesitzer vielleicht auf niedrige Mieten mit
einer Einsparung an Instandhaltungskosten reagieren, wodurch sich langfristig der
Zustand der
Häuser verschlechtert. Dies Beispiel zeigt deutlich, dass
Mehrheitsentscheidungen von einer mächtigen Minderheit beeinflusst sein können,
obwohl die Abstimmungen völlig frei und unter Bedingungen der Aufklärung
stattfinden.
Dies Problem ist vor allem in solchen Gesellschaften von Bedeutung, wo das
Privateigentum und die daraus erwachsende Macht eine große Rolle spielt, mit einem entsprechend eingeschränkten
Bereich der Mehrheitsentscheidungen. Aus der wirtschaftlichen Machtstellung
ergeben sich dann Sanktionsmöglichkeiten der
Besitzenden wie z. B. Kapitalflucht gegenüber der übrigen Bevölkerung.
Das Problem besteht nicht nur in Bezug auf wirtschaftliche Machtpositionen
sondern z. B. auch bei militärischen Machtpositionen und politisierenden
Militärs
Bei einer sehr
ungleichen Machtverteilung zwischen den Individuen der Gesellschaft führen auch
demokratische Verfahren deshalb nicht zu einer befriedigenden Annäherung an ein
konsensfähiges Gesamtinteresse.
Die fehlende Berücksichtigung der
unterschiedlichen Betroffenheit der Individuen
Ein weiteres Problem besteht darin, dass bei Abstimmungsverfahren die
unterschiedliche Stärke der individuellen Interessen in Bezug auf die
Entscheidung nicht berücksichtigt werden kann. Sowohl die stark Betroffenen wie
die kaum Betroffenen haben bei der Abstimmung ja eine Stimme, so dass es dazu
kommen kann, dass eine nur schwach betroffene Mehrheit eine in ihren elementaren
Lebensinteressen betroffene Minderheit überstimmt, während bei einer
solidarischen Interessenberücksichtigung, wo jeder die Interessen jedes andern
so berücksichtigt, als wären es zugleich seine eigenen, in solchen Fällen die
Minderheitsinteressen überwiegen würden. Wenn der Grad der Betroffenheit der
Individuen von einer Entscheidung also sehr
unterschiedlich ist, führt das Mehrheitsprinzip nicht zu normativ
akzeptablen Ergebnissen.
Einschränkend muss hierzu jedoch gesagt werden, dass durch die Bildung von
Koalitionen dies Problem gemildert werden kann, weil sich mehrere in ihren
elementaren Interessen
betroffene Minderheiten zusammenschließen und eine neue Mehrheit bilden können.
Wenn nicht über jede Entscheidung isoliert abgestimmt wird, sondern über Bündel
von Entscheidungen oder umfassende Programme, ist das Problem der unterschiedlichen
Betroffenheit gemildert. Problematisch bleibt es jedoch, wenn es Minderheiten
gibt, die gesellschaftlich isoliert sind, so dass sie keine Koalitionspartner
finden können oder wollen. Dieser Fall tritt vor allem bei ethnischen
Minderheiten auf.
Soweit die kritische Beurteilung demokratischer Verfahren und ihrer Resultate. Zu fragen ist, wie man diesen Mängeln
begegnen kann.
Hohe Informations- und Entscheidungskosten
Abschließend sei noch auf die erheblichen Informations- und Entscheidungskosten bei Anwendung des Mehrheitsprinzips hingewiesen. Zwar braucht sich bei einer aggregativen Verwendung des Mehrheitsprinzips jeder nur über seine eigenen Interessen klar zu werden, aber angesichts der ungeheuren Menge der in einer modernen Gesellschaft zu treffenden Entscheidungen, die noch dazu sehr komplexer Natur sein können, sind Abstimmungsverfahren nicht für alle Entscheidungen geeignet. Der erhebliche Entscheidungsaufwand würde wahrscheinlich alle Vorteile wettmachen, die mit demokratischen Verfahren verbunden sind.
Grenzen für die Anwendbarkeit des Mehrheitsprinzips
Wenn die Einzelnen mit ihrer Stimmabgabe ihr individuelles Interesse verfolgen, dann ist das Mehrheitsprinzip ungeeignet für Entscheidungen über die Gestaltung des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses, die in der Verfassung niedergelegt sind. Die Verfassungsnormen dürfen nicht dem Mehrheitsinteresse unterworfen werden, weil diese Verfahren es überhaupt erst ermöglichen sollen, das Mehrheitsinteresse zu ermitteln.
Dies lässt sich am Beispiel der Meinungsfreiheit
veranschaulichen. Das in der Verfassung verankerte Grundrecht jedes Bürgers auf
die freie Äußerung seiner Meinung ist notwendig, damit sich
die Bürger über die gesellschaftlichen Zusammenhänge informieren können und so
einen qualifizierten politischen Willen
ausbilden können.
Wenn nun durch Mehrheitsbeschluss dieses Grundrecht abgeschafft wird und keine
verlässliche Informationsgrundlage mehr existiert, so bricht
damit zugleich die Begründung für die Anwendung des Mehrheitsprinzips selber
zusammen.
Ganz deutlich wird dies Problem, wenn man nach dem Mehrheitsprinzip über das
Mehrheitsprinzip selber abstimmen lässt. Dann wäre es möglich, dass das
Mehrheitsprinzip mit Mehrheit abgeschafft wird. Dies ist offensichtlich ein
absurdes Verfahren. Indem man das Mehrheitsprinzip anwendet, nimmt man
einerseits dessen Rechtfertigung in Anspruch, während man andererseits mit der
mehrheitlichen Abschaffung des Prinzips zugleich dessen Rechtfertigung
beseitigt. Ein solches Verfahren ist also in sich widersprüchlich.
Änderungen der Verfassung, in der diejenigen Normen zusammengefasst sind, die
das Verfahren der Willensbildung regeln, sollten allgemein konsensfähig sein.
Denn wenn jemand eine Verfassung respektieren soll, der er gar nicht zustimmen
kann, so handelt es sich um ein reines Gewaltverhältnis. Die
Regelungen der Verfassung dürfen deshalb nicht Ausdruck partikularer Interessen
sein. Um das zu verhindern, wird für eine Verfassungsänderungen gewöhnlich
gefordert, dass ihr mehr Stimmberechtigte zustimmen als nur eine relative oder
absolute Mehrheit der Stimmberechtigten.
***
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Die Demokratie bei
Rousseau ** (15 K)
Mehrheitsprinzip *** (349 K)
"Methodologie
normativer Wissenschaft"
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Letzte Bearbeitung 04.05.2008 / Eberhard Wesche
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