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Abstimmungsverfahren und Koalitionsbildung
Die Mehrheitsalternative als Gleichgewichtspunkt aller gleichgewichtigen Wahlverfahren
Eine frühere Version dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel "Die
'unsichtbare Hand' in der Demokratie" in G. Göhler (Hg.): Politische
Theorie, S. 77-84, Klett-Cotta Verlag, 1978.
Inhalt:
Die "unsichtbare Hand" in
der Marktwirtschaft
Der Gleichgewichtspunkt in Mehrheitsabstimmungen
Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse
Anmerkungen
Einleitung: Die "unsichtbare Hand" in der Marktwirtschaft
In der Geschichte der ökonomischen Theorie spielt das
Theorem von der "unsichtbaren Hand" eine große Rolle, die unter
Bedingungen vollkommener Konkurrenz das eigeninteressierte Handeln der
privaten Eigentümer auf einen Gleichgewichtszustand lenkt, der zugleich
ein optimaler Zustand im normativen Sinne ist.
Diese schon bei Adam Smith1) angedeutete Rechtfertigung einer privaten
Marktwirtschaft wurde später in der Paretianischen Wohlfahrtsökonomie
präzisiert und systematisch dargestellt2). Danach führt unter bestimmten
Voraussetzungen das eigeninteressierte Verhalten von profitmaximierenden
Unternehmen und nutzenmaximierenden Haushalten im idealen Konkurrenzmodell
zu einem Gleichgewichtszustand mit pareto-optimaler Produktion und
Verteilung3). Als pareto-optimal gilt dabei ein Zustand dann, wenn zu ihm
keine Alternative existiert, bei der zumindest ein Individuum besser
gestellt wird und zugleich kein anderes Individuum schlechter gestellt
wird.
Ohne dass auf die Kritik an dieser ökonomischen Rechtfertigungstheorie
hier eingegangen werden kann, die bereits am paretianischen
Optimalitätskriterium selber anzusetzen ist4), soll im Folgenden gezeigt
werden, dass ein analoger Mechanismus in Form einer "unsichtbaren Hand"
auch in demokratischen Abstimmungsverfahren wirksam ist, insofern auch
hier das eigeninteressierte Abstimmungsverhalten der Wähler zu einem
Ergebnis führt, das unter bestimmten Voraussetzungen als Ausdruck des
Gesamtinteresses angesehen werden kann.
Wenn dies richtig ist, so ist es nicht erforderlich, dass die Individuen
in den Abstimmungen ein Urteil über das Gesamtinteresse abgeben, sondern
es genügt, wenn jeder nur seine eigenen Interessen durch seine Stimmabgabe
ausdrückt.
Im Folgenden soll nun anhand des Prinzips der relativen
Mehrheit modellhaft dargestellt werden, wie diese Zusammenfügung der
individuellen Interessen zu einem Gesamtinteresse in demokratischen
Abstimmungsverfahren verläuft.
Der Gleichgewichtspunkt in Mehrheitsabstimmungen
Zur Veranschaulichung soll ein einfaches Beispiel
gewählt werden, bei dem 5 Individuen A, B, C, D und E über die 3
Alternativen x, y und z abstimmen. Als kollektiv gewählt gilt diejenige
Alternative, die die meisten Stimmen - also mehr als irgendeine andere -
erhält.
Die Präferenzen jedes Individuums hinsichtlich der zur Entscheidung
stehenden Alternativen lassen sich dabei durch eine entsprechende
Rangfolgen der Alternativen ausdrücken.
In der folgenden Tabelle sind für 5 Individuen deren mögliche
Interessenlagen in Form solcher Präferenz-Rangordnungen dargestellt, wobei die
Alternativen in der Rangfolge, wie sie dem Interesse des jeweiligen
Individuums entsprechen, untereinander geschrieben wurden:
A |
B |
C |
D |
E |
|
1. Rang |
x |
y |
z |
y |
z |
2. Rang |
y |
z |
x |
x |
y |
3. Rang |
z |
x |
y |
z |
x |
Tabelle 1
In diesem willkürlich gewählten Beispiel entspricht z. B. die Alternative
y den Interessen des Individuums D am besten. Die Alternative z nimmt bei
D den letzten Rangplatz ein und ist für D die schlechteste Möglichkeit.
Die Frage ist nun, welche Alternative sich angesichts
einer solchen Konstellation der individuellen Interessen bei einer
Abstimmung nach dem relativen Mehrheitsprinzip durchsetzt, wenn jedes
Individuum bei der Abstimmung nur seinem Eigeninteresse – ausgedrückt
durch seine Präferenzrangfolge der Alternativen – folgt und die
Präferenzrangfolgen aller Individuen allen Beteiligten bekannt sind.
Dabei ist vorweg zu klären, was unter einem "eigeninteressierten
Abstimmungsverhalten" zu verstehen ist. Auf den ersten Blick könnte man
meinen, dass jedes Individuum für diejenige Alternative stimmt, die seiner
Interessenlage am besten entspricht, dass also z. B. Individuum A für
seine Spitzenalternative x stimmt. Tatsächlich wäre ein solches "aufrichtiges" Abstimmungsverhalten jedoch nicht in A's Interesse, da
angesichts der Interessenlage der übrigen Individuen die Alternative x
keine Chance auf die Erlangung einer relativen Mehrheit besitzt und die
Stimme für x damit "verloren" wäre.
Wenn jedoch nur y und z eine Aussicht auf die Erringung der relativen
Mehrheit haben, so ist es für A am vorteilhaftesten, seine Stimme für die
Alternative y abzugeben, die für A immer noch besser ist als die
Alternative z.
Tatsächlich bildet die Alternative y im vorliegenden Fall den
Gleichgewichtspunkt, auf den hin das Abstimmungsergebnis tendiert, sofern
vorausgesetzt wird, dass alle Individuen über die Interessenlage aller
Beteiligten informiert sind und dass jedes Individuum diejenige
Abstimmungsstrategie wählt, die für es selber am vorteilhaftesten ist.
Es lässt sich zeigen, dass in jedem Fall, wo eine andere Alternative als y
die relative Mehrheit erhält, mindestens ein Individuum nicht "rational",
also nicht den eigenen Interessen entsprechend abgestimmt hat.
Hätten z. B. die Individuen A, C und E für x gestimmt, so dass x mit 3:2
Stimmen die relative Mehrheit gegenüber y erhält, so hätte Individuum E
nicht seinem Eigeninteresse gemäß abgestimmt. Denn hätte E für die
Alternative y gestimmt, so wäre die Alternative y erfolgreich gewesen, die für E besser
ist als x.
Dass im vorliegenden Beispiel die Alternative y den Gleichgewichtspunkt
der Abstimmung darstellt, hängt damit zusammen, dass es sich bei y um die
Mehrheitsalternative handelt. Die "Mehrheitsalternative", die auch als
"Condorcet Winner" bezeichnet wird, ist dadurch definiert,
dass sie im paarweisen Vergleich mit jeder anderen Alternative mehr Stimmen
erhält als diese5).
In unserem Beispiel gibt es 3 mögliche Paarvergleiche mit den folgenden
Abstimmungsergebnissen:
x gegen y -> 2:3 x gegen z -> 3:2 y gegen z ->
3:2.
Die Alternative y ist also den beiden übrigen
Alternativen x und z im Paarvergleich überlegen und ist somit die
Mehrheitsalternative.
Das Bemerkenswerte an diesem Ergebnis ist, dass sich unter der
Voraussetzung der Transparenz aller Interessen und eines
eigeninteressierten Abstimmungsverhaltens aller Individuen die
Mehrheitsalternative y als erfolgreich erweist, obwohl über die
Alternativen gar nicht paarweise abgestimmt wurde, sondern nur ein
einmaliger Wahlgang nach der Regel der relativen Mehrheit vorgenommen wurde.
Es ist jedoch keineswegs zufällig, dass sich in unserem Beispiel bei
Anwendung des relativen Mehrheitsprinzips die Mehrheitsalternative als
Gleichgewichtspunkt des Abstimmungsprozesses ergibt. Wie sich zeigen
lässt, gilt das gleiche für alle Abstimmungsverfahren, die den
Präferenzordnungen der Individuen gleiches Gewicht beimessen6). Insofern
sich in jedem Fall eine vorhandene7)
Mehrheitsalternative durchsetzt, kann man hier auch von einem
"Äquivalenztheorem" für alle individuell
gleichgewichtigen Wahlverfahren sprechen.
Dies Äquivalenztheorem lässt sich am einfachsten negativ beweisen, indem
gezeigt wird, dass immer dann, wenn anstatt einer vorhandenen
Mehrheitsalternative m irgendeine andere Alternative x erfolgreich ist,
zumindest eines der Individuen nicht die für sich günstigste
Abstimmungsstrategie gewählt haben muss:
Da eine Mehrheitsalternative m bei Abstimmungen gegenüber jeder anderen Alternative die
Mehrheit der Stimmen erhält, so muss auch die Anzahl derjenigen Individuen, die m
gegenüber irgendeiner beliebigen Alternative x vorziehen, größer sein als
die Zahl derjenigen, die umgekehrt x gegenüber m vorziehen.
Wenn jedoch jedes Individuum einen gleichgewichtigen Einfluss auf die
Entscheidung besitzt, so haben die Befürworter von m aufgrund ihrer
zahlenmäßigen Überlegenheit immer die Möglichkeit, mit ihrem größeren
Gewicht anstelle von x die von
ihnen vorgezogene Alternative m durchzusetzen.
Für die normative Beurteilung von Abstimmungsverfahren ist das oben
entwickelte Äquivalenztheorem nicht unerheblich, denn es
lässt die
Abstimmungspraxis demokratischer Gremien in einem neuen Licht erscheinen.
So wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum so häufig das relative
Mehrheitsprinzip Anwendung findet, obwohl es bei einem "aufrichtigen"
Abstimmungsverhalten aller Individuen zu kaum akzeptablen Ergebnissen führt, vor
allem bei einer relativ großen Zahl von Alternativen8).
Weiterhin wird verständlich, warum gewöhnlich Diskussionen, Verhandlungen
oder Zwischen- bzw. Probeabstimmungen der endgültigen Abstimmung
vorgeschaltet sind, denn sie geben nicht nur die Gelegenheit zu besserer
Information über die zur Entscheidung anstehenden Alternativen, sondern
sie sind auch Voraussetzung für die Information über die Interessenlage
der Beteiligten. Erst diese Information ermöglicht eine
eigeninteressierte, rationale Koalitionsbildung und Abstimmungsstrategie.
Mit Hilfe des Äquivalenztheorems erledigt sich auch ein weiteres Problem,
das bei der normativen Beurteilung von Abstimmungsverfahren meist eine
erhebliche Schwierigkeit bildete.
Um etwa eine vorhandene Mehrheitsalternativ durch paarweise Abstimmungen
zwischen den Alternativen zu ermitteln, wurde bisher vorausgesetzt, dass
alle Individuen gemäß ihren tatsächlichen Interessen bzw.
Präferenzordnungen "aufrichtig" abstimmen und darauf verzichten, durch
geschicktes Abstimmungsverhalten ein für sich selber vorteilhafteres
Abstimmungsergebnis zu erzielen. Die Durchsetzung einer derartigen "Abstimmungsmoral" ist jedoch bei geheimer Abstimmung nicht möglich9).
Angesichts des Äquivalenztheorems ist eine derartige Kontrolle des
Eigeninteresses aber auch überflüssig, denn wie gezeigt wurde, führt gerade
das eigeninteressierte Abstimmungsverhalten der Individuen bei Information
über die Präferenzen der andern Abstimmungsberechtigten zum Resultat der
Mehrheitsalternative.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass es angesichts des
Äquivalenztheorems müßig erscheint, nach noch ausgeklügelteren
Abstimmungsverfahren zu suchen, denn aufgrund des eigeninteressierten
Abstimmungsverhaltens der Individuen ist bereits beim leicht
durchzuführenden relativen Mehrheitsprinzip die Durchsetzung der
Mehrheitsalternative möglich. Auch ein komplizierteres Verfahren könnte
hier kein besseres Ergebnis erbringen10).
Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse
Die bisherigen Ausführungen haben den Nachweis erbracht, dass - unter den
genannten Voraussetzungen - in demokratischen Abstimmungen eine "unsichtbare Hand" wirksam ist, die das eigeninteressierte
Abstimmungsverhalten der Individuen auf die Durchsetzung des
Gleichgewichtspunktes in Form einer vorhandenen Mehrheitsalternative
lenkt.
Offen bleibt jedoch noch die Frage, ob es sich dabei um eine "wohltätige"
Hand handelt. Es bleibt also noch die Frage zu beantworten,
inwiefern die
Mehrheitsalternative als Ausdruck des Gesamtinteresses angesehen werden
kann11).
Dies setzt voraus, dass ein "Gesamtinteresse" als allgemeingültiges
normatives Kriterium bestimmt werden kann. Ein Versuch zur Lösung dieser
grundlegenden Problematik jeder Sozialethik habe ich an anderer Stelle
unternommen12), so dass hier eine grobe Skizzierung der Ergebnisse
genügen soll.
Um als Kriterium für die normative Gültigkeit kollektiver Normen oder
Entscheidungsregeln gelten zu können, sind m. E. bei der Bestimmung des
Gesamtinteresses zwei Prinzipien zu berücksichtigen:
1. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit von Behauptungen steht und fällt
mit der argumentativen Konsensfähigkeit dieser Behauptungen13). Dies
gilt auch für normative Behauptungen, wie z. B. die Bestimmung eines
allgemeingültigen Gesamtinteresses.
(Intersubjektivitätsprinzip).
2. Ein argumentativer Konsens in Bezug auf das Gesamtinteresse lässt
sich nur dann erreichen, wenn jedes Individuum die Interessen jedes
anderen solidarisch so berücksichtigt, als wären es zugleich seine eigenen14) (Solidaritätsprinzip).
Um angesichts eines Interessenkonflikts zu einem argumentativen Konsens
zu gelangen, ist es demnach erforderlich, dass jedes Individuum nicht nur
seine eigenen Interessen berücksichtigt, sondern dass es sich zugleich in
die Lage der Anderen hineinversetzt und die Entscheidung unparteiisch
auch aus deren Sicht beurteilt15).
Da sich die Begründung dieser ethischen Position hier nicht leisten lässt,
sei das Prinzip der unparteiischen Interessenberücksichtigung hier nur als
eine bewusste normative Setzung eingeführt, so dass auch ein Positivist
keine methodischen Bauchschmerzen bei der nachfolgenden Erörterung haben
muss. Diese ist damit rein analytisch und kommt ohne weitere normative
Behauptungen aus. Ihre Ergebnisse gelten nur für denjenigen, der das
ethische Prinzip der unparteiischen Interessenberücksichtigung akzeptiert.
Wie verhält sich nun die Mehrheitsalternative zu einem derartigen
solidarisch bestimmten Gesamtinteresse? Welche Stärken und Schwächen hat
das demokratische Mehrheitsprinzip gemessen an diesem Kriterium normativer
Allgemeingültigkeit?
Zum einen impliziert das skizzierte Solidaritätsprinzip, dass
das Gesamtinteresse aufgrund der individuellen
Interessen bestimmt wird. Dies wird durch das Mehrheitsprinzip
erfüllt, denn die kollektive Entscheidung ist allein von der Stimmabgabe
der Individuen abhängig16).
Allerdings wird die Bestimmung der individuellen
Interessen durch die betreffenden Individuen selber vorgenommen.
Ein solches rein subjektives Verfahren ist jedoch keineswegs
selbstverständlich, wie schon die Tatsache zeigt, dass in der Regel
Kindern oder Geisteskranken das Stimmrecht nicht gewährt wird.
Die Berechtigung einer subjektiven Selbsteinschätzung der individuellen
Interessen steht und fällt aber mit der Beantwortung der Frage, inwiefern
die Individuen tatsächlich über ihre eigene Interessenlage aufgeklärt sind
und selber am besten beurteilen können, was für sie gut ist. Dies Problem
drückt sich in der gängigen Formel aus, dass die Demokratie den mündigen
Bürger voraussetzt, der also nicht durch Erziehungsinstitutionen oder
Massenmedien "manipuliert" sein darf17).
In dem Maße, wie die sozialen und psychischen Bedingungen der Aufklärung
für die Individuen nicht gegeben sind, wird fraglich, ob ein Abstimmungsergebnis
dem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse entspricht.
Weiterhin müssen unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen
Interessenberücksichtigung alle von einer Entscheidung betroffenen
Individuen mit ihren Interessen einbezogen werden. Insofern es also
betroffene Individuen gibt, die bei der Entscheidung nicht
abstimmungsberechtigt sind, wird die Mehrheitsentscheidung ethisch
problematisch. Ein solcher Fall ergibt sich etwa bei
Abstimmungsentscheidungen mit sehr langfristigen Konsequenzen, bei denen
zukünftige Generationen in ihren Lebensbedingungen zwar stark betroffen
sind, aber aus naturgegebenen Gründen ihre Interessen in der Abstimmung
nicht selber artikulieren können.
Selbst wenn die beiden bisher angesprochenen Probleme befriedigend gelöst
werden könnten, könnte man trotzdem nur unter bestimmten einschränkenden
Voraussetzungen von einer solidarischen Interessenberücksichtigung durch
das
Mehrheitssystem sprechen.
Zwar gehen bei der Bestimmung der Mehrheitsalternative alle Individuen mit
gleichem Gewicht in die kollektive Entscheidung ein, so dass keine
Individuen oder Gruppen prinzipiell bevorzugt werden. Es spielt dabei auch
keine Rolle, von welchem Individuum eine bestimmte Stimme kommt, so dass
auch eine anonyme Stimmabgabe möglich wäre18).
Allerdings ist Gleichgewichtigkeit der Individuen nicht mit solidarischer
Berücksichtigung der individuellen Interessen gleichzusetzen, da eine
möglicherweise unterschiedliche Dringlichkeit bzw. Gewichtigkeit der
individuellen Interessen nicht berücksichtigt wird, wie die folgende
Überlegung zeigt.
Die Mehrheitsalternative ist dadurch charakterisiert, dass sie
gegenüber jeder anderen Alternative im Paarvergleich von einer Mehrheit
vorgezogen wird. Dabei spielt also nur eine Rolle, ob eine Alternative für
das betreffende Individuum besser ist oder nicht.
Es wird jedoch nicht berücksichtigt, um wie viel
eine Alternative im Vergleich besser ist. Die Interessen der
Individuen werden nur als Rangordnungen von Alternativen erfasst, wobei
der interessenmäßige Abstand zwischen den Alternativen nicht
berücksichtigt wird19).
Durch diese Beschränkung auf ein ordinales Messniveau bei der Bestimmung der
individuellen Werte bleibt eine
unterschiedliche Dringlichkeit der Interessen unberücksichtigt.
Dies ist unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen
Interessenberücksichtigung jedoch problematisch, denn diese verlangt,
fremde Interessen bei der Bestimmung des Gesamtinteresses so zu
berücksichtigen als seien es die eigenen.
Bei der isolierten eigenen Entscheidung berücksichtigt man jedoch selbstverständlich
unterschiedliche Dringlichkeiten von Interessen, was z. B. dann deutlich
wird, wenn mehrere Einzelentscheidungen zu einer einzigen
Gesamtentscheidung zusammengefasst werden und die wichtigeren
Entscheidungen den Ausschlag bei der Gesamtentscheidung geben
Wie schwerwiegend ist nun dieser ethische Einwand gegen das
Mehrheitsprinzip? Unter welchen Bedingungen kann man dann noch davon
ausgehen, dass die Mehrheitsalternative zugleich diejenige Alternative
ist, die einem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse zumindest annähernd
entspricht?
Die bloße Tatsache, dass Individuen unterschiedlich stark von einer
Entscheidung betroffen sind, muss noch keine Probleme aufwerfen, sofern
sowohl bei der Mehrheit als auch bei der Minderheit starke und schwache
Betroffenheit der Individuen vorkommt und die durchschnittliche
Betroffenheit bei beiden Gruppen ungefähr gleich ist.
Unproblematisch ist es
ebenfalls, wenn die Mehrheit stärker betroffen ist als die Minderheit.
Nur in dem Fall, bei dem die Minderheit von der
Entscheidung durchschnittlich stärker betroffen ist als die Mehrheit,
müssen sich Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse nicht mehr decken.
Dabei ist die Mehrheitsentscheidung in diesem Fall ethisch umso
problematischer, je knapper die zahlenmäßige Überlegenheit der Mehrheit
ist20). Ein solcher Fall liegt etwa vor, wenn die Bevölkerung eines
Landes mehrheitlich eine Entscheidung fällt, die für die Bewohner einer
bestimmten Region, die sich in der Minderheit befinden, mit schweren
Nachteilen verbunden ist.
In derartigen Fällen sehr ungleicher Betroffenheit der Individuen von der
Entscheidung ist der Gleichgewichtspunkt in Form der Mehrheitsalternative
kein geeigneter Ausdruck für ein solidarisch bestimmtes Gesamtinteresse,
so dass Regelungen getroffen werden müssen, um die starken Unterschiede in
der Betroffenheit möglichst auszuschließen bzw. auszugleichen.
Eine von vielen Möglichkeiten hierzu ist die Abgrenzung dezentraler
Entscheidungsbereiche, in denen nur die jeweils davon stärker betroffenen
Individuen abstimmungsberechtigt sind, etwa durch die Einrichtung
regionaler Selbstverwaltungseinheiten.
Fazit dieser Überlegungen ist, dass der Gleichgewichtspunkt in Form der
Mehrheitsalternative nur unter den genannten einschränkenden Bedingungen
als geeigneter Ausdruck eines solidarisch bestimmten Gesamtinteresses
angesehen werden kann. Deshalb kann das Wirken der "unsichtbaren Hand" in
demokratischen Abstimmungsverfahren auch nur unter diesen Bedingungen als "wohltätig" angesehen werden.
Anmerkungen
(1) Vgl. dazu auch M. Blaug, Economic Theory in Retrospect. London 1968,
S. 58f.
(2) Eine Darstellung gibt D.M. Winch, Analytical Welfare Economics.
Harmondsworth 1971.
(3) Anzumerken ist, dass es sich dabei um eine statische Analyse handelt,
bei der von dynamischen Aspekten des Zeitablaufs abstrahiert wird.
(4) Vgl. dazu z. B. A.K. Sen, Collective Choice and Social Welfare. San
Francisco u. a. 1970, S. 22 oder J. Rawls, A Theory of Justice. London u.a.
1973, S. 70f.
(5) Vgl. dazu Duncan Black: The Theory of Committees and Elections.
London 1971, S. 57.
(6) Individuell gleichgewichtige Abstimmungsverfahren sind dadurch
gekennzeichnet, dass jedes Individuum eine gleich große Anzahl von Stimmen
je Wahlgang zu vergeben hat. Zufallsverfahren sind nicht in diesem Sinne
"gleichgewichtig", weil ein Zufallsergebnis überhaupt nicht aus den
Rangordnungen der Individuen abgeleitet wird.
(7) Es muss jedoch nicht immer eine derartige Mehrheitsalternative
vorhanden sein. Zur Problematik derartig zirkulärer Mehrheiten vgl. Sen
1970, S. 163ff.
(8) Vgl. dazu z. B. Black 1971, S. 68.
(9) Man vergleiche z. B. einmal die Überlegungen bei
Dodgson: "A Method of Taking Votes on More than Two Issues" in: Black
1971, S. 232ff.
(10) Eine Analyse unterschiedlicher Abstimmungsverfahren in diesem
Sinne findet sich in Black 1971.
(11) Insofern die Fragen nach dem Gleichgewichtspunkt und nach dem
Gesamtinteresse auf unterschiedlichen Erkenntnisebenen liegen, bleiben die
Ergebnisse hinsichtlich des Gleichgewichtspunktes in ihrer Geltung
unberührt von den folgenden sozialethischen Überlegungen.
(12) Diese Konzeption eines solidarisch bestimmten Gesamtinteresses ist
dargestellt in E. Wesche: Zur Methodologie der normativen
Sozialwissenschaften. Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip -
Gesamtinteresse, § 53f., Dissertation Berlin 1976 (In dieser Website
verfügbar
hier.)
(13) Zur argumentativen Konsensfähigkeit als Kriterium für die
Allgemeingültigkeit normativer Behauptungen vgl. J. Habermas:
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S. 148, P.
Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1974, S. 35,
sowie K.-0. Apel: Transformation der Philosophie 2. Bd. Frankfurt a. M.
1973, S. 420f.
(14) Einem derartigen Solidaritätsprinzip verwandte Prinzipien
werden in der Geschichte der Ethik verschiedentlich formuliert. Zu nennen
wäre vor allem Leonard Nelson, dessen "Abwägungsgesetz" lautet: "Handle
nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest,
wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären." L.
Nelson: Kritik der praktischen Vernunft. Göttingen 1916, S. 133.
(15) Dabei kann jedoch die Frage, wie dies möglich ist und wie man fremde
Interessen kennen und mit den eigenen Interessen vergleichen kann, noch
keineswegs als gelöst angesehen werden. Wichtige Überlegungen zu einem
derartigen 'interpersonalen Nutzenvergleich' finden sich in J. C. Harsanyi: "Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Interpersonal Comparisons
of Utility", in: Journal of Political Economy, 63.(1955), S. 309-321.
(16) Es werden also nicht bestimmte Entscheidungsalternativen unabhängig
vom Interesse der Individuen bevorzugt. Zum Beweis dieser "Neutralität"
der Mehrheitsregel gegenüber den Alternativen s. K.O. May: "A Set of
Independent, Necessary and Sufficient Conditions for Simple Majority
Decision" in: Econometrica 20.(1952) S. 680-684.
(17) Zur Frage, was die Bedingungen der Aufklärung über die eigenen
Interessen sind und was als manipulative Verletzung dieser Bedingungen
anzusehen ist, s. Wesche 1976, Kap. 6
(18) Zum Nachweis der Anonymitätseigenschaft der Mehrheitsregel vgl. May
1952.
(19) Zur Diskussion des Messniveaus in der Nutzentheorie vgl. G. Gäfgen:
Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. Tübingen 1968, S.144ff.
(20) Zur Problematik fehlender Berücksichtigung von Präferenzintensitäten
vgl. R. A. Dahl: A Preface to Democratic Theory. Chicago u. a. 1970, S. 90ff.
***
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Das Mehrheitsprinzip, §
120
Zirkuläre Präferenzen ** (10 K)
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Alphabetische Liste aller Texte
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Ethik-Werkstatt:
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Letzte Bearbeitung 03.01.2007 / 06.11.2012 / Eberhard Wesche
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