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Nida-Rümelin zur Begründung ethischer Normen
Darstellung
und Kritik anhand des Aufsatzes: "Gibt es ein Problem ethischer
Begründung?" in:
Scarano/Suarez
(Hg.): Ernst Tugendhats
Ethik. Beck München 2006
I. Darstellung
In dem Aufsatz "Gibt es ein Problem
ethischer Begründung?" wendet sich Nida-Rümelin gegen das "vergebliche Graben nach einem verborgenen
Fundament, auf dem alle unsere moralischen ... Überzeugungen vermeintlich
beruhen." Er konkretisiert die verschiedenen Spielarten der
überflüssigen Suche nach einem Fundament für normative ethische Theorie: "Dieses verborgene Fundament besteht weder
im cogito (des Descartes, E.W.) noch in der Existenz
Gottes, aber auch nicht in einem spezifischen Selbstbild, in Protokollsätzen
oder individuellen Interessen. Diese und zahlreiche andere philosophische
Tiefbauten sind nicht hinreichend und nicht erforderlich, um unser
lebensweltliches Orientierungswissen, sei es normativer oder deskriptiver Art,
verlässlich zu machen." Nach Nida-Rümelin besitzen wir bereits
verlässliches ethisches Wissen vergleichbar dem vorwissenschaftlichen
Alltagswissen: "Wir benötigen keine
Physik, um Grund zu haben unseren Sinneserfahrungen im Großen und Ganzen zu
vertrauen, wie wir keine kontraktualistische Ethik benötigen, um (in der Regel)
Grund zu haben unsere Versprechen zu halten. ... Die meisten, vielleicht alle
Menschen so gut wie aller uns bekannten Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart
waren und sind davon überzeugt, dass man seine Versprechen halten sollte."
Demnach besitzen die Menschen ein "lebensweltliches
Orientierungswissen" normativer Art, das aus sich heraus "im Großen
und Ganzen" und "in der Regel" verlässlich ist und
offenbar auch interkulturell übereinstimmt, vergleichbar den Sinneserfahrungen.
Dies lebensweltliche Orientierungswissen normativer Art existiert offenbar für
Nida-Rümelin nicht nur in der Form unmittelbarer moralischer Intuition (von
lateinisch "intueri" =
"anschauen" als moralisches Empfinden, Gerechtigkeitssinn, Werteschau
und dergleichen), sondern es beinhaltet auch die - wie immer auch rudimentäre -
Fähigkeit, angesichts von Normkonflikten zu überlegen, zu reflektieren und
abzuwägen. Nida-Rümelin nennt dies "praktische Deliberation" (englisch
'to deliberate' = 'reiflich
überlegen, erwägen', E.W.).
Nida-Rümelin verdeutlicht das postulierte normative "lebensweltliche Orientierungswissen"
vor allem am Beispiel des Versprechens: "Ein
gegebenes Versprechen konstituiert einen guten Grund, dieses Versprechen zu halten."
Auch wenn es sich herausstellt, "dass es
sich nur um einen 'prima facie' (lateinisch: "auf den ersten Blick",
E.W.) guten Grund handelte und das vermeintliche Versprechen gar keines war,
weil es vom Adressaten nicht ernst genommen wurde". Denn, so Nida-Rümelin,
"es gibt wohl in jeder Kultur ... praktische Konflikte, die durch
praktische Deliberation gelöst
werden." Die Fähigkeit zur Deliberation
gehört für Nida-Rümelin - zumindest in rudimentärer Form - zum lebensweltlichen
Orientierungswissen. Deliberation geht von dem Umstand aus, dass uns bestimmte
moralische "Überzeugungen gewisser
erscheinen als andere ... Deliberation setzt ein Gefälle von Gewissheiten und
Prioritäten von Regeln und Wertungen voraus, das es erst erlaubt systematische
Zusammenhänge zwischen einzelnen Überzeugungen herzustellen und damit
Ungewisseres gewisser macht. Darin besteht das Spiel des Begründens".
Soweit die Darstellung der Position Nina-Rümelins,
die in der Tat plausibel erscheint. Wenn man jemanden fragt: "Warum machst
Du das?", so scheint die Antwort "Ich tue das, weil ich es jemandem
versprochen habe" als erschöpfend und keiner weiteren Begründung mehr
bedürftig. Dass man gegebene Versprechen halten soll, erscheint als
selbstverständlich und als nicht weiter hinterfragbar.
II. Kritik
a.) Mit der Einbeziehung der
Deliberation in das lebensweltlich gegebene normative Orientierungswissen setzt
sich Nina-Rümelin von den einfacheren Formen des ethischen Intuitionismus ab.
Offen bleibt dabei allerdings, was denn außer dem logischen Ordnen der intuitiv
erkannten Normen und Werturteile bei den moralischen Überlegungen und
Abwägungen, die er "praktische Deliberation" nennt, genau geschieht.
Insbesondere bleibt unklar, anhand welcher Kriterien die Gültigkeit normativer
oder anderer Positionen zu prüfen ist. Er nennt in diesem Zusammenhang die in
den Individuen vorhandenen Überzeugungen von unterschiedlicher Gewissheit. Wenn
jedoch letztlich unsere eigenen Überzeugungen herangezogen werden, um deren
Berechtigung kritisch zu hinterfragen, so muss man vermuten, dass sich die
Theorie in sich selbst dreht.
Wenn Nida-Rümelin Kriterien oder Standards der Moral anführt, dann verzichtet
er auf den Versuch, diese systematisch zu begründen, sondern entnimmt sie
stattdessen einem allgemein vorhandenen lebensweltlichen Wissen. Es sind für Nida-Rümelin "minimale
Rationalitätsstandards moralischer Urteilsbildung". Typisch für die
Struktur der Argumentation sind Textpassagen wie die folgende:"Die Fähigkeit einen unparteiischen
Standpunkt einzunehmen, also auch solche moralischen Normen für begründet zu
halten, deren allgemeine Befolgung nicht in meinem eigenen Interesse ist, weil
ich zu denjenigen gehöre, die von der realisierten Ungerechtigkeit besonders
profitieren, ist ein konstitutives Element rationaler moralischer Beurteilung,
das sich in der ethischen Theorie niederschlagen muss, wenn diese adäquat
bleiben soll." Ohne eine weitere Begründung dieser Positionen besteht
die Gefahr, dass die Berufung auf ein vorhandenes lebensweltliches Wissen im
Eklektischen und Oberflächlichen endet.
b.) Nida-Rümelin ist sich entweder nicht bewusst oder aber er verzichtet
eigenartiger Weise auf den Hinweis, dass es sich bei der Norm:"Gegebene
Versprechen soll man halten", an der er seine Position vor allem
verdeutlicht, um eine besondere Art von Normen handelt, die man als "institutionelle
Normen" bezeichnen kann. Diese Normen dienen dazu, normsetzende
soziale Verfahren oder Institutionen zu definieren. Dazu gehören z. B. Normen
wie: "Geliehene Sachen soll man zurückgeben", "Verträge soll man
einhalten", "Mehrheitsbeschlüsse (Gerichtsurteile) soll man
respektieren" oder "Die Anordnungen des Vorgesetzten sind zu
befolgen". Derartige Normen gehören zur Definition bestimmter
normsetzender Institutionen. So gehört es zur Definition der Institution des
Eigentums, dass nur der Eigentümer über das Eigentum verfügen darf, und es
gehört zur Institution des Versprechens, dass man das Versprochene einhalten
soll. Ohne diese Norm wäre ein Versprechen eine sinnlose Zeitverschwendung.
Institutionelle Normen sind notwendige Bestandteile normsetzender Institutionen
wie Gericht, Parlament, Eigentum, Versprechen, Vertrag und dergleichen. Insofern
kann man die institutionelle Norm: "Gegebene Versprechen soll man halten" nicht
grundsätzlich bestreiten, wenn man gleichzeitig ein normsetzendes Verfahren
durch Selbstverpflichtung bejaht. Der Satz "Gegebene Versprechen soll man
halten" ist für sich jedoch noch keine inhaltliche Norm, denn es kommt darauf
an, was als ein gültiges Versprechen angesehen wird und welche Bedingungen
dafür gegeben sein müssen.
Mit der allgemeinen Aussage über die Verbindlichkeit der mittels legitimierter
Institutionen gesetzten Normen ist noch nicht die im konkreten Einzelfall
aufkommende Frage beantwortet, ob eine Person A in einer gegebenen Situation die
Handlung h tun soll, weil Person A dies der Person B versprochen hat. Um diese
konkrete Frage beantworten zu können, muss über die Existenzberechtigung der
normsetzenden Institution "Versprechen" und deren spezifische
Anwendungsbedingungen Konsens herrschen. Es ist also zu fragen: "Handelt
es sich in diesem konkreten Fall um ein Versprechen im Sinne der Institution
und waren die Anwendungsbedingungen für ein Verbindlichkeit erzeugendes
Versprechen gegeben?" In den meisten Fällen werden diese Fragen wohl intersubjektiv
übereinstimmend beantwortet, vor allem wenn ein gleicher kultureller
Hintergrund der Beteiligten besteht. Aus diesem Grund ist der Verweis auf das angewendete
Verfahren der Normsetzung und dessen Ergebnis im Alltagsleben auch ausreichend.
Dies ist jedoch noch keine hinreichende ethische Begründung dafür, dass eine
Person A in einer konkreten Situation etwas Bestimmtes tun soll. Um eine solche
Antwort zu geben, muss geklärt sein, wer - unter welchen Bedingungen -
durch welche Äußerungen - hinsichtlich welcher Handlungen - ein verbindliches
Versprechen abgeben kann. Um einige Punkte zu nennen: Muss der Versprechende
mündig sein? Muss er das Versprechen ohne Drohung abgelegt haben? Kann man nur
eigene Handlungen versprechen? Kann man auch Unmoralisches versprechen? Muss
ein Versprechen verständlich formuliert sein? Welche Umstände heben die
Verbindlichkeit eines Versprechens auf? Wie sind die Interessen Dritter zu
berücksichtigen? usw. Diese Fragen machen deutlich, dass die Institution des
Versprechens selber präzisiert und ihre Anwendung im konkreten Fall begründet
werden muss, wenn man mehr aussagen will, als dass es sich dabei "im
Großen und Ganzen" um zuverlässiges Wissen handelt.
Richtig ist, dass nicht erst eine Beantwortung dieser Fragen durch die Moralphilosophie
die praktische Verwendung der Institution des Versprechens ermöglicht. Eine
theoretische Klärung ist jedoch in all jenen Fällen angebracht, wo es einen
moralischen Dissens oder einen begründeten Zweifel gibt. Ein Beispiel hierfür
ist die Frage, ob der Eid, den die Soldaten der deutschen Wehrmacht auf den
Führer Adolf Hitler abgelegt haben, ein verbindliches Versprechen darstellt
oder nicht. Oder um ein aktuelles Beispiel zu geben: Darf man nach dem
Volksentscheid von 2009 nun in der Schweiz keine Minarette mehr bauen, weil
eine Mehrheit gegen den Bau gestimmt hat?
Hier liegt kein fertiges normatives Wissen vor. Hier muss durch eine
intersubjektiv nachvollziehbare Argumentation erst eine begründete Antwort
gefunden werden. Es gibt kein normatives Orientierungswissen, das dadurch, dass
es praktiziert wird, der Kritik entzogen ist. Jede normative Behauptung, jede
Norm, deren Befolgung verlangt wird, kann in Frage gestellt werden und bedarf
einer Begründung. Die Rechtfertigung einer Norm durch die Feststellung: "Das
haben wir immer so gemacht" oder "Das macht man hier so" ist dafür nicht
ausreichend.
c.)
Die Nachwachsenden lernen durch die Teilnahme am Alltagsleben, wie sie mit der
Institution des wechselseitigen Versprechens (Absprache, Vertrag, Vereinbarung,
Übereinkommen) umzugehen haben. Es ist Teil ihrer Sozialisation.
Schließlich können sie die wichtigsten mit der Institution des Versprechens
verbundenen Regeln befolgen, ohne dass sie diese Regeln auch explizit
formulieren könnten. So wie sie auch fehlerfrei sprechen können, ohne dass sie
die grammatischen Regeln, die sie dabei befolgt, explizit formulieren können.
Die "gewachsenen" Regeln des Alltagslebens genügen einfachen sozialen
Beziehungen, wo jeder jeden kennt und wo die sozialen Verhältnisse relativ
statisch sind.
In modernen, großstädtischen Lebensbedingungen, wo es z.
B. einen Austausch von Leistungen zwischen einander bis dahin völlig unbekannten
Personen gibt, genügt die mit Handschlag besiegelte mündliche Vereinbarung
jedoch nicht mehr und es entwickelt sich ein Vertragsrecht bis hin zum
Bürgerlichen Gesetzbuch mit seinen mehr als Tausend Paragraphen, das ständig
weiterentwickelt wird.
Daran zeigt sich, dass man grundsätzlich die
lebensweltlichen Regeln und Institutionen theoretisch in Frage stellen kann,
dass man sie rechtfertigen und kritisieren kann. Auch die lebensweltlichen
Praktiken sind veränderlich und reformierbar. Auch in Bezug auf diese
elementaren Regeln kann und muss man deshalb nach ihrer Begründung fragen.
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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Versprechen als
Verfahren zur Setzung verbindlicher Normen *** (12 K)
Vertrag als Verfahren der Normsetzung ** (40 K)
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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Nida-Rümelin zur Begründung ethischer
Normen" / Letzte Bearbeitung 07.12.2009 / Eberhard Wesche
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