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Darf man sich selbst zugrunde richten? II


PhilTalk Philosophieforen  Praktische Philosophie >> Ethik >> Darf man sich selbst zugrunde richten? II
(Thema begonnen von: Eberhard am 14. Sept. 2005, 10:11 Uhr)



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Titel: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 14. Sept. 2005, 10:11 Uhr
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Hallo allerseits und herzlich willkommen zur Fortsetzung unserer Diskussion über ethische Fragen der Sucht.


Eine weiterhin produktive und sachliche Diskussion

wünscht sich Eberhard.

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 14. Sept. 2005, 14:17 Uhr
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Hallo Vordenker,

ja für mich ist es auch bequemer, wenn wir eine 2. Runde beginnen.

Deine Positionen:

Position1:

Ein Mensch darf sich nicht selber zerstören ... Man darf und soll ihn daran hindern, notfalls durch zeitlich begrenzten Zwangsentzug.

In der Begründung lassen sich zwei Positionen unterscheiden:

Position 1a:

Diese Antwort ist Ausdruck des ethischen Wollens, das in mir (und auch in anderen?) ist.

Position 1b:

Zwangsentzug ist auch gegenüber dem Süchtigen zu rechtfertigen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der ehemals Süchtige nach der Überwindung der Sucht dem Zwangsentzug nachträglich selber zustimmen wird.

Position 2:

Erwachsene Menschen sollten in ihrer Selbstbestimmung niemals eingeschränkt werden, auch wenn sie sich selber zerstören. Voraussetzung ist jedoch, dass sie dadurch anderen nicht zur Last fallen. Sie haben deshalb keinen Anspruch auf Hilfe, es sei denn, diese Hilfe wird von den Süchtigen über eine Drogensteuer selber getragen.

Position 3:

Wenn Menschen sich selbst zerstören, dann sind sie psychisch krank und brauchen eine Behandlung. Eine Zwangsbehandlung ist ein unzulässiger Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung. In jedem Fall haben die Süchtigen einen uneingeschränkten Anspruch auf Hilfe.

Mein Kommentar:
Zu Position 1a + b: Ob "ethisches Wollen" oder die Erwartung einer nachträglichen Rechtfertigung: Es besteht kein Zweifel, dass hier in die Freiheit des "Selbstzerstörers" eingegriffen wird. Es handelt sich also um eine De-facto-Entmündigung. Wenn ein ordentliches Gericht zur Erkenntnis kommt, dass § 6 BGB vorliegt, stimme ich zu, sonst nicht.

Position 2 ist mir sympathischer, Position 3 sehe ich lediglich als eine Variante von Position 1 an.

Gruß HP (Nachdenker [cheesy])

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 14. Sept. 2005, 22:40 Uhr
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Hi,

Position 2 ist mir, so, wie sie zur Zeit vertreten wird, zu oberflächlich. Alle Moralen haben sich auf ein abstraktes Tötungsverbot geeinigt. Na und? Die Frage ist doch, warum! Denn wenn es dafür keinen Grund gibt, kann man das auch wieder ändern.

Die Nazis haben das geändert. Ihrer Auffassung nach waren Juden Antimenschen, sie systematisch zu ermorden eine gute Tat zum Wohle des Überlebens der wirklichen Menschheit. Die Ermordung der Juden und die Unterjochung der Nicht-Arier galt ihnen als Voraussetzung für die Entwicklung des natur/gottgewollten höheren Menschentums. Geht also.

Eine weitere Alternative finden wir im Tierreich. Nicht nur bei den Löwen, sondern auch bei etlichen anderen Rudeltieren (und Menschen sind Rudeltiere) ist es üblich und normal, dass, wenn ein neuer Chef das Rudel erobert, erst mal der gesamte noch nicht selbständige Nachwuchs des alten besiegten Chefs getötet wird. Durchaus sinnvoll: die Weiber kümmern sich danach ausschließlich um den Nachwuchs, der vom neuen Chef stammt. Was spricht aus Vernunftsgründen dagegen, das beim Menschen genau so zu handhaben (ich habs gesagt, man muss die Medusa ins Auge fassen, sonst schafft man solche Probleme nicht)?

Also: warum lehnen Menschen dieses natürliche und sinnvolle Verfahren ab?

Ethik verhält sich zur Moral wie Ästhetik zu ArtDesign. Auch die Verständnisproblematik ist die gleiche. Ein Ästhetiker hat keine Probleme damit, ArtDesign zu verstehen. Aber versuche mal einem ArtDesigner zu erklären, was Ästhetik ist! Der wird dich im Zweifelsfalle gar nicht verstehen, denn er ist der Auffassung, Ästhetik, das seien die Regeln, die man ihm beim ArtDesign-Studium beigebracht hat. Warum diese Regeln? Achselzucken. Die sind eben da.
Philosophisch ist das nicht.

Zwangsentzug ist auch gegenüber dem Süchtigen zu rechtfertigen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der ehemals Süchtige nach der Überwindung der Sucht dem Zwangsentzug nachträglich selber zustimmen wird.
Setzt du, Eberhard, damit nicht voraus, dass der Süchtige dem Zwangsentzug nachträglich zustimmen wird? (Er wird übrigens. Ich habe keinen Langzeitabhängigen kennen gelernt, der nicht lieber nicht-abhängig gewesen wäre. Sie betrachteten die Abhängigkeit entweder als persönliches Schicksal oder als eine Art Strafe für ihre Fahrlässigkeit, damit angefangen zu haben.) Warum setzt du das voraus? Ist es nicht so, dass es für dich außerhalb der Vorstellung ist, dass man sich sinnlos zerstören wollen kann?

Ich habe schon mal angedeutet, das Argument der Freiheit halte ich für ideologisch. Und zwar aus dem schlichten Grund, weil ein Toter von seiner Freiheit nix mehr hat. Freiheit ist ausschließlich eine Angelegenheit für lebendige Leute. Das Beharren auf dem Argument Freiheit denkt im Grunde den Toten genau so lebendig, wie Augustinus die Seele des gefolterten Ketzers über seinen Feuertod hinaus lebendig dachte.

Meines Wissens können nur Menschen bewusst Selbstmord begehen. Sie können eben sogar über ihr Leben hinaus denken. Was sie dabei übersehen ist, dass sie nach dem Selbstmord eben tot sind. Is nix mit Ruhe und ewiger Schlaf. Denn wer schläft, lebt noch. Oder: theoretisch wird der treulose Liebhaber sich ungeheuerliche Vorwürfe machen. Praktisch kann man das nicht mehr genießen.

Sie haben deshalb keinen Anspruch auf Hilfe, es sei denn, diese Hilfe wird von den Süchtigen über eine Drogensteuer selber getragen.
Kategorisches Nein. Der Anspruch, den ein Süchtiger zu haben meint oder auch, wat dat kost', ist für mich als Mensch völlig irrelevant, wenn es um die Zerstörung menschlichen Lebens geht, auch wenn der Betroffene das selbst bewerkstelligt. Denn es geht allgemein um die Zerstörung menschlichen Lebens. Wer das macht, ist egal. Entweder ich will keine Zerstörung menschlichen Lebens, dann wende ich mich dagegen und frage nicht, was das kostet und ob ggf. meine Unkosten von einer Versicherung getragen werden. Oder es ist mir gleichgültig, ob einer sich zerstört. Wenn mir aber der Selbstmord eines anderen gleichgültig ist, warum sollte mir dann Mord nicht genau so gleichgültig sein? Was habe ich persönlich damit zu tun, wenn im Haus gegenüber ein Sexualstraftäter ein Kind vergewaltigt und umbringt? Es ist ja nicht mein Kind. Mein Kind telefoniert putzmunter mit Freunden, und über der Wohnungstür wacht Herr Hund. Also, was habe ich damit zu tun?

Position 3 - na ja. Mir erscheint sie so, als suche man sich 'irjendswie' Gründe zusammen, dass Selbstmord eigentlich gar nicht geht - weil man ihn nicht will und das Argument des Willens nicht mag.

Gruß



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 15. Sept. 2005, 02:05 Uhr
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Hallo Abrazo,

zum Anfang deiner Ausführungen:

Du fragst, warum sich die Methode des Nachwuchstötens und des Genozids nicht durchgesetzt haben bzw. von der derzeitigen Staatsmoral abgelehnt werden.

Der Genozid war keineswegs eine Erfindung der Nazis, weitest gefehlt!! Genozid gibt es, seit es Menschen gibt, der erste Fall dürfte übrigens die Beseitung des Neandertalers gewesen sein.
Die meisten Völker diese Erde mussten zu ihrer Existenz irgendwelche Völker ausrotten. Im Alten Testament haben die Juden fein säuberlich alle Völker notiert, die sie vernichteten. Und, um ein neueres Beispiel zu nennen, praktisch alle Staaten Amerikas entstanden nach oder basieren auf dem Ausrotten der indigenen Bevölkerung.
Dass die Nazis keinen Erfolg hatten, lag daran, dass sich die Juden effektiv gewehrt hatten und entsprechend Unterstützung bekamen.

Das Modell "Kindermord", wie zB bei Löwen dokumentiert, hat sich ebenfalls nicht durchgesetzt. Nicht einmal bei den Löwen ist es die Norm. Letztlich bringt es auch nichts, weil der Löwe dann zwar schneller Nachwuchs bekommt, dafür aber auch seine Nachkommen am Ende seiner Zeit nicht mehr durchbringt.

Mit anderen Worten: Moralische Normen unterliegen ebenfalls der Evolution. Ob also der Genozid auf Dauer verschwindet oder sich nicht doch wieder verstärkt durchsetzt (auch ein "Ideologozid" wäre ja denkbar), weiß man nicht.

Gruß HP

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 15. Sept. 2005, 08:57 Uhr
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Hallo,
ich möchte Hanspeter ergänzen: das Modell "Kindermord" oder auch "Königsmord" hatte auch seine menschlichen Nachfolger. Denkt doch mal an unser Mittelalter, als die deutschen Staaten und das "heilige" Römische Reich deutscher Nation" von Rudeln regiert wurde, die sich "Königshäuser" nannten (Salier, Ottonen usw.). Die Könige lebten gefährlich, die meisten wurden ermordet, waren aber auch durch Ermordung ihres Amtsvorgängers an die Macht gekommen.
"Moral" galt damals nur für das gemeine Volk.
Das Volk hat sich inzwischen (bei uns in Europa) von dieser Moral befreit und eine Vernunftsethik an ihre Stelle gesetzt, die für alle gilt, auch für die "da oben" - was womöglich noch nicht konsequent praktiziert wird. Aber die Grundlage ist da.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von chefkoch am 15. Sept. 2005, 11:47 Uhr
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on 09/14/05 um 22:40:59, Abrazo wrote:Ich habe schon mal angedeutet, das Argument der Freiheit halte ich für ideologisch. Und zwar aus dem schlichten Grund, weil ein Toter von seiner Freiheit nix mehr hat. Freiheit ist ausschließlich eine Angelegenheit für lebendige Leute.
Denn es geht allgemein um die Zerstörung menschlichen Lebens. Wer das macht, ist egal. Entweder ich will keine Zerstörung menschlichen Lebens, oder es ist mir gleichgültig, ob einer sich zerstört. Wenn mir aber der Selbstmord eines anderen gleichgültig ist, warum sollte mir dann Mord nicht genau so gleichgültig sein?



nein, da gibt es einen ganz elementaren unterschied! es hat in sofern etwas mit freiheit zu tun, als dass der selbstmörder die freiheit haben sollte sein leben abzulehen. wenn du ihn zwingst weiterzuleben, zwingst du ihn (seiner meinung nach) auch, das weiterzuführen, was er hasst, nicht mehr ertragen kann oder will. wieso ist das ideologisch? natürlich gibt es danach nicht mehr die möglichkeit sich über den geglückten selbstmord, also die gewonnene freiheit zu freuen, logisch, aber er hat doch den ungeliebten zustand verlassen.
es ist in etwa so (wenn wir schon bei weithergeholten vergleichen sind... ;-)) wie bei zwei verschiedenen wahlen: einmal kannst du wählen zwischen 4 oder was weiß ich wievielen parteien und bei der anderen hast du nur die möglichkeit mit nein zu stimmen. es ist dann keine stimme für jemanden oder irgendwas sondern ausschließlich gegen diesen. du entscheidest dich damit nicht für irgendeine andere alternative sondern lehnst bloß die eine ab.

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von psi am 15. Sept. 2005, 12:42 Uhr
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on 09/14/05 um 22:40:59, Abrazo wrote:Alle Moralen haben sich auf ein abstraktes Tötungsverbot geeinigt. Na und? Die Frage ist doch, warum! Denn wenn es dafür keinen Grund gibt, kann man das auch wieder ändern.



ich kann mir ja die finger wund schreiben, das bringt offensichtlich nichts, deshalb versuch ichs mal ad hominem:

" Offenbar haben Gefühle eine ähnliche Bedeutung für die moralische Rechtfertigung von Handlungsweisen wie Wahrnehmungen für die theoretische Erklärung von Tatsachen. "
J. Habermas, Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm in Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln.


"Man hat es nämlich in unseren Tagen allererst einzusehen angefangen: dass das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenigen aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei, und das beide ja nicht mit einander müssen verwechselt werden. Gleichwie es nun unzergliederliche Begriffe des Wahren [...] gibt, also gibt es auch ein unauflösliches Gefühl des Guten."

I. Kant, Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral.


"Über das eine möge hierbei im vorhinein Übereinstimmung festgestellt sein, dass von einer Untersuchung über ethische Fragen nur umrisshafte Gedankenführung, nicht aber wissenschaftliche Strenge gefordert werden darf."

Aristoteles, Nikomachische Ethik


Ursachenbedingtheit ist gerade die voraussetzung für veränderung.


gruss


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von chefkoch am 15. Sept. 2005, 13:42 Uhr
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on 09/14/05 um 14:17:23, Hanspeter wrote:Position 3 sehe ich lediglich als eine Variante von Position 1 an.



ich halte 3 eher für eine variante von 2, weil beide im grunde darauf hinauslaufen, in die selbstbestimmung des individuums nicht einzugreifen. der unterschied liegt lediglich in der mir-doch-egal-haltung von 2 zu der hilfe-idee der 3. position.

ganz allgemein sehe ich das problem in der nur schwer zu fassenenden bestimmung des "eigenen willens" bei süchtigen. der charakter einer sucht liegt ja eben darin, dass die grenzen zwischen fremd- (durch die droge) und eigenbestimmung (durch den willen des betroffenen) verschwimmen.
ich persönlich sehe mich bei position 3; ich denke (und das auch allgemein auf andere, ähnliche "selbstbestimmungsprobleme bezogen), dass einem mensch, der in der lage is, die fakten zu überblicken, gut informiert ist und dem auch in alltäglicheren fragen eine eigene, selbstverantwortliche entscheidung zugetraut wird, diese kompetenz nich plötzlich entzogen werden sollte. wenn ich nicht allgemein dem oben charaterisierten individuum eine entscheidungsfähigkeit absprechen will/kann, dann sollte ich dies auch nich auf diesem bestimmten gebiet tun. mit welchen begründungen ziehe ich wo die grenze zwischen hier-hat-er-mitspracherecht und nö-hier-nicht-mehr.

da ich bis jetz noch niemanden getroffen habe, der dem menschen allgemein seine entscheidungsfähigkeit abspricht (bzw. das recht eine eigene entscheidung zu fällen), sehe ich nicht, wieso dies in bestimmten fällen geschehen sollte.

wie gesagt, die frage ist für mich eher, ob diese obigen, nötigen eigenschaften einem süchtigen zugesprochen werden können - einfacher ist die frage imo beim thema selbstmord.

jemand anderer meinung?

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 15. Sept. 2005, 15:35 Uhr
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@ Chefkoch:
Position 3 ist etwas unklar formuliert. Betrachtet man den Wunsch zur "Selbstzerstörung" als Krankheit, wird der behandelnde "Arzt" selbstverständlich alles tun, um die "Selbstzerstörung" zu verhindern, was de facto auch einen Zwang impliziert. Jedenfalls akzeptiert Position 3 nicht die freie Entscheidung des "Selbstzerstörers" und entspricht darin Position 1

@psi

Moralische Probleme kann man nicht durch Zitate von Leuten lösen, die wie der Sklavenhalter Aristoteles eine von uns vollkommen verschiedene Moral vertreten. Abgesehen davon gibt es keinen Schwachsinn, für den man nicht irgend ein philosophisches Zitat findet, wenn man lang genug sucht. [grin]

Gruß HP



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von chefkoch am 15. Sept. 2005, 18:53 Uhr
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naja, dem text nach nich unbedingt. da steht ja eindeutig, dass eine zwangsbehandlung unzulässig ist. zwar mag man als "positionsvertreter" der ansicht sein, dass der andere theoretisch hilfe bräuchte, aber dass sie aufgezwungen werden soll, steht nich zur debatte. das verneint 3. ganz klar.

aber letzlich gehts hier ja auch nich drum gesetzestexte zu interpretieren, diese drei positionen sollten ja nur mal eine darstellung der bereits genannten punkte sein oder nich? da müssen wir uns ja jetz nich dran festfressen.

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 15. Sept. 2005, 21:39 Uhr
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Hi, zusammen,

manche machen sich die Sache imho ein bisschen zu einfach. Unsere Frage ist nicht, ob Genozid möglich war und ist (natürlich ist er das), sondern warum er als schlecht oder böse gilt. Wobei man auch differenzieren sollte: als Kaiserin Agrippina ihren kaiserlichen Ehemann um die Ecke brachte, beging sie keinen Genozid, sondern einen ganz normalen Mord. Kommt bekanntlich schon mal vor. Auch unter unseren modernen Gesetzen. Dieses Argument zieht also nicht.

Deine Erklärungen, Hanspeter, halte ich langsam für sehr bedenklich. Die meisten Völker diese Erde mussten zu ihrer Existenz irgendwelche Völker ausrotten Woher hast du die Weisheit, dass sie das mussten? Mir ist bisher nur eine Gruppierung bekannt, die meinte, man müsse zwecks Existenzsicherung ein Volk ausrotten: die Nazis. Mir fällt auch kein Volk ein, das aus Existenzbedrohung einen Aggressionskrieg begonnen hätte. Fällt dir eins ein? Statt dessen fällt mir auf, dass dieses Notwehrrecht eigentlich immer die stärkere Partei beansprucht.

Auch in der Geschichte hast du anscheinend ein paar Neuerungen zu bieten. Denn ich habe eigentlich immer nur gehört, dass die Juden sich weitgehend nicht gewehrt haben - und dass die Alliierten sich erst nach dem Krieg mit den Judenmorden befassten, vorher hatten sie an 'wichtigeres' zu denken. Mir ist auch nicht bekannt, dass die Juden die Alliierten dazu gebracht haben sollen, den Nazis den Krieg zu erklären; ich dachte bisher immer, das hätte zuerst was mit Bundnisverpflichtungen und Polen zu tun gehabt (ist zwar abseits des Themas, aber muss sein).

Meinst du, der Löwenmann oder die Biologie sei in der Lage, so weit zu denken, dass sie entscheiden, mit Rücksicht auf den Fortbestand der Art keine Löwenjungen umzubringen? Kümmert sich überhaupt irgend ein Tier um den Fortbestand seiner Art? Ich denke, ein Tier kümmert sich in erster Linie um den eigenen Fortbestand. Entsprechend ein Rudeltier um den Fortbestand des Rudels. Das Rudel, das sind aber in erster Linie die Weiber. Die Männer nur insofern, als sie brav und folgsam sind und nicht gegen den Boss aufmucken. Und Welpen sind völlig wertlos, wenn es nicht die eigenen sind.

Es gibt bei kriegerischen Auseinandersetzungen durchaus auch heute Menschen, die sehr ähnlich denken. Und damit zurück zu unserer Frage: die Ethik stellt nicht die Frage, wie gehandelt wird, sondern wie dieses Handeln beurteilt wird. Wie wird es denn beurteilt, wenn wild gewordene Soldaten Frauen die Kinder aus den Armen reißen (oder gar Schwangeren die Bäuche aufschlitzen) und sie umbringen? Sagen wir, nun ja, das ist halt die dort gesellschaftlich vereinbarte Moral? Und finden die Menschen, die von solch einem Krieg betroffen sind, so etwas auch zu Kriegszeiten moralisch in Ordnung?

Wenn moralische Normen der Evolution unterliegen: wieso ist dann unsere Evolution anders verlaufen als die des Viehzeugs?

Ich denke, auch du, doc rudi, solltest zwischen Handlung(sstatistik) und Moral bzw. Ethik unterscheiden. Ich hatte schon geschrieben, Ethik setzt eine bestimmte Qualität des Denkens voraus, nämlich räumlich und zeitlich umfassend zu denken. Da das wahrscheinlich die Mehrheit zumindest zeitweise nicht tut, gibt es die Moral (und die Gesetze).

der selbstmörder die freiheit haben sollte sein leben abzulehen
Warum sollte er sie haben? Warum soll überhaupt ein Mensch Freiheit haben? Weil wir das in unserer Gesellschaft so beschlossen haben? Nun, das kann man auch wieder abschaffen.
Will sagen: wer sich auf gesellschaftlichen Beschluss beruft, muss alle ethischen 'Normen' zur Disposition stellen, auch die Freiheit, auf die er sich beruft. Ohne überzeugende Begründung, warum ein Mensch überhaupt Freiheit haben soll, ist die Freiheit als Norm nicht viel wert.

Und eine Wahl, Chefkoch, ist nur dann sinnvoll, wenn über zukünftig umzusetzende Entscheidungen bzw. die Personen, die diese fällen sollen, abgestimmt wird. Über welche zukünftig umzusetzende Entscheidung stimmt der Selbstmörder ab? Und - meinst du, man könnte einem Selbstmord zwingend den Diskurs über selbigen voraussetzen, meinetwegen als eine Art Beratung, ähnlich wie bei einem Schwangerschaftsabbruch? ;-)

Gruß


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von psi am 15. Sept. 2005, 22:25 Uhr
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on 09/15/05 um 21:39:32, Abrazo wrote:Warum sollte er sie haben? Warum soll überhaupt ein Mensch Freiheit haben? Weil wir das in unserer Gesellschaft so beschlossen haben?


genauso ist es.
trivial eigentlich. warum man jemandem seine freiheit lässt? weil man sonst womöglich eine aufs maul kriegt. du bist doch sonst nicht um erfahrungen der strasse verlegen. freiheit erkämpft man sich. wenn ich das richtig erinnere die menschenrechte mit der guillotine.
freiheit als norm? es gibt kein normatives system das nicht intuitiv begründet werden müsste. es gibt für axiomatische festlegungen keine begründung. siehe habermas/kant/aristoteles
kann doch nicht so schwer sein...

gruss


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 15. Sept. 2005, 22:58 Uhr
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Und warum haben wir sie so und nicht anders festgelegt?
Du machst es dir ein bisschen zu einfach. Philosophie bleibt im Gegensatz zu den Naturwissenschaften nicht bei den Axiomen als etwas quasi gottgegebenem stehen.

Nichts gegen Habermas, der meint damit etwas - es ist nur offenbar nicht das, was du damit meinst [grin]

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von psi am 15. Sept. 2005, 23:11 Uhr
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on 09/15/05 um 22:58:43, Abrazo wrote:Und warum haben wir sie so und nicht anders festgelegt?
Du machst es dir ein bisschen zu einfach. Philosophie bleibt im Gegensatz zu den Naturwissenschaften nicht bei den Axiomen als etwas quasi gottgegebenem stehen.

Nichts gegen Habermas, der meint damit etwas - es ist nur offenbar nicht das, was du damit meinst [grin]



nun das scheint das momentan akzeptable gleichgewicht der kräfte zu sein. oder meinst du es wäre so wenn jemand der stark genug wäre etwas anderes durchzusetzen willens wäre das zu tun?
so, dann findet philosophie wohl im luftleeren raum ohne verankerung in der wirklichkeit statt? den eindruck hat man allerdings manchmal.
und BITTE lass mich nicht dumm sterben und erklär mir diesen so völlig unmissverständlichen für habermas selten allgemeinverständlichen satz der einer völlig klaren abhandlung mit ebendiesem thema der begründung der moral so sinnentstellend entrissen wurde. und den von kant doch auch gleich. denn ich hab schon verstanden dass nur derjenige der wie du ganzheitlich umfassend denkt ethisch ist ...blöd nur das man das auch nicht nachprüfen kann...um bei gelegenheit wieder mit der strasse zu argumentieren. wenn man schnell genug oszilliert erkennt mans auch kaum...



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von chefkoch am 15. Sept. 2005, 23:49 Uhr
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on 09/15/05 um 21:39:32, Abrazo wrote:der selbstmörder die freiheit haben sollte sein leben abzulehen
Warum sollte er sie haben? Warum soll überhaupt ein Mensch Freiheit haben?


sämtlichen menschen alle freiheiten abzusprechen, ist ein ding der unmöglichkeit, dann müssten sie aufhören zu existieren! wie stellst du dir das praktisch vor, alle menschen ohne freiheit zu irgendwas? das geht nich, sorry!
hier geht es um die freiheit zu sagen (um das ganze zu vereinfachen, reduzier ichs mal auf selbstmord): ich hab keine lust mehr!
die beweislast liegt hier auf deiner seite; wenn du dem selbstmörder antwortest: das hast du aber nich zu bestimmen! dann frag ich mich, wer das denn sonst zu bestimmen hätte. der staat? wieso? gott? wieso? eltern/freunde/ärzte? wieso?


on 09/15/05 um 21:39:32, Abrazo wrote:Und eine Wahl, Chefkoch, ist nur dann sinnvoll, wenn über zukünftig umzusetzende Entscheidungen bzw. die Personen, die diese fällen sollen, abgestimmt wird. Über welche zukünftig umzusetzende Entscheidung stimmt der Selbstmörder ab?


das habe ich erklärt, es ist eine negative wahl, die nur die akzeptanz oder ablehnung eines status quo beinhaltet. der selbstmörder wählt die verneinung, entscheidet sich gegen sein leben und die aktuelle situation.


on 09/15/05 um 21:39:32, Abrazo wrote:Und - meinst du, man könnte einem Selbstmord zwingend den Diskurs über selbigen voraussetzen, meinetwegen als eine Art Beratung, ähnlich wie bei einem Schwangerschaftsabbruch?


wer redet denn hier von zwang? und so wie ich das verstanden hab, geht es in der philosophie auch nich in erster linie darum, gesetzestexte zu entwerfen, die ohne probleme morgen umgesetzt werden können. mir ging es lediglich darum, fälle momentaner verzweiflung, die möglicherweise aus missverständnissen, übertriebenen ängsten o.ä. herrühren und affekt-handlungen auszuschließen.
und wieso nich? bei einer legalisierung der aktiven sterbehilfe könnte ich mir solche auflagen durchaus vorstellen, sie helfen in jedem fall, missbrauch und unüberlegten entscheidungen vorzubeugen!


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 16. Sept. 2005, 02:40 Uhr
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Hallo Abrazo,

mich interessiert die theoretische Moral etwas mehr, als das momentane praktische Beispiel, daher kommentiere ich nur deine diesbezüglichen Beiträge.

Du schreibst: "...als Kaiserin Agrippina ihren kaiserlichen Ehemann um die Ecke brachte, beging sie keinen Genozid, sondern einen ganz normalen Mord."

Wo habe ich das behauptet? Bitte meine Beiträge genau lesen!


Weiter: "Mir ist bisher nur eine Gruppierung bekannt, die meinte, man müsse zwecks Existenzsicherung ein Volk ausrotten: die Nazis."

Das liegt an mangelnder Geschichtskenntnis. Der Vorwurf geht nicht an dich, sondern an den derzeit üblichen Geschichtsunterricht, der so tut, als habe die Menschheit Jahrtausende in Frieden gelebt, bis dann Wilhelm II und Hitler auftauchten.
Ich nannte bereits Beispiele: Die Juden des Alten Testaments, die meisten der heutigen Länder Amerikas (Nord und Süd). Die Ureinwohner Tasmaniens wurden im 19. Jahrhundert ausgerottet, für jeden erlegten Indianer Feuerlands zahlten die vorzugsweise britischen Farmer 8$ Prämie usw.


Weiter "Mir fällt auch kein Volk ein, das aus Existenzbedrohung einen Aggressionskrieg begonnen hätte. Fällt dir eins ein?"

Ja, die indigenen Völker Amerikas haben verzweifelt gegen die Weißen gekämpft, viele davon wurden ausgerottet "Der letzte Mohikaner". Und die Geschichte der Völkerwanderung (so etwa 4. - 6. Jahrhundert) hatte vorzugsweise dieses eine Thema. Zugegeben, die damaligen Genozids waren nicht so systematisch wie die der Nazis, aber Ziel war es stets, die in "guten Landschaften" lebenden Völker zu beseitigen.


Weiter: "Auch in der Geschichte hast du anscheinend ein paar Neuerungen zu bieten. Denn ich habe eigentlich immer nur gehört, dass die Juden sich weitgehend nicht gewehrt haben"

Die Juden im Einflussbereich der Nazis konnten sich nicht erfolgreich wehren, richtig, wohl aber die außerhalb, vor allem die in den USA.
Hitler hat den 2. Weltkrieg heraufbeschworen, nicht um die Juden zu vernichten. Die systematische Judenvernichtung begann mit der Wannseekonferenz anfangs 1942.
Aber bereits 1939 empfahlen Einstein & Co den Bau der Atombombe als Waffe gegen Hitler. Den 2. Weltkrieg gewannen die USA und die dort sehr einflussreichen Juden waren verständlicherweise sehr daran engagiert.


Weiter: "Meinst du, der Löwenmann oder die Biologie sei in der Lage, so weit zu denken, dass sie entscheiden, mit Rücksicht auf den Fortbestand der Art keine Löwenjungen umzubringen?"

Natürlich nicht. Die Natur experimentiert. Und wenn die Methode "Kindermord" erfolgreich ist, setzt sie sich durch.

Die Frage Arterhalt oder Generhalt ist noch nicht entschieden, spielt in diesem Zusammenhang aber keine Rolle, denn wenn die Art nicht mehr existiert, sind auch die Gene futsch.

Wie ich schon sagte, hat sich die Methode Kindsmord nicht erfolgreich durchgesetzt. Sozial lebende Robben (gehören ja auch zu den Carnivoren) töten nicht gezielt ihre Jungen. Das passiert nur gelegentlich aus Versehen, wenn ein liebeshungriger Seeelefant mit seinen 3,5 Tonnen über ein Junges fährt, das nicht schnell genug Reißaus nimmt.

Weiter: "Wenn moralische Normen der Evolution unterliegen: wieso ist dann unsere Evolution anders verlaufen als die des Viehzeugs?"

Unsere Evolution ist nicht prinzipiell anders verlaufen als beim "Viehzeugs". Und vergleicht man die moralischen Normen einer Schimpansenherde mit der Menschen, so sind die Ähnlichkeiten enorm. Doch die sieht man nicht, wenn man sich nicht mit ihnen beschäftigt.

Gruß HP






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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von MiaoMiao am 16. Sept. 2005, 04:50 Uhr
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Wenn der Mensch sich zugrunde richten WILL, dann kann ihn niemand aufhalten.

Ich kannte mal eine Bulimie-Kranke, die SICH ABSOLUT WEIGERTE etwas zu essen, weil sie Angst hatte dick zu werden (was bei 35kg bei 165cm eigentlich nicht so schlimm waere). Wenn man sie zwang etwas zu essen, musste man hoellisch aufpassen, dass sie es sich nicht wieder aus dem Magen kratzte. Am Ende wurde sie an den Tropf gehaengt.

Der Arzt meinte, dass es nicht besser werden kann, solange sie keine Besserung WILL.

Man kann versuchen einen davon abzuhalten sich zugrunde zu richten oder versuchen, dass er wenigstens keine anderen Leute mit ins Grab nimmt z.B. Amoklaeufer, aber solange der Mensch sich zugrunde richten WILL, kann ihn auch niemand davon abhalten.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 16. Sept. 2005, 10:12 Uhr
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....... genau !

das ist ja auch das problem bei der 6h9 selbst mord heit ..........

sie will sich um bringen
und ich kann sie nicht auf halten !

sie ist ein fach nicht in der lage die wahr heit zu er kennen
und die ent sprechenden hand lungen ver wirk lichen ........

weil sie liebe will
und nur den tod dafür an bietet !

und das ist nur für geistig be hinderte .......



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 16. Sept. 2005, 20:19 Uhr
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Hallo allerseits,

darf man sich selbst zerstören?

Gibt es darauf eine konsensfähige Antwort?

Es muss dazu wohl zwischen zwei Formen der Selbstzerstörung unterschieden werden, der Selbsttötung eines Lebensmüden und dem gesundheitlichen Raubbau des Rauschmittelabhängigen.

Meiner Meinung nach gibt es Situationen, in denen gegen eine Selbsttötung moralisch nichts einzuwenden ist. Ich denke etwa an einen alten, allein lebenden Menschen, der unter einer schmerzhaften, unheilbaren Krankheit leidet, die ihn ans Bett fesselt. Wenn dieser Mensch sich dafür entscheidet, sein Leben selbst bestimmt und bei klarem Verstand zu beenden, so sollte man diese Entscheidung respektieren.

Diese moralische Unbedenklichkeit gilt selbstverständlich nicht für jede Selbsttötung.

Dagegen ist der gesundheitliche Raubbau des Drogensüchtigen immer abzulehnen. Bei einer entwickelten Sucht ist die Frage, ob der Süchtige die gesundheitsschädlichen Drogen konsumieren darf, eigentlich schon obsolet, denn der moralische Appell ist gegenüber der Sucht machtlos.

Moral spielt allerdings eine wichtige Rolle bei allen Handlungen, die zur Sucht hinführen.(Dabei verstehe ich unter Sucht nicht jede kleine „Schwäche“, sondern den Konsum von Stoffen, die zu körperlichen und psychischen Entzugserscheinungen führen. Ich halte Sucht nicht für ein Randproblem sondern für eines der Hauptprobleme unserer Zeit.)

Den Dealer, der andere – die womöglich noch im jugendlichen Alter sind - zur Sucht verleitet, trifft zu Recht die tiefste moralische Verachtung.

Jeder, der an der Sucht der anderen verdient und deshalb deren Sucht fördert, handelt moralisch verwerflich.

Aber auch das leichtfertige Spielen mit und Probieren von „harten“ Suchtmitteln ist moralisch zu verurteilen, weil die Abhängigkeit schleichend und unmerklich eintritt, gedeckt von Verharmlosung und Selbsttäuschung.

Die zeitlich begrenzte Entmündigung Süchtiger, die immer größere Mengen an Drogen benötigen, halte ich für moralisch gerechtfertigt, wenn sie dadurch vor dem absehbaren vorschnellen Tod bewahrt werden. Das wird auch der Süchtige selber in seinen klaren Momenten akzeptieren.

Ich denke, es gibt „gute Gründe“ zur moralischen Verurteilung der Sucht und aller Handlungen, die deren Verbreitung fördern. Das dadurch erzeugte Elend kann niemand wollen.

Ich höre schon den Widerspruch: „Doch, der Dealer will es.“

Gibt es allgemein akzeptable Gründe, den Dealer moralisch zu verurteilen? Oder ist das eine Frage der ethischen Intuition, wie Abrazo sie beschreibt?

Bleiben wir dicht am Thema (es gibt hier genug zu diskutieren) und lassen wir die zahlreichen anderen Kontroversen mal aus dem Spiel,

Es grüßt alle Nachdenklichen Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 16. Sept. 2005, 20:40 Uhr
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Hi, Eberhard,

es funktioniert nicht. Du kannst es drehen und wenden wie du willst, es funktioniert nicht. So kannst du keine allgemeingültigen moralischen Normen aufstellen. Dazu sind die einzelnen, individuellen Situationen viel zu unterschiedlich. Letztlich wirst du bei der altbekannten Moral landen, über die sich Intellektuelle und Freigeister wie zu allen Zeiten lustig machen und die Ethiker vehement ablehnen, bis sie zusammen bricht.

Gibt es allgemein akzeptable Gründe, den Dealer moralisch zu verurteilen?
Es gibt eigentlich nur einen allgemein anerkannten Grund: wenn ein erwachsener Dealer Heroin an Kinder und Jugendliche vertickt. Wobei man da schon bei sechzehnjährigen Prostituierten und ebenso alten professionellen Autoknackern Abstriche macht.

Und sonst?

Der Drogenfahndung ist es lieber, ein heroinabhängiger Dealer verdient das Geld für seine Sucht mit Dealen unter Süchtigen, als dass er einbricht, Kioske überfällt, Omas niederschlägt oder den Stricher für Perverse abgibt.

Für Drogenabhängige ist der Dealer der wichtigste Freund, denn er versorgt sie trotz Risiko mit quasi lebenswichtigem Stoff.

Afghanische Mohnbauer haben ebenso wie südamerikanische Koka-Züchter nicht die geringsten Gewissensbisse, Drogen in den Westen zu liefern, der sie jahrzehntelang auf arrogante Weise ausgebeutet hat. 'Sie brauchen sie ja nicht zu nehmen', meinen wohl die meisten von ihnen, 'dass sie es tun, zeigt ihre Dekadenz und Morbidität, selbst dran schuld'.

Und nicht abhängige Dealer sehen kein Problem darin, Leuten Stoff zu verkaufen, die sowieso kriminell sind und alles andere als seriöse, gut bürgerliche Leute.

Schlag mal vor, nen vernünftigen, allgemein akzeptierten Grund.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 16. Sept. 2005, 21:03 Uhr
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Hi, Hanspeter,

du hast recht, die Königsmörder hat doc rudi ins Spiel gebracht.
Zu allem anderen könnte ich dir eine Menge sagen, tu es aber mit Rücksicht auf das Thema, das hier verhandelt wird, nicht.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 17. Sept. 2005, 01:47 Uhr
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Hallo an Alle,

gut, bleiben wir beim Thema.

Und lassen wir den Selbsttöter aus dem Spiel (der Begriff Selbstmörder ist sehr unglücklich, weil nach dem deutschen Strafrecht Mord das Töten aus "niedrigen Beweggründen" ist.)

Eberhard schreibt: "Jeder, der an der Sucht der anderen verdient und deshalb deren Sucht fördert, handelt moralisch verwerflich."

Das ist nicht haltbar. Jeder, der in der Tabak- oder Alkoholindustrie verdient, würde danach unmoralisch handeln. Jeder Winzer, jeder Bierbrauer müsste sich seiner Existenz schämen.

Das entscheidende Problem ist, Sucht und Selbstzerstörung klar zu definieren. Solange das nicht geschieht, gibt es keinen Fortschritt in der Diskussion.

Gruß HP



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 17. Sept. 2005, 07:46 Uhr
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sehr richtig.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 17. Sept. 2005, 08:44 Uhr
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Hi, Hanspeter,

das mit den niedrigen Beweggründen ist so 'ne Sache. Die verschwinden nämlich hinter dem Umstand, dass der Selbstmörder keinen anderen, sondern sich selbst umbringt. Streich diesen Umstand doch mal und guck dir an, wie die Sache dann aussieht!

Eine Frau schluckt mehrfach Schlaftabletten, um damit ihren Ex zur Rückkehr zu erpressen. Einmal geht's schief. Sie hinterlässt zwei kleine Kinder.

Ein Manager hängt sich auf, weil es ihm nicht passt, die Verantwortung für Wirtschaftskriminalität in einem Gerichtsverfahren übernehmen zu müssen.

Ein Drogenabhängiger gibt unmittelbar nach Notfallbehandlung wg Überdosis auf die Mahnung, 'du hättest tot sein können!' die Antwort 'war aber geiles Zeug'.

Gut, Selbstmord kann auch gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge sein. Aber es geht hier einzig und allein um die Motive. Wie sind sie zu bewerten?

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 17. Sept. 2005, 09:59 Uhr
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... die massen selbst zer störung findet da hin gehend statt

daß eine blamage mit der andern konkuriert
andere blamagen zu be geistern

und ein mensch weis ab solut nichts mit alle an zu fangen
weil alles eine blamage

wie ge habt !

und weil mit blamagen keine zukunft zu ge stalten ist
gibt es auch keine .........


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von psi am 17. Sept. 2005, 10:14 Uhr
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on 09/16/05 um 20:40:18, Abrazo wrote:Hi, Eberhard,

es funktioniert nicht. Du kannst es drehen und wenden wie du willst, es funktioniert nicht. So kannst du keine allgemeingültigen moralischen Normen aufstellen. Dazu sind die einzelnen, individuellen Situationen viel zu unterschiedlich. Letztlich wirst du bei der altbekannten Moral landen, über die sich Intellektuelle und Freigeister wie zu allen Zeiten lustig machen und die Ethiker vehement ablehnen, bis sie zusammen bricht.



darüber besteht seit seite eins letztlich einvernehmen. eberhard erwähnt es in seinem eingangbeitrag und will trotzdem eine antwort.
auch wenn abrazos moral-ethik unterscheidung nicht unbedingt landläufig ist, so stimmt doch dass man keine letzgültigen normen aufstellen kann. aber nicht weil die situationen zu unterschiedlich sind. sondern weil ein moralisches/ethisches urteil standpunktabhängig ist. weil nicht einmal unbedingt erkannt wird dass die situation ein solches urteil verlangt.
wird die situation nicht als eine moralisch/ethische erkannt, wie sollten solche kriterien eine rolle spielen?
a muschg hat ein nettes büchlein geschrieben, "zeichenverschiebungen", in denen er über missverständnisse zwischen japanern und europäern berichtet. die haben zum teil ganz gewaltige ethisch/moralische dimensionen. der grosse unterschied liegt einfach in der wahrnehmung der situation. der europäer erschauert, der japaner sieht nicht mal wegen was. verhälten sich die japaner kollektiv ethisch verwerflicher als europäer? ein echter konsens kann nur über anpassungen in der wahrnehmung erfolgen. was natürlich eine rationale reflektion darüber nicht ausschliesst.
klar machen sich "freigeister" lustig über die verklemmte sexualmoral der missionare. aber man macht sich das zu einfach wenn man sich einfach auf den standpunkt einer hehren ethik im gegensatz zur kleinkarierten moral zurückzieht. an der empfindung der abscheulichkeit sexueller freizügigkeit bei bestimmten menschen führt ja nun mal kein weg vorbei.
schaue man sich doch nur die gräben an die sich durchs eigene land ziehen. ich kann jedenfalls mit der katholischen morallehre sicher keinen konsens finden. allerdings lassen die sich nicht so einfach in eine moral ecke im gegensatz zur ganzheitlichen ethik drücken. aussichtslos sich mit denen auf argumentationen einzulassen, weil die basiswahrnehmungen andere sind, im zweifelsfall argumentieren die besser nach 2000jähriger erfahrung mit "ketzern". und offenbar sind die ja sogar so gut dass der ratzinger den habermas um den finger gewickelt hat. alles reibt sich die augen...

die bedeutung von ethik(ethos), moral und dem deutschen sitte ist eben der brauch, das gewohnte verhalten. insoweit ist es ja auch genormt bis zu einem gewissen grad. und bestimmte sitten sind auch immer und überall im kern gleich. mord und diebstahl sind wohl nirgends gute sitte. aber ansonsten ist das spektrum ja ziemlich breit. und über unsere europäische art die sache zu betrachten lachen sich andere völker einen ast ab.

konsens ist schön, aber weil man sich einigt hat man deshalb nicht DIE ethik/moral/sitte gefunden. sondern einen konsens.
und rationale letztbegründungen gibt es nicht. irgendwo am anfang muss ein erkenntnisschritt stehen oder eben eine empfindung/wahrnehmung.

gruss



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 17. Sept. 2005, 15:16 Uhr
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Hallo Abrazo,

zu deinen Fallbeispielen.

1. Frau/Schlaftabletten: Verantwortungslos, die Sorge für ihre 2 Kinder hätten wichtiger sein sollen.

2. Manager: Ok. Er hat die Verantwortung übernommen und sich selbst verurteilt. Ob er im Gefängnis oder im Grab dafür büsst, ist seine Sache.

3. Drogenfreak. Ok, sofern er nicht selbst die Notfallretter gerufen hat bzw. die Kosten dafür selbst übernimmt. Für ihn ist Drogenkonsum wichtiger als sein Leben.

Alles klar?

Gruß HP

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 17. Sept. 2005, 15:34 Uhr
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Hallo,
Hanspeter #21: "Das entscheidende Problem ist, Sucht und Selbstzerstörung klar zu definieren. Solange das nicht geschieht, gibt es keinen Fortschritt in der Diskussion."
Wenn man über Selbstzerstörung philosophiert, sollte man diese tatsächlich zuerst definieren. Ein Beispiel, wie der Süchtige, ist gut, aber es gibt eben sehr viel unterschiedliche Süchtige. Das ist der Haken. Vielleicht finden wir besser eine allgemeingültige Definition von Selbstzerstörung, die den Süchtigen als Spezialität mit abdeckt.

Psi #25: "rationale letztbegründungen gibt es nicht. irgendwo am anfang muss ein erkenntnisschritt stehen"
Auch richtig. Habe ich nicht nur gesagt, sondern praktiziert.

Ethisch war immer das, was dem Funktionieren des Systems höherer Ordnung diente, und das definierten die Herrschenden. Die haben die Definitionsgewalt. Nun herrscht das Volk, und auch das "Establishment" (ein schöner Begriff aus der APO-Zeit) sollte sich auch an die Gesetze halten, die im Namen des Volks von Volksvertretern für das Volk gemacht werden. Jedes Individuum überlegt natürlich, wie es für sich persönlich das beste erreichen kann, eventuell am Gesetz vorbei. Aber am Ende sieht jeder den Vorteil: Verzicht auf einen Teil der persönlichen Wünsche ist der Preis für ein friedliches Zusammenleben, nur: es muss sich auch jeder dran halten. Unser Rechtssystem ist doch die Summe der Regeln, die das friedliche Zusammenleben regeln, wenn man so will, eine Volksethik. Das demokratische Recht hat sich gegen die religiös begründete Moral durchgesetzt.
Träger der Moral ist übrigens die Mitte: nämlich die Mitte zwischen oben und unten, reich und arm.
Bei uns. Bei unseren Mitbürgern moslemischen Glaubens ist das jedoch bisweilen noch wie im Mittelalter: ein Mädchen, das sich seinen Freund selbst aussuchen will, wird von ihren Brüdern im Namen der moslemischen Moral auf offener Straße hingerichtet, um die Familienehre zu retten.
Das kriegen wir natürlich nicht unter einen Hut.
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 17. Sept. 2005, 16:16 Uhr
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Hi, doc rudi,
bleib beim Thema und laber nich rum.
('Ehrenmorde' sind übrigens auch nach islamischem Recht strafbar.)

Hi, Psi,
Ethik, Moral, Sitte und Brauch - letzteres übrigens auch ein juristischer Begriff - sind klar unterscheidbare Begriffe. Ich hab was dagegen, mit Begriffen Eintopf zu kochen.

Hi, Hanspeter,
im Grab büsst man nicht, wenn man nicht gerade Aida heißt.
Und den Notarzt hatten andere Süchtige geholt, nachdem sie merkten, dass sie es alleine nicht schaffen, ihn zurück zu holen.
Er hätte den Notarzt nicht geholt. Er war ja bewusstlos *g*.
Gegen das Kostenargument steht der medizinische Eid. Haste keine Chance mit deinen Vorstellungen, denn der medizinische Eid basiert auf der humanen Ethik. Die is nach aller Erfahrung machtvoller als positive moralische Normen.
Mal abgesehen davon, dass Penner kein Geld haben.

Also: gemessen an der Lebenspraxis ...

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 17. Sept. 2005, 16:27 Uhr
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Hi abrazo,
zum Glück sind Ehrenmorde auch bei uns strafbar. Bei uns ist die subjektive Moral weder strafverschärfend noch strafmildernd. Sie ist bedeutungslos. Das ist unsere Rechts"ethik" (wer denn so will).
Aber bring doch mal was Konstruktives und definier mal Selbstzerstörung.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 17. Sept. 2005, 19:42 Uhr
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Hi, doc rudi,

so ganz stimmt das nicht, was du sagst. Zwar ist es irrelevant, wenn einer sich seine eigene subjektive Moral zusammen baut (wenn er sich auf das Gewissen beruft, sieht die Sache aber schon anders aus!), aber kulturbedingte andersartige Moralvorstellungen oder gar Rechtsnormen können sich durchaus strafmildernd auswirken (Verbotsirrtum z.B.). Um das festzustellen, holt man allerdings einen Gutachter. Denn jeder Verbrecher trachtet danach, seine Strafe abzumildern. Der Deutsche wühlt in der Psychologie nach Gründen, der Ausländer behauptet, das sei in seiner Kultur aber so üblich; kann mal stimmen, meist stimmt es nicht.

Selbstzerstörung:
Um Zerstörung handelt es sich m.E., wenn man ein Objekt so beschädigt, dass es nicht mehr funktionsfähig und auch nicht mehr reparabel ist. Um Selbstzerstörung handelt es sich, wenn man diese Beschädigung an sich selbst vornimmt. Wobei es, vom Ergebnis gesehen, nicht wichtig ist, ob man dies sozusagen in einem Schlag erledigt, oder ob man einen selbstzerstörerischen Prozess in Gang setzt und nicht aufhält. Beim Drogenabhängigen (auch Alkoholiker) kommt noch hinzu, dass sich der Zerstörungsprozess auch auf die Gehirnfunktionen und damit auf die Persönlichkeit und auf die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfunktionen auswirkt. Und zwar durchaus ad hoc: stark Alkoholisierte können hoch aggressiv werden, ebenso Leute unter Kokain, während Leute unter PCB z.B. sich schon mal im Rausch ein Bein abhacken oder aus dem Fenster springen können.



Vorschlag:
Der ethische Wille fließt m.E. aus mir (=aus dem Ich) und ist deswegen ebensowenig begründbar und analysierbar wie das Ich. Allerdings richtet er sich auf die Welt, sein Indikator ist die Handlung, und das ist erkennbar und analysierbar. Sollten wir nicht lieber versuchen zu eruieren, worauf er sich richtet, also, in welchen Situationen er aktiv wird? Das könnte m.E. auch ein Moralist mitmachen, denn es dürfte nicht so viel anders sein als die 'Fahndung' nach den Grundprinzipien der Moral.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 17. Sept. 2005, 21:01 Uhr
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Hi abrazo
Zugegeben, so ganz stimmte das nicht, aber was Du meinst, stimmt auch nicht so ganz: Verbotsirrtum führt zu Freispruch und nicht zu Schuldminderung. Aber lassen wir das Geplänkel.

Du definierst zunächst Zerstörung eines Objekts und dann kommt die Wendung gegen "sich", "Zerstörung an sich selbst". Na gut.
Da möchte ich differenzieren und ergänzen: "sich selbst" könnte der eigene Körper sein. In meiner Philosophie gehört dazu auch: mein materielles Eigentum, mein Geld, mein Geist. Alles das kann "ich" zerstören (rein theoretisch).
Du machst u.a. noch die Ergänzung:
"Beim Drogenabhängigen (auch Alkoholiker) kommt noch hinzu, dass sich der Zerstörungsprozess auch auf die Gehirnfunktionen und damit auf die Persönlichkeit und auf die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfunktionen auswirkt."
Alles das: Persönlichkeit, Wahrnehmung, Verarbeitung (Denken) sind Bestandteile eines umfassend verstandenen Ichs.

Da möchte ich einen besonderen Aspekt des Ichs hervorheben: den Willen

Du hast offenbar die gleiche Idee und kommst auf den "ethischen Willen", den Du, wie das "Ich", als unbegründbar ansiehst.

Nun kommt der Punkt, an dem wir uns treffen, nämlich:
"sein Indikator ist die Handlung, und das ist erkennbar und analysierbar"

Wir sehen also beide die gleiche Handlung eines Menschen: er nimmt eine Droge zu sich und springt aus dem Fenster. Wenn Du von der Handlung auf den Willen zurückschließt (das mache ich auch), fragst Du Dich: worauf ist der Wille gerichtet? Deine Antwort: auf das Zerschmettern des eigenen Körpers (den Effekt).

Meine Frage:
Erstens: ich nehme für jeden Menschen nur 2 (beide positiv) Grundwillen an (Selbsterhaltung, Selbstentfaltung), einen zusätzlichen "ethischen Willen" benötige ich nicht zur Erklärung des Handelns. Wenn Du einen "ethischen Willen" annimmst, komme ich nicht damit klar, dass dieser aufs Körpervernichten gerichtet sein soll. Oder worauf ist der von Dir postulierte ethische Wille gerichtet? Dieser ethische Wille soll aus dem Ich fließen. Widerspricht sich das nicht? Ein aus dem Ich fließender Wille, der den eigenen Körper vernichtet.

Wie stellst Du Dir das also vor?

Ist es nicht besser, die beiden von mir postulierten Willen anzunehmen und die Handlungen folgendermaßen zu interpretieren:
Eine Droge einnehmen ist zunächst in Ordnung. Dies ist Ausdruck des Willens nach Selbstentfaltung (neue Erfahrungen machen, Wunsch nach Genuss, und was noch so drinstecken mag).
Diese Droge wirkt jedoch, und darüber sollte sich der Konsument vorher informieren, auf die Hirnfunktion und kann damit auch die Umsetzung von Willensentschlüssen in Handlung verändern.
Die von uns beobachtete Folgehandlung, das Körperzerschmettern, ist demnach nicht mehr nur Ausdruck des eigenen Willen, sondern des durch Veränderung der Hirnfunktion fehlgeleiteten Willens. Vielleicht hat der Betreffende durch die Droge auch nur Vergessen, dass man zum Fliegen einen Paragleiter oder ähnliches benötigt (vielleicht steckt sogar noch der natürliche Wunsch dahinter, es den Vögeln gleich zu tun, sozusagen der Einfluss der Vogelgene in uns).
Allgemein gesagt: die Handlungen eines Menschen unter Drogeneinfluss sind Ergebnis zweier Einflüsse:
Erstens der Kräfte, die aus dem Wollen des Menschen entspringen.
Zweitens auch Resultat des Drogeneinflusses.
Also: wenn Du zum Willen des Menschen kommen willst, musst Du von den beobachteten Handlungen die Wirkungen der Droge abziehen.
Kannst Du das nachvollziehen?
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 17. Sept. 2005, 21:28 Uhr
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Hallo allerseits,

Ich schlage folgende Definition vor: „Sucht“ ist die Abhängigkeit von stark gesundheitsschädigenden Drogen, deren Konsum zwanghaft ist, weil eine Konsumunterbrechung zu Entzugserscheinungen führt.

(Damit ist klar, dass es hier nicht um das eine Glas Rotwein oder Bier geht oder um ein paar Zigaretten, sondern um den ständigen, zwanghaften Konsum schädlicher Drogen, um künstlich angenehme Gefühle zu erzeugen.)

Die so definierte Sucht ist ein negativ zu bewertendes Verhalten, weil es den Süchtigen und auch der Allgemeinheit einen beträchtlichen Schaden zufügt. (Ich erspare es mir, die Schäden hier im Einzelnen zu benennen und größenmäßig zu bestimmen.)

Dieser Schaden wird durch die zeitlich begrenzten, als lustvoll bzw. angenehm erlebten Bewusstseinszustände beim Drogenkonsum nicht aufgewogen.

Der Drogenkonsum ist deshalb nicht zu billigen.

Soweit meine Gründe dafür, dass man sich nicht durch Drogenkonsum zugrunde richten darf.

Zu den Einwänden:

“So kannst du keine allgemeingültigen moralischen Normen aufstellen. Dazu sind die einzelnen, individuellen Situationen viel zu unterschiedlich.“

Wenn gezeigt wird, dass zwischen Sucht und Sucht normativ relevante Unterschiede bestehen, dann können wir differenzieren, meinetwegen bis hin zur moralischen Beurteilung eines Einzelfalls. Unzulässige Generalisierung ist also kein Argument, das habe ich bereits am Beispiel „Hindenburg ernennt Hitler zum Reichskanzler“ dargelegt.

“Sollten wir nicht lieber versuchen zu eruieren, worauf (der ethische Wille) sich richtet, also, in welchen Situationen er aktiv wird?“

Eins schließt das andere nicht aus. Das Problem ist nur, dass der „ethische Wille“ (ich würde sagen, das verinnerlichte Ethos) von Mensch zu Mensch differiert.

“Rationale letztbegründungen gibt es nicht. irgendwo am anfang muss ein erkenntnisschritt stehen oder eben eine empfindung/wahrnehmung.“

Hat jemand etwas anderes behauptet? Es gibt allerdings eine Prämisse, die jeder von uns akzeptieren muss. Ich meine die Prämisse, dass wir durch Argumente (wozu ich auch Sätze zähle wie „Ich sehe den Zeiger ebenfalls bei 100 Grad Celsius“ oder „Mir ist es ebenfalls wichtiger, gesund zu sein als angenehme Halluzinationen zu haben“) zu einer gemeinsamen Antwort auf die gestellte Frage kommen wollen. Wenn jemand diese Prämisse nicht akzeptiert, dann ist es sinnlos, sich mit ihm über Behauptungen zu streiten.

(Das gilt auch für den Dealer, den Drogenfreak oder den Mohnbauer, falls deren Argumente hier als ernstzunehmende Behauptungen eingebracht werden.)

Es grüßt Euch Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Sheelina am 17. Sept. 2005, 22:16 Uhr
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Hallo Eberhard,

Du hast bei Deiner letzten Ausführung zur Sucht etwas entscheidendes nicht bedacht. Der Süchtige nimmt seinen Stoff letztendlich nicht mehr wegen der angenehmen Gefühle, die Du postulierst und worauf sich Dein Verbot der Selbstzerstörung stützt, weil die Gesellschaft nicht bereit ist die besonderen Gefühle Einzelner zu bezahlen, sondern der richtig Süchtige braucht seinen Stoff, um sich Normal zu fühlen! Anders könnte Deine Frage so nun lauten: Darf man alles tuen um sich für eine Zeitlang normal zu fühlen, auch wenn man sich (und andere) dabei langfristig zu Grunde richtet? Da würde ich widerrum im Gegensatz zu Deiner Anfangsfrage eindeutig nein, nicht alles zu sagen können. Allerdings nützt auch diese andere Frage nichts, denn Verbote haben da bisher überhaupt nichts ausgerichtet, außer eben als Hinweis für Vernünftige überhaupt erst, dass es etwas sein könnte, was zu Grunde richtet. Wer weiß das schon vorher, bevor sich nicht schon ein paar zu Grunde gerichtet haben. Das Argument, dass man mit seinem Verhalten den gesellschaftlichen Finanzrahmen sprengt und sonstiges gesellschaftliches Zusammensein in Unwürde bringt , darauf ist jemand, der dabei ist sich zu Grunde richten wohl kaum mehr ansprechbar, schon gar nicht auf einer instituitionalen Ebene wie sie an den Tag gelegt wird.

Präventivmaßnahmen zu den ein oder anderen Problemen als Diskussionsbasis, sowie Gespräche darüber wie Mensch sich als Mensch in der Gesellschaft gesund fühlen kann, würde ich für sinnvoller halten. Im übrigen hat jeder das Recht sich als vollwertiges Gesellschaftsmitglied zu fühlen. Das man sich dafür zugrunde richten muß ist, ist eine Frage der Moral, ja. Muß man sich dafür selbst zugrunde richten? Weil wie gesagt, ein Süchtiger braucht seinen Stoff letztendlich um sich normal zu fühlen. Ich beobachte manchmal diese Chliquen am Bahnhof. Das ist eine Gesellschaft für sich, die sind im Prinzip nicht anders, die haben die gleichen Macken, das gleiche Herdenverhalten herrscht, sieht nur nicht ganz so schön aus.

Für mich ist aber dieses ganze Thema kein normatives Thema, sondern eine Frage der Medizin-Ethik. Wäre schön, wenn ich davon etwas mehr hier lesen könnte. Würde mich sehr freuen. Ehrlich. Da könnte ich vielleicht auch etwas praktisch mit anfangen.

Gruß
Lina

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 17. Sept. 2005, 22:31 Uhr
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Hallo Eberhard,
Deine Definition von Sucht ist aus meiner Sicht ganz o.k., so dass wir diesbezüglich die gleiche Diskussionsgrundlage haben.
Bei der Verfassung des Beitrags hattest Du meine Einwände aus #31 offensichtlich noch nicht gelesen. Ich bin auf Deine Stellungnahme gespannt.
Hier mein Einwand:
Die Handlung "Selbstschädigung" ist Resultat zumindest zweier Ursachen:
Eine Ursache ist Wunsch des Menschen, neue Erfahrungen zu machen, etwas neues zu Erleben, Genuss zu erleben o.ä. (alles Motive, die aus der Selbstentfaltung entstammen). Hinzu kommt nun eine zweite Einwirkung als zweite Ursache der Wirkung "Selbstschädigung", nämlich die Wirkung der Droge: diese beeinträchtigt das Gedächtnis (der Konsument vergisst bestimmte Folgewirkungen), sie verändert die Wahrnehmung, auch die Selbstwahrnehmung, sie wirkt auf die Urteilsfähigkeit (Gefahren werden verkannt), sie wirkt auf die Emotionen (Angst wird z.B. nicht wahrgenommen) usw..
Um also von der Handlung "Selbstzerstörung" auf den zugrunde liegenden Entschluss des Menschen zurückzuschließen, muss Du erst einmal die Wirkung der Droge auf die Handlung abziehen, dann hast Du den Anteil des Willens des Betreffenden, der hinter dem Resultat "Selbstzerstörung" steckt.
Falls Du dem folgst: welchen Willen oder welches Ziel erkennst oder siehst Du dann?
Ich zweifle daran, dass dieser Entschluss "Selbstzerstörung" lautet.
Ein zweiter Hinweis:
Du selbst weist in Deiner Sucht-Definition auf das Auftreten von Entzugserscheinungen hin.
Die erste Einnahme der Droge erfolgt sicher nicht, weil der Betreffende Entzugserscheinungen beabsichtigt. Die Drogeneinnahme des später dann Abhängigen erfolgt weder deshalb weil der Konsument die Entzugserscheinungen so schön findet oder weil er sich selbst zerstören will, sondern weil er normal sein will, weil er die Entzugserscheinungen weghaben will - oder weil er das anfängliche Rauscherlebnis sucht (je nach Suchtstadium oder Suchtmittel, siehe Linas Einwand, der sich mit meinem überschnitten hat). Er will, wenn das Stadium der Abhängigkeit erreicht ist, einfach nur die seine normale Funktionsfähigkeit störenden Entzugserscheinungen beseitigen (bei Heroin oer Alkohol) und erreicht als Nebeneffekt die Aufrechterhaltung der Sucht mit fortschreitender Selbstzerstörung. Dieses Ergebnis entsprach jedoch nicht seinem Willen. - Oder?
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 17. Sept. 2005, 23:51 Uhr
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Hi, Eberhard,

zunächst: wieso tust du die Argumente eines Dealers oder eines Mohnbauern so einfach ab? Sie sind nämlich durchaus vernünftig. Und ich gehe nicht davon aus, dass ein Konsens nicht angestrebt wird. Im Falle des Junkie-Dealers besteht er sogar de facto.

deren Konsum zwanghaft ist, weil eine Konsumunterbrechung zu Entzugserscheinungen führt Am Rande bemerkt: Entzugserscheinungen sind kein Indikator für Sucht. Kokain z.B. macht erst nach langem Gebrauch ein wenig körperlich abhängig. Ohnehin ist die körperliche Abhängigkeit vergleichsweise harmlos und in weniger als 3 Wochen zu beseitigen. Das Suchtproblem ist die psychische Abhängigkeit, die regelrecht zu einem Todestrieb führen kann. Der Tod tritt wohl am häufigsten durch grobe Fahrlässigkeit ein: verschleppte Krankheiten, Verkehrsunfälle, Überdosen, Provokation von Gewalttaten usw., alles Dinge, die Mensch normalerweise zu vermeiden trachtet.

Das Problem ist nur, dass der „ethische Wille“ (ich würde sagen, das verinnerlichte Ethos) von Mensch zu Mensch differiert.
Eberhard, das ist nicht ausgemacht.
Der ethische Willen ist zwar grundlos, gehört eben zu den Empfindungen / Wahrnehmungen am Anfang, aber sein Auftreten ist nicht grundlos. Er ist ebenso eine Reaktion auf äußere Bedingungen wie die biologischen Steuerung; er bietet die alternative Entscheidungsmöglichkeit auf sie.
Das setzt allerdings voraus, dass die Situation erkannt wird, und zwar, wie ich schon mal sagte, vollständig und überzeitlich, was bei biologischen Reaktionen nicht der Fall ist. Das heißt, wenn ein Mensch in einer Situation nicht ethisch entscheidet, kann das daran liegen, dass er die Situation nicht erkennt, und ich meine, man sollte doch erst einmal das prüfen, bevor man andersartige Ethik unterstellt. Zudem ist der ethische Willen eine Alternative. Zumindest im Moment kenne ich keinen Grund, warum er zwingend sein sollte. Die Wahl zwischen Biologie und Ethik könnte genau so gut willkürlich sein (mit allen Vorbehalten).

Ich denke, wogegen der ethische Willen auch protestiert, ist das Leiden. Dazu muss Mensch aber erst einmal Leid erkennen können. Ist ein Wurm leidensfähig? Ich weiß es nicht. Aber ich gehe davon aus, dass der Angler sich darüber keine Gedanken macht, wenn er ihn auf den Haken zieht.

Meine Katze hatte keine Probleme damit, mit einer Maus zu spielen, der schon die Gedärme heraushingen. Ich hingegen hatte damit Probleme und habe die Maus tot geschlagen. Ist das meine Natur? Bekanntlich gibt es Menschen, die keine Probleme damit haben, Tiere zu quälen. Haben die eine andere Natur?

Wenn im Baggerloch einer einen Kopfsprung ins Wasser macht, muss ich, wenn ich gerade mit meinem Hund schwimme, ihn daran hindern, schnell zu dem Versunkenen zu schwimmen um ihn zu retten (was wegen der Krallen durchaus unangenehm werden kann). Er sieht also, dass da einer in Gefahr ist, ein anderes Lebewesen als er selbst, aber eines, dem er offenbar genug (emotionalen) Wert beimisst, um ihn aus der Gefahr retten zu wollen. Das ist seine Natur, er ist ein Hund. Meine Katzen wären nie auf die Idee gekommen. Weil ihre Natur anders ist.

Nun könnte man sagen, es gibt Katzenvölker und es gibt Hundevölker unter den Menschen. Klassischer Rassismus. Nur, wie gesagt, unter 'Hundevölkern' gibt es Katzen und unter 'Katzenvölkern' Hunde. Widerspruch durch die Tatsachen.

Man könnte aber auch sagen, Katzenvölker und Hundevölker unterscheiden sich durch die unterschiedliche Enkulturation. Das ist die derzeit vorherrschende US-amerikanische Position. Die Schlussfolgerung ist, dass die Hundevölker die Katzenvölker zu Hundevölkern machen, qua Enkulturation - unter ihrer Herrschaft. Eine äußerst gefährliche und moralisch sehr angreifbare Position (vor allem dann, wenn das Hundevolk anderen eher als Katzenvolk erscheint). Man will da den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

Könnte nicht auch der ethische Willen in anderen Kulturen sich deswegen auf anderes richten, weil die von ihnen erkannten Situationen andere sind? Wobei wir nicht von vorn herein sagen können, wer die Situation umfassender erkennt?

Und damit zurück zur Drogenszene, denn das ist eine andere Kultur mit eigenen Normen und eigener Moral, die sich sorgfältig gegen die als bedrohlich empfundene bürgerliche Gesellschaft abgrenzt. Da kann man auch selber durchaus fragwürdig entscheiden.

Bei einem Junkie entdeckte ich eine frische Wunde am Hals. Gefragt, woher, sagte er, ein Mitbewohner seines Heimes habe ihn im Streit in den Hals gestochen. Bat mich jedoch inständig, niemandem etwas davon zu erzählen. Die typische Omertá. Na gut. Da er hochgradig suizidgefährdet war und Gewalt in der Szene nicht gar so unnormal ist, entschied ich mich, seinem Wunsch zu folgen. Ne Woche später war er trotzdem an Überdosis verstorben.

Problem war, der Mann, der ihn in den Hals gestochen hatte (unter Zeugen übrigens, die natürlich auch alles taten, die Sache zu verbergen) nahm ein halbes Jahr später eine Eisenstange, ging zum Bett eines Kumpanen und schlug ihn tot.

Hätte ich mit dieser Möglichkeit gerechnet, hätte ich natürlich anders gehandelt. Ich habe aber nicht damit gerechnet. Meinetwegen war ich zu dumm, diese Möglichkeit der Aggressivitätsentwicklung zu bedenken. Ändert aber nichts. Und damit haben wir eigentlich den Fall, dass der ethische Wille abhängig ist von der Erkenntnis, von der Erkenntnis, welche Entwicklung etwas in der Zukunft nehmen kann. Das gleiche gilt, wenn man eine Entscheidung in einem bestimmten Bereich für problemlos hält, die sich aber in einem Bereich, den man nicht überblickt, zur Katastrophe auswachsen kann und die man, hätte man ihn überblickt, so nie getroffen hätte.

Also, ohne die Erkenntnismöglichkeiten einzubeziehen, kann man brauchbare Aussagen über den ethischen Willen nicht treffen.

Mir ist übrigens kein Drogenabhängiger bekannt, der gemerkt hätte, dass er sich in die Abhängigkeit begibt. Die haben immer geglaubt, sie könnten im Gegensatz zu allen anderen aufpassen und die Sache mit dem Konsum im Griff halten (und beim ersten Turkey gedacht, sie hätten eine Grippe). Was m.E. Verbot und Zwang rechtfertigt: wer eine Entscheidung unter mangelndem Überblick trifft, dessen Entscheidung kann man nicht als verständig ansehen.

Es gibt aber noch einen anderen Punkt, auf den ich in diesem Zusammenhang hinweisen möchte: die Reue. Was ist Reue? Ist es nicht so, dass sie die Folge davon ist, dass man die eigenen vergangenen Handlungen unter einer anderen Perspektive betrachtet und deswegen auf einmal andere Zusammenhänge und Folgen sieht, die man zuvor nicht gesehen hat? Und dass man die Handlung nicht begangen hätte, hätte man sie damals unter der gleichen Perspektive wie heute gesehen?

Schließlich noch: die Rechtfertigung. Die ist sehr schwer von mangelnder Erkenntnis abzugrenzen. Man kann im Grunde alles vernünftig erklären, ohne dass dabei selbst bei größten Verbrechen mehr als paar erbärmliche Tröpflein Schuld für einen selber heraus kommen. Das geht problemlos. Vor Gericht ist so was leicht erklärbar. Aber wie ist es mit den ungefragten Rechtfertigungen, die man manchmal im ganz normalen Alltag (also, in der Drogenszene ist das jedenfalls häufig) zu hören bekommt? Sind sie nicht Indiz dafür, dass einer seine Entscheidungen und Handlungen schön redet - weil er weiß, dass sie nicht schön sind?

Also, die Sache mit dem unterschiedlichen Ethos, die ist imho noch nicht ausgemacht.

Fazit: wenn wir wissen wollen, worauf der ethische Wille sich richtet, dürfen wir nicht von der Situation ausgehen, wie wir sie sehen, sondern wir müssen von der Situation ausgehen, wie ein anderer sie sieht. Und die Möglichkeit einbeziehen, dass er die Wahl hat, pro Biologie oder pro Ethik zu entscheiden.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 17. Sept. 2005, 23:56 Uhr
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Hi, Sheelina und doc rudi,

erklärt doch mal bitte, warum die meisten nach Entgiftung und Therapie rückfällig werden.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von paul am 18. Sept. 2005, 01:00 Uhr
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on 09/17/05 um 23:56:18, Abrazo wrote:Hi, Sheelina und doc rudi,

erklärt doch mal bitte, warum die meisten nach Entgiftung und Therapie rückfällig werden.

Gruß



(Ersatz-Antwort)
Die Mediziner (nicht alle) und die Sozialrichter nannten es eine Krankheit, ich bin so grausam und nenne es schwachen Willen oder neutraler einen "software-Fehler" des Systems Mensch, der zum Systemabsturz führen kann.

Gruss
Paul


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 18. Sept. 2005, 02:16 Uhr
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Hallo an Alle.

@abrazo
schreibt: "im Grab büsst man nicht".
Die meisten Straftäter ziehen eine lebenslange Haftstrafe dem Tod vor. Machen sie das nur, weil sie sich lieber der Verantwortung stellen und büßen?

Weiter: "Er hätte den Notarzt nicht geholt. Er war ja bewusstlos *g*.
Schön, dann trägt er für dessen Kommen und damit die Kosten keine Verantwortung. Der Eid des Hippokrates ist nicht sein Problem, er hat ihn nicht zu verantworten. Also schadet er der Gesellschaft nicht und kann mit seinem Leben machen was er will. Wenn die Gesellschaft sich verpflichtet fühlt, ihm zu helfen, ist das Sache der Gesellschaft, nicht seine.

@Eberhard

definiert: "'Sucht' ist die Abhängigkeit von stark gesundheitsschädigenden Drogen, deren Konsum zwanghaft ist, weil eine Konsumunterbrechung zu Entzugserscheinungen führt."

Also, du beziehst dich ausschließlich auf Drogen, Spielsucht, Gefallsucht usw. rechnest du nicht dazu.
Gut, akzeptieren wir das.

Der entscheidende Punkt aber bleibt der Schaden gegenüber der Gesellschaft. Schadet er n u r sich selbst, kann ich keine moralische Verpflichtung gegenüber anderen erkennen und ob er sich selbst gegenüber moralische Verpflichtungen hat, ist nicht deine (unsere) Sache.

Es ist richtig, dass die Gesellschaft sich das Recht nehmen kann, Schäden durch Selbstzerstörern abzuwehren. Sie darf das aber nur, wenn ihr der Selbstzerstörer auch wirklich schadet. Zu sagen, du schadest uns, weil du uns gemäß unserer Moral zwingst, dir zu helfen, ist nicht akzeptabel.

Abgesehen davon steht eine genaue Schadensrechnung noch aus. Alkohol- und Nikotinsteuer sind nicht von Pappe.

Ergebnis: Wenn die Gesellschaft moralischen Druck auf Süchtige ausübt, so hat das den ausschließlichen Zweck, ihre Moralvorstellungen durchzusetzen. Es ist haargenau dieselbe Ebene, mit der zB. das Christentum früher (zum Teil auch nocht heute) den Wahren Glauben durchsetzte. "Der wahre Christ sorgt sich um das Seelenheil seines Nächsten". Die hier vorgebrachten Argumente kann man im Prinzip bei Augustin oder Thomas v. Aquin nachlesen, übrigens auch im Hexenhammer! [cheesy]

Gruß HP


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Sheelina am 18. Sept. 2005, 06:33 Uhr
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on 09/17/05 um 23:56:18, Abrazo wrote:Hi, Sheelina und doc rudi,

erklärt doch mal bitte, warum die meisten nach Entgiftung und Therapie rückfällig werden.

Gruß



Hallo Abrazo,

ich weiß nicht, ob die meisten tatsächlich rückfällig werden. Das hat zum Beispiel damit zu tuen, dass sie ja in die gleiche Welt, in die gleiche Gesellschaft, in die gleichen Verhältnisse entlassen werden, wo sie sich vorher auch schon drin befunden haben. Da kann gleiches natürlich auch wieder gleiches oder ähnliches auslösen. Man wird sozusagen an ein Mittel als Möglichkeit erinnert und diese Erinnerung damit gilt es umzugehen. Wobei vielleicht noch eine Chance darin liegen könnte, ähnlich des Methadon-Programmes, als Ersatz, auf die Ähnlichkeiten schon im Vorfeld des Griffes auf das Mittel, bevor es zur Sucht kommt, hinzuweisen. Und da kann bei der Intensität der Stofflichkeit einer Droge kaum ein anderes nichtstoffliches Mittel mit seiner Intensität mithalten. Deswegen sind die auch so mächtig.

Gruß
Lina

Gruß
Lina

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 18. Sept. 2005, 08:55 Uhr
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Hi, Sheelina,

du hast leider keine Ahnung.

Vor ca. 5 Jahren betrug die offizielle, von den entsprechenden Fachkliniken errechnete Rückfallquote bei Alkohol und Drogen 97%. Das heißt, kaum einer schafft es im ersten Anlauf.

Falsch ist auch, dass sie in die gleichen Verhältnisse zurück kehren, aus denen sie kamen. Das Einstiegsalter ist etwa zwischen 14 und 18 (nur bei Alkohol ist es öfter mal später). Wenn sie ca. 10 Jahre später aussteigen (wollen), haben sie Herz-Kreislaufprobleme, keine Zähne, Hepatiden, keinen Schulabschluss, keine Ausbildung, Vorstrafen, erhebliche Sozialisationsmängel, Ängste, Schuldgefühle, keine Beziehungen, kein Eigentum und dabei das Bild Gleichaltriger vor Augen, die sie von früher kennen und die uneinholbar an ihnen vorbei gezogen sind.

Methadon hat erhebliche Nachteile: es bringt keinen 'Kick' wie Heroin. Nicht wenige versuchen, sich diesen 'Kick' oder den Betäubungszustand durch Beikonsum zu verschaffen (wer sich mit Drogensucht befasst, muss immer im Auge behalten, dass Drogen Betäubungsmittel sind, die Gehirnfunktionen außer Kraft setzen). Was vor den behandelnden Ärzten und Therapeuten selbstverständlich sorgfältig verborgen wird. Lüge ist selbstverständlicher Alltag.

Zur WHO-Studie beim Schweizer Heroinabgabeversuch gab es eine Minderheitenmeinung (der die Studie auswertenden WHO-Experten), die der Auffassung war, maßgebend für den Erfolg sei nicht das Mittel, sondern die intensive Begleitung und Betreuung, die allerdings so aufwendig ist, dass es fraglich ist, ob sie außerhalb einer mit besonderen finanziellen und personellen Mitteln überhaupt geleistet werden kann (Hanspeter würde sie also alle verrecken lassen).

Unter zahlreichen Schwerstabhängigen kenne ich zwei, die es geschafft haben (so eingermaßen). Einen älteren Alkoholiker, den ich halb tot aus einem Zelt gezogen und per Krankenwagen in die Entgiftung transportieren ließ und ein Junkie-Frau, der man ihren Sohn entgültig wegnehmen wollte (nicht wenige schaffen es auch dann nicht). Der Alki wolllte nicht sterben und die Junkie-Frau ihren Sohn nicht verlieren. Voraussetzung bei beiden war, dass sie beide wussten, dass sie keine Chance hatten, ihr Ziel zu erreichen, wenn sie nicht ihre Willensfreiheit, ihre Autonomie ihren Helfern überantworten. Eine Sache, die mir ganz und gar nicht gefällt. Aber es scheint eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwöhnung zu sein.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 18. Sept. 2005, 09:36 Uhr
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Hallo allerseits,

Vorweg zum Verfahren: Ich bin kein Drogen- oder Suchtexperte und in dieser Diskussionsrunde geht es nicht um die Beantwortung der Frage: Was ist Sucht und wie bekämpft man sie am besten? Sondern es geht um eine Frage der Ethik: Hat sich jemand, der sich durch den Konsum von Suchtmitteln zu Grunde richtet, deswegen etwas vorzuwerfen? Und wenn ja, aus welchem Grunde? Ist sein Verhalten zu billigen? Und wenn nein, warum nicht?

Ich schlage vor, dass wir uns auf diese Frage beschränken und andere Fragen nur dann erörtern, wenn deren Beantwortung eine Vorraussetzung für die Beantwortung dieser Frage ist.

Also: Hat sich derjenige, der nach einigen Jahren Alkohol- oder Heroingenusses ein körperliches und geistiges Wrack ist, etwas vorzuwerfen?

Ich sehe dazu verschiedene Meinungen.

1. Dies geht niemanden etwas an, sofern er nur sich selber geschadet hat. Alles andere ist eine unzulässige Einmischung in die privaten Angelegenheiten eines Menschen unter einem zweifelhaften Vorwand nach dem Muster: Ich muss mich um dein Seelenheil kümmern, deshalb muss ich mich in alles einmischen, was du denkst und tust.

2. Dagegen steht der Einwand, dass niemand für sich allein in dieser Welt lebt und dass praktisch immer andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Fast jeder hat z.B. Eltern, die viel für ihn getan haben und deren Hoffnungen durch eine solche Suchtkarriere aufs tiefste enttäuscht werden. Entsprechendes gilt für Kinder oder Partner, die ebenfalls darunter zu leiden haben.

Dass eine solche Suchtkarriere die anderen zu kostspieliger Hilfe verpflichtet, ist dann relevant, wenn der Süchtige diese Hilfe selber als sein gutes Recht fordert oder auf diese Hilfe rechnet.

3. Durch Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit wird der normale Wille eines Menschen geschädigt. Seine Fähigkeit zur Selbststeuerung ist beeinträchtigt. Deshalb darf man diesen Menschen nicht sich selbst überlassen.

4. Jeder hat in sich ein Ethos, einen ethischen Willen hat, der - bei angemessener Wahrnehmung und Kenntnis der Sachlage - das Verhalten des Süchtigen missbilligt und einen selbst verpflichtet, helfend einzugreifen.

Um Ergänzungen und um Argumente für oder gegen diese Positionen

bittet Euch Eberhard.




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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 18. Sept. 2005, 10:02 Uhr
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Hi,

Gegenposition zu Argument 1: dieses Argument unterscheidet sich insofern nicht von dem des Augustinus, als dass ein theoretisches Modell vom Menschen vorgestellt wird (dem der Mensch gefälligst nachzukommen hat), das der Überprüfung in der Praxis nicht stand hält.

Den Menschen als Einzelwesen anzusehen ist reine Theorie und diese Theorie ist falsch. Mensch ist als Einzelwesen von Geburt an nicht lebensfähig, auch später nicht wegen unserer arbeitsteiligen Gesellschaftsorganisation. Daraus folgt: anzunehmen es sei möglich, sich selbst zu zerstören, ohne dass irgend ein anderer Mensch davon betroffen würde, ist Unsinn, weil et dat nicht jibt.

Dieser Unsinn wäre nur unter dem Postulat zu verwirklichen, du hast als Erwachsener als Einzelmensch zu leben. Das aber ist eine moralische Soll-Vorschrift, womit wir wieder bei Augustinus wären (gleiche Form, nur der Inhalt ist unterschiedlich).

Der Freiheit des Selbstzerstörers steht zudem der ethische Wille anderer gegenüber, der mit der Zerstörung von Menschen, auch der Selbstzerstörung, unvereinbar ist. Was ist mit deren Willensfreiheit? Will man sie etwa aus moralischen Gründen daran hindern, ihrem Gewissen zu folgen? Entsprechende Versuche gab es öfter mal. Abgesehen davon, dass sie alle langfristig gescheitert sind, setzen sie eine gesellschaftliche Ordnung voraus, die nicht der unsrigen entspricht.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von paul am 18. Sept. 2005, 11:48 Uhr
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ABRAZO

mir gefällt Dein Beitrag sehr gut, ich stimme allem zu, nur eine Anmerkung,
Dein Zitat:
<<Methadon hat erhebliche Nachteile: es bringt keinen 'Kick' wie Heroin. Nicht wenige versuchen, sich diesen 'Kick' oder den Betäubungszustand durch Beikonsum zu verschaffen (wer sich mit Drogensucht befasst, muss immer im Auge behalten, dass Drogen Betäubungsmittel sind, die Gehirnfunktionen außer Kraft setzen).>>

Die Opiatwirkung (Sammelbegriff) und der Kick führt zu einem Kernproblem der Süchtigen. Natürlich führen sie alle zu einer Art "Betäubung".
Und Methadon macht prinzipiell ebenso abhängig wie Heroin, das ist auch die Hauptkritik am ganzen Methadon-Konzept. Trotzdem gibt es einen grossen Unterschied zwischen "normalen" Abhängigen und süchtigen Menschen. Opiate werden schliesslich bei Krankheiten tonnenweise verabreicht, ohne süchtig zu machen und zwar nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig (Schmerztherapie) und ausser ein wenig Obstipation sind sie praktisch nebenwirkungsfrei, die Menschen führen ein weitgehend normales Leben, auch Berufsleben. Ist die Schmerzursache vorbei (was oft nicht möglich ist), kann man es auch wieder absetzen.
Bei sachgemässer Schmerztherapie wird dabei aber bewusst der Kick vermieden, das ist, einfach ausgedrückt, der schnelle Übergang von Schmerz zur Schmerzfreiheit. Es wird dauerdosiert und ggf. relativ hoch dosiert um eine Dauerschmerzfreiheit (ohne Kick) zu erreichen. Bekannt ist ein englischer berufstätiger Busfahrer, der täglich 600mg Morfin benötigt. Er ist nicht süchtig im Sinne der Drogensüchtigen.
Der Kick macht den Unterschied, der macht auch den Alkoholiker (dosisabhängig) und den Raucher (nicht dosisabhängig) aus.
Rehabilitation muss sich also auf den Verzicht auf den Kick konzentrieren, die reine Entgiftung der schweren! körperlichen Entzugssymptome ist vergleichsweise ein leichtes medizinisches Problem. Es geht um die Psyche.

@HP
zitat:
<<Abgesehen davon steht eine genaue Schadensrechnung noch aus. Alkohol- und Nikotinsteuer sind nicht von Pappe. >>

haha, die übliche Ausrede aller Raucher, völliger Quatsch, das ist oft genug ausgerechnet worden, natürlich ist der angerichtete (solidarisch getragene) Gesamtschaden wesentlich höher als alle Steuern.
Raucher produzieren neben vielen nicht tödlichen Erkrankungen (Kinder) mehr Tote als alle Kriege, alle Verkehrstote und noch AIDS auf der ganzen Welt zusammen genommen (WHO).
Raucher zeichnen sich mit ihrem Laster durch besondere Uneinsichtigkeit und Rücksichtslosigkeit aus, sie verlangen Toleranz ihrer nichtrauchenden Umgebung.
Dabei schafft es heute aber eine zunehmende Mehrheit erwachsener Männer, das Rauchen aufzugeben (Frauen weniger). Merkwürdigerweise ist das "ordentliche" Deutschland hier aber Schlusslicht aller "westlichen" Länder und unsere Regierungen waren bisher stolz darauf, die Einschränkungen bei der Tabakwerbung durch die EU (2x) verhindert zu haben. Ich denke, das ist nicht nur etwas verantwortungslos, sondern auch etwas inkompetent, dumm, so Politik aus dem Bauch, weniger aus dem Kopf. Sogar die "ungebildeten" Amerikaner sind hier etwas weiter, toleranter (grins).

Gruss
Paul

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 18. Sept. 2005, 13:15 Uhr
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Hallo Abrazo,

Du schreibst: „Der Freiheit des Selbstzerstörers steht … der ethische Wille anderer gegenüber, der mit der Zerstörung von Menschen, auch der Selbstzerstörung, unvereinbar ist. … Will man sie etwa aus moralischen Gründen daran hindern, ihrem Gewissen zu folgen?“

Interpretiere ich diese Äußerung richtig, wenn ich daraus folgere, dass für Dich das Gewissen des Einzelnen eine unfehlbare moralische Instanz ist und jeglicher moralischen Argumentation überlegen?

Deine Auffassung, dass es in jedem Menschen einen ethischen Willen gibt, der bei gleicher Sicht der Fakten zu intersubjektiv übereinstimmenden normativen Urteilen führt, kann ich nicht teilen.

Ich denke da etwa an die Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs.

Hier kommt das Gewissen der christlichen Fundamentalisten offensichtlich zu einem andern Urteile als mein Gewissen. Ich denke nicht, dass sich dieser Dissens durch eine Angleichung der Wahrnehmungen etc. beseitigen lässt.

Deshalb wäre es problematisch, wenn man jedem „Überzeugungstäter“ einen Freibrief ausstellen wollte. Ein solcher Freibrief trägt den Keim des Bürgerkrieges bereits in sich.

Position 4 ist deshalb keine Lösung des Problems, das die Moral gerade entschärfen soll: den zwischenmenschlichen Konflikt,

meint Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Sheelina am 18. Sept. 2005, 15:23 Uhr
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on 09/18/05 um 08:55:53, Abrazo wrote:Hi, Sheelina,

du hast leider keine Ahnung.




Mit Erlaub Abrazo, bist Du blöd oder was? Ich schrieb doch selbst schon:

"ich weiß nicht, ob die meisten tatsächlich rückfällig werden."

Deine weiteren Ausführungen habe ich natürlich nicht gelesen, weil sie mir an meinem Thema komplett vorbeigehen. Etwas, war da noch auf was ich da in Deinem vorherigen Text sehr gerne eingegangen wäre, aber Du scheinst ja Scheuklappen anzuhaben. Bin nicht interessiert, schon gar nicht an Argumentationen von Leuten, die meinen sie wüßten alles besser, Herr Schlaumeiergedönsrat. Klar, dass das Wesentlichste so für Deine Augen unsichtbar bleiben wird.

Keine Grüße
Lina

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Sheelina am 18. Sept. 2005, 15:30 Uhr
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Achso PS: Ich meinte Frau Schlaumeiergedönsrat, nicht Herr, falls Du darauf wert legst. Unverschämtes Balg... meint beurteilen zu können, wovon ich Ahnung habe, macht doch Euren Scheiß allein...

Zufrieden Gnädige Frau?

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 18. Sept. 2005, 16:01 Uhr
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Hallo an Alle,

@ paul.

Da kennst du im Falle des Rauchens die wirklich exakten Rechnungen leider nicht. Der Raucher ist ein Gewinn für die Gesellschaft. Die Wahrscheinlichkeit, dass er preisgünstig und rentensparend so um die 60 herum zB an Lungekrebs stirbt, ist groß. Und die Kosten, wenn er mit 80 zB an Altersdiabetes stirbt, sind sehr hoch....
Deinen Kommentar "Mörder" kannst du dir in diesem Zusammenhang übrigens sparen.

@ eberhard:

schreibt: "Dagegen steht der Einwand, dass niemand für sich allein in dieser Welt lebt und dass praktisch immer andere in Mitleidenschaft gezogen werden."

Das kann man so sehen, richtig. Die Konsequenz wäre aber dann letztlich der depressiv strukturierte Mensch, der immer nur überlegt, schadet mein Handeln in irgend einer Weise irgendwelchen anderen Menschen. Das aber ist keine Lebensgrundlage, jedenfalls keine, die mir erstrebenswert scheint.
Fast jede Handlungsweise schadet auch irgendwelchen anderen Menschen. Wenn du dich ins Auto setzt (Erdölverbrauch, CO2-Ausstoß), Ressourcen verbrauchst usw.

Wer sich aber mit einem recyclebaren Jutestrick aus ökologisch nachhaltigem Anbau, fairem Handel und garantiert frei von Kinderarbeit aufhängt, nützt der Gesellschaft: Keine Umweltbelastung, Arbeitsplatz wird frei, Rentenkasse wird entlastet, Erben freuen sich, Bestattungsunternehmen ebenso..... [grin] [grin] [grin] [grin] [grin]

Gruß HP

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Berny am 18. Sept. 2005, 17:06 Uhr
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Hallo Hanspeter und Interessierte,

oh du ganzheitlich rational denkender Vertreter eines scheinbar superradikalen Ökonomismus, bei dem selbst der Humor im Rhythmus einfach mitmuss!

Dir traue ich doch tatsächlich zu, dass du mit deiner Schocktherapie sogar den Unverstand „zu Grunde richten“ könnest!

Mit sonntäglichen Grüßen
Berny (BernhardLayer)

Ps. In einer Stunde schließen die Wahllokale. Richte ich mich oder einen anderen Menschen zugrunde, wenn ich nun doch noch zur Wahl gehe oder wenn ich es unterlasse?

Natürlich versuche ich abwägend zu bedenken, was meiner Überlegung und der Überlegung eines anderen zu Grunde liegt, der mir meine schwierige Überlegung heute überhaupt erst aufgenötigt hat.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 18. Sept. 2005, 17:14 Uhr
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Hi, Sheelina,

wie wärs damit?

http://www.benehmen-sie-sich.de/

Gruß



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Sheelina am 18. Sept. 2005, 17:46 Uhr
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Hol Dir noch nen Hund dazu Abrazo, dann braucht Deine Katze Dich auch nicht auf Menschen loszulassen. Gescheckt?

Danke reicht.

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 18. Sept. 2005, 21:42 Uhr
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Hallo,
Die Handlung "Selbstschädigung" ist Resultat zumindest zweier Ursachen:
Eine Ursache ist Wunsch des Menschen auf einen Rausch.
Hinzu kommt nun eine zweite Einwirkung als zweite Ursache der Wirkung "Selbstschädigung", nämlich die Wirkung der Droge: diese beeinträchtigt das Gedächtnis (der Konsument vergisst bestimmte Folgewirkungen), sie verändert die Wahrnehmung, auch die Selbstwahrnehmung, sie wirkt auf die Urteilsfähigkeit (Gefahren werden verkannt), sie wirkt auf die Emotionen (Angst wird z.B. nicht wahrgenommen) usw..
Um also von der Handlung "Selbstzerstörung" auf den zugrunde liegenden Entschluss des Menschen zurückzuschließen, muss Du erst einmal die Wirkung der Droge auf die Handlung abziehen, dann hast Du den Anteil des Willens des Betreffenden, der hinter dem Resultat "Selbstzerstörung" steckt.
Die erste Einnahme der Droge erfolgt sicher nicht, weil der Betreffende Entzugserscheinungen beabsichtigt. Die Drogeneinnahme des später dann Abhängigen erfolgt weder deshalb weil der Konsument die Entzugserscheinungen so schön findet oder weil er sich selbst zerstören will, sondern weil er normal sein will, weil er die Entzugserscheinungen weghaben will - oder weil er das anfängliche Rauscherlebnis sucht (je nach Suchtstadium oder Suchtmittel, siehe Linas Einwand, der sich mit meinem überschnitten hat). Er will, wenn das Stadium der Abhängigkeit erreicht ist, einfach nur die seine normale Funktionsfähigkeit störenden Entzugserscheinungen beseitigen (bei Heroin oder Alkohol) und erreicht als Nebeneffekt die Aufrechterhaltung der Sucht mit fortschreitender Selbstzerstörung. Dieses Ergebnis entsprach jedoch nicht seinem Willen.
Wieso vergeudet Ihr Zeit mit Unsachlichkeit anstatt Euch mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen?
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 18. Sept. 2005, 23:32 Uhr
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Hi,

@Paul: ich habe nicht die allergeringsten Einwände gegen den Einsatz von Opiaten bei der Schmerztherapie. Das sehe ich genau so wie du. Und eine vernünftige Dosis Opiate halte ich allemal für besser als eine lebensfeindliche Euthanasie-Diskussion, womit wir wieder beim Thema wären: wer als unheilbar Kranker wegen unerträglicher Schmerzen den Selbstmord will, dem sollte man doch lieber erst mal Opiate geben.

Aber den Kick sehe ich nicht als das Hauptproblem, zumal Langzeitabhängige erzählen, dass sie den Kick kaum noch kriegen. Schau, es gibt auch Alkohol-, Kokain-, Cannabis- (ja!) und Tablettenabhängige. Gerade bei letzteren ist es am offensichtlichsten: das vorrangige Ziel ist die Betäubung. Nicht mehr sehen müssen, nicht mehr denken müssen, nicht mehr alles mitbekommen müssen von sich und der Umwelt, in seinen Illusionen leben können, ohne mit der sich für ihn immer weiter verschlimmernden Realität leben zu können, das halte ich für das Hauptmotiv. Eine spezielle Form des Ausstiegs aus der Wirklichkeit zugunsten einer qua Betäubung abgeschirmten Egozentrik. In Kliniken und bei Therapiesitzungen ist das vielleicht nicht so offensichtlich, aber draußen, in der Szene, im locker-entspannten Gespräch, da ist es unübersehbar.

Wir finden dieses Phänomen ja auch in anderen suchtartigen Praktiken.

Ich habe die Szene als ein radikales Spiegelbild unserer Gesellschaft gesehen (deswegen war sie so interessant für mich), in dem viele Phänomene viel klarer und schärfer zutage treten. Ob Drogenabhängigkeit, zunehmende Brutalisierung, Missachtung der Zahlungsmoral, Ausbeutung von Arbeitnehmer und Staat durch Arbeitgeber, Sozial-, Steuer- und Versicherungsbetrug durch Bürger, ich sehe hinter allem einen gemeinsamen Nenner, der auch hinter manchen Diskussionsbeiträgen aufscheint: die Verweigerung von Pflichten. Pflichten sich selbst gegenüber, Pflichten seinen Mitmenschen gegenüber, Pflichten dem Dasein gegenüber. Viele Argumente lassen sich zu einem einzigen zusammenfassen: wahr oder nicht wahr ist mir wurscht, ich will einfach nichts und niemandem gegenüber Pflichten haben. Da wird dann auch der altehrwürdige Hippokratische Eid zu einer privaten Schrulle.

@Eberhard: du siehst die Sache zu einfach. Erstmal, nicht in allem, wo Gewissen drauf steht, ist auch Gewissen drin. Das Wort Gewissen hat einen hohen Rang, also wird es für allen möglichen Unfug missbraucht. Vor allem in Ideologien.

Interpretiere ich diese Äußerung richtig, wenn ich daraus folgere, dass für Dich das Gewissen des Einzelnen eine unfehlbare moralische Instanz ist und jeglicher moralischen Argumentation überlegen?
Nein, das sehe ich ganz anders. Zum einen ist das Gewissen (hier mal mit dem ethischen Willen gleichgesetzt) keine moralische Instanz, sondern eine ethische. Das heißt, es richtet sich nicht nach positiven (=gesetzten) Normen. Es ist spontan und intuitiv. Nicht erkennbar, sondern erfahrbar.
Die Frage nach der Individualität ist ja genau die, die m.E. zu prüfen ist. Eben mit der Frage: auf welche Situationen reagiert der ethische Willen? Ist diese Reaktion tatsächlich so individuell, wie behauptet? Oder handelt es sich nicht doch um eine spezifisch menschliche Reaktion? Was natürlich voraussetzt, dass das Individuum die Situation überhaupt erkennt.

Ich denke da etwa an die Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs.
Hier kommt das Gewissen der christlichen Fundamentalisten offensichtlich zu einem andern Urteile als mein Gewissen.
Ich denke nicht, dass der ethische Willen bewertet. Bewertung ist das Ergebnis einer Überlegung. Der ethische Wille überlegt nicht.
Aber nimm an, der ethische Willen richtet sich gegen sinnlose Zerstörung. Dann kann man eine Gegenrede zum Schwangerschaftsabbruch akzeptieren. Aber würden aggressive Akte bis hin zum Bombenlegen da hineinpassen? Mal abgesehen davon: wie rechtfertigen das denn Fundamentalisten? Mit ihrem Gewissen - oder mit ihrem Dogma? Das ist nicht dasselbe.

Deshalb wäre es problematisch, wenn man jedem &#8222;Überzeugungstäter&#8220; einen Freibrief ausstellen wollte. Wieso wäre denn das die Konsequenz?

Wenn du zwischenmenschliche Konflikte vermeiden willst, dann zeig mir erst mal, wie du das machen willst. Auf welche Instanz willst du dich berufen bei der allgemeinen Anerkennung? Denk daran, ich halte es keineswegs für eine Tatsache, dass der ethische Willen rein individuell ist. Individuell ist die Erkenntnis der Sachlage - aber das ist was anderes.

Gruß





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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 19. Sept. 2005, 01:44 Uhr
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Hallo Rudi,

wenn ich mich recht erinnere, gab es einmal Gruppierungen, die allen Ernstes ein gesetzlich verankertes Recht auf einen Rausch forderten.

Vielleicht wäre es ja für manche besser, sich zu betrinken, als zur Wahlurne zu schreiten! [cheesy]

Gruß HP

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 19. Sept. 2005, 07:58 Uhr
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Hallo Hanspeter,
ich glaube, es war im Rahmen der Diskussion um die Haschischfreigabe, dass ein Richter das Argument vortrug, dass es ein Recht auf Rausch gibt, das er aus dem Grundgesetzt - freie Entfaltung der Persönlichkeit - ableitete.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 19. Sept. 2005, 10:08 Uhr
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.... wenn es die ver sklavung fördert
wird selbst das oberste ge richt hier zu lande

es er lauben !




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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 19. Sept. 2005, 14:32 Uhr
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Danke Rudi,

ich erinnere mich ebenfalls!
Also, freie Entfaltung der Persönlichkeit - meine Worte. [applause] [applause] [applause]

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 19. Sept. 2005, 17:59 Uhr
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Hallo allerseits,

ich versuche mal, ein paar Dinge zu klären.

Doc rudi, Du beklagst, dass zu wenig auf deine Argumente eingegangen wird. Was mich betrifft, so liegt der Grund darin, dass du eine andere Fragestellung verfolgst. Dir geht es um den Nachweis, dass lebendige Systeme keinen Willen zur Selbstzerstörung in sich tragen.

Das ist eine ganz andere Frage als die ethische oder moralische Frage, (ich gebrauche beide Worte synonym) ob man ruhig zu sehen darf, wie sich Leute selber zu Grunde richten.

Abrazo, Du willst herausbekommen, wann und wie sich der von dir postulierte ethische Wille im Menschen zeigt (Auf welche Situationen reagiert der ethische Willen? Ist diese Reaktion tatsächlich so individuell, wie behauptet? Oder handelt es sich nicht doch um eine spezifisch menschliche Reaktion?).

Ich halte dies für eine Frage, die nur durch eine empirische Untersuchung zu beantworten ist, die wir hier aber nicht leisten können.

Was wir hier tun können, ist, dass wir bestimmte normative Behauptungen (ich benutzte einmal dies neutrale Wort) wie z. B. „Jeder hat das Recht, sich selbst zu schaden, so viel er will, und da hat ihm niemand hinein zu reden“ nehmen und fragen, welche Gründe es für oder gegen diese Behauptung gibt.

Dagegen gab es das Argument, dass jede Selbstzerstörung auch andere in Mitleidenschaft zieht, schon weil man Eltern und Angehörigen hat.

Dem wurde entgegnet, dass es dann überhaupt keine freie Selbstentfaltung geben könne, weil durch jede noch so banale Tätigkeit irgendein anderer irgendwie betroffen wird.

Hier muss man meines Erachtens die moralische und die rechtliche Ebene unterscheiden:
Was moralisch geboten sein kann, muss nicht gleichzeitig auch rechtlich geboten sein.

Moralische Sensibilität ist in der Tat für jede Handlung angebracht. Die Rücksichtnahme auf andere und eine Abwägung der beteiligten Güter bzw. Interessen ist moralisch immer geboten. Insofern kann es kein moralisches Recht auf bedingungslose Selbstentfaltung geben.

Andererseits wäre es unsinnig, entsprechende rechtliche Normen aufzustellen. So ist es sinnvoll, bestimmte Bereiche abzugrenzen, über die jeder allein bestimmen darf, weil sonst unlösbare ständige Abstimmungsprobleme mit anderen entstehen würden.

Dies ist einer der Gründe für die Institution des Eigentums. Über sein Eigentum darf jeder nach Belieben verfügen. Der Wille des Eigentümers setzt die Norm, und diese Norm ist von jedermann zu respektieren.

Ein solches Eigentum ist außerdem eine Bedingung dafür, dass überwiegend eigeninteressierte Wesen, wie es Menschen nun mal sind, sich bei der Arbeit anstrengen. Schließlich wollen sie etwas von ihren Mühen haben, sei es eine Ernte nach der Saat, sei es Mich von der gut gefütterten Kuh, sei es das monatliche Gehalt auf dem Konto für den Stress des beruflichen Alltags.

Es kann also sein, dass ich rechtlich volle Verfügungsgewalt über mein Eigentum habe und dass ich gleichzeitig eine moralische Verpflichtung habe, einen Teil davon für wertvolle Vorhaben zu spenden.

Die Frage ist, ob es sich bei den Drogenwracks um den Fall handelt, dass ich mein Auto anlasse und dadurch Dieselruß ausstoße, oder ob ich einen defekten Diesel-LKW fahre, der die hinter ihm fahrenden Autos in schwarzen Rußwolken verschwinden lässt.

Ersteres wäre ein Fall für die Moral (Denk beim Kauf eines Autos auch an die drohende Klimakatastrophe für kommende Generationen). Letzteres wäre ein Fall für das Recht (Verstoss gegen die Abgasvorschriften).

Es grüßt Euch Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 19. Sept. 2005, 19:28 Uhr
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Hi Eberhard,
Du meinst: "Dir geht es um den Nachweis, dass lebendige Systeme keinen Willen zur Selbstzerstörung in sich tragen."
Ich glaube kaum, dass ich dies hier prinzipiell nachweisen könnte. Diese These könnte hier jedoch falsifiziert werden, insofern enthalten meine Beiträge ein Risiko für meine Philosophie lebender Systeme.
Deine Gleichsetzung des Beobachteten: es gibt Personen, die sich durch ihr süchtiges Verhalten selbst zugrunde richten (ohne weiteres eine wahre Beobachtung, die ich teile),
mit der inhärenten Schlussfolgerung: dieser Effekt ist vom Drogensüchtigen beabsichtigt, es gebe hier einen Entschluss zur Selbstzerstörung, ist eine falsche Voraussetzung für die Frage nach der Ethik des Verhalten und des Eingreifens durch andere.
Auch Abrazos Annahme eines ethischen Willens zäumt das Pferd vom Schwanz auf.
Aus meiner Sicht kann die Diskussion zu keinem allgemein nachvollziehbaren Ergebnis kommen und wird sich im Kreis drehen, wenn die Grundannahmen nicht zutreffend sind.

Im letzten Beitrag gehst Du auf unseren Eigentumsbegriff ein: "Über sein Eigentum darf jeder nach Belieben verfügen. Der Wille des Eigentümers setzt die Norm, und diese Norm ist von jedermann zu respektieren."
In unserem Rechtssystem ist auch dies andersherum geregelt, und ich würde vorschlagen, vom allgemein verbindlichen Eigentumsbegriff auszugehen. Nämlich: das, worüber Du verfügen kannst und darfst, ist Dein Eigentum (und umgekehrt). Aber es gilt auch der Grundsatz: Eigentum verpflichtet. Nicht Dein Wille setzt hier die Normen, sondern die Allgemeinheit: wenn Dein Eigentum schaden anrichtet (z.B. wenn ein morscher Ast Deines Baumes herunterfällt und einen vorbeigehenden Fußgänger verletzt), musst Du den Schaden zahlen usw.. Eine andere Verpflichtung, auf die Du schon hingewiesen hast, ist die Abgabe eines Teils Deines Geldeigentums zum Nutzen der Gemeinschaft (das Zahlen von Steuern). Das ist eben keine moralische Verpflichtung, sondern rechtlich ein Muss. Übrigens bist Du auch zur Hilfeleistung in Notfällen rechtlich verpflichtet: Du musst erste Hilfe leisten, sonst machst Du Dich einer Unterlassungstat schuldig (unterlassene Hilfeleistung).
In Notfällen musst Du dem Drogensüchtigen helfen, wenn Du kannst.
Dein Körper gilt allerdings als Dein Eigentum, deshalb ist Selbstmord nicht strafbar. In anderen Ländern ist das anders geregelt.
Gruß
rudi



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 19. Sept. 2005, 21:42 Uhr
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Hi,

gut, dass du, Eberhard, die Rechtsnormen einbringst. Rechtsnormen sind Spielregeln unserer Gesellschaft.

Nun verlangst du aber zusätzlich noch moralische Normen. Wozu? Womit willst du die begründen? Im Falle des Drogenkonsums mit den gesellschaftlichen Schäden? Gut. Aber was folgt daraus? Dass einer, der Drogen bis zur Sucht konsumiert, moralisch falsch handelt. Na und? Interessiert ihn das? Deine Ansicht, aber nicht seine. Und was soll daraus folgen? Eine neue Rechtsnorm? Welche? Drogen sind bereits illegal.

Wenn moralische Normen anerkannt werden sollen, brauchen sie eine Begründung. Eine Begründung, die jeder Mensch, dem man sie in beiderseits vernünftigem Gespräch darlegt, auch einsieht. Sonst sind sie nichts wert. Reines Blahblah. Deswegen bestehe ich auf dem ethischen Willen, der etwas spezifisch Menschliches ist. Oder hast du eine andere Begründung?

Moralische Normen müssen freiwillig einsichtig sein, oder auch, einleuchten. Das unterscheidet sie von Rechtsnormen. Wem die Rechtsnormen nicht einleuchten, der wird, wenn er keine überzeugenden Argumente für seine Sicht bringen kann, vom Gericht dazu gezwungen, sich trotzdem nach ihnen zu richten, widrigenfalls. Geht bei moralischen Normen nicht.

Ich habe übrigens erhebliche Zweifel, ob der ethische Willen empirisch erforschbar ist. Zum einen sind etliche, die man als Probanden befragen könnte, längst vermodert, zum anderen wird eine entsprechende kritische Situation in Laboratmosphäre kaum herstellbar sein - und wenn sie künstlich hergestellt wird, ist sie kaum allgemein glaubhaft.

Ich denke schon, dass man da nicht umhin kommt, seinen analytischen Grips zu bemühen und zu fragen, welche Voraussetzungen muss eine Theorie haben, damit sie nicht zu den gegenwärtigen oder bezeugten vergangenen Tatsachen in Widerspruch gerät.

In diesem Sinne:
Moralische Sensibilität ist in der Tat für jede Handlung angebracht.
Warum?

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 19. Sept. 2005, 23:40 Uhr
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Hallo Abrazo,
herzlichen Glückwunsch zu Deiner Einsicht.
Dass unsere Rechtsnormen die Spielregeln unserer Gesellschaft sind, darauf hatte ich mit diesen Worten bereits hingewiesen, und die gleiche Frage wie Du gestellt, nämlich wozu wir moralische Normen noch benötigen.
Meine Frage geht noch weiter und an Dich:
Wozu benötigst Du noch einen ethischen Willen?
Beides ist von der Geschichte überholt.
Die moralischen Normen und die Ethik hatten eine bestimmte Funktion für den Zusammenhalt eines lebenden Systems höherer Ordnung.
Diese Funktion ist inzwischen von unseren Rechtsnormen übernommen worden.
Sie nützen dem friedlichen Zusammenleben der Menschen.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Hanspeter am 20. Sept. 2005, 01:09 Uhr
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Abrazo schreibt:

"Rechtsnormen sind Spielregeln unserer Gesellschaft. Nun verlangst du aber zusätzlich noch moralische Normen. Wozu?"

In einer Demokratie sollte das Recht ein Spiegel der moralischen Vorstellungen der Bevölkerung sein, klar. Doch das Recht kann die Moral nicht ersetzen.
Jeder Verheiratete hat zB. das Recht, sich scheiden zu lassen. Ob eine Scheidung aber stets moralisch gerechtfertigt ist, steht auf einem anderen Blatt.

Insofern ist es vernünftig, den Menschen ein "Recht auf einen Rausch" (= Selbstzerstörung) zuzugestehen. Wie die Inanspruchnahme dieses Rechts aber im jeweiligen Einzelfall zu bewerten ist (= Prüfung ihrer Moralität), kann nur eine Einzelfalluntersuchung (= Güterabwägung) bringen.

Gruß HP

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 20. Sept. 2005, 08:25 Uhr
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Hi,

@doc rudi:
Wozu benötigst Du noch einen ethischen Willen?
Die Antwort ist ganz einfach: weil es ihn offenbar gibt.
Es ist unredlich, sich aus einzeln herausgegriffenen Phänomenen Theorien zusammen zu basteln, denen beobachtete Phänomene in der Wirklichkeit widersprechen oder die sie ignorieren.

Ich erwähne vor allem drei:

1. Menschen beurteilen ihr und fremdes Handeln. Dabei richten sie sich offenbar nach anderen Maßstäben, als in der Natur üblich.
2. Es gibt Religionen. Zu ihren zentralen Inhalten gehört die Annahme eines Gottes, der im Kern ethische Gesetze gibt und ihre Nichteinhaltung über den Tod hinaus bestraft, die also ultimativen Anspruch haben. Wichtig ist nicht die Frage, warum solche Religionen erfunden wurden, sondern, warum sie geglaubt wurden und sich allgemein verbreitet haben (wobei man bei der Untersuchung dieser Frage ein bisschen über die Zinnen des deutschen Elfenbeinturmes schauen muss).
3. Es gab Menschen, die trotz im wesentlichen gleicher Sozialisation aus ethischen Gründen vehement Einspruch einlegten gegen offenbar allgemein als üblich angesehene Praktiken und dabei durchaus den eigenen Tod in Kauf nahmen, was, im Gegensatz zum landläufigen Selbstmord, sogar als ehrenwert galt und gilt.

Eine Moraltheorie, die darauf basiert, dass sie solche Phänomene ignoriert, taugt nichts, weil sie irreal ist.

@Hanspeter:
In einer Demokratie sollte das Recht ein Spiegel der moralischen Vorstellungen der Bevölkerung sein, klar.
Eine Diskussion darüber, wie Normen sein sollen, finde ich nicht besonders prickelnd. Unser modernes Recht basiert zudem letztlich auf dem Römischen Recht und geht sogar zurück auf Drakon und Solon. Ein ziemlich kontinuierlicher Entwicklungsprozess, der die meiste Zeit nicht in Demokratien stattfand. Welche moralischen Vorstellungen werden im BGB oder im HGB gespiegelt?

Doch das Recht kann die Moral nicht ersetzen.
Die Frage lautet, gerade in der Gegenüberstellung Recht und Moral, warum es so etwas wie Moral überhaupt gibt, wodurch ihre Vorstellungen letztlich begründet sind.

Gruß


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 20. Sept. 2005, 09:53 Uhr
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Hallo doc rudi,

Du vertrittst die Ansicht, das Recht habe die Moral abgelöst, die man nun nicht mehr benötige.

Dies ist meiner Ansicht nach falsch, aber vielleicht beruht unser Dissens nur auf einem unterschiedlichen Gebrauch der Worte.

Für mich ist eine rechtliche Norm daran zu erkennen, dass diese Norm staatlich sanktioniert und durchgesetzt wird. „Wer x tut, wird mit y bestraft“. Die Wirkung der Rechtsnorm beruht auf dem angedrohten Übel.

Der Satz: „Man sollte die Rechtsnormen einhalten, auch wenn man sie ungestraft übertreten könnte“ ist jedoch keine Rechtsnorm. Wozu rechnest Du diese Norm?

Viele Probleme sind wegen der unvermeidlichen Schwerfälligkeit der rechtlichen Institutionen nicht „justiziabel“ und werden nach „ungeschriebenen Gesetzen“ geregelt. Das Auge und der Arm des Rechts reichen bekanntlich nicht überall hin.

Wozu rechnest Du Normen wie: „In einer Diskussion soll man andern nicht ins Wort fallen“
oder „Sei hilfsbereit und rücksichtsvoll“?

fragt Dich Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 20. Sept. 2005, 10:02 Uhr
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> Du meinst: "Dir geht es um den Nachweis, dass lebendige Systeme keinen Willen zur Selbstzerstörung in sich tragen."
Ich glaube kaum, dass ich dies hier prinzipiell nachweisen könnte. Diese These könnte hier jedoch falsifiziert werden, insofern enthalten meine Beiträge ein Risiko für meine Philosophie lebender Systeme.



.... der grund

warum sich eine tier art immer selber zer stört
ist folgender >>>>

da frau immer ihre eitel keit im spiele hat
keine zu kunft

müßen immer viel männer mit ein ander konkurieren
diese ein bildung zu liefern

und da dies mit dem tod aller ausser einem endet ........

und frau dann nicht mehr ge liebt wird
weil sie die männer gegen seitig auf hetzt
wird sie nicht mehr leben wollen

damit ist diese tier art aus ge storben !

alles klar ?



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 20. Sept. 2005, 12:57 Uhr
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Hallo Abrazo,

Du schreibst:
“Wenn moralische Normen anerkannt werden sollen, brauchen sie eine Begründung. Eine Begründung, die jeder Mensch, dem man sie in beiderseits vernünftigem Gespräch darlegt, auch einsieht. Sonst sind sie nichts wert. ... Deswegen bestehe ich auf dem ethischen Willen, der etwas spezifisch Menschliches ist. Oder hast du eine andere Begründung?“

Ausgangspunkt ist für mich ein tatsächlicher oder möglicher Konflikt zwischen dem, was die verschiedenen Individuen wollen und tun. Menschen, die miteinander Konflikte haben und die versuchen, ihren Willen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen, bringen sich gegenseitig in Gefahr und sind nicht in der Lage, die Vorteile der Zusammenarbeit wahrzunehmen.

Wer dies nicht will, wer die Konflikte nicht durch überlegene Macht entscheiden lassen will, der muss nach Regelungen suchen, die für alle Beteiligten konsensfähig sind, von denen also alle Beteiligten überzeugt werden können.

Grundlage der Moral ist für mich also der Wille, Konflikte gewaltfrei zu lösen, indem man zu Regelungen gelangt, die den Interessen aller Beteiligten gerecht werden. Das heißt, es müssen moralische und rechtliche Normen gefunden werden, die Ausdruck eines gemeinsamen Wollens sind.

Ich bezweifle, dass dies dadurch erreicht werden kann, dass jeder auf den ethischen Willen hört, also auf das, was landläufig als „Gewissen“ oder „innere Stimme“ bezeichnet wird. Auf jeden Fall müsste dies Phänomen, das sich Deiner Meinung nach empirischer Untersuchung entzieht, noch näher bestimmt werden.

Aus dem Willen zur gewaltlosen Einigung lassen sich meines Erachtens weitere Kriterien ableiten, z.B. die Forderung nach Unparteilichkeit und Personunabhängigkeit der Normen und ihrer Begründungen.

Inwieweit die gefundenen Normen in Rechtsnormen umgesetzt werden sollten, ist dabei eine nachgeordnete Frage.

Soviel erstmal von Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 20. Sept. 2005, 19:26 Uhr
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Hallo allerseits,

machen wir die von Hanspeter geforderte Unterscheidung zwischen Fällen, wo andere in Mitleidenschaft gezogen werden und wo dies nicht der Fall ist.

Angenommen, jemand schadet durch seinen Drogenkonsum wirklich nur sich selbst, ruiniert seine Gesundheit und geht einem vorzeitigen Ende entgegen.

Man würde sich wohl weitgehend einig sein, dass dieser Mensch falsch gehandelt hat, und wenn der Betreffende selber ehrlich Bilanz zieht, dann wird er wohl zu demselben Ergebnis kommen.

Aber hat er moralisch falsch gehandelt? Kann man ihn einen schlechten Menschen nennen? Ich glaube nicht. Eher wird man ihn einen (willens-)schwachen Menschen nennen.

Er wird sich in seinen klaren Momenten Vorwürfe machen, wird seine Drogenkarriere vielleicht bereuen, wird sich als Versager fühlen, aber nicht als moralisch schlechter Mensch.

Dagegen ist die Frage: Darf man tatenlos zusehen, wie sich ein Mensch in seiner Sucht selbst zerstört? eine moralische Frage.

Hier neige ich dazu, dass in diesem Fall eine moralische Verpflichtung zur Hilfeleistung besteht – auch gegen den erklärten Willen des Süchtigen, denn er ist zu keiner „vernünftigen“ Entscheidung und zu keiner Selbststeuerung im Sinne dieser Entscheidung mehr fähig.

Könnt Ihr damit leben? fragt Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 20. Sept. 2005, 23:32 Uhr
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Hi, Eberhard,

Grundlage der Moral ist für mich also der Wille, Konflikte gewaltfrei zu lösen, indem man zu Regelungen gelangt, die den Interessen aller Beteiligten gerecht werden. Das heißt, es müssen moralische und rechtliche Normen gefunden werden, die Ausdruck eines gemeinsamen Wollens sind.
Missverstehe mich nicht, ich meine es wirklich nicht als ironischen Angriff - aber dieses Zitat erinnert mich nur an eines: an das diplomatische Protokoll. Allerdings hat das nach allgemeinem Verständnis überhaupt nichts mit Moral zu tun. Es sind alt hergebrachte, ausgefeilte, international anerkannte Verhaltensregeln, landläufig auch Manieren oder Benimm genannt, die genau damit begründet werden: Konflikte gewaltfrei zu lösen, in dem alles, was zu persönlichen Animositäten führen könnte, qua Regel von vorn herein verhindert wird. Nichts anderes hat das ganze komplizierte höfische Reglement im Sinn.

Aber unter Moral verstehen wir doch halbwegs etwas, was mit dem zu tun hat, was gut ist. Damit hat das Protokoll aber nun gar nichts im Sinn. Vielmehr klammert es genau diese Frage sorgfältigst aus, denn - das ist eine ganz gefährliche Streitfrage.

Aus protokollarischer Sicht (m.E. ein nicht uninteressanter Aspekt) darf man sich also mit gut und böse überhaupt nicht befassen, wenn man Konflikte gewaltfrei lösen will.

Allerdings - schau dir unsere Asis an. Hältst du es praktisch für möglich, protokollarische Verhaltensnormen, die fast schon eine Wissenschaft und hoch kompliziert sind, auf unsere Gesellschaft zu übertragen?

Und auch hier ein Hinweis auf die Praxis:
Angenommen, jemand schadet durch seinen Drogenkonsum wirklich nur sich selbst, ruiniert seine Gesundheit und geht einem vorzeitigen Ende entgegen.
Wie kann einer durch Drogenkonsum nur sich selbst schaden? Er muss sie sich beschaffen, geht auf die Dauer nur illegal, denn sie sind verboten. Deine Annahme wäre also nur möglich unter der Voraussetzung, dass Selbstzerstörung durch unfachmännische Selbstmedikation zum Zwecke des Missbrauchs legalisiert werden würde. Eine ethische und juristische Frage, bei der man auch die Konsequenzen bedenken muss.

Zur Zeit jedenfalls sieht es so aus (und das würde auch bei einer Legalisierung so weiter gehen, denn Alkohol ist legal, und da sieht es graduell nur leicht abgeschwächt genau so aus), dass nur sich selbst schaden in aller Regel ausgeschlossen ist. Denn Süchtige brauchen viel Geld, sind aber kaum arbeitsfähig. Also beschafft ein Süchtiger sich das nötige Geld auf moralisch höchst fragwürdige Weise, weiß auch, warum, weswegen er sich in klaren Momenten durchaus moralisch schuldig fühlt.
In den Komplex unseres realen gesellschaftlichen Lebens gestellt wird die Frage also unsinnig.
Was nützt uns die Erörterung moralischer Probleme anhand unmöglicher Sachverhalte?

Gruß



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 20. Sept. 2005, 23:53 Uhr
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Hallo Eberhard!


Quote:Dagegen ist die Frage: Darf man tatenlos zusehen, wie sich ein Mensch in seiner Sucht selbst zerstört? eine moralische Frage.
Hier neige ich dazu, dass in diesem Fall eine moralische Verpflichtung zur Hilfeleistung besteht – auch gegen den erklärten Willen des Süchtigen, denn er ist zu keiner „vernünftigen“ Entscheidung und zu keiner Selbststeuerung im Sinne dieser Entscheidung mehr fähig.



Vor einer solchen gutgemeinten Entmündigung möchte ich dringend warnen. Selbsternannte Vernünftige sind keinesfalls dazu berechtigt (oder gar moralisch verpflichtet!), sich über den erklärten Willen anderer hinwegzusetzen und in deren Lebensgestaltung - natürlich nur "helfend" - einzugreifen.
Wie so oft, wo im Namen von Vernunft und Moral (oder Gott) gesprochen wird, sehe ich hier latente Machtgelüste aufscheinen. ("With God on our side.") Wenn ich dergleichen höre, bin ich heilfroh, dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem moralische Ansichten Privatsache sind und Selbstbestimmung ein so ein hohes Rechtsgut ist.

Die Entmündigung, die hier moralisch legitimiert werden soll, ist eine dreifache:
Erstens wird vorausgesetzt, dass man im Besitz eines verbindlichen Begriffs von gutem Leben ist, so dass man auch als Beobachter glaubt beurteilen zu können, wann jemand sich "zugrunde richtet".
Zweitens wird der "erklärte Wille" des Betroffenen übergangen.
Drittens wird ihm überhaupt die Fähigkeit abgesprochen, für sich selbst zu sprechen und zu entscheiden. (Dies wiegt am schwersten.)

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Der Rede "im Namen der Vernunft" (oder im Namen anderer "höherer" Instanzen) ist grundsätzlich zu misstrauen - und dieses gesunde Misstrauen stand auch Pate bei der Konzeption des modernen Rechtsstaates. Denn diese "höheren" Instanzen leiden unter dem strukturellen Mangel, dass sie nicht selbst sprechen können. So braucht Gott fehlbare menschliche Individuen, die seine Worte auslegen und seinen allweisen und allgütigen Ratschluss verkündigen müssen. Nicht anders ist es mit der "intersubjektiv" gültigen und verbindlichen Vernunft: Sie kann immer nur durch Individuen sprechen, die "fehlbar" insofern sind, als sie niemals nur von vernünftigen Motiven angetrieben werden.

Dieser chronische Mangel "höherer" Instanzen führt dazu, dass die "Stimme der Vernunft" (oder des Anstandes oder der Moral oder Gottes...) im faktischen Spiel der Meinungen mit schöner Regelmäßigkeit Partei ist. Und wenn man 5 Politiker verschiedener Couleur oder Wissenschaftler oder Philosophen miteinander streiten hört, stellt man rasch fest, dass jeder von ihnen "im Namen der Vernunft" spricht, oft sogar nach bestem Wissen und Gewissen. Die rechtsstaatlichen Konsequenzen aus diesem Strukturproblem sind das institutionalisierte freie Spiel der Meinungen und Kräfte, "one man, one vote", Gewaltenteilung, Ausübung der Gewalt durch abwählbare Mandatare, Revidierbarkeit von Entscheidungen usw. Zu vertraut ist eben der Anspruch einzelner, irgendwie doch verbindlich "für alle" zu sprechen statt nur für sich.

Schöne Grüße
Urs










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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 21. Sept. 2005, 08:53 Uhr
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Hallo Abrazo,

mich erstaunt es, dass Du den „Willen, Konflikte gewaltfrei zu lösen, indem man zu Regelungen gelangt, die den Interessen aller Beteiligten gerecht werden“ als ein Prinzip ansiehst, das dem diplomatischen Protokoll zugrunde liegt.

Das diplomatische Protokoll hat seinen Sinn doch darin, störende Reibungsverluste zufälliger Art im Umgang miteinander zu vermeiden. Aber mit der Sache, der Regelung der Interessenkonflikte, hat das Protokoll doch überhaupt nichts zu tun.

Du hast in einem früheren Beitrag geschrieben:

„Wenn moralische Normen anerkannt werden sollen, brauchen sie eine Begründung. Eine Begründung, die jeder Mensch, dem man sie in beiderseits vernünftigem Gespräch darlegt, auch einsieht.“

Ich gehe davon aus, dass Menschen Interessen haben, deren Erfüllung sie anstreben. Deshalb könnten sie umso eher einer normativen Regelung zustimmen, je mehr diese Regelung ihren individuellen Interessen entspricht.

Damit stellt sich die Frage:

Wie kann ein Mensch einsehen und deshalb freiwillig zustimmen, dass es nicht nach seinen Interessen gehen soll sondern gemäß bestimmten moralischen Normen?

Ich würde zu diesem Menschen sagen:

Wenn Du eine Situation der sozialen Kooperation willst und wenn Du nicht die Konfliktaustragung mit allen verfügbaren Mitteln willst, dann musst Du eine Regelung finden, der die andern ebenfalls zustimmen können und die damit den Konflikt friedlich löst.

Wenn die andern zustimmen sollen, dann kannst Du aber nicht auf Deinen individuellen Interessen beharren, sondern musst bei der Formulierung der Norm die Interessen der andern Beteiligten unparteiisch und wohlwollend so berücksichtigen, wie Du es mit Deinen eigenen Interessen tust.

Wie ich Dich bisher verstehe würdest Du zu diesem Menschen sagen:

Folge nicht Deinen Interessen sondern höre auf Deinen ethischen Willen. Die Norm, die Deinem ethischen Willen entspricht, entspricht auch dem ethischen Willen der andern. Deshalb ist mit der Berufung auf den ethischen Willen eine allgemein einsichtige Begründung dieser Norm möglich.

Habe ich Dich richtig verstanden?

fragt Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 21. Sept. 2005, 10:02 Uhr
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..... wenn ihr doch aber dumm sein sollt !

arbeit schaffen !
für das arbeits lager ....

mit bürger ver sklaven nach diesem sibirien !
sonst dürft ihr keine katastrophen mehr kreieren ........



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 21. Sept. 2005, 11:50 Uhr
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Hallo Urs,

ich freue mich, dass Du unsere Runde mit Deinen Argumenten bereicherst. Deine Warnung vor den Gefahren, die mit der Ermöglichung einer Entmündigung verbunden sind, halte ich für begründet.

Aber ich denke, wir kommen nicht umhin, eine solche Möglichkeit ins Auge zu fassen und nüchtern das Für und Wider zu erörtern. Ich bin da für alle Argumente offen.

Vorweg: In der letzten, von Dir zitierten Formulierung hatte ich weggelassen, dass diese Entmündigung des Süchtigen immer nur zeitlich begrenzt erfolgen darf und nach dem Abschluss des Zwangsentzuges automatisch aufgehoben wird. Dann hat der Betroffene auch die Gelegenheit, zu sagen, ob er nachträglich mit dem Zwangsentzug einverstanden ist oder nicht.

Damit ist deutlich, dass letztlich das betreffende Individuum selber darüber entscheidet, was zu seinem Wohl ist und was nicht.

Wenn stattdessen jemandem aufgrund seiner Suchtkrankheit prinzipiell die Fähigkeit abgesprochen wird, für sich selber zu sprechen und Träger gültiger Argumente zu sein, so wird damit einer erkenntnisorientierten Diskussion die Grundlage entzogen. Denn jedes Argument des für unmündig Erklärten kann durch den Hinweis entkräftet werden, dessen Meinung zähle nicht, weil er unter dem Einfluss der Droge zur vernünftigen Einsicht nicht fähig sei.

Das heißt jedoch, dass man sich gegenüber dem Entmündigten der Pflicht zu einer intersubjektiv nachvollziehbaren Begründung entledigt hat und dass das Verhältnis zum Entmündigten ein Gewaltverhältnis ist, das höchstens verbal verbrämt wird.

Dies ist das Problem, wenn man jemandem eine prinzipielle Unmündigkeit unterstellt.

Ich denke andererseits, dass man wegen der Möglichkeit des Missbrauchs zumindest eine zeitlich begrenzte Entmündigung nicht völlig ausschließen sollte. Dafür ist das Elend unter den Süchtigen zu groß und dafür sind die Betroffenen am Anfang ihrer Drogenkarriere auch noch zu jung.

Unser Rechtsstaat, der von Dir lobend erwähnt wird, sah früher im § 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Möglichkeit der Entmündigung durch Gerichtsbeschluss vor. Dieser Paragraph ist inzwischen gestrichen worden.

Es gibt jedoch weiterhin die Möglichkeit einer „Rechtlichen Betreuung“ (§§ 1896 ff.) Dort heißt es: „Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Vormundschaftsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer.“ Und: „Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht.“

Es grüßt Dich Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von paul am 21. Sept. 2005, 14:05 Uhr
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on 09/18/05 um 16:01:04, Hanspeter wrote:Hallo an Alle,

@ paul.

Da kennst du im Falle des Rauchens die wirklich exakten Rechnungen leider nicht. Der Raucher ist ein Gewinn für die Gesellschaft. Die Wahrscheinlichkeit, dass er preisgünstig und rentensparend so um die 60 herum zB an Lungekrebs stirbt, ist groß. Und die Kosten, wenn er mit 80 zB an Altersdiabetes stirbt, sind sehr hoch....
Deinen Kommentar "Mörder" kannst du dir in diesem Zusammenhang übrigens sparen.



du irrst gewaltig, lieber HP, aber manche können die Wahrheit nicht verkraften. Die Rechnung hab ich hier schon früher mal erläutert, lies halt mal nach, sie ist eindeutig, ebenso bedienst Du ein längst widerlegtes Vorurteil der hohen Medizin-Kosten alter Menschen. Es ist vielmehr nachgewiesen (beschämend), dass bei der exakt gleichen Erkrankung, sagen wir Herzinfarkt, bei alten Menschen (70) erheblich weniger Aufwand getrieben wird, als bei einem 50.-jährigen (das kann man in Euro oder Dollar beziffern).
Wenn Du noch einen Restfunken Moral hättest, würdest du einsehen, dass die Rente im wesentlichen kein Almosen ist sondern selbst verdiente frühere Leistung, sei es nun die direkte eigene Einzahlung in die Rentenkasse, oder die "kostenlose" Aufzucht der Kinder, bis diese denn mal soweit sind was zu leisten.
An der Generationenverantwortung hat sich also im Prinzip überhaupt nichts geändern, sie wird nur durch "Kollektivierung" soweit verschleiert, das Du und andere "Solipsisten" sie nicht mehr erkennen können, oder wollen. Dies ist natürlich auch ein Versäumnis der Politik.
Pardon, musste einfach mal gesagt werden, da hier so viel von Moral geschrieben wird.

Gruss
Paul



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 21. Sept. 2005, 23:26 Uhr
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Hi, zusammen,

ich möchte mal paar Positionen kritisierend zusammenfassen:

Menschen, die miteinander Konflikte haben und die versuchen, ihren Willen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen, bringen sich gegenseitig in Gefahr und sind nicht in der Lage, die Vorteile der Zusammenarbeit wahrzunehmen. (Eberhard)
Das gilt in der Praxis für die Schwächeren, nicht aber für die Starken. Starke nehmen die Vorteile der Zusammenarbeit dadurch wahr, dass sie sich ein Gefolgschaftsrudel schaffen. Wie im Tierreich: wer dem Leitwolf folgt, kommt sicherer durchs Leben. Schau dir unsere Leitwölfe an: glaubst du, du kannst bei ihnen den Willen zur gewaltfreien Einigung voraussetzen (Gewalt muss ja nicht immer Bracchialgewalt sein)? "Wenn man es voraussetzen kann" - und wenn nicht?

Gegenargument: wenn der Leitwolf stark, aber dämlich ist, kann er das Rudel auch ins Verderben führen. Weswegen ein verständiger, kritischer Mensch immer lieber der Vernunft trauen wird, als einem Leitwolf. Allerdings - ein solcher Mensch ist selber stark und ggf. leitwolfgeeignet.

Ich erinnere hier an Nietzsche und an seine beißende Kritik an der christlichen Moral und ihrer Förderung des Kranken und Schwachen.

Selbsternannte Vernünftige sind keinesfalls dazu berechtigt (oder gar moralisch verpflichtet!), sich über den erklärten Willen anderer hinwegzusetzen und in deren Lebensgestaltung - natürlich nur "helfend" - einzugreifen. (Urs)
Woher weißt du denn, Urs, dass es ihr erklärter Wille ist? Und was bedeutet hier Wille? Was will er denn? Worauf bezieht sich sein Wille? Nach meiner Erfahrung bezieht sich dieser Wille immer auf eine Welt, die es so gar nicht gibt. Denn von dieser Welt werden unter Drogeneinfluss nur Bruchstücke wahrgenommen, vermischt mit Halluzinationen, Gedankengänge sind unzusammenhängend, Wahrnehmungslücken werden durch Bezüge überspielt, die es gar nicht gibt - also, der Wille ist unsinnig, weil er sich auf Unsinniges richtet. Wobei der Unsinn keine Meinung ist, sondern nachweisbar.

Lasst uns keine fiktiven Ideen diskutieren. Bleiben wir doch in der Wirklichkeit. Fragen wir doch, bevor wir das Was-wäre-wenn diskutieren, ob dieses Was-wäre-wann überhaupt möglich ist. Es gibt auch keine Fälle an sich, keine moralischen oder sonstigen Probleme an sich. Alle diese Fälle, diese Probleme stehen in einem Kontext mit der Welt, und den sollten wir doch nicht übersehen, sonst führen wir unsinnige Diskussionen.
Hier steht das Problem Hilfe oder nicht bei Drogensüchtigen zur Debatte. Drogensüchtigen ist es nun mal zueigen, mit einem teilweise betäubten Gehirn herum zu laufen. Da kann man nun mal nicht unkritisch von einem Willen sprechen, den man gleichberechtigt neben den Willen nicht betäubter Gehirne setzen kann. Das ist zwar gut gemeint, aber irreal.

Ähnliches gilt für deine durchaus stimmige und zutreffende Kritik an der von Konfliktparteien behaupteten Vernunft, in deren Besitz sich jeder alleinig wähnt. Gut. Aber trifft dieses Argument denn auf unser banales Alltagsbeispiel zu?

Ich gehe davon aus, dass Menschen Interessen haben, deren Erfüllung sie anstreben. Deshalb könnten sie umso eher einer normativen Regelung zustimmen, je mehr diese Regelung ihren individuellen Interessen entspricht. (Eberhard)
In einer gut bürgerlichen Gesellschaft kannst du davon ausgehen. Aber wie viele Gesellschaften sind denn gut bürgerlich? Wie oft kommt es denn vor, dass normative Regelungen den individuellen Interessen überhaupt nicht entsprechen, dass sie demjenigen nur ein Hindernis sind, der problemlos in der Lage ist, seine individuellen Interessen ohne solche Normen viel besser und eher durchzusetzen? Wenn wir über Moral sprechen, hat es keinen Sinn, davon auszugehen, dass die Menschheit nur aus ungefähr gleich starken, gleich gewaltlosen, gleich vernünftigen Leuten besteht, denn genau das ist nicht der Fall.
Das ist ein Ideal, ähnlich der vollkommenen Konkurrenz in den Wirtschaftswissenschaften. Es wird für Theorien bemüht, obwohl jeder weiß, dass es das in der Realität gar nicht gibt.

Wie kann ein Mensch einsehen und deshalb freiwillig zustimmen, dass es nicht nach seinen Interessen gehen soll sondern gemäß bestimmten moralischen Normen? (Eberhard)
Eben. Das ist die Frage.

Wenn Du eine Situation der sozialen Kooperation willst und wenn Du nicht die Konfliktaustragung mit allen verfügbaren Mitteln willst, dann musst Du eine Regelung finden, der die andern ebenfalls zustimmen können und die damit den Konflikt friedlich löst.
Und wenn er das nicht will?

Folge nicht Deinen Interessen sondern höre auf Deinen ethischen Willen. Die Norm, die Deinem ethischen Willen entspricht, entspricht auch dem ethischen Willen der andern. Deshalb ist mit der Berufung auf den ethischen Willen eine allgemein einsichtige Begründung dieser Norm möglich. (Abrazo)
Nein, das würde Abrazo nicht sagen.
Ich teile ja durchaus deine Absicht, zu einleuchtenden moralischen Normen zu gelangen. Was ich nur behaupte ist, dass du sie so, wie du es tust, nicht begründen kannst.
Das heißt, der ethische Wille ist kein Ersatz für eine moralische Norm (er kann ihr allerdings widersprechen), sondern Begründung für moralische Normen. Das ist eine andere Ebene.
Ich kann einem Menschen in ruhigem, vernünftigem Gespräch sagen, ok. Du hast vor, das und das zu tun. Es entspricht deinem Interesse. Damit sind die und die Konsequenzen für dich und andere verbunden und ihm argumentativ nachweisen, dass sie eine logisch zwingende Folge sind. Erst wenn ich ihn so zu einer die Gesamtheit überblickenden Verstandesperspektive gebracht habe, kann ich fragen: willst du das? Vorher ist diese Frage vollkommen sinnlos - denn der ethische Wille ist in seiner Richtung von der umfassenden Kenntnis der Tatsachen abhängig.
Unser Problem, nämlich zu einleuchtenden moralischen Normen zu gelangen, ist damit allerdings nicht gelöst. So etwas sind nur Lösungen für Einzelfälle (und nicht jeder kann solche Gespräche führen). Anders gesagt: für die Masse der Einzelfälle ist so etwas keine Lösung.

Übrigens solltest du die Macht der Ethik nicht unterschätzen. Die sich noch nicht mal in Worten mitteilen muss. Ein unbedingter, entschiedener ethischer Wille hat eine Ausstrahlung, die kann, im richtigen Moment eingesetzt, Totschlag verhindern. Dat jibbet.

Gruß





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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 22. Sept. 2005, 10:16 Uhr
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..... also ich könnte ge rade zu bei den nürnberger ge setzen .......

weil ihr habt genauso wenig die ab sicht
eine ethik der wahr heit zu er schaffen

wie eh und je ........

ihr seid vor denker einer besseren schlechtig keit !

und deshalb werdet ihr aus sterben
weil eines tages selbst euerer dumm heit wird es
be wußt werden

wie schlecht euere ab sicht ........



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 22. Sept. 2005, 22:12 Uhr
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Hallo Abrazo,

es ist richtig, dass es soziale Kooperation auch ohne die Bereitschaft zum zwangfreien Konsens aller Beteiligten gibt und insofern ist meine Argumentation hier korrekturbedürftig.

Ein extremes Beispiel ist die kriminelle Bande, deren Mitglieder (nach einer internen Bandenmoral) kooperieren, und die die dadurch gewonnenen Handlungsmöglichkeiten zu ihrem eigenen Vorteil und zum Schaden der anderen einsetzt.

Die Zusammenarbeit von Teilen der Betroffenen führt bei Orientierung am jeweiligen Gruppeninteresse zum Konflikt zwischen den so gebildeten Gruppen. Und dieser Konflikt kann bis zum Bürgerkrieg führen.

Hier ist ein „vernünftiger“ Konsens deshalb weiterhin eine ernstzunehmende Alternative.

Denkbar wäre auch der Fall, dass ein starkes Subjekt (sei es ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen) seinen Willen allen Beteiligten aufzwingt. Dadurch wäre nicht nur eine allgemeine Kooperation ermöglicht sondern es würde auch die gewaltsame Austragung von Konflikten unter den Individuen und Gruppen vermieden. Es bliebe allerdings die Unterdrückung von Gegnern dieser Herrschaftsordnung.

Eine solche Ordnung ist unter Umständen dem Bürgerkrieg und dem Zerfall der sozialen Einheit vorzuziehen.

Wenn eine derartige Herrschaftsordnung etabliert ist, wenn Ruhe die erste Bürgerpflicht ist und ein Staatssicherheitsdienst jeden Widerstand im Keim erstickt, ist es im eigenen Interesse aller Beteiligten, sich konform zu verhalten.

Aber wollen wir eine solche Ordnung, deren einzige „Begründung“ im Verweis auf die Machtverhältnisse und die drohenden Sanktionen für Ungehorsame besteht?

Was macht demgegenüber eine „gerechte“, „vernünftige“ oder „moralische“ Ordnung aus?

Meiner Meinung nach ist das besondere an einer solchen Ordnung, dass man sie zwangfrei bejahen kann, dass man ihre Geltung und die Pflicht zu ihrer Befolgung ohne Drohungen rechtfertigen kann.

Ich breche hier erstmal ab.

Wir sind hier an einem zentralen Punkt unseres Selbstverständnisses als Gesellschaft und Gemeinwesen angelangt. Wie man sich hier entscheidet, hat meines Erachtens weit reichende Konsequenzen.

Es grüßt alle Interessierten Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 23. Sept. 2005, 10:40 Uhr
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> Ein extremes Beispiel ist die kriminelle Bande, deren Mitglieder (nach einer internen Bandenmoral) kooperieren, und die die dadurch gewonnenen Handlungsmöglichkeiten zu ihrem eigenen Vorteil und zum Schaden der anderen einsetzt.


... jetzt hat eberhard aber wirklich seine bande
einmal richtig be schrieben !

klasse !!!

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 23. Sept. 2005, 12:45 Uhr
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Hallo Eberhard, HansPeter, abrazo u. sonstige Mitstreiter,
ich empfehle GEOkompakt Nr.4, Titel: Die Evolution des Menschen (kostet leider 8 Euro). Zitat auf S.35: "Im Grunde haben alle Verhaltensweisen, die wir bei Menschen beobachten, ihre Wurzeln bereits bei den Menschenaffen oder noch früher." (Gottfried Hohmann, Primatenforscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie).
Wir beobachten bestimmte Verhaltensweisen.
Das sind Tatsachen (auf der Beobachtungsebene).
Alles andere, was wir daraus schlussfolgern, z.B. einen Willen zu ethischem Handeln anzunehmen, sind Hypothesen, auch wenn sie bereits 2000 Jahre alt sind.
Gruß
rudi




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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von psi am 23. Sept. 2005, 15:39 Uhr
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abrazo,


on 09/17/05 um 16:16:20, Abrazo wrote:Hi, Psi,
Ethik, Moral, Sitte und Brauch - letzteres übrigens auch ein juristischer Begriff - sind klar unterscheidbare Begriffe. Ich hab was dagegen, mit Begriffen Eintopf zu kochen.



keiner mag begriffseintopf. aber erstens ist dein gebrauch von und insbesondere deine unterscheidung zwischen ethik und moral eben nicht allgemeine praxis. zweitens ist die übersetzung von ethik und moral eben nun mal die sitte. auch die sitte ist ein juristischer begriff. was darunter zu verstehen ist ist aber immer einigermassen nebulös. mit sittenwidrigkeit wird auch nur dann ein urteil begründet wenn man angst haben muss das gerichtsgebäude würde sonst gestürmt.
es schadet mitunter nicht sich daran zu erinnern was diese begriffe ethik und moral bedeuten. und das ist nunmal sitte.
das ist keine wortspielerei sondern spielt von anfang an in der "philosophie der ethik" eine entscheidende rolle. man kann das gerne bei aristoteles nachlesen.

gruss

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 23. Sept. 2005, 17:00 Uhr
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Hi, Psi,

wenn man definierte Termini gebraucht, befasst man sich nicht mit ursprünglichen Wortbedeutungen, weil man durch diese Umdefinition die Einigung auf eine Bedeutung aufheben würde und damit den Dialog über diesen Terminus.

Ich habe bereits gesagt, dass ich das Wort Ethik verwende wie Moore und Wittgenstein: Ethik ist die allgemeine Untersuchung dessen, was gut ist. Es gibt auch andere Definitionen, aber ich habe nun mal klar gestellt, dass ich diese verwende.

Moralen bestehen im Gegensatz dazu aus Soll-Vorschriften.

Sitte umfasst im üblichen Sprachgebrauch vor allem Benehmen und Manieren, die nicht allzu viel mit dem Guten zu tun haben. Es ist weder eine Frage von Ethik noch von Moral, wer wen zuerst zu begrüßen hat oder wie bei einem Diner der Tisch gedeckt wird.
Ein juristischer Terminus ist Sitte nicht. Zwar taucht er im OWiG in Form von 'sittenwidrig' auf, jedoch so gut wie ausschließlich in sexuellem Zusammenhang.

Brauch hingegen ist noch ein juristischer Terminus. Er taucht im HGB als Handelsbrauch auf. Juristischer Terminus insofern, als er stillschweigend Vertragscharakter hat, also bindend ist.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 23. Sept. 2005, 17:50 Uhr
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Hallo allerseits,

wichtig für das Verständnis von Moral ist m.E. der Unterschied zwischen einem Befehl, den man im eigenen Interesse befolgt, und einer moralischen Norm, die man aus begründeter Einsicht befolgt.

Dieser Unterschied wird auch dadurch verdeckt, dass beide Fälle mit den gleichen Worten beschrieben werden. In beiden Fällen ist von „vernünftig“, „rational“, „einsichtig“, „Anerkennung“ und „Geltung“ die Rede.

Der Räuber, der einem nächtlichen Passanten die Pistole in den Rücken drückt und dabei fordert: „Her mit der Brieftasche!“ verleiht seiner Forderung mit der Pistole Nachdruck. Vielleicht sagt der Räuber noch: „Sei vernünftig und mach keine Spirenzchen! Wenn Dir Dein Leben lieb ist, dann gib den Zaster her – aber sofort!“

Es ist für den Überfallenen tatsächlich „vernünftig“ im Sinne von „es entspricht unter den gegebenen Umständen seinem eigenen Interesse“, den Befehl des Räubers zu befolgen, denn er verzichtet lieber auf seine Brieftasche als auf sein Leben.

(In diesem eingeschränkten Sinne von „dem eigenen Interesse entsprechend“ werden die Worte „rational“ bzw. „rationality“ auch im Englischen benutzt.)

Die Norm: „Her mit der Brieftasche!“ besitzt für den Überfallenen auch eine (faktische) „Geltung“ und er „erkennt sie an“, indem er sie befolgt. Unter dem Gesichtspunkt seines Eigeninteresses ist für den Überfallenen auch „richtig“, die Brieftasche herauszugeben. Denn er hat „eingesehen“, dass in diesem Fall Widerstand oder Flucht aussichtslos sind.

Es gibt jedoch keine Verpflichtung des Überfallenen, die Brieftasche herauszugeben. Der Befehl besitzt keinerlei Gültigkeit, er gilt zwar faktisch, aber seine Geltung ist nicht gerechtfertigt. Sowie die Drohung entfällt – z.B. weil der Überfallene merkt, dass es sich bei der Pistole nur um eine Attrappe handelt – gibt es keinen Grund mehr zur Befolgung dieser Norm. Durch Veränderung der Kräfteverhältnisse ist die Norm „Her mit der Brieftasche!“ weder rational, noch einsichtig, noch vernünftig, noch besitzt sie Geltung.

Nehmen wir demgegenüber eine Situation, wo ein Autofahrer einen offenbar verunglückten Motorradfahrer schwer verletzt am Rande der Landstraße liegen sieht und er sich mit der Norm konfrontiert sieht: „Auch wenn Du eigentlich keine Zeit hast und in Eile bist: Es ist Deine Pflicht, anzuhalten und Dich um den Verunglückten kümmern.“ (Dass unterlassene Hilfeleistung bei uns auch ein Straftatbestand ist, sei einmal ausgeklammert.)

Die Verpflichtung zur Hilfeleistung gegenüber einem Verunglückten ist unabhängig von den wechselnden Macht- bzw. Stärkeverhältnissen „einsichtig“ „vernünftig“ oder „richtig“. Die Geltung dieser Verpflichtung kann ohne Sanktionen begründet werden.

Ich halte diese Ausführungen selber nicht für das Gelbe vom Ei, aber vielleicht ist dennoch deutlich geworden, was ich meine.

Es grüßt Euch Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 23. Sept. 2005, 22:20 Uhr
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Hi zusammen, hi Eberhard,

lass mich zuerst dein zweites Posting erörtern.

Deine Argumente widerlegen m.E. die These, Moral oder Ethik hätten sich aus den Interesselagen von Einzelnen oder Gruppen oder gar der Gesellschaft entwickelt.

Nebenbei bemerkt: wie bestimmt/erkennt man die Interessen der Gesellschaft?

Wichtig erscheint mir der Hinweis auf das vernünftige Handeln. Es ist im Interesse aller potentiellen Opfer (natürlich nicht im Interesse aller potentiellen Täter) eines Raubüberfalles, diesen unter Strafe zu stellen. (Wie du ebenso vernünftig begründen willst, warum man keinen Raubüberfall begehen soll, wenn man die Möglichkeit dazu hat und er nicht unter Strafe steht, das weiß ich allerdings nicht und nur das wäre eine moralische Begründung.) Es ist aber ebenso vernünftig und im Interesse des akuten Opfers, den Raubüberfall nicht nur zu dulden, sondern ihm sogar zum Erfolg zu verhelfen - indem man die Brieftasche heraus rückt. Urteilt die Vernunft im Einklang mit der Moral? Oder zeigt dieses Beispiel nicht auch, dass der Vernunft moralische Normen im Ernstfalle herzlich gleichgültig sind?

Wenn dies der Fall wäre: wie könnte es dann vernünftige Moralen geben? Oder ist nicht das Wort Moral ebenso doppeldeutig? Das erinnert jetzt an Wittgenstein, der feststellte, dass manche Wörter, 'gut' zum Beispiel, immer in zwei Bedeutungen gebraucht werden: einer relativen - das ist ein guter Stuhl - und einer absoluten - das ist ein guter Mensch -. So könnten wir auch dem Opfer sagen: es war gut, dass du ihm die Brieftasche gegeben hast. Aber meinen tun wir damit die relative Bedeutung von gut. So, wie wir auch die relative Bedeutung von gut meinen, wenn wir dem Täter sagen würden: es war gut, dass du ihn mit der Waffe bedroht hast, denn so bist du ohne Probleme an sein Geld gekommen.
Ist nicht 'gut' im relativen Sinne beinahe Synonym für vernünftig und sinnvoll? Aber mit Ethik hat das nichts zu tun, auch nicht mit der meist mitgedachten Bedeutung von Moral.

Mein zweiter Gedankengang hierzu: wie wichtig ist das für unsere Diskussion? Denn das Opfer wird zwar der Gewalt weichen und die Brieftasche heraus rücken, aber es wird doch deswegen die Tat nicht billigen. Seine persönliche Ansicht dazu bleibt trotz Gewalt unverändert.

Aber: das muss nicht zwingend so sein. Herrn Hunds Opfer, Rüden, den er verprügelt und unterworfen hat, machen meist nicht den Eindruck, dass sie das als 'Unrecht' empfinden. Sie weichen ihm ehrerbietig aus, es sei denn, es droht Gefahr von einem anderen großmächtigen Kerl. Dann suchen sie seine Nähe, denn wer sie verprügeln kann, ist stark und bietet Schutz.

Ist das bei etlichen Menschen so viel anders (denk an die Mafia)? Litten und fluchten die mittelalterlichen Bauern nicht unter der Fron ihrer Grundherren, und lehnten sich meist dennoch nicht auf, weil sie in diesen unsicheren Zeiten bei Gefahr in die Zwingburg fliehen konnten? Was schuf und garantierte den Freien Reichsstädten die Freiheit? Die Stadtmauer. Die brauchten keinen Burgherren, die lebten selber in einer Burg.

Wie weit ist also die Gültigkeit moralischer Normen abhängig von der Freiheit vor Not und Bedrohung? Der kölner Kardinal Frings erlaubte den Kohlenklau zur Sicherung lebensnotwendiger Bedürfnisse. Ein Beispiel übrigens für Differenzen zwischen Ethik und Moral. Moralisch war der Kohlenklau eher schlecht; ethisch unproblematisch.

Nur in der Freiheit von Not und Unterdrückung kann sich das Menschliche voll entfalten.

Du sagst:
Die Verpflichtung zur Hilfeleistung gegenüber einem Verunglückten ist unabhängig von den wechselnden Macht- bzw. Stärkeverhältnissen "einsichtig" "vernünftig" oder "richtig". Die Geltung dieser Verpflichtung kann ohne Sanktionen begründet werden.
Dann begründe doch mal!

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 23. Sept. 2005, 23:08 Uhr
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Hi,

zu Eberhards obigem vorhergehenden Posting:

Es gibt dazu eine Gegenposition, die längere Zeit recht erfolgreich war:

(Das Ziel war es, die Menschen zu befreien vom Zwange eines zum) "... Selbstzweck gewordenen Geistes, von den schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigungen einer Gewissen und Moral genannten Chimäre und von den Ansprüchen einer Freiheit und persönlichen Selbständigkeit, denen immer nur ganz wenige gewachsen sein können. Der christlichen Lehre von der unendlichen Bedeutung der menschlichen Einzelseele und der persönlichen Verantwortung setze ich mit eiskalter Klarheit die erlösende Lehre von der Nichtigkeit und Unbedeutendheit des einzelnen Menschen und seines Fortlebens in der sichtbaren Unsterblichkeit der Nation gegenüber. An die Stelle des Dogmas von dem stellvertretenden Leiden und Sterben eines göttlichen Erlösers tritt das stellvertretende Leben und Handeln des neuen Führergesetzgebers, das die Masse der Gläubigen von der Last der Entscheidung entbindet.
Hitler zu Rauschning.

Entscheidung kann eine Last sein. Vor allem dann, wenn man die Verantwortung dafür gar nicht übernehmen kann, weil man zu wenig von den Dingen weiß. Ich z.B. würde mich weigern darüber zu entscheiden, ob ein psychisch kranker Straftäter aus der Forensik entlassen werden soll oder nicht, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne; ich verstehe davon zu wenig. Auch hierzu gibt es ja eine altehrwürdige Ansicht: Platon, der Philosophenstaat, in der nur diejenigen diktatorische Entscheidungsbefugnis haben, die von der Sache etwas verstehen.

(Angesichts der Wahlergebnisse sage ich allerdings, dass der gesammelte Verstand der Bürger unseres Staaten um einiges größer ist als der etlicher praktizierender Politiker.)

Gegen die Diktatorenargumente setze ich zwei, erst mal probeweise subjektiv:

1. Aber wollen wir eine solche Ordnung, deren einzige "Begründung" im Verweis auf die Machtverhältnisse und die drohenden Sanktionen für Ungehorsame besteht?
Nö.

2. Wenn ich mangels Wissens über eine Angelegenheit nicht entscheiden kann, kann ich sie mir immer noch erklären lassen. Das ist jedoch mühsam und kostet Gehirnschmalz. Die Alternative wäre jedoch die (sehr wahrscheinliche) Möglichkeit, dass eine Diktatur mich und die ganze Gesellschaft dazu zwingt, unmoralische, der Ethik widersprechende, unmenschliche Entscheidungen und Taten zu dulden oder gar mitzumachen - und das will ich nicht verantworten.

In einem autoritären Staat ist mir ein gut Teil persönliche Freiheit genommen. Na und? Kann man sagen, musste dich halt anpassen oder: ertrage es zum Wohle des Ganzen, Staatsraison.

Aber das ist imho nicht der springende Punkt. Der springende Punkt ist, in einer Diktatur besteht kein einfach und gefahrlos auszuübendes Mitspracherecht, kein legitimes Widerstandsrecht, wenn die Menschlichkeit, die Ethik missachtet wird. Und das wird sie zwangsläufig. Daran bin ich als ruhiger, mitlaufender Bürger dann mitverantwortlich und mitschuldig. Das Risiko ist mir zu groß.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 24. Sept. 2005, 04:10 Uhr
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Hallo Rudi!

Reden wir nicht drumherum: Im Grunde SIND wir Schimpansen. Der Unterschied zwischen ihnen und uns beträgt nur 1,3 %. Das ist nichts!

Trotzdem erführe ich ZU gern, wie die "Wurzel" jener absonderlichen menschlichen Verhaltensweise, die man "Evolutionsbiologie treiben" nennen könnte, bei unseren schwarzfelligen Artgenossen aussieht.

Einstweilen hoffe ich, dass unsere Primatenforscher nicht insgeheim von ihren Studienobjekten abschreiben...


Schöne Grüße
Urs



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 24. Sept. 2005, 08:05 Uhr
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Hi Urs,
die 1,3% beziehen sich auf den Unterschied in der genetischen Speicherung von Erfahrung.
Sie reichen für den Sprung vom Schimpansen zum Menschen aus, bei dem das Entscheidende ist, dass er seine Erkenntnisse hirnextern speichern kann.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 24. Sept. 2005, 10:24 Uhr
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..... und ich sage euch !
ihr ver wechselt immer ursache und aus wirkung !

weil der geist !

hat die änderung bei der genetik er wirkt
nicht die genetik

den geist .......



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 24. Sept. 2005, 22:24 Uhr
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Hi, doc rudi,

Sie reichen für den Sprung vom Schimpansen zum Menschen aus, bei dem das Entscheidende ist, dass er seine Erkenntnisse hirnextern speichern kann.

Meinst du damit, ein paar Schimpansen haben irgendwann einmal Schreiben gelernt und sich daraufhin zu Menschen entwickelt?

[smiley=atomicplus.gif]

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 24. Sept. 2005, 22:36 Uhr
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Hallo allerseits,

ich will noch mal zusammenfassen, wo wir uns in der Diskussion gegenwärtig befinden.

Wir sind – ausgehend von der konkreten moralischen Frage – („Was macht man angesichts von Menschen, die ihre Gesundheit und ihr soziales Leben durch Rauschmittel ruinieren?“) – bei der übergeordneten Frage angelangt, wie man überhaupt Antworten auf moralische Fragen finden kann und was die geeigneten Kriterien für die Richtigkeit solcher Antworten sind.

Wir diskutieren dazu verschiedene Positionen.

Die eine Position geht von einem „ethischen Willen“ im Menschen aus, der – vorausgesetzt die Sachlage ist geklärt und bekannt – eine einheitliche Stellungnahme hervorbringt. Ich nenne diese Position einmal die „intuitionistische Position“ in der normativen Ethik.

Für diese Position, die es in der Geschichte der Moralphilosophie in verschiedenen Varianten gibt („moral sense“, „Werteschau“ etc.) spricht, dass wir in uns soziale Impulse vorfinden wie Gewissensbisse, Mitleid, Identifizierung mit dem Schicksal anderer, Gerechtigkeitsgefühl, moralische Empörung, Dankbarkeit, mütterliches oder väterliches Gefühl, Hilfsbereitschaft, Opferbereitschaft, Idealismus oder Bereitschaft zur Ein- und Unterordnung. Diese Impulse sind offensichtlich nicht das Ergebnis von Denkprozessen.

Gegen eine Gründung der normativen Ethik auf den „Ethischen Willen“ bzw. den „moralischen Sinn“ spricht, dass dieser ethische Wille von Individuum zu Individuum und von Kultur zu Kultur unterschiedlich stark ausgebildet ist und inhaltlich nicht einheitlich ist (was allerdings erst noch zu belegen wäre).


Die andere Position geht von dem aus, was Menschen wollen, oder anders ausgedrückt: von ihren Interessen. Dabei müssen diese Interessen nicht unbedingt nur auf das eigene Wohlergehen gerichtet sein, sondern können auch auf das Wohlergehen anderer Individuen gerichtet sein. Die oben genannten Impulse wie Mitleid oder Mutterliebe werden also einbezogen.

Diese Interessen harmonieren nun nicht in jedem Fall. So gibt es z.B. Konflikte, wenn es um nur begrenzt verfügbare Mittel der Bedürfnisbefriedigung geht. Konflikte können zum gewaltsamen Kampf eskalieren, verbunden mit Gefahren für die am Kampf Beteiligten.

Dies kann durch die Formulierung von Normen vermieden werden, an die sich alle Beteiligte halten.

Ein solches Normensystem kann nun auf verschiedene Weise geschaffen werden.

Es kann von mächtigen Individuen oder Gruppen den Beteiligten aufgezwungen werden. Dies ist auch ohne offene Gewaltanwendung möglich, wenn der Ausgang eines Kampfes angesichts der Kräfteverhältnisse vorherzusehen ist. Dies kann man die „Position vom Recht des Stärkeren“ nennen. Ein Normensystem gewinnt allein dadurch, dass es da ist und durchgesetzt wird, eine Autorität.

Für diejenigen, denen das Normensystem aufgezwungen wurde, gibt es keinen Grund zu dessen Befolgung außer der drohenden Sanktion. Sofern in diesem Normensystem elementare Interessen an Leben und Gesundheit gesichert sind, gilt das Argument „Besser irgendeine Ordnung als gar keine Ordnung“.

Eine andere Möglichkeit ist das Aushandeln eines Normensystems in Form eines für alle verbindlichen Vertrages. Man kann diese Position als die „vertragstheoretische Position“ bezeichnen. Für die Befolgung dieses Normenssystems gibt es den Grund, dass man sich selber zur Befolgung der Normen verpflichtet hat.

Aber warum soll man Verträge halten? Noch dazu in einer sich verändernden Welt?

Außerdem wird das Verhandlungsergebnis durch die unterschiedliche Verhandlungsmacht („bargaining power“) der Beteiligten beeinflusst. Der Starke kann warten, bis der „stumme Zwang der Verhältnisse“ den Schwachen zum Nachgeben zwingt, weil er auf die vertragliche Einigung angewiesen ist.

Solange kein Vertrag abgeschlossen ist, bleibt es beim Status quo – und dieser kann für die Vertragsparteien unterschiedlich erträglich sein. Im Extremfall bedeutet die Beibehaltung des Status quo, dass die eine Partei von der anderen „an den Verhandlungstisch gebombt“ wird, wie es während des Vietnamkrieges einmal hieß..

Eine dritte Möglichkeit ist die Bestimmung desjenigen Normensystem, das von allen Beteiligten angesichts der gegebenen Interessenstruktur am ehesten gemeinsam akzeptiert werden kann, wobei nur Argumente ausgetauscht werden und kein anderer Zwang für die Individuen besteht als der Zwang, sich zu einigen und einen gemeinsamen Willen zu formulieren. Man kann diese Position als „diskurstheoretische Position“ bezeichnen, da das Ergebnis allein aus einem Austausch von Argumenten, also aus einer vernünftigen Diskussion, hervorgehen soll.

Es muss also nach solchen Argumenten gesucht werden, die allgemein akzeptabel sind und es müssen solche Argumente als ungeeignet methodisch ausgeschlossen werden, die einen Konsens unmöglich machen. Dabei ist das Ziel eines allgemeinen und dauerhaften Konsens über die zu befolgenden Normen eher eine „regulative Idee“, die der Orientierung dient, als ein Punkt, den man ein für allemal erreichen kann.

Um das Ganze nicht in dieser hochabstrakten Form stehen zu lassen, nenne ich mal einige methodische Konsequenzen für die ethische Diskussion, die sich aus dem Zwang zum zwanglosen Konsens ergeben können:

Wer den Konsens will, der darf den Konsens nicht für unerreichbar erklären sondern muss um ihn bemüht bleiben.

Wer den Konsens will, der muss sich um eine verständliche Sprache bemühen.

Wer den Konsens will, der muss argumentieren und darf nicht drohen.

Wer den Konsens will, der muss sich um ein Verständnis für die Lage des andern bemühen.

Wer den Konsens will, muss mögliche Abstriche an seinen Interessen akzeptieren, denn im Konfliktfall ist sonst kein Konsens möglich.

Wer den Konsens will, der muss auf gleichartige Fälle auch gleichartige Normen anwenden. Was faktisch gleich ist, muss auch gleich bewertet werden und durch gleiche Normen geregelt werden.

Wer den Konsens will, der muss die unterschiedliche Behandlung von Individuen mit faktischen Unterschieden begründen, die in Bezug auf die Interessen der Betroffenen von Bedeutung sind.

Wer den Konsens will, der darf anderen nicht größere Opfer zumuten als er selber unter den gleichen Umständen zu tragen bereit ist.

Wer den Konsens will, der muss andern unter den gleichen Umständen auch diejenigen Rechte zugestehen, die er für sich selbst beansprucht.

Wer den Konsens will, der muss für sich selbst die gleichen Pflichten anerkennen, die er unter gleichen Umständen den andern zugeschrieben hat.

Wer den Konsens will, der muss bereit sein, eine von ihm befürwortete Norm auch dann zu akzeptieren, wenn er sich in der Position des schlechter Gestellten befinden würde.

Wer den Konsens will, der muss die Interessen aller Betroffenen wohlwollend und unparteiisch berücksichtigen und gegeneinander abwägen.

Wie weit man damit kommt, bleibt offen. Der argumentative Diskurs gerantiert kein definitives Ergebnis. Da der Streit der Gelehrten sprichwörtlich endlos ist, muss der Diskurs unter konkretem Handlungsdruck der Praxis immer durch Verfahren der verbindlichen Setzung von Normen ergänzt werden (Eigentumsrechte, Verträge, Abstimmungen, Hierarchien etc.).

In der Hoffnung, dass dieser etwas lang geratene Beitrag trotzdem ein "verdaulicher" Brocken ist,

grüßt Euch Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 25. Sept. 2005, 14:34 Uhr
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Hi zusammen,

sofern es um die Erarbeitung praktischer moralischer Normen geht, scheint mir die diskurstheoretische Position und die aufgeführten praktischen Konsequenzen für den Diskurs vernünftig und akzeptabel zu sein.

Sie krankt jedoch an einem entscheidenden Punkt: Wer den Konsens will. Und wer ihn nicht will (und ich behaupte mal auf Verdacht, dass das die Mehrheit der heute auf der Erde lebenden Menschheit ist)? Dann gehst du mit deinem Diskursangebot baden. Streng zuende gedacht bleibt dann nur die Lösung, die Unwilligen als Unzivilisierte auszustoßen bzw. zu eliminieren, eine Lösung, die mir nicht passt.

Die Frage ist also: warum sollte man den Konsens wollen bzw. warum sollte man ihn nicht wollen?

Das heißt: es geht mir nicht darum, die diskurstheoretische Position abzulehnen, sondern es geht mir darum, sie auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Die Voraussetzung 'wenn man den Konsens will' ist kein tragfähiges Fundament.

Anders gesagt: es geht mir um die Axiome, auf denen ein solcher Diskurs aufbauen kann. Hier bringe ich den ethischen Willen ins Spiel, das einzige, was m.E. aufgrund seiner Evidenz (=jedem einleuchtend) axiomatischen Charakter haben kann.

Ein Axiom kann nicht logisch/vernünftig her- oder ableitbar sein. Es muss evident sein. Es muss sich zeigen. Sonst ist es kein Axiom, keine Basis, sondern basiert seinerseits auf etwas anderem.

Andererseits operiert man im Alltag nicht mit Axiomen. Ein Ingenieur benutzt für seine Berechnungen zuverlässig entwickelte und geprüfte Formeln. Er beginnt seine Berechnungen z.B. nicht mit Peanos Axiomen. Zum einen käme er dann aus Zeitmangel gar nicht erst zu seinen Berechnungen, zum anderen ist es keine sinnvolle Tätigkeit, dauernd das Rad neu erfinden zu wollen. Er kann sich aber darauf verlassen, dass die Mathematik, die er benutzt, auf (auch wenn das manchmal bestritten wird) evidenten Axiomen basiert. Sonst könnte er es nicht verantworten, die erlernten Formeln zu benutzen ohne jedesmal nachzuprüfen, ob sie auch richtig sind.

Wenn ich also auf den humanen ethischen Willen hinweise, der sich hier und da in bestimmten Situationen zeigt (wobei das Gemeinsame dieser Situationen heraus zu finden wäre), dann meine ich damit nicht, dass einer im Alltag alle moralischen Normen ignorieren und immer nur 'Gewissenserforschung' betreiben soll, um zu guten Entscheidungen zu kommen. Abgesehen davon, dass das in der Praxis ebensowenig funktioniert wie die Herleitung von Formeln aus Axiomen beim Ingenieur, der ethische Wille zeigt sich in Situationen, die erst einmal erkannt werden müssen. Dieses Erkennen ist, bezogen auf das Individuum, subjektiv und damit fehleranfällig. Das heißt, der ethische Wille kann das richtige wollen, kann aber dennoch zu objektiv falschen Handlungen führen, weil die Situation falsch erkannt ist.

Der ethische Wille ist also nichts für den Alltagsgebrauch.

Es ist m.E. aber unverzichtbar - wenn man keine andere, tragfähige Lösung anbieten kann - sich in diesem Sinne mit der Ethik zu befassen, hier nach erkennbaren und evidenten Grundprinzipien des Humanen zu suchen, da nur dann, wenn diese allgemein einleuchtend gezeigt werden können (sozusagen entmüllt vom ganzen sie in der alltäglichen Praxis beeinflussenden Beiwerk), Aussicht auf einen allgemeinen Willen zum Konsens bestehen kann, der die Voraussetzung ist für eben die diskurstheoretische Position in der Moraldiskussion.

Gruß




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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 25. Sept. 2005, 18:27 Uhr
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Hi zusammen,
Eberhard #87 hat ja schön beschrieben, an was er bei ethischem Handeln denkt: "... Gewissensbisse, Mitleid, Identifizierung mit dem Schicksal anderer, Gerechtigkeitsgefühl, moralische Empörung, Dankbarkeit, mütterliches oder väterliches Gefühl, Hilfsbereitschaft, Opferbereitschaft, Idealismus oder Bereitschaft zur Ein- und Unterordnung." Er beschreibt hier zum Teil Gefühle, zum Teil beobachtbares Verhalten. Das kann jeder nachvollziehen, weil es Tatsachen sind. So etwas gibt es. Wir fragen nun, warum hat man diese Gefühle, oder warum handelt jemand so?
Abrazo will dies mit einem ethischen Willen erklären. Dies sei ein Axiom. Abrazo #88: "Ein Axiom ... muss evident sein.
Dass ein Axiom evident sein muss, ist zwar Konsens.
Aber: ein ethischer Wille ist eine Hypothese, und diese ist mir nicht evident.
Evident ist, dass die von Eberhard bezeichneten Gefühle in bestimmten Situationen auftreten können. Sie passen als Reaktionen zu bestimmten Erlebnissen. Evident ist jedoch, dass diese Gefühle biologisch determiniert sind. Wir wissen auch, dass der Mensch, entsprechend dieser Determinierung handeln kann, aber dass er auch anders handeln kann, wenn er will. (Er ist eben Mensch und unterscheidet sich gerade darin vom Tier)
Fragen an Abrazo:
Warum soll der ethische Wille denn unverzichtbar sein?
Oder: für welchen Zweck ist er unverzichtbar?
Im Prinzip weiß jeder zwar, was mit einer ethischen Handlung gemeint ist. Das ist ihm von Kindheit an eingetrichtert worden. Einen Willen kann man aber nicht eintrichtern. Da man ethisch handeln kann, es aber auch lassen kann, gibt es entweder keinen ethischen Willen, oder es gibt auch den unethischen Willen und noch zig andere Willen. Welche Willen gibt es denn außerdem noch?
Ich vermute, der ethische Wille entspringt einem Wunsch. Einem frommen und achtbarem Wunsch, aber der ethische Wille ist keine Realität. Es wäre ja schön, wenn es ihn gäbe.
Gruß
rudi



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 25. Sept. 2005, 21:05 Uhr
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Hi, doc rudi,

ethischer Wille ist ein Begriff. Ebenso wie biologischer Wille. Ein Begriff kann nicht evident sein.

Evident sein kann nur, was unmittelbar einleuchtet, und das sind im Zweifelsfalle Wahrnehmungen (oder - wie in der Mathematik - Aussagen, die unmittelbar als Prinzipien längst angewandter Regeln einleuchten).

Zu untersuchen ist also zunächst nicht 'der Wille', sondern auf Willen beruhende Phänomene, also insbesondere Handlungen. Bei solchen Phänomenen ist zu untersuchen, inwieweit sie mit der Biologie erklärbar sind, dann fallen sie in die Menge biologischer Willen, und inwieweit nicht.

Beispiele aus jüngerer Zeit findet man z.B. im nationalsozialistischen Widerstand. Hier frage ich dich, wie willst du z.B. die Handlung von Pater Maximilian Kolbe biologisch erklären? Oder die der Geschwister Scholl z.B.?

Aber es gibt auch ganz einfache, alltägliche Beispiele. Einer, Gegner der Existenz des ethischen Willen, verstummte wegen des Todes einer Ratte, die er, offenbar vergiftet, vor seinem Hauseingang fand und erschlug. "Warum hast du sie erschlagen und nicht einfach liegen lassen?" - "Weil sie offenkundig litt." - "Was geht dich die Ratte an?" Eben. Was ging sie ihn an?

Meine Katze hatte keine Probleme damit, einem schreienden lebendigen Kaninchen das Bein abzufressen. Warum haben wir Probleme damit? Warum würden wir einen Menschen, der das täte, in die Psychiatrie stecken?

Warum finden wir in allen Kulturen das Gebot 'du sollst nicht töten' richtig, auch wenn wir es nicht immer befolgen? Welcher vernünftige Grund spricht dagegen, Fremde nicht umgehend in die Wildnis oder in den Sumpf zu jagen oder gleich um die Ecke zu bringen?

Zur Zeit Mohammeds war es üblich, neugeborene Mädchen, die man nicht haben wollte, in die Wüste zu tragen und dort im Sand zu vergraben. Der Koran meinte dazu, am jüngsten Tag würden diese Mädchen aufstehen und anklagen, wegen welcher Schuld man sie umgebracht hat. Warum wurde der Brauch daraufhin als Verbrechen angesehen? Weil man Angst vor Gott hatte? Na, an den musste man erst mal glauben, die alten Götter hatten offenbar nichts dagegen gehabt.

Meiner Ansicht nach sind solche und zahlreiche andere Phänomene biologisch nicht erklärbar. Sie widersprechen sogar der biologischen Logik.

Wenn du anderer Ansicht bist, dann liefere eine biologische Erklärung. Aber bitte sorgfältig abgeleitet von biologischen Grundprinzipien - nicht irgendwelche spekulativen Scheinbegründungen!

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Armes_Kind am 25. Sept. 2005, 23:25 Uhr
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Heil!

Solange der Mensch, die höchste Schöpfung von allem ist. So wird er weiterhin die Natur sowie die Tierwelt ausbeuten wie es ihn behagt. Machen wir es doch nicht so einfach. Der Mensch hat Freunde um sein Bedürfnis nach Zweisamkeit zu stillen wie er eine Kuh mit einem Stück Stahl ins Hirn schießt um sie sein Bedürfnis nach Nahrung zu stillen. Der Mensch handelt nach Bedürfnissen. Der Mensch ist ... böse ...

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 26. Sept. 2005, 09:00 Uhr
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Hallo abrazo,
ich nahm an, Du wollstest den ethischen Willen als Hypothese verstanden wissen, die sogenanntes ethisches Verhalten erklärt, also das Warum beantwortet. Es soll also nur ein Begriff sein, der tatsächlich zu Beobachtendes zusammenfasst.
Mit meinen Begriffen Selbsterhaltung (Überleben) und Selbstentfaltung (Wachstum. Vergrößerung) ist es anders: sie erklären das Verhalten lebender Systeme, wie die Begriffe Trägheit und Gravitation das Verhalten nichtlebender Objekte erklären.
Gefunden habe ich diese übrigens anlässlich einer Untersuchung zur Aggression (gibt es einen Aggressionstrieb? Meine Antwort: nein). In 10-jähriger Beobachtung fand ich dann, dass sie auf alle lebende Systeme zutreffen, nicht nur auf meine anfänglichen Untersuchungsobjekte. Dazu musste ich allerdings meine Konstruktion der Welt ändern und streng zwischen lebenden Systemen der Ordnungshöhe Individuum und lebenden Systemen höherer Ordnung unterscheiden lernen.
Deine Beispiele für ethisches Verhalten sind vielfältig, so dass ich sie umfangreich an anderer Stelle beantworte, ich möchte erst einmal das Verhalten der Geschwister Scholl herausgreifen.
Das Individuum fungiert im Staat nur als Baustein eines Systems höherer Ordnung, d.h. es ordnet seine Interessen denen des Staates unter. Bei gruppenlebenden Primaten ist das biologisch begründet. Es gibt dort eine Hierarchie, in der jeder Aufgaben, Pflichten und auch Rechte hat. Bestimmte Verhaltensweisen scheinen von der Brutpflege auf andere Mitglieder der Gruppe "übertragen" (ein Begriff von Freud) zu werden. Da denke ich an Mitleid mit Schwachen, das mit Verhalten einhergeht, das der Gruppe nützt. Entscheidend ist der Erhalt der Gruppe und deren Wachstum, die Interessen des Individuums müssen zurückstehen.
Beim Menschen ist das lockerer. Nach meiner Beobachtung geht die Entwicklung dahin, dass das Individuum immer mehr Freiheiten erwirbt. So kann der Mensch auch ausscheren aus der Gruppe, Nein sagen, und seine Interessen dem Interesse des Staats entgegensetzen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Größe der "Gruppe" zugenommen hat, die Horde zum Volk oder Staat gewachsen ist, und die Mitglieder sich nicht persönlich kennen.
Die ursprünglich natürliche Verhaltensweise der Einordnung in eine Gemeinschaft muss daher beim Menschen einerseits durch Propaganda, andererseits durch normative Ethik und Strafrecht unterstützt werden.
Deutschland entwickelte nach dem ersten Weltkrieg eine neue Identität, wobei ein Identitätskern die Wut über die Versailler Verträge und die finanzielle Ausbeutung Deutschlands war. Die Nazis boten dem Volk die Juden als Objekt für die zunächst ungezielte Wut an und erreichten sozusagen eine Solidarisierung, nämlich eine Identitätsbildung. Die Identifizierung mit positiven und negativen Werten (Ich und Nicht-Ich) des Systems höherer Ordnung stärkt das Selbstwertgefühl des Individuums und gibt ihm dadurch narzisstische Befriedigung. Das betraf die große Masse in Deutschland. In jeder Masse gibt es jedoch auch Abweichungen nach beiden Seiten (Gaussche Verteilungskurve), also Individuen, die die offizielle Sichtweise nicht teilen.
Im Fall der Geschwister Scholl war es nun nicht einmal eine individuelle Identität, die diese der Nazi-Identität der Deutschen entgegensetzten, sondern die Identität einer anderen Gruppe, der sie angehörten. Mit dem Verhalten des Menschen in der Masse haben sich im übrigen auch le Bon und Elias Canetti, und auch Freud, beschäftigt. Wichtig ist hier, dass das Individuum bestimmte Denkinhalte, die mit seiner Identität bzw. auch seiner Gruppenidentität nicht vereinbar sind, verdrängt. Also: die Identifizierung der Deutschen mit dem wirtschaftlich und militärisch aufstrebenden Deutschland führt nur dann zu narzisstischem Gewinn, wenn gleichzeitig der Gedanke an den Umgang mit den Juden, deren Eliminierung ja Teil der Identitätsfindung war, ins Unbewusste verdrängt wurde. Die Geschwister Scholl und andere haben eben diese Verdrängung nicht mitgemacht, sie hatten eine andere Gruppenidentität, die ihnen Selbstwertgefühl vermittelte. Sie haben dadurch die negative Seite an der deutschen Identitätsfindung klar gesehen und dagegen opponiert. Hierdran war wahrscheinlich auch ein Mitleid mit den Opfern beteiligt, also ein biologisch bedingtes Gefühl (s.o.).
Biologisch begründet ist aus meiner Sicht auch das Verhalten des Individuums, sich für eine höhere Sache zu opfern, die Selbsterhaltung des Systems höherer Ordnung als wertvoller zu beurteilen als die persönliche Selbsterhaltung. Das betrifft das Verhalten des Soldaten im Krieg, besonders des Kamikaze-Fliegers, des Sprengstoffgürtelattentäters und auch das Verhalten des Pater Maximilian Kolbe. Aus der Sicht des jeweiligen Systems höherer Ordnung, dem sich der Betreffende unterordnet, wird dies als Heldentat bewertet. Diesen narzisstischen Gewinn nimmt der Betreffende mit – auch bei Kolbe ist diese Rechnung aufgegangen: er wurde heilig gesprochen.
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 26. Sept. 2005, 09:50 Uhr
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Hallo Abrazo,

Deine kritische Frage zur diskurstheoretischen Begründung von Normen des Handelns lautet: Was ist mit denen, die den Konsens, also die zwangfreie Einigung durch den Austausch von Argumenten, nicht wollen?

Meine Antwort:
Dem nicht in dieser Weise Konsenswilligen kann ich erklären, welche Konsequenzen diese Haltung für sein Verhältnis zu den andern Menschen hat.

Wichtig ist, dass er damit bewusst Konflikte erhält, also keinen Frieden will.

Dadurch, dass er sich nicht auf die Suche nach einer zwangfreien Einigung festlegen lässt, behält er sich die Möglichkeit vor, ohne Rücksicht auf andere zu handeln. Damit entfällt auch die Vertrauensbasis zwischen ihm und den anderen Menschen.

Es bleibt höchstens noch eine Berechenbarkeit seines Handelns, gesetzt den Fall, dass er sich zu einer bestimmten (dogmatischen) Moral bekennt und sich konform zu deren Normen verhält.

Wer sich nicht zwangfrei einigen will, der gehört für mich nicht zu den „Menschen guten Willens“, Vor ihm muss ich mich in Acht nehmen.

Das bedeutet noch nicht, dass ich ihn als Feind betrachte, den ich unschädlich machen muss. Ich kann aus meiner Sicht seine Interessen mit berücksichtigen und ihm seine Rechte erhalten in der Hoffnung, dass er doch noch einsichtig wird. Diesen Prozess kann ich mit pädagogischen oder therapeutischen Mitteln unterstützen

Außerdem ist wichtig, dass der nicht Konsenswillige keine Grundlage für eine Kritik am Handeln anderer mehr besitzt. Er kann zwar noch sagen: „Das passt mir nicht, was Du da machst“, aber er kann keine Kritik mit einem Anspruch auf allgemeine Geltung mehr äußern, es gibt keine Grundlage für einen moralischen Vorwurf oder eine moralische Rechtfertigung, die mehr aussagen als ein rein subjektives „pfui“ oder „bravo“. Kurz gesagt: Er kann in der Befürwortung oder Ablehnung von Verhaltensweisen anderer nicht mehr beanspruchen, „recht“ zu haben.

Er kann zwar noch versuchen, mich immanent zu kritisieren, mir innere Widersprüche in meiner Position nachzuweisen, aber er kann sich nicht darauf berufen, dass ich mich an meine eigenen moralischen Prinzipien zu halten hätte. (So wie ein Gegner der Meinungsfreiheit sich für die Verbreitung seiner Ansichten nicht auf das geltende Recht der Meinungsfreiheit berufen kann.)

Für die Moralphilosophie stellt der nicht Konsenswillige kein theoretisches Problem dar, weil er seine Normen ohne den Anspruch auf nachvollziehbare Begründbarkeit vertritt, womit sie wissenschaftlich irrelevant sind. (Was jedoch nicht ausschließt, dass der nicht Konsenswillige weiterhin ein großes praktisches Problem darstellt.)

Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine Bekämpfung kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.

Es grüßt Dich und alle Interessierten, Eberhard.

p.s.: Ich höre so wenig Kritik von sonst recht lautstarken Philtalkern.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 26. Sept. 2005, 10:10 Uhr
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> Wichtig ist, dass er damit bewusst Konflikte erhält, also keinen Frieden will.


.... von euerem fried hof

wo nur mamas lieb linge auf diese auf passen wollen
zum menschen ver achtende nicht zukunft be treiben

will kein mensch etwas !

weil absolut ohne wahr heit
deshalb ohne nutzen für jede inteligenz ..........



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 26. Sept. 2005, 17:25 Uhr
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Hi, doc rudi,

Mit meinen Begriffen Selbsterhaltung (Überleben) und Selbstentfaltung (Wachstum. Vergrößerung) ist es anders: sie erklären das Verhalten lebender Systeme, wie die Begriffe Trägheit und Gravitation das Verhalten nichtlebender Objekte Biologische Erklärungen gibt es viele und meistens treffen sie auch zu. Sie treffen aber nicht immer zu, und genau das sind die Fälle, die mich im Zusammenhang mit Ethik interessieren. Das heißt: ich nehme die Hypothese der biologischen Erklärung an und schaue dann, wo Verhalten diesen Erklärungen widerspricht. Das revidiert nicht alle biologischen Erklärungen, es führt aber zu dem Schluss, dass es beim Menschen über die Biologie hinaus noch andere Gründe für sein Verhalten gibt. Krampfhaft an einer scheinbar allumfassenden Erklärung festhalten zu wollen ist m.E. ideologisch.

(gibt es einen Aggressionstrieb? Meine Antwort: nein)
Dürfte darauf ankommen, wie man Aggressionstrieb definiert. Mir ist die Definition von Trieb ohnehin sehr unklar; mir reicht es eigentlich, dass Lebewesen Gefühle haben, von denen sie gesteuert werden. Ohne Zweifel wird Aggressivität vielfach mit Lustgefühl belohnt.

Entscheidend ist der Erhalt der Gruppe und deren Wachstum, die Interessen des Individuums müssen zurückstehen
Das Rudel wird nach meinen Beobachtungen bei Hunden als persönliches Eigentum des Leitwolfes betrachtet.

So kann der Mensch auch ausscheren aus der Gruppe, Nein sagen, und seine Interessen dem Interesse des Staats entgegensetzen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Größe der "Gruppe" zugenommen hat, die Horde zum Volk oder Staat gewachsen ist, und die Mitglieder sich nicht persönlich kennen
Mensch kann genau so gut aus Gruppen ausscheren, die er seit langem kennt (Lafontaine)
Ich halte nichts davon, Grundprinzipien mit statistischem Denken untermauern zu wollen, indem man sich an das (scheinbar) Normale hält und das Abweichende schlicht und einfach mit dem Argument Gauss'schen Glockenkurve ignoriert. So was nenne ich geistige Schlampigkeit. Denn auch Abweichungen, gerade sie, haben Gründe.

Deutschland entwickelte nach dem ersten Weltkrieg eine neue Identität
Wenn du den ersten Teil von Hitlers "mein Kampf" liest, dazu auch noch z.B. Nietzsche und Otto Weininger, wirst du feststellen, dass genau das nicht der Fall war. Die neue Identität entwickelte sich tatsächlich mit der de-facto Abschaffung des Föderalismus zugunsten eines preussischen Zentralstaates. Folge war die Entwicklung einer Aggressivität nach außen, die aber nicht die Juden umfasste, sondern die benachbarten Länder und Völker. Das Judenproblem ist etwas ganz anderes, das man damit nicht in Zusammenhang bringen darf. Hitler galten die Juden wg. Altes Testament, Paulus & Co. als Urheber der Ethik, einer Ethik des Mitleids mit den Schwachen, die er (wie auch Nietzsche) als zerstörerisch für die Entwicklung des 'wahren', des 'Übermenschen' ansah und die die Juden zwecks eigenem Überleben als Schmarotzer am wahren Menschentum entwickelt haben sollten. Hier stand in der Tat die biologistische Auffassung vom Menschen und seinem Verhalten (gut ist, was die Natur will) im Vernichtungskrieg mit dem - im weitesten Sinne - Humanismus.

Sie haben dadurch die negative Seite an der deutschen Identitätsfindung klar gesehen
Warum war das denn eine negative Seite? Das ist doch die eigentliche Frage! Irgendwie mogelst du dich permanent an unserer Fragestellung vorbei. Du sprichst von normativer Ethik, lässt dich aber nicht auf unsere Frage ein, nämlich wie sie begründet sein soll. Aber genau das ist es, was uns interessiert - und die Begründungen haben genau für die Fälle auch zu gelten, die außerhalb des Normalintervalls liegen.

Hierdran war wahrscheinlich auch ein Mitleid mit den Opfern beteiligt, also ein biologisch bedingtes Gefühl
Belege doch mal, wo in der Natur Mitleid außerhalb (!) des eigenen Rudels ein biologisches Gefühl ist! Du darfst eines nicht übersehen: die Verhaltensweisen innerhalb einer geschlossenen Gruppe werden in der Natur nicht auf Gruppen und Gruppenmitglieder übertragen, die außerhalb dieser Gruppe stehen!

Biologisch begründet ist aus meiner Sicht auch das Verhalten des Individuums, sich für eine höhere Sache zu opfern, die Selbsterhaltung des Systems höherer Ordnung als wertvoller zu beurteilen als die persönliche Selbsterhaltung
Belege, dass Tiere ihr Verhalten beurteilen! Belege, dass sie da eine Wahlmöglichkeit haben!

auch bei Kolbe ist diese Rechnung aufgegangen: er wurde heilig gesprochen.
Und was hatte Kolbe davon? Mal abgesehen davon, dass das einfach nicht wahr ist. Kein geistig gesunder Mensch lässt sich umbringen um eines narzisstischen Gewinnes willen, von dem er mehr als Einbildung gar nicht haben kann. Auch ein Selbstmordattentäter nicht. Vielmehr dürfte da (aber nach allem, was man weiß, nicht bei Kolbe) die Befriedigung maßgebend sein, dass das Recht durchgesetzt wird (was ihrer Ansicht nach Recht ist natürlich). Der Grund für Ermittlungen, für Prozesse mit Urteil - und für den Glauben an das Jüngste Gericht bei den Religionen.

Tatsachen, Rudi. Zwar sagte, zumindest früher, der landläufige berüchtigte Sozialarbeiter, tief in deinem Unterbewußtsein willst du, was ich will, denkst du, was ich sage, du weißt es nur noch nicht, doch selbst wenn das stimmten sollte - was ich bezweifele - erklärt es nicht, warum der Angesprochene in seinem Bewusstsein anders denkt. Alles 'irjendswie' in die Theorie hineinpfriemeln, das überzeugt nicht.

Gruß




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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 26. Sept. 2005, 17:55 Uhr
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Hi, Eberhard,

Für die Moralphilosophie stellt der nicht Konsenswillige kein theoretisches Problem dar, weil er seine Normen ohne den Anspruch auf nachvollziehbare Begründbarkeit vertritt, womit sie wissenschaftlich irrelevant sind. (Was jedoch nicht ausschließt, dass der nicht Konsenswillige weiterhin ein großes praktisches Problem darstellt.)

Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert

Um Himmels willen, Eberhard, denk mal daran, was du da sagst!
Wir dürften nicht den jeweiligen Kontext aus den Augen verlieren. Es gibt die nicht konsenswillige Einzelperson und die nicht konsenswillige Subkultur innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft. Es gibt aber auch andere nicht konsenswillige, Gruppen, die Millionen Menschen umfassen, nämlich Angehöriger anderer Kulturen und Staaten. Soll es die Konsequenz der Moralphilosophie sein, zu ihnen Kontakte abzubrechen, ggf. Kriege zu führen? Das kann dann keine Moralphilosophie sein.

In der Theorie klingt das alles ja recht nett. Auch die Sache mit dem Verzichten auf eigene Interessen. Aber wie sieht das bitte in der Praxis aus?

Vor etlichen Jahren gab es in der Staatengemeinschaft eine Diskussion über Menschenrechte, die wg Unvereinbarkeit zu keinem Konsens führte. Es ging um das Recht auf Arbeit. Es gab Staaten, die forderten, dies als Menschenrecht anzuerkennen. Die westlichen Staaten lehnten es rigoros ab. Und nu? Meiner Ansicht nach ist Arbeit ein Menschenrecht, für dessen Verwirklichung der Staat, also die Gesellschaft einzutreten hat, sobald es einem Menschen unmöglich ist, sich seine Arbeitsmöglichkeit selbst zu schaffen, etwa indem er in die Wildnis zieht und ein Stück Land urbar macht, um davon zu leben. Solche und ähnliche Möglichkeiten verweigern unsere modernen Gesellschaften, also sind sie in der Pflicht.

Oder die Interpretation des Begriffes Freiheit. Auch da stimme ich denen zu die sagen, die Voraussetzung für die Verwirklichung der persönlichen Freiheit ist die Freiheit vom Kampf um das Überleben aus Mangel am Notwendigen. Aber du weißt, darüber ist mit unseren Gesellschaften zumindest zur Zeit kein Konsens zu erzielen.

Und nun? Wer ist willig, wer unwillig? Wer hat Recht, wer nicht? Wer ist als Konsensunwilliger zu isolieren ggf. zu bekriegen?

Lassen wir die Finger davon, Eberhard. Die Frage nach Konsenswilligkeit oder nicht stellt sich frühestens dann, wenn wir tatsächlich Normen finden, die von allen Menschen anerkannt werden können - womit wir wieder bei meinem humanen ethischen Willen wären [sun]

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 26. Sept. 2005, 18:11 Uhr
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Hallo Rudi!

Was ich mich frage: Worauf willst Du mit Deiner biologistischen Theorie eigentlich hinaus? Welche Nutzanwendung hast Du im Hinterkopf?

Du willst menschliche Verhaltensweisen kausal erklären, na schön. Kausale Erklärungen in den Naturwissenschaften haben immer zugleich den Sinn, die erklärten Phänomene technisch zu beherrschen. Denn wenn man im Experiment regelmäßig die Bedingungen x, y, z produzieren kann, die das Phänomen P erzwingen, dann gilt P als „erklärt“. Was es „an sich“ sein mag, interessiert nicht; man kann damit rechnen und arbeiten, das genügt.

Diese Einstellung den Phänomenen gegenüber willst Du also auch am „lebenden System“ von der Sorte „Mensch“ exerzieren. Mit welchem Ziel? Möchtest Du die Mittel einer Art „Sozialtechnologie“ zur besseren Beherrschung dieser „lebenden Systeme“ bereitstellen? Welche Menschen würden denn diese Sozialtechnik auf welche Menschen anwenden? Ich vermute mal, dass Du lieber zu den Anwendern gehören möchtest, nicht zu den Objekten. Aber mit welcher Begründung?

Was Du in meinen Augen de facto betreibst, ist eine theoretische Schule der Verrohung und Entdifferenzierung. Abrazo zeigt ja sehr schön, mit welchen Vernachlässigungen Deine zu „Erklärungen“ aufgemotzten Vermutungen erkauft sind, wie viele feine Unterschiede, die im Umgang von Menschen mit Menschen wichtig sind, Du unter den Tisch fallen lassen musst und – offenbar auch willst.

Schönen Gruß
Urs




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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 26. Sept. 2005, 18:33 Uhr
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Hi Abrazo,
Du sagst, und das ist Dein wesentlicher Einwand: "ich nehme die Hypothese der biologischen Erklärung an und schaue dann, wo Verhalten diesen Erklärungen widerspricht. Das revidiert nicht alle biologischen Erklärungen, es führt aber zu dem Schluss, dass es beim Menschen über die Biologie hinaus noch andere Gründe für sein Verhalten gibt."
Theoretisch sehr schön, aber ich habe den Eindruck, dass Du hier "biologische Erklärung" gleichsetzt mit Determiniertheit und Freiheitsverlust.
Du solltest Dir einmal klar vor Augen führen, wie die Natur (oder die Biologie) das Verhalten genetisch programmiert:
Es handelt sich nicht um eine Handlungsprogrammierung (also eine Festlegung bestimmter eindeutiger Reaktionen auf einen Reiz), jedenfalls nicht heute beim Menschen. Die Programme haben sich im Lauf der Evolution verändert, nämlich in Richtung Zielprogrammierung.
Derartige zielorientierte Programme sind übrigens einfacher und kürzer als handlungsdeterminierende Programme.

Das Erreichen des biologisch gesetzten Ziels wird belohnt und dem Menschen die Entscheidungsfreiheit darüber gegeben, wie er diese Ziele erreicht.

Im Grunde hat der Mensch sogar im Extrem die Freiheit, auch auf die biologisch vorgesehene Belohnung zu verzichten und gewinnt dadurch ein Optimum an Freiheit.

Deine Beobachtung, dass es beim Menschen über die Biologie hinaus noch andere Gründe für sein Verhalten zu geben scheint, trifft also zu.
Gruß
rudi



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 26. Sept. 2005, 19:41 Uhr
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Hi, doc rudi,

die Frage ist doch, warum der Mensch auf eine von der Biologie in Aussicht gestellte Belohnung verzichten kann, aus welchem Grund.

Übrigens habe ich nie etwas von exakter Programmierung durch die Biologie gehalten (deswegen zweifle ich auch am Begriff Trieb). Dann wären nämlich die Lebewesen kaum überlebensfähig, weil die Situationen, die sie zu bestehen haben, zu vielfältig sind, als dass sie sie mit simplen Programmierungen bestehen könnten.

Deswegen gehe ich davon aus, dass die Gefühle die biologischen Steuerungsmechanismen sind. Dass die sogar miteinander konkurrieren können, erkennt man z.B. am Katzbuckel. Und Gefühlserfahrungen gehen z.B. in die Erinnerung ein - wie das bei Trieben funktionieren soll, ist mir schleierhaft.

Es gibt aber beim Menschen Empfindungen, die einfach nicht biologisch erklärbar sind. Am deutlichsten wird das bei der Ästhetik (Musik, Dichtung, Kunst).

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 26. Sept. 2005, 21:20 Uhr
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Hallo Abrazo,
Du sagst: "Übrigens habe ich nie etwas von exakter Programmierung durch die Biologie gehalten (deswegen zweifle ich auch am Begriff Trieb). Dann wären nämlich die Lebewesen kaum überlebensfähig, weil die Situationen, die sie zu bestehen haben, zu vielfältig sind, als dass sie sie mit simplen Programmierungen bestehen könnten."
Deine Zweifel sind zwar begründet, aber Du hast immer noch eine falsche Vorstellung von Zielprogrammierung. Zielprogrammierung ist eben nicht exakt, was Handlungen betrifft. Die Handlung ist frei. Du kannst Dir den Geschlechtspartner frei nach Schnauze aussuchen usw., aber das Ziel willst Du erreichen, hier den sexuellen Orgasmus. Es handelt sich bei der Selbstentfaltung um Regelkreise mit positiver Rückkopplung. Programmiert ist nur, dass es bei Reizung der Eichel zum Orgasmus kommt. Der Orgasmus ist das Ziel, das Du anstrebst. Wie Du dahin kommst, ist offen. Oder: Ziel ist das Überleben. Mit welchen Mitteln Du das erreichst, ist offen, Deine Wahl. Bei Tieren: wer die erfolgreichen Mittel anwendet bei der Tarnung vor dem Fressfeind, überlebt und vererbt die erfolgreichen Gene weiter. Die Ziele sind: Überleben und Ausbreiten (Wachstum, Selbstentfaltung). Die Programmierung besteht lediglich darin, das Erreichen der Ziele mit Lustgefühlen (oder Befriedigung) zu belohnen.
Die Gefühle, die Du ansprichst, sind unser Erleben von Sollwertabweichungen (Beispiel: Hunger bekommst Du bei der Erniedrigung des Glucosespiegels unter den Sollwert.) Solche Gefühle spornen Dich zu den entsprechenden Handlungen an. Da gibt es Konkurrenzen und auch Synergien: eine Handlung kann gleichzeitig mehrere Istwerte in den Sollwertbereich bringen. (was Gefühle für Musik anbetrifft, habe ich mal gelesen, dass sogar Pflanzen auf gute Musik – Harmonien – reagieren, Hunde nicht auch?)
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 27. Sept. 2005, 09:55 Uhr
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> Entscheidend ist der Erhalt der Gruppe und deren Wachstum, die Interessen des Individuums müssen zurückstehen
Das Rudel wird nach meinen Beobachtungen bei Hunden als persönliches Eigentum des Leitwolfes betrachtet.


..... also wie beim homo catastrophicus !
dieser welt .......

aber für einen homo sapiens ist das zu dumm
er braucht keinen aus er wählten zum aus sterben
und sich damit rühmen !

er braucht nur andere weise ...........



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 27. Sept. 2005, 16:27 Uhr
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Hallo Abrazo,
Deine Reaktion auf meinen letzten Beitrag ist so, als hätte ich zum Problem des nicht Konsenswilligen geschrieben: "Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein."

Ich sage doch stattdessen: Wer sich angesichts von Konflikten nicht gewaltlos mittels akzeptabler Argumente auf eine Regelung einigen will, der hat damit die Ebene der Argumentation verlassen und der behält sich vor, ohne Rücksicht auf die Interessen anderer zu handeln.

Was ist daran falsch?

Die Beispiele, die Du bringst, betreffen gescheiterte Versuche, zu einem Konsens zu kommen. Wenn bestimmte Fragen nicht beantwortet werden können, dann ist es ohne weiteres möglich, dass der Dissens weiter besteht und dass mehrere Positionen nebeneinander rational vertretbar bleiben.

Wenn trotzdem gehandelt und eine praktische Entscheidung getroffen werden muss, dann verlässt man die Ebene der Diskussion, die auf inhaltliche Richtigkeit ausgerichtet ist, und geht über zu Verfahren der verbindlichen Setzung von Normen, also Abstimmungen, Befehlen von Vorgesetzten, Entscheidungen von Schlichtern usw.

Analyse und Bewertung derartiger Institutionen ist Gegenstand der politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie.

Die Aufgabe der Ethik ist es, genauer zu klären, welche Art von Argumenten intersubjektiv nachvollziehbar und akzeptabel ist und welche nicht. Denn Konsensunwilligkeit kann sich auch hinter Scheinargumenten verstecken, die einen Konsens gerade verhindern.

Um ein krasses Beispiel zu nennen: Wenn im Nahen Osten die Grenzverläufe regelt werden sollen, dann kann es kein intersubjektiv nachvollziehbares Argument sein zu sagen: „Dies Land ist uns von Gott versprochen worden, deshalb gehört es uns”, wenn die Parteien unterschiedlichen Religionen angehören.
Die Wege und die Hindernisse auf dem Wege zum argumentativen Konsens zu bestimmen halte ich für eine wichtige und dringliche Aufgabe der Philosophie.

Mit diesem programmatischen Satz sagt ‚tschüs’

Eberhard,



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 27. Sept. 2005, 21:30 Uhr
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Hi, Eberhard,

Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine Bekämpfung kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.
Vielleicht ist es dir gar nicht aufgefallen, weil es außerhalb deines Denkens ist. Aber die Konsequenz zu ziehen, dass nicht Konsenswillige dann eben mit Gewalt 'zur Vernunft' hin gezwungen werden müssen, ist heute sehr populär. Auch Popper z.B. vertritt sie. Von daher sind deine Sätze tatsächlich missverständlich.

Weiter schreibst du:
Die Aufgabe der Ethik ist es, genauer zu klären, welche Art von Argumenten intersubjektiv nachvollziehbar und akzeptabel ist und welche nicht.
und
Die Wege und die Hindernisse auf dem Wege zum argumentativen Konsens zu bestimmen halte ich für eine wichtige und dringliche Aufgabe der Philosophie.
und damit stimme ich dir vollkommen zu.

Aber du schreibst auch
Ich sage doch stattdessen: Wer sich angesichts von Konflikten nicht gewaltlos mittels akzeptabler Argumente auf eine Regelung einigen will, der hat damit die Ebene der Argumentation verlassen und der behält sich vor, ohne Rücksicht auf die Interessen anderer zu handeln.

Was ist daran falsch?
'Falsch' daran ist 'mittels akzeptabler Argumente'. Damit wären wir nämlich auf den Wegen und Hindernissen auf dem Wege zum argumentativen Konsens. Denn hängt nicht die Akzeptanz eines Argumentes wesentlich davon ab, als was ich die Welt, den Menschen und nicht zuletzt meinen Verhandlungspartner sehe? Ich hatte gesagt, der ethische Willen richtet sich immer auf eine Situation. Und wenn diese Situation von verschiedenen Menschen völlig anders gesehen wird?

Weiter kommt es darauf an, welchen Zielen Priorität eingeräumt wird. Auch das kann sehr unterschiedlich sein - ich erinnere an Reagans Satz: "Lieber tot als rot", der in den USA, ich glaube sogar, bejubelt wurde, während bei uns die Leute lautstark Protest brüllten.

Wie findet man einen argumentativen Konsens mit Gläubigen von Ideologien? Schau, es ist z.B. unmöglich, missionsversessenen Evangelikalen beizubringen, dass sie nicht alles dürfen. Die begreifen einfach nicht, dass die Bewohner entschieden etwas dagegen haben, wenn sie auf dem Marktplatz von Medina lautstark vom Christentum predigen und sie ne Tracht Prügel oder schlimmeres kassieren. Ist vollkommen unmöglich, die kapieren das nicht. Ich bin sogar mit dem Beispiel gekommen, wenn die vor meinem Balkon anfangen würden zu predigen und trotz mehrfacher Mahnung nicht damit aufhören würden, ich würd ihnen den Hund schicken. Nix zu machen, die betrachten so was als Christenverfolgung. Das heißt, du musst nicht nur Konsenswilligkeit voraussetzen, du musst auch Konsensfähigkeit voraussetzen. Und das scheint mir sogar das größere Problem zu sein: Wat machste mit denen, die nicht konsensfähig sind? Da fällt mir nämlich, muss ich sagen, zur Zeit gar nichts ein.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 27. Sept. 2005, 22:46 Uhr
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Hallo urs,
da Deine Frage nicht in den Kontext passt, habe ich Dir hier die Frage, was meine Absicht ist, beantwortet:
http://www.philtalk.de/cgi-bin/YaBB.cgi?board=sozial;action=display;num=1083137042;start=150
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 28. Sept. 2005, 10:05 Uhr
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> Die Aufgabe der Ethik ist es, genauer zu klären, welche Art von Argumenten intersubjektiv nachvollziehbar und akzeptabel ist und welche nicht. Denn Konsensunwilligkeit kann sich auch hinter Scheinargumenten verstecken, die einen Konsens gerade verhindern.


..... inter subjektivität hat weder zwingend mit menschen würde
mit gerechtig keit
oder mit der wahr heit zu tun !

das sieht mensch ja hier immer so jeden tag be wiesen ...

sondern mit den über ein künften eines macht rudels !



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 28. Sept. 2005, 23:20 Uhr
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Hi, doc rudi,

meinst du nicht, zumindest die Menschen aus unserem Kulturkreis wären schon egozentrisch genug? Meinst du, das müsse man noch fördern?

Meinst du nicht, es wäre mal angebracht, den Kopf zu heben um festzustellen, dass nicht der eigene Bauchnabel die Mitte der Welt ist?

Wenn du gewisse Phänomene, wie durch Werbung provozierte Kaufwut, kritisierst - ja, wie soll denn einer merken, dass er mit dem Produkt, das er kauft, nicht sein Bedürfnis befriedigt, sondern das des Produzenten, wenn er nur sich und seine eigenen Interessen im Blick hat? Je mehr Mensch zurückgeführt wird auf sein 'einzigartiges individuelles Ich', desto dümmer wird er der Außenwelt gegenüber.

Übrigens, Herr Hund hört außerordentlich gerne Hörspiele. Am liebsten große Literatur. Aber irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass er dafür andere Gründe hat als ich.
;-)

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 29. Sept. 2005, 00:39 Uhr
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Hallo Abrazo,

heute leider nur kurz. Es geht um die Wege zu einem Konsens in moralischen Fragen. Du betonst zu Recht, dass eine übereinstimmende moralische Beurteilung eine übereinstimmende Sicht des betreffenden Sachverhalts voraussetzt.

Wahrscheinlich geht der überwiegende Teil des moralischen Dissens auf das Konto von unterschiedlichen Annahmen über die Beschaffenheit der Welt.

Deshalb sehe ich die Bemühungen um eine rationale Ethik in engem Zusammenhang mit den Bemühungen um eine rationale Erkenntnis der Wirklichkeit.

In Bezug auf empirische Fragen nach dem, was ist, sind wir hinsichtlich der Konsens stiftenden Methoden jedoch schon entschieden weiter als in Bezug auf normative Fragen, nach dem, was sein soll. Hier müssen wir erst lernen, konsequent nach der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit aller Argumente und Behauptungen zu fragen.

Es gibt noch viel zu roden und noch mehr zu pflanzen im Bereich der Philosophie,

meint Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 29. Sept. 2005, 10:47 Uhr
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...... vor allem die wahr heit sollten wir pflanzen !
nicht diese roden !

ignorieren ?



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 29. Sept. 2005, 11:04 Uhr
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Hallo,
@abrazo: wie kommst Du auf Egozentriker? Der Mensch soll unterscheiden können zwischen seinen Interessen und den Interessen anderer (und denen von Systemen höherer Ordnung: Interessen des Staats vor allem). Ich sehe dies als Selbstbewusstsein an, nicht als Egozentrik.
Meine Rodungsarbeiten sind übrigens zunächst mal abgeschlossen. Begriffe wie Bewusstsein, Subjekt u.a. habe ich abgeschafft und neue Pflanzen gesetzt (z.B. System Mensch, Effektor, Dominator, geistiger Raum u.a.) und nehme vor allem keine Wertungen vor.
Bestimmte Pflanzen habe ich auch stehen gelassen (Ich und Nicht-Ich, Wahrnehmung, u.a.)
Man kann ja nicht nur hin und her grübeln, sondern muss auch mal zu Entscheidungen kommen.
Was hast Du denn eigentlich abgerodet?
@Eberhard: Du sprichst von einer rationalen Erkenntnis der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wird nach meiner Überzeugung nicht wie in einem guten Spiegel von uns erkannt, sondern von jedem von uns aktiv konstruiert. Bereits unsere Wahrnehmung ist eine Konstruktion, auf die wir gar keinen bewussten Einfluss nehmen können.
Die Wahrheit sollten wir allerdings stehen lassen, da gebe ich
homo sapiens Recht. Nur: sie steht nicht irgendwo versteckt herum, sondern sie ist ein Ziel, von dem wir nicht einmal wissen, wie es aussieht und wo es ist.
Wie sollten wir sie da pflanzen?
Gruß
rudi



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 29. Sept. 2005, 11:47 Uhr
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> Der Mensch soll unterscheiden können zwischen seinen Interessen und den Interessen anderer (und denen von Systemen höherer Ordnung: Interessen des Staats vor allem). Ich sehe dies als Selbstbewusstsein an, nicht als Egozentrik.


..... es be deutet aber dumm heit !

weil wenn ich den staat um bringe
die andern

was dann ?

und wenn mich die andern nicht kümmern
was werden die wohl für mich dann tun ?
lang fristig .....


> Die Wahrheit sollten wir allerdings stehen lassen, da gebe ich
homo sapiens Recht. Nur: sie steht nicht irgendwo versteckt herum, sondern sie ist ein Ziel, von dem wir nicht einmal wissen, wie es aussieht und wo es ist.
Wie sollten wir sie da pflanzen?


....... sie ist doch soooo er sicht lich
ausser für einen blinden .........

der für gerade zu diesen >> bösen staat <<

die subjekte gegen diesen auf stacheln will
damit sie noch mehr auf ihn an ge wiesen

weil wer wird sich um sie kümmern

wenn sie soooo >> ich << be sessen ????



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 29. Sept. 2005, 13:22 Uhr
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Hallo homo sapiens,
wer will den bösen Staat umbringen?
Ich selbst treffe gar keine Wertungen, für mich ist nichts böse oder gut, sondern verständlich (oder sehr selten: unverständlich). Das System Staat ist als außenpolitisch tätiges System (ein lebendes System handelt, auch der Staat) überflüssig. Das betrifft z.B. Kriege. Diese Selbstentfaltung ist passe. Als Ordnungshüter nach innen (das betrifft die Selbsterhaltung), und daher zum Interessenausgleich zwischen den Individuen, also also als Steuern-Erheber und Steuern- Verteiler (und Recht Sprecher und - Durchsetzer) ist dieses System höherer Ordnung erforderlich und eine sinnvolle Einrichtung für das Zusammenleben von Menschen-Massen.
Dieses Zusammenleben muss organisiert werden. Und dafür braucht es Regeln und Institutionen, die die Einhaltung der Regeln von allen überwachen.
Diese Regeln gibt es schon und Eberhard möchte diese anscheinend einer Prüfung unterziehen. Sie könnten eventuell verbesserungsfähig sein. Zum Teil sind sie auch gar nicht bewusst und nicht schriftlich fixiert.
So verstehe ich das Ziel dieses threads, das aus meiner Sicht in der Überschrift etwas ungünstig formuliert ist, aber Eberhard hat es ja erläutert.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 29. Sept. 2005, 18:10 Uhr
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Hallo doc rudi,

Du schreibst: „Ich selbst treffe gar keine Wertungen“. Wenn ich Deine Beiträge durchsehe, dann stoße ich jedoch immer wieder auf positive Stellungnahmen (dass etwas so sein, bleiben oder werden soll) oder negative Stellungnahmen (dass etwas nicht so sein, bleiben oder werden soll). Oder enthalten die folgenden Zitate von Dir keine Wertungen?

ZUM GLÜCK sind Ehrenmorde auch bei uns strafbar.

Diese Droge wirkt jedoch, und darüber SOLLTE sich der Konsument vorher informieren, auf die Hirnfunktion und kann damit auch die Umsetzung von Willensentschlüssen in Handlung verändern.

Wieso VERGEUDET IHR ZEIT MIT UNSACHLICHKEIT anstatt Euch mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen?

Dass unsere Rechtsnormen die Spielregeln unserer Gesellschaft sind, darauf hatte ich mit diesen Worten bereits hingewiesen, und die gleiche Frage wie Du gestellt, nämlich WOZU WIR MORALISCHE NORMEN NOCH BENÖTIGEN.
Meine Frage geht noch weiter und an Dich:
Wozu benötigst Du noch einen ethischen Willen?
Beides ist VON DER GESCHICHTE ÜBERHOLT.

Die moralischen Normen und die Ethik hatten eine bestimmte Funktion für den Zusammenhalt eines lebenden Systems höherer Ordnung.
Diese Funktion ist inzwischen von unseren Rechtsnormen übernommen worden.
Sie NÜTZEN DEM FRIEDLICHEN ZUSAMMENLEBEN Der Menschen.

Ich EMPFEHLE GEOkompakt Nr.4,

Der ethische Wille ist keine Realität. ES WÄRE SCHÖN, wenn es ihn gäbe.

Die ursprünglich natürliche Verhaltensweise der Einordnung in eine Gemeinschaft MUSS daher beim Menschen einerseits durch Propaganda, andererseits durch normative Ethik und Strafrecht ÜNTERSTÜTZT WERDEN.

Im Grunde hat der Mensch sogar im Extrem die Freiheit, auch auf die biologisch vorgesehene Belohnung zu verzichten und gewinnt dadurch ein OPTIMUM AN FREIHEIHEIT.

Als Steuern-Erheber und Steuern- Verteiler (und Recht Sprecher und - Durchsetzer) ist dieses System höherer Ordnung (der Staat) erforderlich und eine SINNVOLLE EINRICHTUNG für das Zusammenleben von Menschen-Massen.
Dieses Zusammenleben MUSS organisiert werden. Und dafür BRAUCHT ES Regeln und Institutionen, die die Einhaltung der Regeln von allen überwachen.

Soweit die Zitate. Es scheint gar nicht so leicht zu sein, ohne Wertungen auszukommen und keine Stellung zu nehmen.

Zu einem Wert bekennst Du Dich übrigens sogar ausdrücklich, wenn Du schreibst:

„Die Wahrheit sollten wir allerdings stehen lassen, … Nur: sie steht nicht irgendwo versteckt herum, sondern sie ist ein Ziel.“

Ohne die Orientierung an diesem Ziel wüsste ich auch nicht, warum wir hier diskutieren sollten.

Es grüßt Dich Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 29. Sept. 2005, 18:42 Uhr
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Hallo Eberhard,
der Ausgangspunkt meiner Philosophie besteht darin, die Bewegungen lebender Systeme wertungsfrei zu betrachten.
Aus der Philosophie heraus ergeben sich dann selbstverständlich Voraussagen und Wertungen dazu, was die Entwicklung fördert und was sie hemmt.
Außerdem erlaube ich mir selbstverständlich gelegentlich auch, meine Gefühle und Gedanken unzensiert zu äußern.
Meine Stellungnahmen sind dadurch nicht stringent.
Regeln und Gesetze zu finden, ist die eine Sache.
Sie zu brechen oder wieder in Frage zu stellen, die andere.
Vorsätze zu haben und sie nicht einzuhalten - scheint mir menschlich, und ich bin nun einmal Mensch.
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 29. Sept. 2005, 20:35 Uhr
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Hi, Eberhard,

dass ich jemandem hundertprozentig zustimmen kann, ist so selten, dass es für mich immer ein ehrlicher Grund zur Freude ist.
[bounce]

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 29. Sept. 2005, 20:43 Uhr
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Hi, doc rudi,

Begriffe wie Bewusstsein, Subjekt u.a. habe ich abgeschafft und neue Pflanzen gesetzt (z.B. System Mensch, Effektor, Dominator, geistiger Raum u.a.) und nehme vor allem keine Wertungen vor.
Und du meinst, man löst ein Problem dadurch, dass man Begriffe abschafft?
[grin]
Hast du dir auch mal überlegt, wen es interessieren sollte, dass du diese Begriffe deiner Ansicht nach abgeschafft hast?

Regeln und Gesetze zu finden, ist die eine Sache.
Sie zu brechen oder wieder in Frage zu stellen, die andere.
Damit bewegst du dich ausschließlich im Bereich von Normierungen, Soll-Vorschriften, und das setzt Wertungen voraus.
Du wertest also. Aber warum sollte irgend einer deiner Wertung folgen, wo du sie doch nie begründest?

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 29. Sept. 2005, 22:27 Uhr
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Hallo doc rudi,

das Problem bei Deinem Ansatz sehe ich darin, dass Du entgegen Deinen erklärten Absichten wertende Konsequenzen aus Deiner in systemtheoretischen Begriffen formulierten Weltsicht ziehst, ohne dass diese Wertungen als solche kenntlich gemacht werden. Man nennt dies den „naturalistischen Fehlschluss“ (naturalistic fallacy), weil die Normen aus der Natur der Sache zu folgen scheinen.

Bei Dir geschieht dieser heimliche Übergang von der Beschreibung und Erklärung dessen, was ist, zu wertenden Stellungnahmen (dass das was ist, auch so sein soll oder nicht so sein soll) durch die positiv-normative Doppeldeutigkeit von Begriffen wie „Ziel“, „Entwicklung“, „Selbstentfaltung“, „(System-)Erfordernis“, „notwendige Funktion“, „höhere Ordnung“ und ähnlichem.

„Das System Staat ist als außenpolitisch tätiges System (ein lebendes System handelt, auch der Staat) überflüssig. Das betrifft z.B. Kriege. Diese Selbstentfaltung ist passe. Als Ordnungshüter nach innen (das betrifft die Selbsterhaltung), und daher zum Interessenausgleich zwischen den Individuen, also als Steuern-Erheber und Steuern- Verteiler (und Recht Sprecher und - Durchsetzer) ist dieses System höherer Ordnung erforderlich und eine sinnvolle Einrichtung für das Zusammenleben von Menschen-Massen.
Dieses Zusammenleben muss organisiert werden. Und dafür braucht es Regeln und Institutionen, die die Einhaltung der Regeln von allen überwachen. Diese Regeln gibt es schon.“

Das Problem ist also nicht das allzumenschliche gelegentliche Verstoßen gegen selbst gesetzte methodische Regeln, sondern eine systematische Schwäche der Theorie. Denn: Welche Phänomene kannst Du mit Deiner Theorie erklären, die andere Theorien nicht erklären können? Wo ist die empirische Forschung und die Überprüfung von Gesetzeshypothesen bzw. empirischen Regelmäßigkeiten oder Zusammenhängen?

Was kann z.B. Deine Theorie höherer Systeme über die Gründe für das Zusammenbrechen des Systems „Deutsches Reich“, das Entstehen der Systeme „Bundesrepublik Deutschland“ und „Deutsche Demokratische Republik“ und den Untergang des letzteren Systems sagen?

Ich habe den Eindruck, dass Deine Beschreibung der Welt in systemtheoretischer Terminologie - ohne dass Du Dir dessen bewusst bist - eher anderen Zwecken dient als der Erklärung von Fakten.

Es grüßt Dich Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 29. Sept. 2005, 23:09 Uhr
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ja welchen Zwecken soll sie denn dienen, außer, die beobachtbaren Tatsachen besser beschreiben und einfacher begründen zu können - die Frage nach dem Warum zu beantworten?
Gruß
rudi

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 29. Sept. 2005, 23:14 Uhr
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Aber du begründest doch gar nicht!

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 01. Okt. 2005, 08:37 Uhr
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Hallo,
ein bisschen viel auf einmal.
Auf Eberhards Fragen muss ich in Ruhe antworten und bitte um etwas Geduld. Die Geschichte Deutschlans ist sehr interessant und hat mich überhaupt mit dazu gebracht, zwischen lebenden Systemen der Ordnungshöhe Individuum und lebenden Systemen höherer Ordnung zu unterscheiden. Das Kapitel "Die Geschichte Deutschlands" habe ich allerdings aus meinem ersten Buch gestrichen, um Missverständnisse zu vermeiden. Auf die stoße ich alerdings dennoch laufend.

Abrazo fragt: "Und du meinst, man löst ein Problem dadurch, dass man Begriffe abschafft?"
Die Begriffe, mit denen Philosophie derzeit immer noch hantiert: Subjekt, Bewusstsein usw. resultieren aus einer überholten Weltsicht.
Die Welt ist nicht aus kleinsten Bausteinen (Atomen) zusammengesetzt, und auch nicht aus mehreren Substanzen, deren Mischungsverhältnis die Objekte ergibt,
sondern:
die Welt besteht aus Systemen.
Es gibt Nicht-lebende und Lebende Systeme. Und die Systeme sind ineinander verschachtelt (größere sind aus kleineren zusammengesetzt, Lebende sind aus Nicht-lebenden zusammengesetzt).
Systeme Verhalten sich entsprechend bestimmten Regeln (Gesetzen).
Ein weiterer wichtiger Begriff ist: Daten.
Die Frage ist doch, mit welchen Begriffen die Welt einfacher beschreibbar ist.
Die Abschaffung der alten Begriffe ergibt sich aus der neuen Weltsicht. Damit sind naürlich nicht alle Probleme beseitigt,
sondern:
es ergeben sich ganz neue Probleme und Fragestellungen.
Schönes Wochenende (vielleicht komme ich mal zum Nachdenken)
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 01. Okt. 2005, 09:32 Uhr
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Hi, doc rudi,

ob du von Atomen sprichst oder von Systemen, bleibt sich völlig gleich. In jedem Falle sprichst du von an sich existierenden Dingen. Und wenn du von Gesetzmäßigkeiten sprichst, stellt sich die Frage, woher die denn kommen. Wissen ist Wissen aus den Ursachen, sagte schon der olle Aristoteles, die Philosophie ist da also sehr gründlich. Wenn du z.B. von Gesetzen sprichst, wird ein Philosoph dich früher oder später fragen, wat meinste eigentlich mit Gesetz?

Übrigens, so neu ist diese Sicht nicht. Schau dir mal die Sprache an. Wir reden nicht von vielen Bäumen, wir reden von Wald. Nicht von paar Häusern nebeneinander, sondern von einem Dorf. Nicht von einer Gruppe Wölfe, sondern von einem Rudel. Es für solche Einheiten sehr alte Wörter, das heißt, sie wurden schon immer als System gesehen.

Die Frage, aus welchen Einzeleinheiten bestehen solche Systeme und wie bilden sie ein System, sprich, wie funktioniert so ein System, ist eine Frage, mit der sich die Makrosoziologie befasst.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am 01. Okt. 2005, 10:15 Uhr
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> Hallo homo sapiens,
wer will den bösen Staat umbringen?


..... wer redet denn von um bringen !

rudi und alle > selbst be wußten <
die alle samt ohne ge samt be wußt sein !

haben doch die ganze welt schon um ge bracht !
sonst würde doch keine partei von arbeit schaffen reden ?
von > menschen würdigen < staat lich lizenzierten wölfen !
von konsum ge sell schafft !
von aus sterbe qualität !

sonst würde doch ein ge samt be wußter
etwas freudiges finden irgend wo
an diesen selbst be wußten aus sterbenden

lange weilern !

die noch nicht ein mal eine inteligente diskusion führen können !
ge schweige denn die daraus folgenden lösungen um setzen .....

hättet ihr etwas an zu bieten
dann könntet ihr doch mit andern reden ......

nicht nur den massen wahn sinn propagieren !



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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 01. Okt. 2005, 16:32 Uhr
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Hallo Abrazo,

zum Ethischen Willen, der nach Deiner Ansicht in jedem Menschen existiert.

Kann man daraus allgemeingültige Regeln des Umgangs miteinander gewinnen?

Vieles spricht dafür, dass ethische Einstellungen stark kulturabhängig sind.

Wenn man Schamgefühle zum ethischen Willen rechnet (nach Nietzsche unterscheidet das den Menschen von den andern Tieren: Der Mensch ist das Tier, das sich schämt), so zeigen sich in Bezug auf die Verhüllung des Körpers große Unterschiede, z.B. bei der weiblichen Brust.

Wenn der vorhandene Ethische Wille das Fundament ist, dann kann die Moralphilosophie eigentlich nur die Sachverhalte klären und die dazu vorhandenen ethischen Intuitionen registrieren und systematisieren.

Allerdings stellen die - unbestritten vorhandenen - moralischen Gefühle für Positionen, die Normen aus einer Abwägung der beteiligten Interessen gewinnen wollen, eine Schwierigkeit dar. Denn niemand kann über seinen Schatten springen: Wer prüde erzogen wurde, ist davon lebenslang geprägt, selbst wenn er seine Schamgefühle und Hemmungen bei vernünftiger Betrachtung als unbegründet ansieht.

Es grüßt Dich Eberhard.


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 02. Okt. 2005, 08:23 Uhr
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Hallo abrazo,
Du fragst, was ich mit Gesetz meine.
Mit Gesetz meine ich das, was Naturwissenschaftler darunter verstehen. Bezogen auf den Menschen sind es die Ursachen (Antriebe) des Verhaltens. Die lassen sich beim Menschen natürlich schlecht mathematisch formulieren. Im Unterschied zu den Nichtlebenden Systemen bestimmen diese Gesetze das Ziel des Handelns und lassen den Weg offen. Bei materiellen Objekten ist die Bewegungsbahn berechenbar, bei Lebenden Systemen nur das Ziel.
Der Mensch in einer organisierten Masse (einem Staat z.B.) verhält sich nun nicht nur im Sinne seiner individuellen Ziele, sondern im Sinne der Ziele der Gruppe, des Staates (also des Systems höherer Ordnung).
Da sind wir bei der sogenannten Ethik.
Und das Ziel der Selbsterhaltung der Gruppe ist der individuellen Selbsterhaltung übergeordnet. Ursprünglich, natür-lich.
Deshalb verhält sich das Individuum angepasst, ordnet sich ein, bekommt Kinder (für den Staat) opfert sich im Krieg für den Staat. Im Interesse der Gemeinschaft kümmert sich das Individuum um Schwache.
Dieses (ethische) Verhalten wird durch bestimmte Befriedigungsgefühle gesteuert, die genetisch angelegt sind, für soziales Verhalten wird das Individuum gelobt (narzisstische Befriedigung). Also: wenn Du die Ziele der Gemeinschaft verfolgst (friedliches Zusammeleben) bist Du ein Guter. Diese Verhaltensziele sind im Über-Ich verankert. Dieses Über-Ich bestraft Dich nicht nur, wenn Du gegen die Ziele der Gemeinschaft verstößt ("schlechtes Gewissen"), sondern es lobt Dich auch, wenn Du sie einhältst (Du darfst Dich gut fühlen).
Objektiv besteht daher konkret in vielen Situationen ein Interessengegensatz zwischen den individuellen Interessen und den Interessen der Gemeinschaft (wenn Du einen Euro in der Tasche hast, kannst Du Dir ein Eis kaufen oder diesen einem Bettler geben, damit der nicht Klauen geht). Und in diesem Interessenskonflikt entscheiden sich die Individuen der westlichen Kultur mehr und mehr für ihre Eigeninteressen und gegen das Gemeinschaftsinteresse. Zum Beispiel nimmt die Geburtenrate ab, denn Kinderkriegen ist Gemeinschaftsinteresse.
Das muss im Einzelfall aber jedem Individuum überlassen bleiben.
Da jedoch die Überbewertung des Eigennutzes gefährlich für die Existenz (die Selbsterhaltung) der Gemeinschaft ist, erhebt der Staat Steuern und sorgt damit für einen Interessenausgleich.
Er erspart damit den besitzenden Individuen einen Interessenkonflikt.

Nun zu Eberhards Frage zur Deutschen Geschichte, natürlich ganz kurz, da es eigentlich nicht zum Thema gehört:

Das Deutsche Reich ist 1871 gegründet worden. Vorher gab es kleinere Staaten. Kant war beispielsweise Preuße – und er dachte preußisch. Fichte, unser Ich-Philosoph, dachte bereits deutsch und legte damit einen Identifikationskern. Die Identifikation der Individuen mit bestimmten Ideen, die das System höherer Ordnung charakterisieren, ist für die Selbsterhaltung so eines Systems höherer Ordnung wichtig.
Ein lebendes System ist durch seine Begrenzung definiert. Lebende Systeme haben eine offene Grenze, sie leben im Austausch mit ihrer Umwelt bzw. anderen Systemen (höherer Ordnung). So auch das Deutsche Reich. Lebende Systeme haben eine Vergrößerungstendenz, sie wachsen, haben – zunächst – ein Bevölkerungswachstum (Selbstentfaltung).
So auch das Deutsche Reich.
Wachstumsprozesse werden durch Regelkreise mit positiver Rückkopplung gesteuert, das erwünschte Verhalten wird belohnt. Dadurch wachsen sie ständig weiter, ein lebendes System höherer Ordnung wächst so lange weiter, bis es sich über die gesamte Erdoberfläche ausgebreitet hat. Das Wachstum wird nur dadurch begrenzt, dass auch andere lebende Systeme existieren, die zu ihrem Wachstum den gleichen Raumbenötigen. Deshalb sind Kriege durch dieses Wachstumsgesetz vorprogrammiert. Die physikalischen Grenzen der Staaten bestimmen sich dann aufgrund der Wachstumsstärke der verschiedenen Staaten.
So auch in Mitteleuropa. Deutschland wurde also durch den Gegendruck der Nachbarstaaten wieder verkleinert und geteilt. Wie im zwischenmenschlichen Bereich bilden sich auch auf der Ebene der Staaten Koalitionen, Blöcke. Die beiden Teile Deutschlands wurden jeweils als Koalitionspartner benötigt, dadurch haben sie überlebt.
Ein System Staat benötigt zum Wachstum Energie (=Geld). Westdeutschland wurde finanziell unterstützt und wuchs (Wachstum zeigt sich in der Zunahme der Bevölkerungszahl und im Wirtschaftswachstum), Ostdeutschland wurde seine Wachstumskraft (Geld, Maschinen) entzogen, konnte dadurch nur langsam wachsen. Hinzu kommt hier noch ein besonderer Punkt: lebende Systeme sind offen, die DDR hat sich jedoch abgeschottet, gegenüber dem Westen verschlossen. Ein System, das seine Grenzen undurchlässig macht, stirbt jedoch. Es erfüllt nicht mehr die Voraussetzungen eines lebenden, also begrenzten und offenen Systems.
So ganz kurz und einfach die Erklärung des Verhaltens Deutschlands.
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von gestell am 02. Okt. 2005, 10:40 Uhr
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on 10/02/05 um 08:23:17, doc_rudi wrote:Da sind wir bei der sogenannten Ethik. / Nun zu Eberhards Frage zur Deutschen Geschichte,...



Ganz schön abgeklärt. Sehe beide Punkte ziemlich ähnlich. Ist nicht die Moral das Unleidigste überhaupt, sofern sie nicht von mir selbst stammt?

gestell [grin]

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Eberhard am 02. Okt. 2005, 15:47 Uhr
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Hallo doc rudi,

Du schreibst:

Dir geht es nicht um die Beantwortung ethischer Fragen, wie Menschen handeln sollen, sondern Du willst mit Deiner Theorie ohne eigene Wertung erklären, warum die ethischen Normen so beschaffen sind, wie sie sind.

Dazu schreibst Du:

"Der Mensch in einer organisierten Masse (einem Staat z.B.) verhält sich nun nicht nur im Sinne seiner individuellen Ziele, sondern im Sinne der Ziele der Gruppe, des Staates (also des Systems höherer Ordnung). Da sind wir bei der sogenannten Ethik.
Und das Ziel der Selbsterhaltung der Gruppe ist der individuellen Selbsterhaltung übergeordnet. … Deshalb verhält sich das Individuum angepasst, ordnet sich ein, bekommt Kinder (für den Staat) opfert sich im Krieg für den Staat. Im Interesse der Gemeinschaft kümmert sich das Individuum um Schwache."

Was trägt das zu unserer Fragestellung bei? Ist es nun im Interesse des Staates, den Süchtigen verkommen zu lassen oder ist es im Interesse des Staates, dass irgendjemand das Recht zum Eingreifen erhält?

Wie verträgt sich die Reduzierung des ethischen Handelns auf die Staatsräson mit der Tatsache, dass für Menschen in anderen Erdteilen Geld gespendet wird?

fragt Dich Eberhard?


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 02. Okt. 2005, 17:27 Uhr
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Hallo Eberhard
Deine 1. Frage: "Ist es nun im Interesse des Staates, den Süchtigen verkommen zu lassen oder ist es im Interesse des Staates, dass irgendjemand das Recht zum Eingreifen erhält?
Antwort: Es ist eindeutig im Interesse der Gemeinschaft, Süchtigen zu helfen, vom Suchtmittel wegzukommen, notfalls sogar ohne oder gegen ihren Willen. Deshalb sind die entsprechenden Gesetze vom Volk geschaffen worden (Entmündigung, Zwangseinweisung in geschlossene Kliniken).
Biologische (ethische) Gründe: die genetisch gespeicherten Verhaltensprogramme dieser Menschen sind genauso wertvoll wie die jedes anderen Menschen, deshalb haben sie das gleiche Recht auf Vermehrung. Zweitens können sie nach Wiederherstellung ihrer Leistungsfähigkeit wertvolle Arbeit für die Gemeinschaft leisten.
Deine 2. Frage: "Wie verträgt sich die Reduzierung des ethischen Handelns auf die Staatsräson mit der Tatsache, dass für Menschen in anderen Erdteilen Geld gespendet wird?
Antwort: Gar nicht. Die Spenden für Menschen in anderen Erdteilen ist gar keine Handlung des Systems höherer Ordnung (also keine Handlung des System Staat), sondern das Handeln von Individuen (von Systemen Mensch).
@abrazo
Du sagst: "ob du von Atomen sprichst oder von Systemen, bleibt sich völlig gleich. In jedem Falle sprichst du von an sich existierenden Dingen."
Sehr richtig, da sind wir uns einig. Ich treffe lediglich eine andere Einteilung der Phänomene, die wir beide gleich beobachten. Nur ist das nicht egal, wie man die Dinge einteilt. Übrigens ist ein tatsächliches Atom (nicht die Idee des Atoms) auch ein System, nämlich ein Nichtlebendes, das aus Elektronen, Protonen und Neutronen besteht. Tatsächlich gibt es nämlich kein kleinstes Teilchen. Die Größe des sogenannten kleinsten Teilchens ist lediglich durch die Feinheit unserer Messinstrumente definiert und wird sich immer wieder als ein System entpuppen, das aus noch kleineren Teilen besteht.
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 02. Okt. 2005, 22:36 Uhr
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Hi, doc rudi,

nun halte ich aber die atomistische Sicht für falsch und bin der Ansicht, dass es keine Dinge an sich gibt.

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von doc_rudi am 02. Okt. 2005, 23:08 Uhr
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da haben wir allerdings einen Dissens.
ich denke wie Kant, dass es Dinge objektiv gibt, dass wir sie nur an sich nicht erkennen können.
Allerdings sind wir selbst ebenfalls ein solches Ding und wissen daher ohne Wahrnehmung, was wir jeweils an sich sind.
Aber: welche Sicht ist denn Deines Erachtens wahr, wenn es kein Ding an sich gibt?
Dann existiert doch außer Dir nichts. Was soll dann ein ethischer Wille?
Gruß
rudi


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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am 02. Okt. 2005, 23:36 Uhr
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Hi, doc rudi,

das könnte ich im Thread von Urs erläutern. Allerdings erweist es sich schon als Problem, allein die Basis verständlich zu machen.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von Abrazo am Vorgestern, 00:30 Uhr
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Hi, Eberhard,

Zunächst die Frage: was ist mit Scham überhaupt gemeint?

Man spricht von einem, der schamlos lügt. Sich in schamverletzender Weise zu zeigen ist ein juristischer Terminus (verletzt wird dabei der, der das sieht). Als die Scham werden auch primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale bezeichnet. "Schämst du dich nicht" sagt man zu einem, der sich rüpelhaft benimmt.

Ich denke man kann sagen, eigene Scham soll unehrenhaftes Verhalten verhindern. Ich denke auch, dass Nietzsche eher das gemeint hat. In dieser Hinsicht wäre Scham dem Bereich Ethik zuzuschlagen.

Widersprechen tut dem allerdings die 'schamverletzende Weise'. Denn warum sollte ich mich verletzt fühlen, nicht von den Folgen der Tat, sondern von der Tat selbst, wenn ein anderer sich unehrenhaft benimmt? Diese Formulierung würde ich eher dem Bereich Moral zuschlagen. Denn sie betrifft die Übertretung einer moralischen Norm: insbesondere nicht vor anderen zu masturbieren.

Du sprichst davon, dass man körperliche Scham anerziehen kann. Aber wäre das die Anerziehung eines ethischen Willens oder die Anerziehung einer moralischen Norm? Ich denke, einer moralischen Norm.

Man kann Scham übrigens auch aberziehen. Am brutalsten dadurch, dass man einen Menschen zerbricht, wie es Zuhälter traditionell mit ihren Opfern machen. Für das Vorhandensein einer angeborenen Scham spricht übrigens, dass das nicht vorhanden sein der Scham ein psychisches Krankheitssymptom ist (wobei ich mich frage, ob das gewordene nicht vorhanden sein der Scham in einer Gesellschaft nicht auch eine Art Krankheitssymptom ist).

So einfach ist das also nicht. Wir haben ein Wort, das in unterschiedlichen Kontexten gebraucht wird. Auch in ethischem, aber offenbar auch in anderen. Ich nehme an, es gibt sogar eine biologisch programmierte Scham. Viele Hündinnen z.B. reagieren ausgesprochen ungehalten, wenn Rüden sich außerhalb der Läufigkeit an ihrem Hinterteil zu schaffen machen - beim Menschen würde man das Scham nennen.

Aus diesem ganzen Gebrauchsgewirr müsste man erst einmal das isolieren, was Scham im ethischen Sinne genannt werden kann. Einen Tipp zum Thema körperliche Scham gibt übrigens der Koran. In dem - außer für die Frauen Mohammeds - definitiv kein Verschleierungsgebot steht. Dafür ein anderes Gebot: Frauen sollen sich in Kleidung und Benehmen nicht so verhalten, dass man sie für Prostituierte hält. Das würde zu einer ethischen Frage führen: ist es in Ordnung, wenn ich meinen Körper, im Grunde mich selbst, anderen als Ware zum Gebrauch verkaufe? Oder will ich das nicht?

Wenn wir dies als ethische Frage akzeptieren, ist klar, dass die Kleidung eine kulturelle Frage ist. Dann wäre erst einmal zu untersuchen, ob in Kulturen, in denen so gut wie keine Kleidung getragen wird, auch die Prostitution kein Problem ist (was ich bezweifle), und ob nicht auch dort ein Verhalten, das als Prostitutionsangebot gilt, als unmoralisch abgelehnt wird.

Die Moralen sind ja kulturell höchst unterschiedlich. Und sie werden auch unterschiedlich bleiben, wenn man die Kulturen nicht zerstört. Liegt diesen unterschiedlichen Moralen nicht dennoch eine gleiche Ethik zugrunde?

Zum zweiten denke ich nicht, dass die Ethik die Moralphilosophie abschaffen würde. Denn dazu sind die moralischen Fragen in aller Regel zu kompliziert. Ich denke, es verhält sich wie mit der Mathematik. Hat man das Grundprinzip der Zahlen begriffen, kann man noch lange nicht die Statik einer Brücke berechnen. Gut, Spezialisten können das. Aber die Mehrheit der Menschen eben nicht. Die haben schon Schwierigkeiten, die Quadratmeter ihrer Wohnung zu berechnen, wenn sie die erlernte Formel vergessen haben.

Deswegen ist für mich die wichtigste Frage, auf was man eine Moralphilosophie stützen will. Auf die gemeinsamen Interessen, wie die Kommunisten? Oder auf die Biologie, wie z.B. Nationalsozialisten? Ich denke, stützen kann man sie nur auf das, was gerade diesen Moralen vehement widersprach: auf den ethischen Willen.

Wie schwierig es tatsächlich ist, herauszufiltern, wo und wann bei Verhaltensnormen Ethik überhaupt betroffen ist, sehen wir ja am Beispiel Scham.

Gruß

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Titel: Re: Darf man sich selbst zugrunde richten? II
Beitrag von homo_sapiens am Gestern, 10:08 Uhr
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..... daß die meute dieses landes
sich immer nur zu neuen blamagen
zu sammmen schließt .....

und jeden menschen > ver gast <
damit sie un ge stört dies auch tun !

weis ja ein jeder auf dieser welt
seit spätestens 60 jahren !


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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Darf man sich selbst zugrunde richten? II" / Letzte Bearbeitung siehe Beiträge / Eberhard Wesche u. a.

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