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Diskurstheoretische Normenbegründung:

Leistungen und Grenzen der Diskursethik

Inhalt:

Wissenschaft und Werturteil
Die Wurzeln der Diskurstheorie
Wahrheit als intersubjektiver Geltungsanspruch
Die intersubjektiv nachvollziehbare Begründung als Einlösung des Geltungsanspruchs
Der argumentative Konsens
Wie kann man einen argumentativen Konsens über Normen erreichen?
Mein eigener Vorschlag 

 

Textanfang:

Wissenschaft und Werturteil

Durch die Entwicklung der modernen Wissenschaftstheorie hin zum Positivismus und Empirismus ergab sich für jegliche Art normativer Theoriebildung ein Dilemma: Einerseits hatte die moderne Wissenschaftstheorie klar gemacht, dass aus positiven Aussagen über das, was ist, nicht logisch deduziert werden kann, was sein soll. Dies ist das sogenannte "Humessche Gesetz". Zum anderen hatte sie gezeigt, dass allein mit den Mitteln von Logik und Beobachtung nur positive Aussagen, nicht jedoch Werturteile und Normen begründet oder überprüft werden können.

Damit schien jeder normativen Theoriebildung der Boden entzogen: Eine Kritik sozialer Verhältnisse oder individueller Handlungen konnte nun nicht mehr mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit betrieben werden, sondern konnte sich letztlich nur auf rein subjektive Wertentscheidungen berufen.

Wollte man nicht vor-positivistisch weitermachen und die methodischen Probleme einfach ignorieren, so kam man nicht umhin, die Fragen normativer Theoriebildung grundsätzlich neu aufzurollen.

Die Wurzeln der Diskurstheorie

Versuche zu einer nach-positivistischen Grundlegung normativer Theoriebilduing wurden von den verschiedensten Positionen aus unternommen. Meines Erachtens am erfolgreichsten waren dabei die hier als "Diskurstheoretiker" bezeichneten Autoren, die das Problem der Begründbarkeit von Normen durch eine Reflexion auf die notwendigen Voraussetzungen jeder Argumentation zu lösen versuchten. Die Frage war: Gibt es Prinzipien, die jeder anerkennen muss, der die Frage nach dem, was sein soll, ernsthaft – also mit dem Willen zu einer wahren Antwort – stellt? Oder - um mit Habermas zu sprechen: "Was sind die allgemeinem und unvermeidlichen Präsuppositionen, die wir in argumentierender Rede, also immer dann, wenn wir Geltungsansprüche diskursiv prüfen möchten, vornehmen?" (in: W.Fach / U.Degen (Hrsg.): Politische Legitimität. Campus Verlag, Frankfurt a.M. 1978, S.122)

Die Quellen der Diskurstheorie waren dabei sehr unterschiedlich. Eine Hauptquelle war sicherlich die vor allem in Großbritannien betriebene sprachanalytische Philosophie und Metaethik, die untersuchte, wie in moralischen Diskussionen argumentiert wird und welche Funktion und Bedeutung den zentralen normativen Begriffen dabei zukommt. Zu nennen wäre hier etwa Stephen Toulmin, auf dessen Arbeiten "An Examination of the Place of Reason in Ethics" und "The Uses of Argument" z. B. Habermas verschiedentlich Bezug nimmt.

Auch Überlegungen im Rahmen der Falsifikationstheorie von Popper haben eine gewisse Verwandtschaft zur Diskurstheorie, wenn etwa neben dem Aspekt der "Objektivität" von Theorien auch die Forderung nach "Intersubjektivität" betont wird.

Eine weitere Quelle sind Gedanken, die sich bei Kant finden, wenn dieser nach den "Bedingungen der Möglichkeit" für bestimmte Urteile fragt, weshalb gelegentlich auch bei Diskurstheoretikern von einer "transzendentalen" Begründung von Normen gesprochen wird.

Wahrheit als intersubjektiver Geltungsanspruch

Die Überwindung der positivistischen Beschränkung von Wissenschaft auf Erfahrungswissenschaft gelingt den Diskurstheoretikern vor allem durch die veränderte Interpretation des Wahrheitsbegriffs. Einig ist man sich mit den positivistischen Wissenschaftstheoretikern, dass "Wahrheit" eine Eigenschaft von Sätzen bzw. Satzsystemen ist. Aber während die Positivisten Wahrheit am Kriterium der Beobachtbarkeit festmachen und damit nur das Verhältnis zwischen Satz und Realität heranziehen ("Der Satz 'Fritz ist größer als Peter' ist wahr, wenn Fritz größer als Peter ist") beziehen die Diskurstheoretiker die soziale Beziehung zwischen dem Sprecher des Satzes und den Angesprochenen mit ein.

Wenn jemand einen Satz als wahr behauptet, dann erhebt er demnach gegenüber jedem Adressaten des Satzes einen Anspruch auf Geltung der Behauptung. Habermas unterscheidet deshalb auch Korrespondenztheorien der Wahrheit, die auf die Korrespondenz zwischen der Struktur des Satzes und der Struktur der Wirklichkeit abheben, von der Konsenstheorie der Wahrheit (in: Fach/Degen 1978, S. 95), die sich auf den Verständigungsprozess zwischen Subjekten bezieht.


Die nicht-monologische, dialogische bzw. öffentliche Bedeutung von Wahrheitsansprüchen wird von allen Diskurstheoretikern betont. So schreibt zum Beispiel Paul Lorenzen, der in der Tradition des Konstruktivismus steht: "Dass wir bei theoretischen Fragen … von Wahrheit und von Wissen sprechen, ist dadurch gerechtfertigt, dass die Meinungsbildung 'objektiv' ist. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass wir unsere Subjektivität hier so weit wie möglich disziplinieren. Wir bemühen uns, nicht auf unseren ursprünglichen Meinungen zu bestehen, sondern bemühen uns, der Vernunft, d. h. vernünftigen Argumenten nachzugeben."

Lorenzen fährt fort: "Die Traditionen unserer natürlichen Sprachen enthalten keine eigenen Wörter, um auszudrücken, dass wir uns bei unserer Willensbildung in entsprechender Weise bemühen, nicht auf unseren ursprünglichen Regungen zu bestehen, sondern dass wir uns auch hier bemühen, der Vernunft, d. h. vernünftigen Argumenten, nachzugeben. Dieser sprachliche Tatbestand beweist aber nur, dass die Europäer sich das Ziel der sokratischen Philosophie nicht zueigen gemacht haben: das Ziel, auch in praktischen Entscheidungen die eigene Subjektivität zu überwinden, zu transzendieren. Nichts desto trotz ist das Ziel, die eigene Subjektivität zu transzendieren, (die Transsubjektivität, wie ich kurz sagen möchte), das Prinzip aller Moralität. Es ist nur eine andere Formulierung des kategorischen Imperativs: Handele so, dass die Norm deines Handelns gegenüber jedermann verteidigt werden kann". (Lorenzen in: Kambartel, F., Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1974, S.49/50)

Ähnlich fordert der britische Philosoph Richard S. Peters die Analyse dessen, "was der Einzelne voraussetzen muss, sofern er eine öffentliche Form der Belehrung gebraucht, wenn er mit anderen oder mit sich selbst ernsthaft erörtert, was er tun soll …" (Peters, R.S., Ethik und Erziehung, Düsseldorf 1972, S.102)

Karl-Otto Apel schreibt: "Die logische Geltung von Argumenten kann nicht geprüft werden, ohne im Prinzip eine Gemeinschaft von Denkern vorauszusetzen, die zur intersubjektiven Verständigung und Konsensbildung befähigt sind." (
Apel, K.-O.: "Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Ethik" in: Apel, K.-O.: Transformation der Philosophie. Band 2. Frankfurt a. M. 1973, S. 399)

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Die intersubjektiv nachvollziehbare Begründung als Einlösung des Geltungsanspruchs

Die Diskurstheoretiker betonen, dass ein Wahrheitsanspruch für einen Satz immer den Anspruch enthält, dass jedermann diesem Satz zustimmt. Wahrheitsansprüche werden in Diskussionen gegenüber den anderen Individuen erhoben.

Das Besondere an wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen – und hierher rührt ihr besonderer Wert - besteht darin, dass der Anspruch auf Zustimmung durch jedermann kein bloßes Gehorsamsverlangen ist, sondern dass für die Zustimmung Gründe bzw. Argumente gegeben werden. Damit ein Satz im wissenschaftlichen Sinne "Wahrheit" beanspruchen kann, muss sich über diesen Satz im Prinzip allein auf Grund von Argumenten eine Übereinstimmung, ein Konsens herstellen lassen.


Dieser an die argumentative Konsensfähigkeit eines Satzes geknüpfte Wahrheitsbegriff lässt sich nun nicht nur auf positive Aussagen sondern auch auf Normen oder Soll-Sätze anwenden: Normative Behauptungen sind wahr bzw. allgemeingültig, wenn sich über sie allein auf Grund von Argumenten ein dauerhafter universaler Konsens herstellen lässt.

Dies ist gemeint, wenn Paul Lorenzen fordert, dass eine Norm "gegenüber jedermann verteidigt werden kann" (in: Kambartel 1974, S.50) oder wenn Habermas schreibt, "dass wir den Geltungsanspruch von Normen nicht erklären können, solange wir nicht … auf die Überzeugung (rekurrieren), dass ein Konsens über die Annahme einer empfohlen Norm mit Gründen herbeigeführt werden könnte." (
Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S.144)

Die Frage ist, wodurch sich eine rein argumentativ herbeigeführte Übereinstimmung von einer anderweitig herbeigeführten Übereinkunft unterscheidet. Was unterscheidet Argumente bzw. Vernunftgründe von sonstigen Beweggründen für die Anerkennung einer Behauptung? Das Besondere an schlüssigen oder evidenten Argumenten ist, dass sie keinen Zwang auf das Individuum ausüben, sondern vom Individuum zwanglos eingesehen und nachvollzogen werden können. Habermas fordert deshalb für die diskursive Wahrheitssuche einen "zwanglosen Konsens", d. h. "dass kein Zwang außer dem des besseren Argumentes ausgeübt wird." (Habermas 1973, S.148) Habermas spricht in diesem Zusammenhang auch vom "eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes." (in: Fach/Degen 1978, S. 96)

Hier wird der Unterschied der Diskurstheorie zur Vertragstheorie deutlich. Der vertragliche Konsens ist kein rein argumentativer Konsens, denn er ist nicht frei von Zwang. Bei der Aushandlung von Verträgen hat jede Partei gegenüber der anderen Partei das Druckmittel in der Hand, den Vertrag nicht abzuschließen und alles beim Status Quo zu belassen. Die Drohung mit der Beibehaltung des Status Quo ist dabei umso wirksamer, je unerträglicher der vertraglose Zustand für die andere Partei ist.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, zu erkennen, dass das Kriterium der argumentativen Konsensfähigkeit von Normen keine willkürliche Setzung ist, sondern dass es sich hier um ein Prinzip handelt, gegen das sich deshalb nicht argumentieren lässt, weil seine Anerkennung die Voraussetzung jeder Argumentation ist. Wem es nicht um die zwanglose, rein argumentative Konsensfähigkeit strittiger Behauptungen geht, wer also die Zustimmung auch mit anderen Mitteln der Beeinflussung als mit Argumenten erreichen will, der scheidet als Teilnehmer der Argumentation aus.

Gegen Drohungen, psychologischen Druck, manipulative Überredung etc. kann man nicht argumentieren. Man kann sie höchstens als solche aufdecken und darauf hinweisen, dass damit kein Wahrheitsanspruch eingelöst werden kann.

Habermas spricht in diesem Zusammenhang von den "Grundnormen der vernünftigen Rede, die wir, sofern wir überhaupt Diskurse führen, immer schon supponieren müssen." (Habermas 1973, S. 152) Apel formuliert scharf: "Wer die … Frage nach der Rechtfertigung des (von Lorenzen formulierten) Moralprinzips stellt, der nimmt ja schon an der Diskussion teil, und man kann ihm … einsichtig machen, was er immer schon als Grundprinzip akzeptiert hat, dass er dieses Prinzip als Bedingung der Möglichkeit und Gültigkeit der Argumentation durch willentliche Bekräftigung akzeptieren soll. Wer dies nicht einsieht, bzw. nicht akzeptiert, der scheidet damit aus der Diskussion aus. Wer aber nicht an der Diskussion teilnimmt, der kann überhaupt nicht die Frage nach der Rechtfertigung ethischer Grundprinzipien stellen." (
Apel, K.-O.: "Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Ethik" in: Apel, K.-O.: Transformation der Philosophie. Band 2. Frankfurt a. M. 1973, S. 420f.)

Der argumentative Konsens

Die verschiedenen Diskurstheoretiker präzisieren nun weiter, was sie unter einem argumentativen Konsens verstehen.

Die in der konstruktivistischen Tradition stehenden Theoretiker wie Lorenzen, Schwemmer, Kambartel und Mittelstraß versuchen, methodisch strenge Argumentationsregeln für normative Diskurse zu begründen.

Habermas dagegen entwirft das Modell einer "idealen Sprechsituation". "Ideal wäre eine Sprechsituation, in der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert wird, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrung der Kommunikation aus. Und zwar erzeugt die Kommunikationsstruktur nur dann keine Zwänge, wenn für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, gegeben ist." (in: Fach/Degen 1978, S. 109)

Habermas fordert deshalb für die ideale Sprechsituation, "dass Teilnehmer, Themen und Beiträge nicht … beschränkt werden, es sei denn im Hinblick auf das Ziel der Prüfung problematisierter Geltungsansprüche." (Habermas 1973, S.148)

Auf die Präzisierungen von methodischen Regeln der Argumentation oder auf Konkretisierungen einer idealen Sprechsituation soll hier nicht näher eingegangen werden. Diese Kriterien gelten ja für alle Diskussionen, bei denen es um die Wahrheit von Behauptungen geht und sind nicht spezifisch für normative Diskussionen. Die Forderung, dass Normen argumentativ konsensfähig sein müssen, gibt den Konsens als Ziel an. Es ist damit jedoch noch nicht dargelegt, wie dieses Ziel erreicht werden kann.

Wie kann man einen argumentativen Konsens über Normen erreichen?

Wenn man die Wahrheit positiver Behauptungen diskutiert, also die Wahrheit von Aussagen über die tatsächliche Beschaffenheit der realen Welt, kann man als konsensstiftende Argumente intersubjektiv übereinstimmende Beobachtungsergebnisse heranziehen, die diese Aussagen direkt oder indirekt stützen oder widerlegen. Man hat bei erfahrungswissenschaftlichen Streitfragen gegenüber einem Kritiker grundsätzlich die Möglichkeit zu sagen: "Überzeuge Dich doch mit Deinen eigenen Augen von der Richtigkeit dieser Aussage!" Aber wie ist das bei Normen, die nicht beinhalten, wie etwas ist, sondern wie etwas sein soll? Man kann zwar sehen, ob und wie etwas ist, aber man kann nicht sehen, ob und wie etwas sein soll. Es stellt sich deshalb die Frage, was als Argument für oder gegen die Allgemeinfültigkeit einer Norm zählt.

Die Diskurstheoretiker sind sich darüber einig, dass es bei der Begründung von Normen auf die menschlichen Bedürfnisse, Willensinhalte, Interessen oder ähnliches ankommt.
So fordert Lorenzen, dass wir bei der Diskussion um Normen "nicht auf unseren ursprünglichen Begehrungen bestehen, sondern dass wir uns auch hier bemühen, vernünftigen Argumenten nachzugeben." (in: Kambartel 1974, S.49f.)

Kambartel geht von Interessenkollisionen als dem Ausgangspunkt normativer Diskussionen aus (in: Kambartel 1974, S. 65) und Schwemmer formuliert ausdrücklich: "Der Ethik kommt die Aufgabe zu, das Prinzip der Normenbegründung zum Zwecke der Konfliktbeseitigung aufzustellen." (in: Kambartel 1974, S. 77)

Auch Habermas geht davon aus, dass es bei normativen bzw. praktischen Diskursen um Bedürfnisse bzw. Interessen geht: Nach Habermas "regeln (Normen) legitime Chancen der Bedürfnisbefriedigung" und sie können "durch Hinweis auf Folgen … der Normanwendung für akzeptierte Bedürfnisse plausibel gemacht werden." (in: Fach/Degen 1978, S. 106)
Apel spricht von einer "solidarischen Willensbildung". Beim normativen Diskurs geht es um "menschliche Bedürfnisse, sofern sie Ansprüche an den Mitmenschen stellen könnten." (Apel 1973 Band II, S. 425)

Peters spricht von einer "unparteiischen" und "solidarischen" Berücksichtigung aller Interessen. (Peters 1972, S. 214)

Die einheitliche Überzeugung der Diskurstheoretiker hinsichtlich des Ausgangspunktes bei Interessen und Interessenkonflkten erstaunt etwas, denn keiner von ihnen gibt dafür eine explizite Begründung an, trotz der seit Kant im deutschen Sprachraum dominierenden  Auffassung, dass die Gesetze der Sittlichkeit nicht aus dem Wohlergehen der Menschen abzuleiten sind sondern allein der Vernunft entstammen. Mit der Bezugnahme auf die Bedürfnisse der Menschen befinden sich die Diskurstheoretiker jedoch in einer gewissen Nähe zum Utilitarismus, ohne dass dies jedoch angesprochen wird.

Die Bezugnahme der Ethik auf die Interessen der Menschen, also auf das, was die Menschen wollen, ergibt sich m. E. aus dem engen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Soll-Sätzen und Willensäußerungen. Normen geben den Inhalt eines Wollens wieder, allerdings ohne Angabe eines Trägers dieses Willens. Wenn Individuum A will, dass Individuum B seine Steuern bezahlt (A: "Ich will, dass B seine Steuern bezahlt!"), so lässt sich der Inhalt seines Willens durch den Sollsatz: "B soll seine Steuern bezahlen!" wiedergeben. Aus den Willensinhalten der Individuen leiten sich miteinander nicht zu vereinbarende Normen ab. Die so entstandenen Willens- bzw. Interessenkonflikte bilden die Grundlage für den Streit um Normen.
Dieser Streit lässt sich nur dadurch "vernünftig", also argumentativ lösen, dass man auf der Grundlage der verschiedenen individuellen Willensinhalte zu einem einheitlichen Gesamtwillen gelangt.
 

Ein Punkt sei in diesem Zusammenhang besonders betont. Wenn sich das Gesollte in der beschriebenen Weise aus dem Gewollten herleitet, so hat das die äußerst wichtige Konsequenz, dass damit eine Verletzung des anfangs zitierten Humesschen Gesetzes vermieden werden kann. Diese Hürde kann von den meisten ethischen Systemen nicht genommen werden, was ihr Scheitern bedeutet.

Wie sich die Diskurstheoretiker den Übergang zum Sollen vorstellen, wird von ihnen nicht ausdrücklich thematisiert. Offenbar sind sie der Meinung, dass dies Problem für sie bereits dadurch gelöst ist, dass sie auf den (normativen) Regeln der Argumentation aufbauen, aus denen dann in einem weiteren Schritt die inhaltlichen Normen gewonnen werden können. Eine solche Position setzt jedoch voraus, dass sich aus den Regeln der Argumentation direkt allgemeine moralische Normen ergeben, was mit guten Gründen bestritten wird.


Kritisch ist zu den Diskurstheoretikern anzumerken, dass Ihre Ausführungen darüber, wie nun aus den gegebenen Interessen der Individuen ein vernünftiges Gesamtinteresse entstehen kann, relativ dürftig sind. Habermas ist dazu der Ansicht, "dass ein Konsens nur über angemessen interpretierte, verallgemeinerungsfähige Interessen zustande kommen kann." Und er fügt erläuternd hinzu: "Darunter verstehe ich Bedürfnisse, die kommunikativ geteilt werden." (Habermas 1973, S.149)


An anderer Stelle führt Habermas dies noch etwas näher aus, wenn er schreibt: "Ich teile nicht die empiristische Annahme, dass Interessendefinitionen jedem Teilnehmer privatim überlassen bleiben müssen. Wenn der praktische Diskurs über Aufgaben wie Konsistenzprüfungen, Präzisierung, Prüfung der Realisierungsbedingungen usw. hinaus etwas leisten soll, müssen vielmehr die Bedürfnisinterpretationen selber in die Argumentation einbezogen werden." (in: Fach/Degen 1978, S. 122) Das bedeutet, dass Grundlage der Normfindung nicht die faktisch geäußerten Interessen bzw. Bedürfnisse sind, sondern dass diese noch einmal einer intersubjektiven Überprüfung unterzogen werden sollen. Es bleibt allerdings relativ undeutlich, was die Kriterien dieser Überprüfung sein sollen.


Auch wenn die Interessen der Beteiligten aufgeklärt sind, so ist damit noch nicht gewährleistet, dass diese Interessen miteinander vereinbar sind. Wie sollen solche Konflikte nun aufgelöst werden?

Das Stichwort, das Habermas hier gibt, ist die "Verallgemeinerbarkeit" bzw. "Universalisierbarkeit" von Interessen. Er schreibt: "Ich bin der Auffassung (natürlich mit vielen anderen Autoren), dass sich Interessen nur durch ihre Verallgemeinerbarkeit als vernünftig auszeichnen lassen." (in: Fach/Degen 1978, S. 124) Habermas nennt verschiedene Autoren. Das Problem dabei ist, dass es unterschiedliche Ebenen der Verallgemeinerung von Normen gibt. Man kann fordern, dass Normen insofern allgemein sein sollen, als sie allgemein formuliert sein müssen und nicht nur bestimmte Personen oder Situationen betreffen. Man kann das Kriterium der Verallgemeinerbarkeit jedoch auch – so wie Marcus G. Singer - im Sinne der Frage verstehen: "Was wäre, wenn jeder so handeln würde?"

Habermas führt das von ihm herangezogene Prinzip der Verallgemeinerbarkeit leider nicht näher aus. Das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit ist jedoch in keinem Fall hinreichend, um Interessenkonflikte vernünftig aufzulösen. So mag es sich z. B. bei der Ablehnung von Abgasen und Lärm des Autoverkehrs um ein verallgemeinerbares Interesse handeln. Trotzdem wird die Erzeugung von Abgasen und Lärm nicht durch eine entsprechende Verbotsnorm unterbunden. Der Grund liegt in den Vorteilen des Autos als schnelles und individuell verfügbares Beförderungsmittel. Insofern man nicht die Vorteile ohne die Nachteile bekommen kann, bedarf es einer Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen möglicher normativer Regelungen. Damit steht man vor dem Problem, wie man die Interessen der Individuen in einer akzeptablen Form zu einem gesellschaftlichen Gesamtinteresse zusammenfasst bzw. aggregiert.

Mein eigener Vorschlag

Mein eigener Vorschlag für das Zustandekommen eines "vernünftigen", auf einem zwangfreien Konsens beruhenden allgemeinen Willens ist die Forderung an jeden Teilnehmer der Argumentation, bei der Normfindung die Interessen der anderen unparteiisch und wohlwollend so zu berücksichtigen, als seien es zugleich seine eigenen. Ein argumentativer Konsens in normativen Fragen erscheint mir nur dann möglich, wenn die Interessen aller Betroffenen in dieser Weise solidarisch berücksichtigt werden. Dazu muss man die Interessen der Beteiligten allerdings kennen. Diese Kenntnisse gewinnt man, indem man sich in die Lage des betreffenden Individuums hineinversetzt und fragt, ob die von dem betreffenden Individuum geäußerten Interessen aus seiner Lage heraus intersubjektiv nachvollziehbar sind.

Mit dem skizzierten Nachvollzug fremder Interessen sind sicher erhebliche methodische Schwierigkeiten verbunden, doch lassen sich diese Schwierigkeiten überwinden. Nicht umsonst wird bei Konflikten im Alltag häufig ein Nachvollzug fremder Interessen gefordert, etwa wenn man sagt: "Versetz Dich doch mal in meine Lage!" oder "Versuch die Dinge doch auch einmal aus meiner Sicht zu sehen!"

Literatur:
Apel, K.-O.: Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973
Habermas, J.: Auszug aus "Wahrheitstheorien" in: Fach, W. / U. Degen (Hg.): Politische Legitimität. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 1978

Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973
Kambartel, F. (Hg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1974.

Peters, R.S.: Ethik und Erziehung, Düsseldorf 1972 (englisch: London 1968)

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    
Diskurstheorie bei J. Habermas ** (8 K)
   
Diskurstheorie als Grundlage normativer Ethik? *** (12 K)

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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Diskurstheoretische Normenbegründung: Leistung und Grenzen der Diskursethik" / Letzte Bearbeitung: 30.09.2011 / Eberhard Wesche

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