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Ist ein Konsens über Normen möglich?
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Eine andere Art der ethischen Fragestellung
Angesichts des fehlenden
Fortschritts auf dem Gebiet der Ethik und angesichts des
fortdauernden Streits zwischen miteinander unvereinbaren ethischen
Überzeugungen ist eine skeptische Haltung gegenüber einem Programm zur
Entwicklung einer allgemeingültigen Ethik verständlich und tatsächlich weit
verbreitet. Doch ist dies sicherlich nicht das letzte Wort der Philosophie. Ein
möglicher Weg aus der Sackgasse besteht darin, dass man die Frage anders stellt
als bisher üblich.
Statt zu fragen: "Gibt es allgemein verbindliche moralische Normen?", so als
existierten
diese allgemeingültigen Normen irgendwo, sollte man fragen:
- Was sind die Kriterien dafür, dass moralische Normen
allgemeine Anerkennung finden können?
- Welche ethischen Prinzipien
sind eher akzeptabel bzw. konsensfähig als andere und warum?
- Welche Begründungen für moralischen Normen sind
nachvollziehbar und akzeptabel und welche Art von Begründungen scheiden von
vornherein als nicht akzeptabel aus?
Wenn wir die Frage nach dauerhaft konsensfähigen Normen auf uns selber anwenden, gelangen
wir zu der Frage: "Was können wir
alle gemeinsam am ehesten dauerhaft wollen" bzw. "Welche Normen können am ehesten
dauerhaft unsere Anerkennung finden?"
Wie muss ein System von Regeln und
Institutionen des Zusammenlebens aussehen, das von
allen beteiligten und verständigen Individuen (am ehesten) akzeptiert werden kann,
wobei die Individuen keinerlei Zwang ausgesetzt sind außer der Verpflichtung auf
das Ziel der
Einigung?
Was ist mit der "Konsensfähigkeit" von moralischen Normen gemeint?
Eine moralische Norm ist
dann allgemein konsensfähig, wenn ihr unter idealen Diskussionsbedingungen jedes
der beteiligten Individuen
(das die Argumente versteht und das einen
allgemeinen zwangfreien Konsens anstrebt) tatsächlich am ehesten
zustimmen würde.
Ideale Diskussionsbedingungen orientieren sich allein am Ziel der
Wahrheitsfindung. Es gibt also keine Begrenzungen aufgrund von Zeitmangel oder
Informations- und Entscheidungskosten. Die Diskussion ist "handlungsentlastet".
Es wird keinerlei Zwang oder Druck ausgeübt außer dem "Zwang" des besseren
Arguments.
Die Forderung nach einer zwangfreien Argumentation verbietet nicht den Hinweis auf
unvermeidlich eintretende Folgen eines bestimmten
Verhaltens ("Wenn keine Maßnahmen
der Familienplanung ergriffen werden, wird sich die Zahl der
Menschen in den nächsten 100 Jahren verdoppeln.")
Die
Bedingung der Zwangfreiheit wird jedoch verletzt, wenn als "Argumente" Drohungen oder Versprechungen vorgebracht
werden ("Dies ist Gottes Gebot. Wer Gottes Gebot missachtest, der wird böse
enden.")Um für die Konsensfindung brauchbar zu sein, müssen Begründungen
und Argumente intersubjektiv nachvollziehbar sein. Ein Argument ist dann
intersubjektiv nachvollziehbar, wenn es verständlich formuliert ist und wenn es
von anderen geteilt und übernommen werden kann.
Die Analogie zur Diskussion in den Erfahrungswissenschaften
Man kann die Diskussion
über die allgemeine Konsensfähigkeit von Normen mit der
erfahrungswissenschaftlichen Diskussion über die Wahrheit von Aussagen
vergleichen, um zu verdeutlichen, was mit einer zwangfreien, am Konsens
orientierten Diskussion gemeint ist.
So wie über die Wahrheit faktischer Aussagen nicht abgestimmt werden kann, so
kann man auch über die Konsensfähigkeit einer Norm weder
abstimmen noch kann irgendein Wissenschaftler oder irgendeine Versammlung von
Wissenschaftlern darüber entscheiden, ob eine Norm konsensfähig ist oder nicht.
Die
'Konsensfähigkeit' einer Position ist also nur argumentativ zu stützen oder
anzugreifen.
Ein Wissenschaftler behauptet seine These in dem Sinne, dass er damit den Anspruch an alle andern verbindet, diese These
ebenfalls zu bejahen. Als moderner Wissenschaftler ist es für ihn
selbstverständlich, dass er für seine Behauptung intersubjektiv nachvollziehbare
(konsensfähige) Gründe anführen muss wie z. B. die genaue Beschreibung der Versuchsanordnung und der gewonnenen Resultate.
Dass man zur Beantwortung von Fragen nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit
kontrollierte Beobachtungen und Experimente machen muss, war noch vor ein paar
hundert Jahren keineswegs unumstritten. Die Methodologie der
Erfahrungswissenschaften musste sich mühsam durchsetzen und ist nicht von heute auf morgen entstanden.
Wenn
ich behaupte, dass eine bestimmte Norm allgemein konsensfähig ist,
so tue ich das in ähnlicher Weise, wie wenn ich behaupte, dass
eine bestimmte Beschreibung eines Sachverhaltes wahr ist.
Für beide Arten von Behauptungen habe ich meine Gründe und
gegenüber dem, der meine Behauptungen bestreitet, nenne ich
meine Gründe und bin für Gegenargumente jederzeit offen.
Das Streben nach einem Konsens ist die einzige Voraussetzung
Der Wille zum allgemeinen Konsens, das Sich-Einlassen auf die Fragestellung "Welche Normen sind am ehesten allgemein
konsensfähig?", ist das
einzige, was vorausgesetzt wird.
Die Begründung
für diese Voraussetzung ist einfach:
Wem es überhaupt nicht um allgemein akzeptable Normen und um deren - von
anderen
nachvollziehbare - argumentative Begründung geht, mit dem
erübrigt sich auch jegliche Diskussion über die Gültigkeit von Normen. Denn wenn
ich ihm entgegenhalte, dass ich ein Argument von ihm nicht akzeptieren kann, so
hat das für ihn keine Relevanz, denn er diskutiert nicht, sondern er
monologisiert.
Es hat weitreichende Konsequenzen, wenn
jemand den Willen zum Konsens nicht teilt und z.B. die Diskussion mit dem
Hinweis verlässt: "Ihr seht ja, dass wir uns nicht
einigen können!"
Man kann das zwar immer tun, aber damit hat man
zugleich jeglichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit - auch der eigenen Position
- aufgegeben. Damit hält man sich ob man sich darüber im KLaren ist oder nicht
die Option für eine gewaltsame Lösung von Konflikten offen.
Aus dem Willen aller Beteiligten zum Konsens folgt, dass alle Argumente
daraufhin zu prüfen sind, ob sie diesem Ziel förderlich sind oder nicht. Dies
ist die Grundlage für eine Methodologie normativer Erkenntnis.
Durch den "Zwang" zum Konsens müssen die Beteiligten
von ihren bestehenden Meinungen und ihren
eigeninteressierten Positionen abrücken, sie müssen Wege der Einigung
suchen, die Bedürfnisse und Interessen der andern berücksichtigen,
sich im Kompromiss entgegenkommen und einen überparteilichen
Standpunkt einnehmen.
Die Analogie zur Theorie der rationalen Entscheidung: Welche Alternative ist eher konsensfähig?
Für die Ethik ist die Analogie zur rationalen
Entscheidungstheorie passend, wo die Entscheidungen nicht als richtig oder
falsch sondern als besser oder schlechter für einen Akteur eingestuft werden.
Daraus kann dann die Bestimmung der vergleichsweise besten Handlungsalternative
erfolgen.
Da es aber Entscheidungskosten gibt, also Kosten der Ermittlung der besten
Alternative, wird man die Suche nach der besten Alternative u. U. bereits dort abbrechen, wo man eine befriedigende Lösung ('satisficing
solution')
gefunden hat. Man weiß ja oft nicht, ob überhaupt - und wenn ja, mit welchem Aufwand
-
eine noch bessere Lösung gefunden werden wird.
Wenn die normative Frage z. B. relativ unwichtig ist, wird man wegen der
Entscheidungskosten nur ein sehr einfaches und grobes Verfahren der Beantwortung
wählen.
Da es sich bei normativen Fragen gewöhnlich nicht um singuläre
Handlungsprobleme handelt, sondern um wiederkehrende, strukturelle Probleme und
Lösungen, kann man auch nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum verfahren, das
heißt, man probiert Regelungen aus und verbessert sie dann weiter (Poppers
"trial and error").
Daraus folgt, dass man eigentlich nur nach einem Kriterium zu suchen hat, das
zwischen verschiedenen möglichen normativen Regelungen eine Auswahl trifft. Man
sollte
nicht die Alternative aufstellen "anerkennbar – nicht anerkennbar" analog zu "wahr – falsch", sondern man sollte fragen: "Welche Alternative ist eher anerkennbar?"
analog zu "besser –
schlechter". (So wie man auch von "mehr sozialer Gerechtigkeit" spricht.)
Nicht die in einer gegebenen Situation absolut
beste aller möglichen Gesellschaftsordnungen ist zu finden, sondern ausgehend
von der vorhandenen Ordnungen und ihren Problemen ist nach realisierbaren
Verbesserungen zu suchen, was allerdings auch grundsätzliche "revolutionäre" Änderungen nicht
ausschließt.
Die
Alternative: "Geltung einer Norm: ja oder nein?" kommt nicht in der Diskussion
auf sondern erst dort, wo bestimmte normative Alternativen durch
soziale Mechanismen verbindlich "gesetzt" wurden. Hier kann man fragen: "Gilt
die Norm oder gilt sie nicht?"
Die Zuspitzung auf "wahr oder falsch" entsteht auch bei der Frage, ob eine
bestimmte Norm für eine bestimmte Handlung "einschlägig" ist oder nicht. (Ist
eine bestimmte Handlung z. B. "Raub" im Sinne des Strafgesetzbuches oder nicht? Es
gibt dann nur die Entscheidung: "verboten - erlaubt" oder "geboten – nicht
geboten".)
Bei der Konstruktion einer allgemein akzeptablen
Ethik sollte man nicht der Vorstellung nachjagen, dass es in
jedem Fall die "einzig wahre" Lösung geben muss. Die
Situation ist eher so, dass für bestimmte Konflikte und die daraus
entstehenden ethischen Probleme verschiedene
Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen werden und dass es dann darauf
ankommt, diejenige Alternative zu bestimmen, die
vergleichsweise am ehesten allgemein akzeptiert werden kann.
Es
wird also z. B. nicht die allgemein akzeptable Regelung
bezüglich der Verteilung der Konsumgüter geben, sondern nur
Regelungen, von denen die eine mehr und die andere weniger
allgemein akzeptabel ist.
Was ist konsensfähig und was nicht?
Unter dem Gesichtspunkt der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit
gibt es bereits eine Reihe brauchbarer moralischer Argumente und einsichtiger
Begründungen. Dazu gehören Argumente wie:
- "Was wäre, wenn jeder so handeln würde wie Du? Das würdest
Du doch auch nicht wollen"
- "Möchtest Du so behandelt werden, wie Du andere behandelst? Das würdest Du
doch auch nicht wollen"
- "Du musst andern das gleiche Recht zugestehen, das Du Dir herausnimmst!"
- "Versetz Dich doch mal in meine Lage! Dann wärst Du sicherlich nicht mit
dieser Regelung einverstanden"
- "Wenn ich dasselbe mit Dir machen würde, dann hättest Du schon lange
protestiert"
- "Das schadet doch niemandem. Warum soll ich es also nicht
tun, wenn es mir gefällt?"
- "Du darfst nicht nur Deine eigenen Interessen im Auge haben. Denk auch mal an
die Interessen der andern!"
- "Du darfst andern nicht mehr zumuten, als was Du selber bereit wärst zu
ertragen!"
- "Auch Du könntest mal unverschuldet in eine solche Notlage kommen, und dann
würdest Du doch auch erwarten, dass man Dir hilft"
- "Es gibt keinen Grund, Dich besser zu behandeln als andere.
Auch nicht wegen Deiner schönen blauen Augen und auch nicht weil Du XYZ heißt"
- "Eine solche Regel lehne ich ab, weil sie mich ohne sachlichen Grund
benachteiligt"
- "Damals hast Du in einem gleich gelagerten Fall aber ganz anders geurteilt"
- "Zwischen beiden Fällen gibt es relevante Unterschiede z. B. hinsichtlich der
Zahl der Betroffenen. Deshalb kann man nicht beides über einen Kamm scheren"
- "Dies ist für Dich und für mich geltendes Recht und jeder von
uns hat sich daran zu halten (es sei denn, Du hättest gute Gründe, die bestehende
Rechtsordnung insgesamt zu verwerfen)"
- "Für Dich bedeutet diese Alternative doch nur eine geringfügige Einschränkung,
aber für mich wäre das eine sehr große Verbesserung"
etc. etc.
Dies sind alles moralische Argumente, die sich an einer
allgemeinen Konsensfähigkeit orientieren.
Nicht konsensfähig in diesem Sinne sind z. B. "parteiliche" Normen, die
zwischen zwei Fällen normative Unterschiede machen nicht weil dort sachliche
Unterschiede bestehen sondern allein deswegen, weil es
sich das eine Mal um das Individuum (bzw. die Gruppe) X
handelt und das andere Mal nicht. Was sollten die andern auch für einen Grund
haben, den Privilegien von X zuzustimmen?
Nicht konsensfähig sind solche Normen, die normative Unterschiede aufgrund von empirischen Merkmalen machen,
die für eine normative Beurteilung irrelevant sind. Bei
der Beurteilung einer Körperverletzung ist es z. B.
irrelevant, ob der Täter blond war oder dunkelhaarig, ob er es an
einem Donnerstag oder Freitag getan hat, ob es in Hamburg oder
München geschah usw. (Zu klären bleibt hier allerdings, warum
diese Merkmale irrelevant sind.)
Nicht konsensfähig sind Begründungen, die
Annahmen über die Wirklichkeit enthalten, die nicht
direkt oder indirekt an der Wahrnehmung intersubjektiv nachprüfbar sind. (wie
z. B. "Diese Regeln hat Gott Moses am Berg
Sinai verkündet" oder "Diese Regeln hat Mohammed gegeben und
Mohammed ist Gottes Prophet" )
Allgemein konsensfähig scheinen gewisse
elementare Rechte zu sein, die jedem mündigen Individuum zugestanden werden: Das
Recht, frei zu handeln (sich zu bewegen, sich zu kleiden,
seine Meinung zu äußern, sich mit anderen zusammenzuschließen)
solange nicht die konsensfähigen Rechte anderer verletzt
werden. ((Die Begründung für die Konsensfähigkeit dieser "Menschenrechte"
wären noch genauer zu klären.))
Konsensfähig zu sein scheint mir auch das
Ziel, den Untergang der Menschheit zu verhindern.
Allerdings lassen sich daraus nur mit Hilfe zusätzlicher
Annahmen konkrete Normen ableiten.
Wenn jemand sein persönliches Glück an die oberste Stelle setzt, ist ein Konsens
nicht möglich. Deshalb scheidet eine solche "egoistische"
Position als nicht allgemein konsensfähig und damit ungeeignet für eine allgemeingültige Ethik aus.
Ethische
Normen, die sich nicht personunabhängig formulieren lassen,
sind nicht allgemein akzeptabel.
Unter gleichen persönlichen und situationsbezogenen Bedingungen gelten auch die
gleichen Rechte und Pflichten für Individuen und Gruppen.
Es darf in der ethischen
Beurteilung von zwei gleichartigen Fällen kein Unterschied gemacht
werden, nur weil es sich dabei um verschiedene Personen
handelt.
Daraus folgt unter anderem:
Wenn jemand in einer bestimmten Situation bestimmte für ihn
vorteilhafte Normen vertritt, so schafft er damit einen "Präzedenzfall" auf den man sich ihm gegenüber berufen kann. Er muss
deshalb diese Normen auch dann gelten lassen, wenn die
Rollen einmal "vertauscht" sind und ein anderer die
Vorteile hätte.
Will er den neuen Fall anders als den alten beurteilen, so muss er
einen für die ethische Beurteilung relevanten Unterschied
zwischen beiden Fällen aufzeigen. In der Alltagssprache heißt dies, dass "nicht
mit zweierlei Maß gemessen werden darf".
Ein konkretes
Beispiel dazu:
Wenn die Regierung der USA den Irakkrieg damit
rechtfertigt, dass dadurch ein Diktator beseitigt werden soll,
der über Massenvernichtungswaffen verfügt, so muss sie
diese normative Begründung nicht nur in Bezug auf den Irak
sondern in Bezug auf alle Länder gelten lassen. Damit hat sich
die Regierung der USA jedoch auf zahlreiche "Demokratisierungs- und Entwaffnungskriege" festgelegt. Und wer will
das?
Außerdem haben die Regierungen der USA und
Großbritanniens mit der eigenmächtigen Auslegung der Resolution
1441 des UN-Sicherheitsrates (der Begriff "ernste
Maßnahmen" umfasse auch "Kriegführung" ) einen weiteren
Präzedenzfall geschaffen, der für das Bemühen um eine internationale
Rechtsordnung katastrophal ist. Man muss sich nur
vorstellen, dass andere Staaten in Zukunft ebenso verfahren werden.
Dies ist besonders problematisch, wenn von
der Regierung der USA gleichzeitig der Aufbau einer
internationalen Gerichtsbarkeit abgelehnt wird, die
durch eine verbindliche Auslegung solcher Resolutionen
verhindern könnte, dass die Staaten "Richter in eigener Sache" sind.
Wenn jemand ethisch problematisch handelt, so
muss er sich demnach immer die Frage gefallen lassen: "Was
wäre, wenn alle so handeln würden, wie du?" Wenn er nicht
damit einverstanden ist, dass sich auch alle andern "die Maxime
seines Handelns" zu eigen machen, so hat er damit gezeigt,
dass seine Handlungsweise nicht konsensfähig ist (vgl. Kants Kategorischen
Imperativ).
***
Bestimmte Begründungen erweisen sich von vornherein als untauglich:
"… weil ich es so will" oder
"… weil ich es bin" oder
"… weil es (meines) Gottes Gebot ist" oder
"… weil man es eben so macht".
Und es wird verständlich, warum andere Begründungen eher geeignet zu sein
scheinen, allgemein akzeptiert zu werden, wie z. B.
"… weil es für uns beide besser ist, wenn wir uns an ein solches Verbot
halten",
"… weil es allen schaden würde, wenn jeder so handeln würde",
"… weil ein von uns angerufener unparteiischer Dritter so entschieden hat",
"… weil Du es mir versprochen hast",
etc. etc.
***
Es tritt kein
Konsensproblem auf, wenn Individuen
freiwillig
größere Opfer für die Gesellschaft bringen als andere.
Auch das Handeln
der Individuen, das nur diese jeweils selber betrifft, stört nicht die
Übereinstimmung der Gesellschaftsmitglieder. "Heroismus" und "Privatsphäre"
können deshalb von einer sozialen Normierung ausgenommen werden.
***
Bei der Frage nach der allgemeinen Konsensfähigkeit einer Norm sind u. U. auch kommende Generationen zu berücksichtigen. Wir müssen uns also fragen, ob wir die strittige Norm auch gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern verantworten und rechtfertigen könnten.
***
Das Konsenskriterium ist auf der Ebene
der theoretischen Diskussion unverzichtbar. Was machen wir denn, wenn wir
diskutieren und argumentieren? Wir stellen "Behauptungen" auf, worunter ich
Sätze verstehe mit dem Anspruch auf "Richtigkeit", d. h. auf eine zeit- und
personunabhängige Geltung. Wir versuchen unsere Behauptungen zu "begründen",
d. h. wir bringen "Argumente" vor, um diesen Anspruch einzulösen. "Argumente"
bilden logische Brücken zwischen bereits anerkannten Prämissen und den
strittigen Behauptungen (oder deren Verneinungen).
Das Ziel einer theoretischen
Diskussion ist also immer die Zustimmung zu den aufgestellten Behauptungen, d. h.
die Herstellung eines dauerhaften und allgemeinen Konsens.
***
Was
ist, wenn der andere einer Norm nicht zustimmt? Ist damit die Diskussion zu
Ende? Nein, denn der andere kann nicht einfach auf seiner Ablehnung beharren. Er
ist seinerseits verpflichtet, für seine Behauptungen allgemeine Anerkennbarkeit
anzustreben. Nicht nur die These des einen, sondern auch die
Ablehnung der These durch den andern muss intersubjektiv nachvollziehbar sein.
Derjenige, der faktisch nicht zustimmt, muss intersubjektiv nachvollziehbar
darlegen können, warum jemand in seiner Lage nicht zustimmen kann. Die
unbegründete
Ablehnung ist nicht maßgebend, sie zeigt höchstens ein Problem an. Es geht dann
darum, im Falle des konkreten Dissens methodische Prinzipien zu bestimmen, die
allgemeine Anerkennung finden und den Dissens auflösen können.
***
Mit dem "Sich-hineinversetzen-in-die-Lage-jedes-Beteiligten"
ist nicht gemeint,
dass man auch dessen vorab bestehende ethischen
Überzeugungen übernehmen soll. Die tatsächliche "Lage", in der sich
ein Mensch befindet, lässt sich empirisch beschreiben,
ohne deshalb Bezug auf dessen Vorstellungen und
Überzeugungen nehmen zu müssen.
Es ist eher umgekehrt: Wenn jeder Beteiligte
an seiner bestehenden Überzeugung ohne intersubjektiv
nachvollziehbare, von anderen nicht nur verstehbare sondern
auch teilbare Gründe festhält, dann kann der von allen
anzustrebende Konsens nicht erreicht werden.
Daraus folgt, dass es methodisch nicht
zulässig ist, an den eigenen moralischen "Vor–Urteilen" unabhängig von ihrer
Begründbarkeit festzuhalten.
Jeder Teilnehmer an der Suche nach allgemein konsensfähigen Normen muss also bereit sein,
die von ihm eingebrachten Meinungen und Überzeugungen in Frage
stellen zu lassen. Das heißt, er muss seine Behauptungen
anders begründen als mit dem lapidaren Hinweis, dass dies eben
aus seinem Glauben oder seiner Weltanschauung folge.
***
Sind die "Werte" oder "Ideale" eines Individuums in der
gleichen Weise elementar wie "Interessen" ? Müssen sie bei der Bestimmung allgemein anerkennbarer Normen des Handelns
deshalb in der gleichen Weise behandelt werden wie die Interessen?
Gibt es eine "Wertschau" ein "Wertempfinden" das neben den Interessen zu
berücksichtigen ist?
Wertgefühle oder Ideale sind psychologisch verankerte
normative Orientierungen, die einem zur "zweiten Natur" geworden sind. In der
Sozialpsychologie tauchen sie wohl meist als "Einstellungen" ("attitudes")
auf. Sie sind
Ergebnis des Sozialisationsprozesses und müssen als empirisch
vorhandene Bedingungen Berücksichtigung finden z. B. bei der Frage der
Durchsetzbarkeit einer Norm und den damit zusammenhängenden Motivationsproblemen
(Überforderung, mangelnde Identifikation), nicht jedoch als Argumente bei
der Bestimmung allgemein anerkennbarer Normen.
Dagegen kann man einwenden, dass
die Abgrenzung zwischen Werten und Interessen
schwierig ist. Interessen seien ebenfalls erlernt und sekundär sind. Nehmen wir z. B. ein
Interesse an Ordnung und Sauberkeit. Ist das eine Wertorientierung oder ein zu
berücksichtigendes Interesse? Was ist mit religiös begründeten Wünschen und
Zielen? Auf jeden Fall müssen die vorhandenen Wertgefühle reflektiert werden auf
ihre Entstehungsgeschichte. Dasselbe gilt für Motivationen wie Schuldgefühle und
Gewissensbisse. Sie stellen das Ergebnis einer bestimmten moralischen Erziehung
dar. Sind jedoch nicht einfach durch rationale Argumentation zu beeinflussen.
Obwohl z. B. jemand vernunftmäßig davon überzeugt ist, dass sexuelle
Selbstbefriedigung nichts Schlechtes ist, kann er trotzdem weiterhin
Schuldgefühle deswegen haben, weil ihm dies sehr früh beibegracht wurde.
***
Bei der Gewichtung der individuellen Interessen bzw. Willen gilt die methodische
Regel:
Wenn zwischen zwei Interessenlagen keine faktischen Unterschiede festzustellen
sind, dann gelten sie als gleich gewichtig bzw. als gleichermaßen zu
berücksichtigen. d. h. es macht keinen Unterschied, um wessen Interessen es sich
handelt.
***
Es muss zwischen zwei
Arten des Streits um Normen unterschieden werden:
Zum einen gibt es den Streit zwischen Individuen mit unvereinbaren Interessen um
die gerechteste Lösung des Konfliktes.
Zum andern gibt es den Streit zwischen unbeteiligten Dritten mit verschiedenen
Meinungen hinsichtlich der gerechtesten Lösung des Konfliktes.
(?)
Relevant für die Lösung des Konfliktes ist nur der erstere Streit.
Wenn der Konflikt durch die für alle Beteiligten gerechteste Lösung beendet
wurde, braucht die Meinung über die Lösung nicht mehr zu interessieren.
((Muss auf der ersten Ebene nicht auch mit Meinungen über Gerechtigkeit
argumentiert werden?))
***
Wenn eine Norm unter der Annahme
ihrer (völligen) Befolgung allgemein anerkennbar ist, so kann sich daraus noch
nicht unmittelbar die Pflicht für den Einzelnen ergeben, diese Norm zu befolgen.
Dies wäre erst auf einer zweiten Stufe möglich.
Es müsste geklärt werden, ob die allgemeine Befolgung der Norm realisierbar
ist und wenn ja, in welchem Maße und mit welchem Aufwand. Und im Falle einer nur
teilweisen Befolgung wäre zu klären, wie sich Normverletzungen auswirken.
Es kann ja sein, dass eine einzige Normverletzung den ganzen Vorteil zunichte
macht, so dass die Befolgung durch alle anderen sinnlos wird.
Oder es kann sein, dass die Norm eine moralische Überforderung der Individuen
darstellt, weil starke Motive der Befolgung entgegenstehen. Beispiele? Es
könnte zum Beispiel die Norm geben, dass man auf Fragen, die einem jemand
anderes stellt, nach bestem Wissen antworten soll. Aber wenn der andere
seine Kenntnisse nicht preisgibt, so verschafft er sich mir gegenüber vielleicht
einen Vorteil, der mir schadet. Hier geht es z. B. um Trittbrettfahrer. Oder wenn
eine Norm Selbstlosigkeit fordert, die dann doch keiner verwirklicht. Deshalb werden zu Recht viele Normen
nur unter der Bedingung der wechselseitigen
Erfüllung als verpflichtend angesehen.
Wenn mich
jemand töten will, so bin ich berechtigt, ihn vorher notfalls meinerseits zu
töten. Aufgrund der Notlage bin ich entschuldigt. Wenn die andern lügen, ihre
Versprechen nicht halten und ihre Arbeitspflichten nicht erfüllen, dann entfällt
auch für mich die Pflicht dazu, denn dadurch werde ich noch schlechter gestellt
als ohne Norm, d. h. ich kann nicht mehr zustimmen.
***
Warum ist es
wichtig, nach solchen Normen zu suchen, denen jeder allein aufgrund von
Argumenten zustimmen kann?
Wenn jemand Normen befolgen soll, deren Berechtigung
er nicht selber einsehen kann, so kann er sie nur gezwungenermaßen befolgen, er
beugt sich dann bloßer Gewalt.
***
Es gibt die Vereinfachung
der Konsensfähigkeit durch das Prinzip:
Es kommt nur auf die
Anerkennung
durch die jeweils Betroffenen an. Betroffen sein:
Unterscheidung danach, ob faktisch die eigenen Lebensumstände
verändert werden oder ob ich mich nur mit anderen identifiziere.
***
Muss man nicht tief sitzende Gefühle
berücksichtigen, auch wenn man weiß, dass sie "irrational" sind? (z. B. die
Abneigung, das Fleisch von Tieren zu essen, mit denen man sonst liebevoll
umgeht).
Ähnlich ist es mit dem anerzogenen Ekel gegen den Verzehr von
Schweinefleisch. Ganz deutlich ist das beim Kannibalismus. In der europäischen
Kultur gibt es eine tief sitzende Scheu vor der Berührung des menschlichen
Leichnams. Andererseits heißt es auch, dass Menschen in extremen Notsituationen
das Fleisch von Toten gegessen haben sollen, um nicht zu verhungern. Haben sie
sich schuldig gemacht? Ich denke nein.
***
Wenn ich eine Norm befolgen soll, die für mich nicht anerkennbar ist, so ist dies Gewalt gegen mich. Wenn der andere die Norm mir im Bewusstsein ihrer Nicht-Anerkennbarkeit durch mich trotzdem aufzwingt, entfällt für mich die Pflicht zur Befolgung. Allerdings handelt es sich beim "Gesellschaftsvertrag" um ein ganzes System von Regeln. Eine einzelne Ungerechtigkeit rechtfertigt noch nicht den Bürgerkrieg.
***
Problematisch ist es, wenn jemand bei dem Versuch, zu einem Konsens hinsichtlich des Problems "Abbruch einer Schwangerschaft" zu kommen, seine bestehenden Überzeugungen in dieser Frage als Argument einbringen will, das bei der Konsensfindung zu berücksichtigen sei. Dies kann nicht zulässig sein, denn es werden ja gerade alle Überzeugungen in Frage gestellt um die richtige Antwort zu finden. Dann können die faktisch bestehenden Überzeugungen jedoch kein Argument sein."
***
Wenn Normen als verbindlich
erklärt werden und mit Hilfe von Sanktionen durchgesetzt werden,
ohne dass für diese Normen zugleich der Anspruch erhoben
wird, dass sie allgemein konsensfähig sind, so handelt es
sich um ein reines Gewaltverhältnis gegenüber jenen, die dieser
Norm nicht zustimmen können.
Wenn dem so ist, muss jeder, der keine auf
reiner Gewalt beruhende soziale Ordnung will, die
Frage nach der Konsensfähigkeit der von ihm
vertretenen moralischen Vorstellungen stellen.
***
Intersubjektive Anerkennbarkeit
Zum besseren Verständnis dessen, was mit der Forderung nach
"allgemeiner Konsensfähigkeit"
gemeint ist, verhilft vielleicht ein Blick auf die empirischen Wissenschaften.
Hier ist der entscheidende Durchbruch gelungen, als man sich streng auf
Methoden und Argumente beschränkte, die allgemein nachvollziehbar waren.
Die modernen Naturwissenschaften
sind in ihren Methoden auf "intersubjektive Nachprüfbarkeit" angelegt, was
andererseits nicht bedeutet, dass es keine unterschiedlichen Meinungen unter den
Wissenschaftlern eine Faches gäbe. Und was erst recht nicht bedeutet, dass auch
alle übrigen Menschen wissenschaftlich denken und deren Ergebnisse
akzeptieren würden!
Trotzdem ist die Forderung nach allgemein nachvollziehbaren Methoden und auch Begründungen von Theorien zentral für die Naturwissenschaften und
ihren Fortschritt.
***
Wenn ich nach Normen suche, die alle gemeinsam zwangfrei anerkennen können, so beinhaltet das nicht die Ansicht, dass es ein Leben ohne die Anwendung von Zwang oder Gewalt geben könne. Menschen sind keine Engel, und auch die Verletzung konsensfähige Normen kann für den einzelnen vorteilhaft sein. Deshalb wird z. B. Gewalt und Zwang zur Durchsetzung der Normen erforderlich bleiben. Ob jedoch eine Norm "richtig" ist, darf keine Frage der überlegenen Macht sein.
***
Der Dogmatiker kann natürlich aus der Argumentation aussteigen und versuchen, mir seine moralischen Vorstellungen aufzuzwingen, aber er soll dann bitte nicht den Anspruch erheben, mir gegenüber in irgendeiner Weise "recht zu haben". Diesen Anspruch kann er nur durch "Vernunftgründe" (Argumente) einlösen, nicht jedoch durch die Schaffung entsprechender "Beweggründe" (Drohungen).
***
Was ist
ein Argument dafür, dass ich mich
in einer bestimmten Weise verhalten soll? Wenn in einer dunklen Straße plötzlich
jemand eine Pistole auf mich richtet und mir die linke Hand fordernd
entgegenhält, ist das ein Argument dafür, dass ich ihm meine Brieftasche geben
soll? Ist eine Drohung mit Gewalt ein Argument?
Ich gehe in meinem Ansatz davon
aus, dass Argumentation und Diskussion gewaltfrei sein müssen. Sind Drohungen
mit Gewalt das Ende der Diskussion, das Ende der Wahrheitssuche? Wenn ich dem
Straßenräuber schädliche Konsequenzen wie lebenslange Freiheitsstrafe ankündige,
ist das ein Gegenargument? Diskutieren wir miteinander?
***
Wenn der zwanglose allgemeine Konsens über Regeln
des Handelns an der Verschiedenheit der Individuen scheitert,
dann kann es eine allgemeinverbindliche normative Ordnung
nur als Zwangsordnung geben, die zumindest gegenüber
bestimmten Individuen nicht gerechtfertigt werden kann.
Wenn man dies nicht will, dann muss man erweiterte
Anstrengungen um einen Konsens unternehmen. Wie
kann man feststellen, ob eine bestimmte Norm eher allgemein
konsensfähig ist als eine andere?
Ich gehe von der Prämisse aus, dass ein Individuum einer Norm umso
eher zustimmen kann, je besser es bei allgemeiner Befolgung dieser Norm gestellt
ist. Dabei nehme ich an, dass auch Aussagen sinnvoll sind wie: "Individuum A wird bei Realisierung der Norm n1 schlechter gestellt als Individuum
B bei Realisierung der Norm n2."
Diese Art von interpersonellem Vergleich soll an einem konkreten Beispiel, der
Aufteilung von 10 Äpfeln auf 2 Individuen A und B veranschaulicht werden:
|
A |
B |
1. Aufteilung der 10 Äpfel: |
6 |
4 |
2. Aufteilung der 10 Äpfel: |
3 |
7 |
Die vergleichende Aussage lautet: "Die 1. Aufteilung der Äpfel ist für B eher
akzeptabel als die 2. Aufteilung für A akzeptabel ist." Es ist also eher B
zuzumuten, der 1. Aufteilung zuzustimmen, als es A zuzumuten ist, der 2.
Aufteilung zuzustimmen.
(Dabei sei angenommen, dass hinsichtlich Bedürftigkeit und Leistung etc.
zwischen A und B keine
Unterschiede bestehen.) Ich halte also einen interpersonellen Vergleich in
diesem Zusammenhang für möglich und auch für nötig.
***
Das universale Vorkommen bestimmter Normen ist zwar nicht gleichbedeutend mit ihrer allgemeinen Konsensfähigkeit, aber es ist sicher ein sehr starkes Indiz, dass diese Normen allgemein konsensfähig sind.
***
Dass ich die allgemeine
Befolgung einer bestimmten Norm bejahe, impliziert
keineswegs, dass ich keinerlei Motiv haben könnte, diese Norm in
einer konkreten Situation selber zu übertreten. Nicht umsonst
beten die Christen im Vaterunser: "Und führe uns nicht
in Versuchung!".
Um eines der von mir bevorzugten Alltagsbeispiele zu verwenden: Ich halte es zwar für richtig,
dass das Parken an bestimmten Stellen in der Stadt nicht erlaubt
ist, aber heute habe ich es besonders eilig und stelle mich
trotzdem in ein Parkverbot.
***
Wenn man voraussetzen kann, dass alle Individuen in
ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten praktisch gleich sind, so
ergibt sich eine übereinstimmende Beurteilung der Normen. In
diesem Fall ist auch die "Goldene Regel" anwendbar: "Was Du nicht
willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu!" oder
positiv formuliert: "Behandle andere so, wie Du von Ihnen
behandelt werden willst!" Bei gleichartigen Bedürfnissen und
entsprechend gleichartigem Wollen der Einzelnen, kommt
jeder zu den gleichen Resultaten und kann auf einfache
Weise die moralischen Regeln bestimmen, die allgemein
konsensfähig sind. Insofern handelt es sich hier in der Tat um "goldene" Regeln.
Der Konsens ist jedoch dann
schwerer zu erreichen,
wenn die Individuen in ihren
Bedürfnissen und Fähigkeiten unterschiedlich sind. Ein
Beispiel: Wenn Individuum A in Bezug auf Lärm sehr viel
empfindlicher ist als Individuum B, dann kommt es mit Sicherheit
zum Konflikt zwischen den beiden, wenn A hinsichtlich der
Vermeidung von Lärm an sein Handeln die eigenen großzügigen
Maßstäbe anlegt. Ein Geräusch, das A kaum registrieren würde,
kann B eine schlaflose Nacht bereiten.
***
Der Diskurs
als Austausch von Argumenten, um zu "richtigen" Antworten auf bestimmte Fragen
zu kommen, ist im normativen Bereich nicht wesentlich anders als im Bereich der
Erfahrungswissenschaften. Es handelt sich nicht um ein bestimmtes Gremium, das über die Richtigkeit
von Theorien Beschlüsse fasst, sondern es ist ein kaum
übersehbares Geflecht von Veröffentlichungen, Kritiken
dieser Veröffentlichungen und Gegenkritiken dazu.
Dabei wird parallel zu den Sachfragen immer auch die
wissenschaftliche Methodik diskutiert, die am Ziel der Erkenntnis
ausgerichtet ist und die dazu dient, falsche oder problematische
Argumentationsmuster als solche zu kennzeichnen und durch Methodenkritik
auszuschalten.
Aus diesem Chor der wissenschaftlichen Positionen schälen sich dann
gewöhnlich bestimmte Theorien als die besseren heraus, ohne dass es darüber zu
Beschlüssen kommt: Über die Richtigkeit einer Antwort kann man nicht abstimmen.
(Man kann höchstens ein Meinungsbild herstellen.) Der Diskurs über eine Frage
hat deshalb auch kein bestimmtes Ende, sondern kann immer wieder neu eröffnet
werden. Dies erklärt, warum der tatsächlich stattfindende Diskurs keine
endgültigen Resultate in Form eines stabilen allgemeinen Konsens liefert.
Trotzdem ist der Diskurs mit dem Ziel eines zeitlich dauerhaften und von allen
Verständigen geteilten Konsens unverzichtbar.
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Nehmen wir einmal an, wir hätten zwei
mögliche Normen für das Verhalten gegenüber Menschen in Not:
Norm A: "Wenn ein Mensch in Not ist, so ist
man zur Hilfeleistung verpflichtet, vorausgesetzt,
die Bedingungen x, y, z … sind gegeben."
Norm B: "Wenn ein Mensch in Not ist, dann
sollte man die eigene Hilfeleistung an möglichst große
Gegenleistungen des in Not Befindlichen knüpfen."
Wir stellen dazu zwei Fragen:
1. "Lässt sich über eine der beiden Normen
eher ein zwangloser allgemeiner Konsens herstellen als über die
andere?"
2. "Wenn das der Fall ist: Was sind die
Gründe für die unterschiedliche Konsensfähigkeit?"
Ich halte beide Fragen für sinnvoll und es scheint auch nicht aussichtslos, sie zu beantworten.
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Ein grundsätzlicher Punkt scheint mir der
Klärung besonders wert zu sein. Das ist die Frage, inwieweit
Leid und Glück von Menschen ein Gesichtspunkt für die Bestimmung allgemeingültiger moralischer Normen sein
können. Du
schreibst "Die Definition und die Bewertung von Leid ist
eine subjektive Sache, ein objektiviertes Leid kann ich mir
nicht vorstellen." Mit dieser Position befindest Du Dich in
bester Gesellschaft, was die deutschen Philosophen angeht.
Ich meine jedoch, dass es so etwas gibt
wie eine "Objektivierung" subjektiven Leids. Um den
vieldeutigen Begriff der "Objektivität" zu vermeiden,
würde ich es die intersubjektive Nachvollziehbarkeit fremden
Leids oder Glücks nennen.
Tatsche ist, dass jeder Mensch ein eigenes "selbsterhaltendes System" ist. Das bedeutet z. B., dass seine
Nerven nur Verletzungen des je eigenen Körpers per
Schmerzgefühl melden, nicht jedoch die Verletzungen fremder Körper.
Es bedarf einer besonderen Fähigkeit, z. B. des "Mitgefühls",
um die Schmerzen anderer zu spüren. Und der Gebrauch des
griechischen Wortes für "Mitgefühl" – "Sympathie" - verrät, dass
auch diese Empfindung keine intersubjektiv
übereinstimmenden Resultate liefert. Andere Menschen sind uns mehr oder
weniger "sympathisch" und die Stärke unseres
Mitgefühls mit einem andern Menschen hängt z. B. davon ab, wie nahe
dieser uns steht.
Trotzdem ist es nicht sinnlos, die Stärke des
Leids oder Glücks verschiedener Subjekte zu vergleichen,
und wir benutzen solche intersubjektiven Vergleiche und
Abwägungen im Alltag häufig. Wir sprechen von einem "großen
Unglück", von einem "schweren Los", von "geringfügigen
Vorteilen", von "riesigem Schaden" usw. Und wir stellen auch direkte
Vergleiche an: "In dessen Haut möchte ich jetzt nicht stecken", "Es geht ihm sehr viel besser als früher", "Er hat es
schlechter getroffen als sein Bruder", "Den größeren Schaden bei der
Sache habe ich gehabt", "Im Vergleich zu mir geht es dir
doch glänzend" usw. Wir können solche intersubjektiven Vergleiche
des Wohlergehens anstellen, weil der andere uns sein Leid und
sein Glück mitteilen kann, weil er sagen - oder auch nicht-sprachlich ausdrücken – kann, wie er sich fühlt. Große
Teile der Literatur bestehen in dem fiktiven Miterleben
und Nacherleben fremder Schicksale.
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Wenn ich auf andere Rücksicht nehmen will,
dann muss ich mich vorstellungsmäßig in deren Lage
hineinversetzen und die Dinge einmal aus ihrer Sicht sehen. Die
Fähigkeit zu dieser Art "sozialer Wahrnehmung" kommt allerdings nicht
von selbst sondern muss durch die Erziehung gefördert
werden, und oft ist es hilfreich, einmal am eigenen Leibe
verspürt zu haben, was es heißt, zu hungern oder gehbehindert zu
sein. Ich glaube, dass man dann in weiten Bereichen zu
intersubjektiv übereinstimmenden Urteilen darüber kommen
kann, was die Gewichtigkeit verschiedener Formen von
menschlichem Leid oder Glück angeht.
Probleme entstehen jedoch dadurch, dass die
Urteile in konkreten Situationen durch die
jeweiligen Eigeninteressen verzerrt werden. Wenn die
eigenen Interessen tangiert sind, dann sind die Menschen oft "auf einem Auge blind", der Nachteil der andern ist "nur halb
so schlimm", die eigenen Beeinträchtigungen dagegen "schwerwiegend" und "unzumutbar".
Ein Gegengewicht zur rein eigeninteressierten Sichtweise entsteht dadurch, dass
jede Norm universalisierbar sein muss in dem Sinne, dass jede Norm, die gilt,
immer auch für alle gleichartigen Fälle gelten muss. Wer für die Zukunft
erwarten muss, dass die Rollen auch mal vertauscht sein könnten, der wird seine
beschränkte eigeninteressierte Sichtweise entsprechend erweitern.
Um diese Art "Befangenheit" und "Voreingenommenheit" aufgrund des individuellen oder kollektiven
Eigeninteresses bei der Abwägung verschiedener Interessen
auszuschalten, kann man in manchen Fällen auch bewusst die Verfolgung des
Eigeninteresses unmöglich machen, etwa bei der Aufteilung
eines Kuchens nach dem Verfahren: Der eine schneidet aber der
andere darf als erster ein Stück auswählen.
***
Mein Vorschlag zur Konstruktion einer
allgemein anerkennbaren Moral ist, dass wir zuerst fragen, was sich aus dem Ziel selber – nämlich allgemein
anerkennbare Normen zu bestimmen - herleiten lässt, ohne dass noch
weitere – ihrerseits wiederum umstrittene –
Zielsetzungen vorgegeben werden.
Als erste Konsequenz aus dieser Zielsetzung
ergibt sich, dass diejenigen, die dieses
Ziel nicht teilen, sich damit bereits aus der Diskussion
ausgeklinkt haben. Sie können vielleicht noch Ratschläge
geben ("Das ist Zeitvergeudung") oder Prognosen machen ("Das
Ziel ist unerreichbar") oder Überheblichkeit
bescheinigen ("Gerade ihr wollt ein Problem lösen, an dem sich schon
die größten Denker vergeblich versucht haben") oder Befehle
aussprechen ("Hört bloß auf mit dieser Diskussion!").
Eins aber
können sie nicht mehr: sie können weder mich oder irgendjemand
anders moralisch kritisieren. Denn wenn Kritik mehr ist als
eine verbale Drohgebärde, dann braucht man dazu
nachvollziehbare Argumente – und die gibt es ja ihrer Meinung nach auf
dem Gebiet der Moral gerade nicht.
Als zweite Konsequenz ergibt sich aus dem Ziel, zu allgemein anerkennbaren
moralischen Normen zu gelangen, dass die Normen "unparteiisch" formuliert sein
müssen. Das bedeutet, dass bei der moralischen Beurteilung von Handlungen
niemand benachteiligt oder bevorzugt werden, nur weil es sich gerade um ihn oder
sie handelt. Derartige Sonderrechte sind nicht allgemein konsensfähig.
***
Angenommen, ich bin von der Richtigkeit einer bestimmten Norm wie "Sexuelle
Selbstbefriedigung ist moralisch erlaubt" überzeugt. Ich befrage nun verschiedene Leute
nach ihrer Meinung dazu und muss feststellen, dass mehrere der Befragten sexuelle
Selbstbefriedigung für etwas Unmoralisches halten, also tatsächlich nicht
zustimmen.
Jetzt kann ich mit Ihnen vielleicht eine Diskussion anfangen und sie
nach den Gründen ihrer Ablehnung fragen. Aber vielleicht wollen sie schon gar
nicht darüber diskutieren? Was ist dann? Und selbst wenn sie sich zu einer
Diskussion bereit finden: ich bin mir ziemlich sicher, dass auch nach längerer
Diskussion nicht alle von ihrer ablehnenden Haltung abrücken würden.
Ist die Norm damit nicht allgemein akzeptabel und folglich ungeeignet?
***
Meine bisherigen Überlegungen gehen davon aus, dass man durch bloße
Erkenntnisakte bestimmen kann, welches die richtige moralische Norm ist. Das
wäre die Situation des Individuums, das sich einsam die Frage stellt, was die
richtige Handlung ist bzw. wie es ohne Schuld bleiben kann.
Aber kann man das Problem so stellen? Man stelle sich vor, man ist Gast in einer völlig fremden
Gesellschaft und Kultur und fragt - ohne jede Kommunikation mit den Einwohnern -
wie man sich verhalten soll. Sinnvollerweise wird man doch berücksichtigen, was
die Mitglieder dieser Gesellschaft denken.
Richtiger ist wohl eine Stufenfolge der Normenbildung, wobei die Bestimmung
allgemein anerkennbarer Normen (unter der Annahme ihrer Befolgung) nur eine erste
Stufe bildet, gewissermaßen die Stufe der Beratung. Diese Ebene kann noch keine
Verbindlichkeit erzeugen. Damit ein Normverstoß vorwerfbar ist, muss die Norm
bekannt sein, sie muss irgendwie sozial verankert sein - sei es durch Tradition
oder Beschluss, sonst kann man nicht von
einer Pflicht zur Befolgung sprechen. Dies ist die Stufe des Beschlusses.
Normalerweise ist es wohl so, dass bestimmte Verhaltensweisen "für das Kollektiv
besser" sind als der bestehende Zustand des Verhaltens, so dass es ein "kollektives Interesse" gibt, diese besseren Verhaltensweisen zu praktizieren.
Die Frage ist dann immer, auf welches Kollektiv sich die Argumentation bezieht.
Moral im allgemeinen Sinne wäre dann bezogen auf das umfassendste Kollektiv, die
Menschheit als Ganzes.
***
Auf den
ersten Blick hin könnte man meinen, eine soziale Ordnung sei nur dann für ein
Individuum anerkennbar, wenn es darin nicht schlechter gestellt ist als andere
Individuen. Daraus ergäbe sich als allgemein anerkennbar nur eine Gesellschaft
der völlig gleich Gestellten.
Dagegen spricht jedoch, dass es möglicherweise
soziale Ordnungen gibt, in der die Individuen zwar unterschiedlich gestellt
sind, in denen aber auch noch das am schlechtesten gestellte Individuum besser
gestellt ist als in der Gesellschaft der gleich Gestellten.
Für die
Anerkennbarkeit einer Gesellschaftsordnung ist nicht nur der Vergleich des
eigenen Lebensniveaus mit dem Lebensniveau der anderen Individuen entscheidend,
sondern auch der Vergleich mit dem eigenen Lebensniveau in einer anderen
möglichen Gesellschaftsordnung.
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Die
Anerkennbarkeit von sozialen Normen kann letztlich nicht unter der Prämisse
entschieden werden, dass die vorgeschlagene Norm hundertprozentig erfüllt wird.
Denn möglicherweise sind die Menschen so beschaffen, dass diese
hundertprozentige Befolgung nicht durchsetzbar ist.
Zum Beispiel wäre im
Völkerrecht die Norm, dass kein Staat eine militärische Streitmacht unterhalten
darf, bei Annahme ihrer hundertprozentigen Durchsetzung allgemein wünschenswert.
Deshalb kann aber nicht von einem einzelnen Staat verlangt werden, dass er
völlig abrüstet. Denn er könnte dann umso leichter angegriffen werden, sofern es
nur einen einzigen Staat gibt, der die Norm nicht einhält und die geforderte
Abrüstung nicht vollzieht.
Wenn eine Norm
unter der Annahme ihrer (völligen) Befolgung allgemein anerkennbar ist, so kann
sich daraus noch nicht unmittelbar die Pflicht für den Einzelnen ergeben, diese
Norm zu befolgen. Dies wäre erst auf einer zweiten Stufe möglich. Es müsste
geklärt werden, ob die die allgemeine Befolgung der Norm realisierbar ist und
wenn ja, in welchem Maße und mit welchem Aufwand. Und im Falle einer nur
teilweisen Befolgung wäre zu klären, wie sich Normverletzungen auswirken. Es
kann ja sein, dass eine einzige Normverletzung den ganzen Vorteil zunichte
macht, so dass die Befolgung durch alle anderen sinnlos wird. Hier müsste ich noch
bessere Beispiele finden. Oder es kann sein, dass die Norm eine moralische
Überforderung der Individuen darstellt, weil starke Motive der Befolgung
entgegenstehen. Beispiele?
Es könnte zum Beispiel die Norm geben, dass man auf
Fragen, die einem jemand anderes stellt, nach bestem Wissen antworten soll. Aber
wenn der andere seine Kenntnisse nicht preisgibt, so verschafft er sich
mir gegenüber vielleicht einen Vorteil, der mir schadet. Hier geht es z. B. um
Trittbrettfahrer. Oder wenn eine Norm Selbstlosigkeit fordert, die dann doch
keiner verwirklicht. Deshalb werden zu recht viele Normen nur unter der
Bedingung der wechselseitigen Erfüllung als verpflichtend angesehen.
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Für die
Anerkennbarkeit einer Norm kommt es immer auch darauf an, in welchem Maße diese Norm
eingehalten wird und durchgesetzt wird. So kann eine Norm, die bei allgemeiner
Befolgung allgemein wünschenswert ist, bei der Befolgung durch wenige
unakzeptabel werden. Wenn z. B. für einen Verein die Norm aufgestellt wird, dass
jedes Mitglied einen regelmäßigen Beitrag zu zahlen hat, so wird diese Norm
problematisch, wenn sie nicht durchgesetzt wird und zahlreiche Vereinsmitglieder
nicht zahlen. Für diejenigen, die weiterhin brav zahlen und die sehen, dass
andere zwar die Möglichkeiten nutzen, die der Verein bietet, sich aber vor der
Beitragszahlung drücken, wird die Beitragspflicht unakzeptabel.
Offensichtlich
ist dies bei wechselseitigen Versprechen, wo mich die Nichteinhaltung des
Versprechens durch den anderen von meiner eigenen Pflicht zur Erfüllung des
Versprochenen gewöhnlich entbindet. Hierher gehört auch die bei Normverstößen
oft zu hörende Entschuldigung, "andere halten sich ja auch nicht an die Norm".
Allerdings beendet nicht jeder Verstoß gegen eine Norm deren Anerkennbarkeit.
Hierher gehört auch der Grundsatz: "Wehret den Anfängen!" und die Erkenntnis,
dass es schwer ist, "einen einmal eingerissenen Schlendrian wieder
auszutreiben", z. B. unpünktliches Erscheinen in einer Gruppe.
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Wenn man die Frage nach dem gemeinsamen Interesse aller stellt, so könnte auch nach dem "kleinsten gemeinsamen Nenner" gefragt sein, auf den man sich einigen kann, d. h. nach Vereinbarungen zwischen allen, die jeden Einzelnen gegenüber dem Status quo besser stellen (Pareto-Prinzip). Wichtig ist deshalb festzuhalten, was die Alternative zur Einigung ist. Dies ist nicht der Status quo in Form einer bestehenden normativen Ordnung sondern die Aufhebung jeglicher Verpflichtung. Wenn im normativen Diskurs verlangt wird, dass die beteiligten Individuen eine Einigung anstreben, dann stellt sich die Frage: Einigung um jeden Preis? Was ist die Alternative zur Einigung? Die Alternative wäre die Anarchie, das Gesetz des Dschungels.
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Du schreibst: "Ob dem Nachbarn ein Nachteil zugefügt wird;
das lässt sich durch Beobachtung feststellen und in der Regel auch abwägen."
Woher weißt Du, dass Dein Spaß am Tanzen zu lauter Musik bis weit nach
Mitternacht ein größeres oder kleineres "Gewicht" hat als sein Wunsch nach Ruhe
zum Schlafen?
Dazu muss ich mich in seine Lage hineinversetzen, und das kann ich meist nur
vorstellungsmäßig und nicht real. Zum Beispiel kann ich versuchen, mich an eine
Situation zu erinnern, wo ich durch lärmende Nachbarn nicht zum richtigen
Schlafen kam. Meine Vorstellung mag falsch sein, sie ist jedoch korrigierbar.
Das vorstellungsmäßige Sich-hineinversetzen in die Lage eines andern ist eine
häufig anzutreffende geistige Aktivität. Der größte Teil der Belletristik lebt
z. B. davon, und bereits kleine Kinder machen Rollenspiele. Auch der Film lebt
von der Identifikation mit den Akteuren.
Wir haben es hier mit methodischen Fragen der Ethik zu tun, die gewöhnlich von
der philosophischen Erkenntnistheorie gar nicht thematisiert werden.
Zu Unrecht, wie ich meine.
Alle Erkenntnis, für die die Allgemeingültigkeit behauptet wird, muss sich daran
messen lassen, ob sie auch allgemein nachvollziehbar begründet ist.
Das heißt, dass sich über Behauptungen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit
im Prinzip ein Konsens herstellen lassen muss.
Dies gilt nicht nur für Behauptungen über die Beschaffenheit der Welt (wo eine
intersubjektiv und intertemporal übereinstimmende Wahrnehmung den Konsens
stiften kann) sondern auch für moralische Urteile.
Wenn man einmal davon ausgeht, dass moralische Konflikte aus miteinander nicht
zu vereinbarenden Interessen entstehen, so kann es zu einem freien, auf
Argumente gestützten Konsens nur kommen, wenn jeder Beteiligte seine eigenen
Interessen nicht wichtiger nimmt als die der Anderen, d. h. wenn jeder die
vorhandenen Interessen unparteiisch und wohlwollend berücksichtigt und
gegeneinander abwägt.
Dies setzt voraus, dass man die Interessen der andern kennen und gewichten kann.
Dazu ist es erforderlich, dass man sich auch in die Lage der andern
hineinversetzt und gewissermaßen einen allgemeinen Standpunkt einnimmt.
Dies muss auch der Gewohnheitsverbrecher tun, wenn er beansprucht, etwas zum
Problem sagen zu können, das Allgemeingültigkeit beansprucht. Wenn er dazu nicht
willens oder in der Lage ist, dann kann er auch kein Argument zu der Frage
beitragen, wie eine allgemeingültige Regelung des Konflikts aussehen könnte.
***
Kritische
Fragen:
Gesucht sind Normen, denen alle gemeinsam zustimmen können.
Wer ist mit "alle" gemeint? Auch Tiere? Auch zukünftige Generationen? Auch Embryos im
Mutterleib? Auch Schwachsinnige und Schwerverbrecher? Auch die, für die Norm gar
nicht gilt?
Was sind "Argumente" ? Sind geschickte Überredungskünste mittels Täuschungen Argumente?
Sind Hinweise auf schlechte Folgen bei Fehlen einer Norm Argumente? Sind
Androhungen von Nachteilen für denjenigen, der nicht zustimmt, Argumente?
Was ist mit "einer Norm zustimmen" gemeint? Stimmt jemand einer Norm zu, wenn er sagt: "Ja,
ich will diese Norm befolgen" ? Oder wenn er sagt: "Ja ich will, dass diese Norm
von allen befolgt wird" ? Oder wenn er sagt: "Ja ich will, dass diese Norm zum
staatlichen Gesetz erhoben wird" ?
Was ist mit "zustimmen können" gemeint? Wie stellt man fest, ob jemand
einer Norm zustimmen kann? Indem man prüft, ob er sich in einer Diskussion
überzeugen lässt und tatsächlich zustimmt? Aber das kann man ja nicht mit jedem
Individuum
tatsächlich durchführen. Und was ist, wenn er heute zustimmt und morgen aufgrund
neuer Argumente nicht mehr zustimmt?
Fragen
zum Konsens
Wer ist Subjekt des
Konsens? Um wessen Zustimmung geht es?
Was
bedeutet "zustimmen" in Bezug auf den Konsens? Es ist ja nicht die faktische
Zustimmung, um die es geht, sondern eine irgendwie geartete qualifizierte
mögliche Zustimmung. Unter welchen Bedingungen muss die Zustimmung möglich sein?
Grenzen der argumentativen Einigung
Mit dem normativen Diskurs ist noch "kein Staat zu machen". Denn der inhaltliche Konsens kann verfehlt werden.
Dies geschieht z. B. dann, wenn empirische Fragen auftauchen, über deren
Beantwortung keine einheitliche Meinung hergestellt werden kann. Jede Vorhersage
einer Folgeerscheinung erfordert den Bezug auf empirische Regelmäßigkeiten, die
evtl. nur als statistische Korrelation beschreibbar ist. Wenn menschliches
Handeln vorhergesagt werden muss, gibt es außerdem strategische Ungewissheit als Problem
der Vorhersagbarkeit.
Selbst wenn ein Konsens erreicht wird, so bleibt er revidierbar, solange jederzeit neue
Argumente auftauchen können.
Ähnlich wie in den empirischen
Wissenschaften gibt es auch in der Ethik nicht immer nur die eine richtige Theorie,
sondern u. U. bleiben mehrere Theorien "vertretbar" und
konkurrieren um die allgemeine Anerkennung (z. B. bei der "Urknall-Theorie" der Astronomen).
Das Kriterium der argumentativen Konsensfähigkeit gibt die
inhaltliche Orientierung der Diskussion an. Dies Kriterium kann jedoch in der Praxis, wo nicht endlos
diskutiert werden kann, keine tragfähige Grundlage schaffen für die Koordination der
individuellen Handlungen. Dazu bedarf es – jenseits der jeweiligen Meinungen und
Überzeugungen – einer verbindlichen Setzung und Durchsetzung von Normen des Handelns.
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Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Wege zum Konsens
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zum Anfang
Alphabetische Liste aller Texte
Übersicht
Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Ist ein Konsens über Normen möglich?"
Letzte Bearbeitung 02.03.2006 / Eberhard Wesche
Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, auch Freunde, Kollegen und Bekannte auf die "Ethik-Werkstatt" hinzuweisen.
Mit Hilfe dieses Kriteriums (das man auch als "Kriterium der zwanglosen Konsensfähigkeit" oder kurz als "Konsens-Kriterium" bezeichnen kann) können Normen und deren Begründung beurteilt werden.
Wer eine Norm als für mich verbindlich behauptet, ohne dass diese Norm zumindest im Prinzip auch mir einsichtig gemacht werden kann, der fordert von mir Gehorsam. Dies kann ich erkennen und kritisch feststellen. Damit sind aber die Möglichkeiten der Philosophie erschöpft. Will er meinen Gehorsam erzwingen, so muss ich mich anders wehren als mit Argumenten.