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PhilTalk-Diskussion
 

Wahrheit IV

(Diskussion bei PhilTalk)

- IV
- jacopo_belbo am 01. Dez. 2004, 08:19 Uhr

hallo allerseits und schönen guten morgen :)

im rahmen unserer diskussion können wir uns darauf einigen, fragen nach dem eigen- und fremdpsychischen, die frage nach "schmerz" auszuklammern; sie aber gleich nicht als aussagen über die wirklichkeit zuzulassen, bedarf der begründung. nur, weil eine diskussion schwierig werden könnte, ist das noch kein grund, sie nicht zuzulassen. im verlauf der bisherigen diskussion haben wir fragen dieses gebiet betreffend hintangestellt - aber nicht vergessen.

wer die diskussion aufmerksam verfolgt und mit interesse gelesen hat, wird gemerkt haben, dass wir an keiner stelle mehr als nötig verzweigt sind, sondern jeder stets das diskussionsziel -oder besser: etappenziel- vor augen gehabt hat. der diskussionsverlauf war linear, so dass die rede von "subthreads" irreführend ist; aus technischen gründen haben wir mehrere folgethreads angelegt. wer auch nur ein wenig aufmerksam beim lesen gewesen ist, wird bemerkt haben, dass jeder vorgängerthread nahtlos in den folgethread übergegangen ist.

ich denke, an dieser stelle wäre es -erich hat es in die runde getragen- an der zeit, auf das thema des psychischen erlebens zu sprechen zu kommen.

wir haben einmal sätze wie "ich habe kopfschmerzen" und ein andermal sätze wie "mir geht es gut". beides sind zustandsbeschreibungen. mit sätzen solcher art, versucht der sprecher auskunft über sein momentanes befinden zu geben. die diskussion dreht sich, wie schon im ersten thread verdeutlicht, darum, zwischen aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit und aussagen über die bewertung der wirklichkeit zu unterscheiden. letzterer satz, die aussage, es gehe dem sprecher gut, ordne ich unter die bewertenden sätze über die wirklichkeit ein. offen ist noch der status von aussagen wie "ich habe kopfschmerzen".


Zitat:

Natürlich ist das ein Satz. Natürlich sind diese Kopfschmerzen (für dich!) wirklich. Natürlich hast du (aber eben du – und nur du!) Kopfschmerzen, wenn du sie hast. Aber ich sehe nicht, welche erkenntnistheoretischen Wert das haben soll.


es ist weniger die frage, ob diese aussage einen (erkenntnistheoretischen)wert hat, sondern vielmehr ist interessant, inwieweit dort von der beschaffenheit der wirklichkeit die rede ist oder nicht.  und ich denke, dass die erforschung von schmerzempfinden a) einen wert hat und b) eine grundlage besitzt, die wir mit mitteln der erkenntnistheorie hinterfragen können.

Zitat:

Ich denke mir, über nicht eindeutige, prinzipiell überprüfbare sondern vielmehr subjektive Sachverhalte (und deine Kopfschmerzen sind ein solcher Fall), zu diskutieren, bringen uns nicht einen Deut weiter.


in diesem satz steckt implizit ein urteil, das als solches ersteinmal begründet werden sollte. dass schmerzempfinden in einem gewissen sinne "subjektiv" ist - zu klären wäre, was genau das heißt- heißt nicht unbedingt, dass schmerzempfinden a) nicht eindeutig ist bzw. b) per se nicht überprüfbar ist.

Zitat:

Aber zurück zu deinen Kopfschmerzen: Deine Kopfschmerzen sind nun mal ausschließlich innerhlab von dir und nur von dir nachvollziehbar und nicht von jemand anders prinzipiell überprüfbar. Sie gehören so zu sagen nur dir allein.


was heißt es, wenn man sagt "kopfschmerzen sind innerhalb von jemandem" ? diese rede verdunkelt meiner ansicht nach mehr, als sie erhellt. ebenso der nachsatz "sie [kopfschmerzen] gehören jemandem nur allein." das ist meiner meinung nach ein wenig irreführend.
Zitat:

246. inwiefern sind meine empfindungen privat? - nun, nur ich kann wissen, ob ich wirklich schmerzen habe; der andere kann es nur vermuten. - das ist in einer weise falsch, in einer anderen unsinnig. wenn wir das wort »wissen« gebrauchen, wie es normalerweise gebraucht wird (und wie sollen wir es denn gebrauchen!), dann wissen es andere sehr häufig, wenn ich schmerzen habe. [...] von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer etwa im spaß), ich wisse, dass ich schmerzen habe. was soll es denn heißen - außer etwa, dass ich schmerzen habe?
man kann nicht sagen, die anderen lernen meine empfindung nur durch mein benehmen, - denn von mir kann man nicht sagen, ich lernte sie. ich habe sie.
das ist richtig: es hat sinn, von anderen zu sagen, sie seien im zweifel darüber, ob ich schmerzen habe; aber nicht, es von mir selbst zu sagen.

248. der satz »empfindungen sind privat« ist vergleichbar mit dem: »patience spielt man allein«

(wittgenstein, PU)



Zitat:

Hier also nochmals mein Vorschlag:
Ein Satz - im Sinne der Erkenntnis – ist wahr, wenn er mit den Tatsachen übereinstimmt. Und unwahr wenn er sich von diesen unterscheidet. Tatsachen sind Sachverhalte objektiver Natur. (Im Sinne von außerhalb von mir, bzw. irgend jemand anders liegend)  Sätze sind Beschreibungen dieser Sachverhalte.


dieser vorschlag ist nicht neu. er ist schon längst angeführt und diskutiert worden. wir sind schon ein wenig weiter als das. man kann es notfalls ja noch nachlesen. einem aufmerksamen diskussionsteilnehmer wäre das nicht entgangen.

- mfg thomas

************************************

- IV
- Eberhard am 01. Dez. 2004, 09:32 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Dich stört, dass ich immer schon vorauszusetzen scheine, ob sich eine Aussage auf  die Beschaffenheit der Wirklichkeit bezieht.

Ich bin der Meinung, dass wir anhand der Bedeutung einer Frage erkennen können, ob sich die Frage auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit bezieht oder nach etwas anderem gefragt wird (Wortbedeutung, Empfehlung, Vorschrift, Stellungnahme etc.). Wenn jemand fragt: "Was meinst Du mit dem Wort 'kulturell'?", dann ist klar, dass er nach der Bedeutung eines Wortes fragt und nicht unmittelbar nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit.

Wenn die Frage lautet: "Was ist Kultur?", dann ist es schon schwieriger zu entscheiden, ob der Fragende wissen will, was das Wort 'Kultur' bedeutet, oder ob er die Bedeutung des Wortes als bekannt voraussetzt und nach den Eigenschaften des realen Phänomens Kultur fragt. Denn solche populären Was-ist-Fragen sind mehrdeutig.

Bei der Frage: "Haben Engel Flügel?" ist die Sache noch komplexer. Offensichtlich setzt der Fragende voraus, dass es Engel gibt. Aber es kann sie geben als wirkliche Wesen oder als fiktive Wesen, als Geschöpfe der menschlichen Phantasie.

Die Schwierigkeit ist hier die, dass man in einem ersten Schritt zwischen Realität und Fiktion (Wirklichkeit und Phantasie) unterscheiden muss, dass die Fiktion aber selber etwas Reales ist, obwohl ihr Inhalt irreal ist..

Grüße an alle von Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am 01. Dez. 2004, 11:25 Uhr

hallo eberhard,

das von dir angegebene problem läßt sich in einer diskussion dadurch entschärfen, dass man sich auf eine ontologie einigt. wenn engel zu dieser ontologie gehören, ist ein satz über engel ein satz über etwas aus der wirklichkeit. gehören engel nicht dazu, so kann man den satz auf beschreibungsebene lösen. wir verwenden "wahr" ausschließlich im zusammenhang mit einer aussage über die beschaffenheit der wirklichkeit, nicht im zusammenhang mit einer beschreibung. und "flügel" ist dann der beschreibung zugehörig oder nicht. dementsprechend ist die verwendung von "flügel" im zusammenhang mit "engel" der beschreibung entsprechend oder nicht.
wenn man sich darauf geeinigt hat, was zur wirklichkeit zugehörig sein soll und was nicht, ergeben sich die fragen nach der beschaffenheit dieser wirklichkeit.

- mfg thomas

- IV
- Hermeneuticus am 01. Dez. 2004, 14:15 Uhr

Hallo Thomas/j!



Zitat:

aber ich denke, wir können festhalten, dass die grundverfassung von heideggers "dasein" im "in-der-welt" sein besteht, und gadamers hermeneutischer zirkel darauf beruht, dass bei jedem verstehen unser vorverständnis eine wichtige rolle spielt.  
angewandt auf unser problem:  
wir stehen schon je in verbindung mit der welt, wir sind vertraut mit ihr, weil wir ein teil von ihr sind. ob wir das nun biologistisch/naturalistisch oder philosophisch/hermeneutisch betrachten ist dabei nebensache. das subjekt ist als subjekt teil der objektiven welt.


Wenn Du einmal selbst "Sein und Zeit" aufgeschlagen hättest, um zu schauen, was Heidegger mit dem "In-der-Welt-Sein", mit "Welt", "Dasein", "Verstehen" und "Faktizität" meint, könntest Du kaum zu solchen Urteilen kommen, die seinen Gedankengang geradezu auf den Kopf stellen.

Für Heidegger ist "Welt" jedenfalls NICHT "alles, was der Fall ist", und "In-der-Welt-Sein" bedeutet nicht, ein "Teil" von ihr zu sein.


Zitat:

dass das dem grundgedanken kants widerspricht, der seine philosophie im transzendentalen subjekt verankert, das quasi über die welt erhaben ist, mag sein. aber das ist eine wende in der philosophie, die man nicht unbeachtet lassen sollte.  
wir können die welt nicht aus einem (absoluten) subjekt heraus begründen, ohne uns in widersprüche zu verwickeln.


Kant hieß nicht Fichte. Und so kann bei Kant auch von einem "absoluten Subjekt" nicht die Rede sein.

Außerdem sind "transzendentale Argumente" nicht an die Voruassetzung gebunden, dass man dabei von einem "Bewusstsein" und seinen "Gegenständen" ausgeht. "Transzendental" argumentieren auch Heidegger in "Sein und Zeit" oder Wittgenstein im "Tractatus" und - auf andere Weise - dann wieder in den PU. Auch Gadamers Hermeneutik oder - wieder anders - Nelson Goodman's Konstruktivismus (" Ways of Worldmaking" ) sind Beispiele für einen "transzendentalen" Ansatz, in dem nach den KONSTITUTIVEN BEDINGUNGEN von Gegenständen, Sinn, Wissenschaft, Technik usw. gefragt wird. Poppers Konzept der Falsifikation knüpft ebenfalls noch bei Kant an. Nicht anders der Methodische Konstruktivismus von Lorenzen/Kamlah oder der Methodische Kulturalismus P.Janichs.

Dass die angelsächsische Tradition der analytischen Philosophie mit Kant weniger im Sinn hat (nehmen wir mal Strawson aus), liegt wohl hauptsächlich daran, dass die Klassikerlektüre an englischen Universitäten bei Locke und Hume Halt macht. Die Herrschaften kennen die "kontinentale" Philosophie oft nur durch hearsay. - So war ich einmal dabei, als Donald Davidson in einem Vortrag die "Realität der Außenwelt" bewies, indem er nur von der Kommunikation zweier Sprecher ausging. Es handelte sich um ein Argument, das Kant wohl noch "entfernt transzendental" genannt haben würde... Kantleser, dachte ich damals, sind irgendwie doch im Vorteil...


Zitat:

wir sind immer schon -ich werde einmal ein wenig heideggerianisch- befangen in unserem verständnis von der welt. wir bringen schon ein gewisses vorverständnis mit. wir sind - mit maurice merleau-ponty - immer schon "zur welt" angelegt. dieser zirkel ist grundlage unseres weltverständnisses. an die stelle des zirkels kann keine sinnvolle begründung treten. deshalb sagte ich auch, dass wir sätze über die welt formulieren können, eben weil wir dazu in der lage sind.


Nun argumentierst Du sogar selbst transzendental...

Aber: Der Zirkel, von dem Du sprichst, lässt sich, obwohl wir in ihm "immer schon befangen" sind, dennoch in seiner Struktur durchleuchten oder "rekonstruieren". Und das ist zweifellos eine Art der BEGRÜNDUNG. Eine Begründung "transzendentaler" Art...  


Zitat:

und das ist auch keine "hoheitliche" bestimmung, sondern das ist eine tatsache oder sagen wir besser, das ist -mit heidegger- unser "geworfensein" unsere" faktizität".


Allein, dass Du "Tatsache" und "Faktizität" (hier in Verbindung mit Heidegger) mit "oder" verknüpfst, zeigt schon, dass Dir Heideggers Gedankengang nicht wirklich bekannt sein kann.


Zitat:

es ist erstaunlich, dass du dich als hermeneuticus so wenig auf die hermeneutische tradition beziehst.


Würdest Du diese hermeneutische Tradition besser kennen, würdest Du auch die (impliziten) Bezüge in meinen Beiträgen erkennen.

Zwar finde ich, dass es ein guter Brauch ist, auf die Herkunft oder die Verwandtschaftsbeziehungen der eigenen Gedanken gelegentlich hinzuweisen. Aber zunächst müssen diese Gedanken ja für sich sprechen können. Immer gleich auf die "großen Brüder" hinzuweisen, die man bei Widerworten sofort verständigen wird, ist KEIN guter Brauch...
:-)  


Gruß
H.

- IV
- jacopo_belbo am 01. Dez. 2004, 16:47 Uhr

hallo hermeneuticus,

zugegeben, meine kenntnisse bezüglich der hermeneutischen tradition sind eher rudimentär. das ein oder andere missverständnis wird sich wohl ergeben; ich arbeite daran ;) derzeit widme ich mich rüdiger safranskis heidegger-buch. anschließend habe ich mir "sein und zeit" vorgenommen. bisher kenne ich heidegger nur durch die vermittlung merleau-pontys; bzw. durch das, was ich im seminar über ihn erfahren habe.
ich bin auch nicht gewillt, geschweige denn ausreichend vorbereitet, eine fach-diskussion über die exegese heideggers vom zaun zu brechen. insofern überlasse ich dir in diesem falle gern das feld. evtl. kannst du auch einige irtümer erhellen.


Zitat:

Für Heidegger ist "Welt" jedenfalls NICHT "alles, was der Fall ist"

das habe ich so auch nicht sagen wollen. aber
Zitat:

" In-der-Welt-Sein" bedeutet nicht, ein "Teil" von ihr zu sein.

könntest du mir ein wenig näher erläutern. ich bin bisher davon ausgegangen, dass es die grundverfassung des Daseins ist, worin eine gewisse art der "vertrautheit" (also das fehlen erkenntnistheoretischer distanz im gegensatz zu kants "ding an sich", dass ja so empirisch nicht zugänglich ist) zum ausdruck gebracht wird.

Zitat:

Kant hieß nicht Fichte.


deshalb habe ich ja das wort "absolut" in klammern gesetzt, um die folgeinterpretation kants durch fichte anzudeuten.

Zitat:

Außerdem sind "transzendentale Argumente" nicht an die Voruassetzung gebunden, dass man dabei von einem "Bewusstsein" und seinen "Gegenständen" ausgeht.


das, denke ich, kommt auf die interpretation an. wenn wir unter "transzendental" - "die bedingungen der möglichkeit von [...]" verstehen, gebe ich dir recht. wenn wir kants ansatz verfolgen, sich auf ein transzendentales subjekt zu beziehen, kommen wir zwangsweise zu einem bewußtsein und dem ding an sich.

Zitat:

Aber: Der Zirkel, von dem Du sprichst, lässt sich, obwohl wir in ihm "immer schon befangen" sind, dennoch in seiner Struktur durchleuchten oder "rekonstruieren". Und das ist zweifellos eine Art der BEGRÜNDUNG. Eine Begründung "transzendentaler" Art...


aber das ist etwas anderes, als kants transzendentalphilosophie, oder?

ich denke, wir sollten die diskussion an diesem punkt nicht ausufern lassen. es wäre hilfreich, wenn du in deiner antwort auf diesen beitrag eine aufklärung meines falschen verständnisses leisten könntest. vielleicht beschränken wir uns auf ein/zwei punkte:
z. B. was ist das heideggersche "in-der-welt-sein" ? und in welchem zusammenhang steht bei heidegger das "Dasein" zum "zeug".

- mfg thomas

p.s.: ich habe gerade das kapitel in safranskis buch gelesen, als safranski von heideggers "kathedervortrag" (1919) schreibt:
Zitat:

dieses umweltliche ... sind nicht sachen mit einem bestimmten bedeutungscharakter, gegenstände, und dazu noch aufgefaßt als das und das bedeutend, sondern das bedeutsame ist das primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden umweg über ein sacherfassen. in einer umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, es weltet

(zitiert nach safranski, rüdiger: ein meister aus deutschland. heidegger und seine zeit. München: fischer taschenbuch verlag 1998. limitierte sonderausgabe. S.114) es würde mich interessieren, wie du den heideggerschen term "welten" verstehst.

- IV
- Dyade am 01. Dez. 2004, 18:11 Uhr

Tag Thomas J.,

du schreibst: "  in diesem satz steckt implizit ein urteil, das als solches ersteinmal begründet werden sollte. dass schmerzempfinden in einem gewissen sinne "subjektiv" ist - zu klären wäre, was genau das heißt- heißt nicht unbedingt, dass schmerzempfinden a) nicht eindeutig ist bzw. b) per se nicht überprüfbar ist. "

ich lese das und frage unwillkürlich : denn .... .... ?

Du kritisierst genau dies, die fehlende Begründung, und lieferst sie einen Satz später selber nicht.  [embarrass]

hinterher hächelnd
Dyade

 

- IV
- Hermeneuticus am 01. Dez. 2004, 19:47 Uhr

Hallo Thomas!

Uff, ich fürchte, ich kann auf Deine Fragen nicht "mal eben" antworten, ohne noch mehr Fragen aufzuwerfen... Ich hab ein paar Mal angesetzt, aber... es geht nicht kurz. Außerdem sind wir im falschen Thread.
Wobei ich es sehr interessant finden würde, "Sein und Zeit" kritisch daraufhin zu sichten, was man damit "heute noch anfangen kann". Das könnte auf der Liste der noch abzuarbeitenden "Fäden" Nr. 3 sein. Also:  

1. Gibt es "Information" in der Natur?
2. Die Hirnforscher und ihr Wille zur Willenlosigkeit
3. "Sein und Zeit" revisited (in the aftermath of the 'pragmatic turn')
4. ...

:-)

Übrigens finde ich Safranskis Heidegger-Buch als Einstieg sehr gut. Er versteht, aber aus kritischer Distanz. Und hat ein Händchen für die verständliche Darstellung komplizierter Zusammenhänge. Ich fand die Lektüre richtig spannend.


Gruß
H.

- IV
- Hermeneuticus am 01. Dez. 2004, 20:40 Uhr

PS:


Zitat:

H.: Der Zirkel, von dem Du sprichst, lässt sich, obwohl wir in ihm "immer schon befangen" sind, dennoch in seiner Struktur durchleuchten oder "rekonstruieren". Und das ist zweifellos eine Art der BEGRÜNDUNG. Eine Begründung "transzendentaler" Art...  


Th.: aber das ist etwas anderes, als kants transzendentalphilosophie, oder?


Kant: "Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt."

Man darf sich hier von dem "a priori" nicht dazu verleiten lassen zu denken, dass Kannt von dem spricht, was sich "im Subjekt befindet", bevor dieses eine erste Erfahrung gemacht hat. Dann bekäme man eine naturalisierte, gegenständliche Beschreibung von Erkenntnis-" Organen" heraus (die berüchtigten "Vermögen" ). Also so etwas wie die "natürliche Ausstattung" des Subjekts. So - quasi als Naturbeschreibung - wird Kant leider immer wieder missverstanden (so hab ich ihn bei der ersten Lektüre auch verstanden, ich geb's ja zu...)

Aber Kant geht ja davon aus, dass wir immer schon "mitten in der Erfahrung" sind. Es ist also eine Rück-Frage, eine Reflexion auf diesen - sonst unreflektierten - Vollzug. Und IN DER REFLEXION wird aus diesem einheitlichen Vollzug "Erfahrung" ein "zusammengesetzter Begriff".

Heidegger hat das klar gesehen. Und seine Phänomenologie des "Daseins" betont diesen Zusammenhang/Gegensatz von Vollzug und Reflexion ausdrücklich. Dass er von "Dasein" spricht, statt von "dem Menschen", dem "Subjekt" oder dem "Bewusstsein", ist ausdrücklich damit begründet, dass er die vorschnelle Verdinglichung unseres "dynamischen" Existierens durch die traditionellen Einteilungen - die doch bloße Reflexionsbestimmungen sind - VERMEIDEN will. Seine Analyse ist trotzdem an vielen Wendungen als "transzendentale" Reflexion erkennbar.

Kant hat seine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis/Normen/Zweckrationalität halt am Subjekt "festgemacht". Aber man kann auch die "Lebenswelt" als transzendentalen "Horizont" reflektieren. Oder die Sprache.

Es hängt also weniger von der jeweils zugrundegelegten "Einheit" ab, ob man es mit einer "transzendentalen" Begründung zu tun hat, als von der Art der Reflexion. Diese Reflexion kann man deshalb eine "Begründung" nennen, weil sie geläufige Bestimmungen oder Denkgewohnheiten problematisiert, sie also nicht einfach als selbstverständlich hinnimmt. Stattdessen wird gefragt, welche Bestimmungen nur zufällig sind und welche man sich als NOTWENDIG zu denken hat, damit der untersuchte Vollzug (z. B. "Erfahrung", "Erkenntnis" ) überhaupt gelingen KANN.  


Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 01. Dez. 2004, 22:01 Uhr

Hallo Leute,

Kehren wir zu unserer Fragestellung zurück.

Diese Frage lautet nicht: "Welche Begriffe von Wahrheit finden sich bei diesem oder jenem Autor?"

sondern: "Was bedeutet das Wort 'wahr' angewandt auf Aussagen über die Wirklichkeit und wann ist man dazu berechtigt, eine solche Aussage als 'wahr' zu bezeichnen?"

Wenn jemand meint, diese oder jener Philosoph habe zur Beantwortung dieser Frage etwas beigetragen, dann sollte er die betreffenden Antworten und ihre Begründung hier einbringen.

Ich schlage vor, dass wir bei Aussagen über Psychisches weitermachen, also Sätzen wie: "Ich, Eberhard, hatte gestern (am 30.11.04) Kopfschmerzen."

Meiner Meinung nach ist dies ein Satz mit einer verständlichen Bedeutung, der eine Aussage über die Wirklichkeit enthält und der wahr oder falsch sein kann. Es gibt auch Möglichkeiten, diesen Satz auf seine Wahrheit hin zu überprüfen.

Grüße an alle von Eberhard,

 

- IV
- jacopo_belbo am 02. Dez. 2004, 07:55 Uhr

hallo zusammen,

mein eigentlicher beitrag zum thema beginnt unterhalb des smileys. ich möchte zunächst noch eine randnotiz zu der nebendiskussion mit hermeneuticus und dyade machen.

ich bin bei dem terminus "hermeneutischer zirkel" von heidegger und gadamer ausgegangen. soweit mir bekannt, beruht die idee des hermeneutischen zirkels bei gadamer -schüler von heidegger- auf grundgedanken seines lehrers, genauer: auf heideggers daseinshermeneutik. gadamer wendet sie, wie du, dyade, schon erwähnt hast, auf das verstehen von texten an. wichtig für diese diskussion schien mir der aspekt des "vorverständnisses", welches der leser mit an einen text heranträgt und wie die erweiterte "texterfahrung" sich auf die auslegung des textes auswirkt.  ursprünglich entstammt dieser gedanke eines "zirkels" von heidegger. und in diesem sinne bezog ich ihn auf die diskussion. soweit ich heidegger bisher kenne und verstanden habe, befindet sich das Dasein in einer wlet, mit der es je schon verbunden ist. die theoretischen einstellung zur welt -eine trennung von subjekt und objekt- beruht auf einer "vortheoretischen" verbindung von dasein und welt, welche heidegger mit "in-der-welt-sein" bezeichnet.

Zitat:

und in diesem augenblick wird klar, worauf heidegger hinausmöchte: was die neuzeitliche philosophie und von ihr ausgehend die neuzeitliche wissenschaft als die ursituation, den voraussetzungslosen anfang des nachdenkens und die letzte gewissheit ansetzen, nämlich die gegenüberstellung »subjekt-objekt«, ist gar kein voraussetzungsloser anfang.

(safranski S.116)
diese subjekt-objekt-spaltung existiert z. B. bei kants transzendentalphilosophie immer noch. das ding-ansich ist, wenn man so will, der wunde punkt in seiner philosophie. deshalb versucht fichte es in seiner philosophie zu eleminieren.

[smiley=offtopic.gif]

so nun zum eigentlichen geschäft.
wir sollten uns nicht zu sehr mit den wahrheitsvorstellungen einzelner autoren beschäftigen. da gebe ich eberhard vollkommen recht. der thread heißt ja auch nicht "wahrheit bei heidegger" o.ä.

- IV
- Dyade am 02. Dez. 2004, 09:15 Uhr

Morgen allerseits, :-)
ich muss doch immer fragen, was jemand empfindet wenn er die Farbe "Rot" wahrnimmt. Ich habe nie einen direkten Zugang zu der Erkenntnissituation des Anderen. Streng genommen muss ich sogar davon ausgehn, das der Andere und ich selbst, das wir uns jeweils auf unterschiedliche Welten beziehen.

In meiner Welt gibt es zum Beispiel einen Hermeneuticus (oder Eberhard oder Thomas), die mir als Du-Subjekte begegnen während ich als Du-Subjekt in meiner Welt nicht vorkomme. Umgekehrt unterstelle ich, das es für jeden anderen so ist, das ich in seiner Welt als ein Du-Subjekt existiere. Alle diese "Welten" unterscheiden sich in genau diesem einen Punkt. Unterstellt wird dabei das mir denkende, selbstbewusste Menschen begegnen.

Das ist in vielerlei Hinsicht relevant für unsere Diskussion über Wahrheit, sowohl unter dem Aspekt "Wirklichkeitsbezug" als auch unter dem psychischen Aspekt.

Wenn ich weiter unterstelle, das es eine "dritte Welt" gibt, die unabhängig von irgendeinem Du-Subjekt und mir existiert und auf die sich sowohl jeder von Euch als auch ich mich beziehe dann kommt die Frage auf, wie gelingt es gleiche begriffliche Repräsentationen für gleiche Wirklichkeitseigenschaften zu finden, wo doch das symetrische Verhältnis eines Subjektes zu einem Objekt, aufgebrochen ist.

In dieser dialektischen Situation wird die Frage nach Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit etwas komplizierter.

Dy

 

 

- IV
- Dyade am 02. Dez. 2004, 12:16 Uhr

Hallo,

das was wir normalerweise als physikalischen Aspekt der Wirklichkeit bezeichnen, wird doch auch im Grenzbereich, also im Bereich Quantenmechanik überhaupt nicht anders wahrgenommen wie ich einen Bus vorbei fahren sehe.

Von zwei Beobachtern, die beide diesen Bus sehen, wird a) keiner zweifeln das er dort gerade fährt und b) jeder der beiden den Satz: "Dort fährt gerade ein Bus" als wahre Aussage bezeichnen und damit die Übereinstimmung seiner Wahrnehmung mit der des anderen bestätigen.

Klar ist da jede Menge Vorwissen vorhanden. Was ein Bus ist, was es bedeutet zu sagen "er fährt" im Gegensatz zu "er läuft" oder "er steht" usw. Das Vorwissen ändert aber nichts an der Bestätigung der Aussage als "wahre Aussage" in dieser Situation, solange niemand zweifelt. (was für ein seltsames Wort fällt mir gerade auf. Aus 1 mach Zwei vielleicht)

Das Vorwissen das notwendig ist um eine Aussage als wahr zu bestätigen (oder zu äußern in der Annahme sie sei wahr) im Bereich physikalischer Grenzbeobachtung ist doch genau so strukturiert wie in der relativ simplen Situation der Beobachtung eines Busses. "Da ist eine Spur in der Nebelkammer des Teilchenbeschleunigers" usw.. Das ist in meinen Augen genau die Situation die Hermeneuticus in seiner Einführung zu "Wahrheit III", mit seinem Hinweis auf Janichs 4 Ebenen als "objektsprachliche Ebene" bezeichnet hat. Zur Erinnerung:

· "Die unterste ist die des Behauptens in einem Gespräch zwischen Personen. Werden diese objektsprachlichen Behauptungen Gegenstand des Zweifels, beginnt ein metasprachliches Gespräch über deren Zustimmungswürdigkeit."



Grüße
Dy

- IV
- jacopo_belbo am 02. Dez. 2004, 14:46 Uhr

hallo, "ich habe gestern schuhe gekauft", ist genau dann wahr, wenn ich gestern schuhe gekauft habe.
ob ich mich noch daran erinnern kann, ist dabei unerheblich. angenommen ich erinnere mich falsch, und war gestern keine schuhe kaufen, so ist der satz falsch. angenommen, ich erinnere mich korrekt, so ist der satz wahr.
wo ist das problem?
wahrheit besteht unabhängig davon, ob ich davon weiß oder nicht. allerdings können wir sagen, dass es bedeutungslos ist, über sätze zu sprechen deren wahrheitswert wir nie ermitteln können.
ich denke aber, dass wir sehr wohl ermitteln können, ob ich gestern schuhe gekauft habe oder nicht.
- mfg thomas

p.s.: nur als kleine anmerkung nebenbei... ein wahrer satz, muss nicht beweisbar sein. die menge der wahren sätze ist nicht identisch mit der menge an beweisbaren sätzen.


p.s.: ich denke, bevor wir uns hals über kopf in eine diskussion über quantenphänomene und andere wissenschaftliche spezialitäten stürzen, sollten wir uns darüber verständigen, was wir meinen, wenn wir sagen, eine aussage sei wahr.
und diese klärung liegt schon einige hundert beiträge zurück. ich bin ehrlichgesagt nicht daran interessiert, die diskussion nocheinmal neu aufzurollen. dafür ist sie schon zu weit fortgeschritten.

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- IV
- jacopo_belbo am 02. Dez. 2004, 15:09 Uhr

hallo,


Zitat:

Welche Wirklichkeit kennen wir denn?
Hat der Tag gestern stattgefunden?
Gab es dich gestern schon?
Geben Erinnerungen die Wahrheit wieder?


was hat das damit zu tun, dass ich gestern entweder schuhe gekauft habe, oder nicht?
wenn der tag gestern nicht stattgefunden hat, oder ich mich falsch erinnere, ist die aussage, dass ich gestern, an einem tag der nicht stattgefunden hat, schuhe gekauft habe falsch - obendrein erinnere ich mich evtl. auch noch falsch. wahr ist die aussage in dem fall, wenn ich gestern schuhe gekauft habe. ich weiß nicht, wo hier ein problem ist.

wenn es die welt wirklich gestern nicht gab und ich mich ausschließlich falsch erinnere, so ist das für mein handeln bedeutungslos.  ich werde es wohl kaum nachprüfen können. und wenn ich es nachprüfen kann, ist der satz auch entscheidbar, ob ich gestern schuhe gekauft habe oder nicht.


Zitat:

Aber auch das wirft die Frage auf, ob Logik etwas Reales darstellt oder nicht doch die Folge eines anthropozentrischen Weltbildes darstellt.


das ist aber nicht gegenstand der diskussion; sondern die frage ist, wann sagen wir, dass eine aussage "wahr" ist. und ich sage, dass eine aussage "X" genau dann wahr ist, wenn P gilt, e.g. "ich war gestern schuhe kaufen", genau dann, wenn ich gestern schuhe kaufen war.

- mfg thomas

- IV
- RatgeberinderNot am 02. Dez. 2004, 15:21 Uhr

" das ist aber nicht gegenstand der diskussion; sondern die frage ist, wann sagen wir, dass eine aussage "wahr" ist. und ich sage, dass eine aussage "X" genau dann wahr ist, wenn P gilt, e.g. "ich war gestern schuhe kaufen", genau dann, wenn ich gestern schuhe kaufen war. "

Ok!
aber was soll daran interessant sein und was hat das mit Wahrheit zu tun, wenn jede x-beliebige Aussage als wahr definiert werden kann?

Was ist der Witz einer solchen Diskussion?

Gruß

- IV
- gershwin am 02. Dez. 2004, 15:40 Uhr

Oh, Leute
Ich kann gar nicht so schnell lesen, wie Ihr schreíbt (Hi floh, übrigens :-)). Ich kann eigentlich nur stur so viel sagen: Ich bleibe dabei, dass "wahr" in erster und ursprünglicher Linie ein Zeichen ist, welches dem Gegenüber signalisiert, dass er sich auf eine Aussage (und damit höchstwahrscheinlich auf die üblichen möglichen Ableitungen derselben) verlassen soll.

Wegen der prinzipiellen Unschärfe der Worte (siehe mein Beispiel Tisch) kommt bei einigen Interessenskonflikten auch der Faktor Macht ins Spiel (Rhetorik, Suggestion, usw.).

Wie man rauskriegt, ob eine Aussage wahr ist, hängt, wie floo angedeutet hat, von dem System und dessen Regeln ab, in dem man sich bewegt. In vollständig definierten formalen Systemen gibt es Regelableitungen, die oft weiterhelfen (bei weitem nicht immer, siehe Gödel). Ansonsten gilt es, die Stichworte: Konsens, Induktion, Falsifizierungstests, Kohärenz, Pragmatik und andere abzuarbeiten. Diese Mühe muss sich schon machen, wer die Frage: "Was ist Wahrheit" sinnvoll und wichtig erachtet, denn so etwas wie "Wahrheit" gibt es nicht. Die substantivierte Form dieses Wortes ist eigentlich unnötig, man braucht sie nicht. Wie so viele Substantive unserer Sprache, die zu merkwürdigen Ontologien verlocken, ist Wahrheit nur eine bequeme Abkürzung, eine Art Kontextanzeiger.

Freundliche Grüße
Thomas

- IV
- jacopo_belbo am 02. Dez. 2004, 16:19 Uhr


on 12/02/04 um 15:21:35, RatgeberinderNot wrote:

" das ist aber nicht gegenstand der diskussion; sondern die frage ist, wann sagen wir, dass eine aussage "wahr" ist. und ich sage, dass eine aussage "X" genau dann wahr ist, wenn P gilt, e.g. "ich war gestern schuhe kaufen", genau dann, wenn ich gestern schuhe kaufen war. "

Ok!
aber was soll daran interessant sein und was hat das mit Wahrheit zu tun, wenn jede x-beliebige Aussage als wahr definiert werden kann?

Was ist der Witz einer solchen Diskussion?

Gruß




hi ratgeber,

vielleicht kommen wir ja doch noch einen schritt weiter ;)

zunächsteinmal kann nicht jede beliebige aussage als "wahr" definiert werden, wenn wir unter wahrheit das bestehen eines sachverhalts meinen. wir können zum beispiel sagen, guayaquil sei die hauptstadt von equador. wenn aber quito die hauptstadt von equador ist, ist der satz "guayaquil ist die hauptstadt von equador" falsch. "guayaquil ist die hauptstadt von equador", genau dann wenn guayaquil die hauptstadt von equador ist - und nicht quito.
der zweite teil ist nicht erfüllt, also ist die aussage, guayaquil sei die hauptstadt von equador falsch.

in der tat haben wir -und das habe ich auch in meinen vorherigen beiträgen gekennzeichnet- eine asymmetrie zwischen wahrheit und wissen, demnach ist es möglich, dass wir falsche sätze für wahr halten. in dem falle sprechen wir von der fallibilität menschlichen wissens - das aber nichts mit der wahrheit als solcher zu tun hat.

denken wir uns, gestern noch war der satz "quito ist die hauptstadt von equador" wahr, so kann sich ohne mein wissen die situation geändert haben und nun ist nach einem staatsstreich guayaquil hauptstadt von equador. in dem moment ist der satz, quito sei die hauptstadt von equador falsch - meine überzeugung stimmt nicht mit den tatsachen überein.
nun wäre es denkbar, dass ich mich mit anderen leuten unterhalte, die alle so wie ich, nicht informiert sind über die aktuelle politische lage in equador.
es besteht ein konsens darüber, dass quito die hauptstadt von equador sei. dieser konsens entspricht aber nicht den tatsachen. ebenso fügt sich die aussage "quito ist hauptstadt von equador" kohärent in mein weltbild, bzw. das weltbild meiner gesprächspartner. und das, obwohl es falsch ist.
damit argumentiere ich gegen die vorstellung, dass wahrheit eine frage der übereinkunft sei, bzw. dass es ausreicht für wahrheit kohärent, bzw. konsistent zu sein. es gibt keinen grund dafür, weshalb die aussage "guayaquil ist haupstadt equadors" inkonsistent sein sollte.
träume können kohärent und konsistent sein, und trotzdem falsch.

ich denke wir sollten uns zunächsteinmal mit der wahrheit im kleinen befassen.

darüberhinaus wäre es sinnvoll, wenn die "neulinge" in der diskussion kurz erläutern was sie unter "wahrheit" verstehen.

bisher gab es in der diskussion

a) wahrheit ist die übereinstimmung mit den tatsachen
b) wahrheit ist die übereinstimmung von meinungen
c) wahrheit ist das bestehen eines kohärenten und konsistenten weltbildes
(d) als sonderfall: semantische wahrheit ist definiert als "'X' ist genau dann wahr, wenn P".

darüber hinaus ist gefragt worden, ob es aussagen gibt, die in jedem falle geltung beanspruchen können.

wenn jeder der "neuen" seinen nächsten beitrag dazu verwenden könnte, seine position zusammenzufassen, denke ich, dass es der weiteren diskussion nützlich ist.

- mfg thomas

- IV
- Hermeneuticus am 02. Dez. 2004, 17:38 Uhr

Hallo Thomas/j.!

In Deiner Argumentation unterschlägst Du (immer noch), dass Wahrheit eine "quaestio iuris", also eine Frage der BERECHTIGUNG von Aussagen ist. In der Welt eines Solipsisten besteht kein Bedarf für den Wahrheitsbegriff, sondern nur in einer Welt, in der Behauptungen aufgestellt, von anderen bestritten werden können und darum BEGRÜNDET werden müssen, damit sie gelten, d. h. ALS "wahr" ANERKANNT werden können.

Der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs im Selbstgespräch (" Es ist wahr, dass ich gestern um 17.35 niesen musste, weil ich gestern um 17.35 geniest habe." ), bei dem es niemanden gibt, der einen solchen - gar nicht mal als adressierte Behauptung aufgestellten - Satz bezweifeln könnte, und bei dem der Schein entsteht, es sei die Tatsache allein, die den Satz "wahr mache" - eine solcher Gebrauch ist wohl nur ein ABGELEITETER. Abgeleitet nämlich von dem Gebrauch des Wahrheitsbegriffs, den wir alle IN Kommunikationen und FÜR Kommunikationen gelernt haben. Denn nur dort hat er überhaupt einen Sinn.

Wahr sind Aussagen, die - für andere nachvollziehbar - begründet sind. Und: Es hängt vom (normierten) Verfahren der Begründung ab, was ALS Begründung GELTEN soll. Wenn es Tatsachen sind, werden eben (nachvollziehbare) Tatsachen eine Behauptung begründen. Wenn es Indizien für Sachverhalte sind, werden Indizien als Begründung genügen.


Ein Beispiel:

Ein Wünschelrutengänger behauptet, er könne Wasseradern sicher "aufspüren". Wissenschaftler bezweifeln diese Behauptung.
Da physikalische Gesetzmäßigkeiten das Phänomen der "Wasserfühligkeit" nicht erklären können,
denken sich die Wissenschaftler ein Experiment aus, das diese Behauptung widerlegen bzw. begründen könnte. Dabei werden in einem Raum 100 verdeckte Eimer verteilt, von denen 30 Wasser enthalten. Es wird berechnet, wie hoch die bloße Zufallswahrscheinlichkeit von "Treffern" ist - nehmen wir an, sie sei 30 % - und dann gefordert, dass die effektive Trefferquote des Wünschelrutengängers mindestens 50% betragen müsse, um unterstellen zu können, dass mehr als nur Zufall im Spiel war.

Daran ist erkennbar: Es muss ausgemacht sein, WAS als Begründung für das Bestehen eines Sachverhalts GELTEN SOLL, damit das Experiment überhaupt aussagekräftig sein kann.
Mit entsprechenden Modifikationen dürfte das für jede Art von Experiment gelten. In einem Bereich, wo es nicht genügt, einfach auf einen Sachverhalt zu zeigen (wie bei der Röte einer Rose), wo man also nur indirekt auf sein Bestehen schließen kann, kommt klar zur Abhebung, dass es unter den Beteiligten ANERKANNTE REGELN dafür geben muss, woran man einen Sachverhalt erkennen kann. Und es sind diese VERBINDLICHEN Kriterien, deren (überprüfbare) Erfüllung die Behauptung des Sachverhalts so begründet, dass sie "wahr" heißen darf.

Strittige Sachverhalte sind selten trivial, und ihr Bestehen ist darum nicht leicht festzustellen. Über trviale Behauptungen allerdings wird es auch kaum je zu Kontroversen kommen.

Erkenntnistheoretisch aufschlussreich sind nicht die trivialen Fälle, sondern die komplizierten. An ihnen lässt sich die - sonst simpel erscheinende, eigentlich aber komplizierte - Struktur des Wahrheitsbegriffs und seines Gebrauchs erkennen.

Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 02. Dez. 2004, 18:02 Uhr

Hallo allerseits, hallo RatgeberinderNot,

Du schreibst: "Die Frage sollte also nicht lauten: Was ist Wahrheit, sondern was ist Wirklichkeit?"

Dann kann ich Dir nur raten, dazu schnell eine Diskussionsrunde zu eröffnen.

Du schreibst: "Die eigentlich wichtige Frage muss doch sein: "Wie sind die Begriffe Qualia und Wirklichkeit in Beziehung zu setzen?"

Dann kann ich Dir wiederum nur raten, schnell noch eine weitere Diskussionsrunde zu eröffnen.

Du schreibst: "Es ist schlicht nicht möglich wahre Sätze zu bilden."

Da bin ich ja erleichtert. Ich hatte schon befürchtet, dass Du diesen Deinen Satz für wahr hältst.

Du schreibst:

Streng genommen ist also eine Aussage nur dann wahr, wenn das gesamte Universum als Vorbedingung definiert wurde."

Das stimmt mich allerdings leicht depressiv, denn ich war leichtsinnigerweise davon ausgegangen, dass ich die Aussage: "Stahl ist härter als Vanillepudding" aufgrund meiner Erfahrungen vom letzten Sonntagsessen einfach so für wahr halten könnte.

Für all das: meinen Dank für den Rat in der Not.

Grüsse an alle am Thema Interessierten von Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am 02. Dez. 2004, 18:11 Uhr

eine kleine randbemerkung:

sicherlich ist es für den ein oder anderen teilnehmer interessanter über die wahrheit im zusammenhang mit quantenphysikalischen phänomenen zu diskutieren.
aber ich denke, wenn wir sofort mit "wahrheit" im großen beginnen, dass wir die wahrheit im kleinen übersehen. das einfache pädagogische prinzip "vom leichteren zum schweren" halte ich auch in dieser diskusion für sinnvoll. wenn wir uns mit alltäglichen problemen beschäftigen fallen uns manche inkonsistenzen der "großen wahrheiten" auf.
wir können unsere betrachtung zielgerichteter führen, wenn wir bereit sind, unsere aussagen zu präzisieren.
und gerade bei den sogenannten "trivialen beispielen" läßt sich ein großes maß an präzision erreichen, wenn wir erklären was wir meinen.

- mfg thomas

- IV
- Eberhard am 02. Dez. 2004, 19:42 Uhr

Hallo Thomas (J),

eine Anmerkung zu den Regeln für die Verwendung des Wortes 'wahr'.

Du schreibst: "Denken wir uns, gestern noch war der satz 'quito ist die hauptstadt von equador' wahr, so kann sich ohne mein wissen die situation geändert haben und nun ist nach einem staatsstreich guayaquil hauptstadt von equador. in dem moment ist der satz, quito sei die hauptstadt von equador, falsch - meine überzeugung stimmt nicht mit den tatsachen überein."

Ich stimme Dir in Deiner Intention zu, halte es jedoch für eine irreführende Terminologie zu sagen: Der Satz "Quito ist die Hauptstadt von Ecuador" war gestern richtig, und heute ist er falsch.

Meine Begründung lautet – auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole:

Wenn man das Wort "ist" bei der Beschreibung singulärer Sachverhalte gebraucht  (" Frau Merkel ist Vorsitzende der CDU" etc.), so handelt es sich grammatisch um eine Aussage in der Gegenwartsform.

Die Bedeutung des Satzes "Quito ist die Hauptstadt von Ecuador" lautet also ausformuliert: "Quito ist gegenwärtig die Hauptstadt von Ecuador".

Durch die verbale Variable "gegenwärtig" wird deutlich, dass sich der Satz je nach dem Zeitpunkt, an dem er geäußert wird, auf einen anderen Bereich der Realität bezieht, d. h. dass er Unterschiedliches bedeutet.  Eine Aussage über die Stadt Rom im Jahre 204 bezieht sich auf einen anderen Teil der Wirklichkeit als eine Aussage über die Stadt Rom im Jahre 2004 und bedeutet deshalb auch etwas Verschiedenes.

Daraus folgt, dass der Satz "Quito ist (gegenwärtig) die Hauptstadt von Ecuador" mehrdeutig ist.

Ein mehrdeutiger Satz ist in Bezug auf die Wörter zwar derselbe, aber so wie sich hinter einem mehrdeutigen Wort verschiedene Begriffe verbergen, so verbergen sich hinter mehrdeutigen Sätzen eigentlich verschiedene Aussagen oder 'Sätze im weiteren Sinne', also der Wortfolge inclusive der zugehörigen Bedeutung.

Genaugenommen ist es in Deinem Beispiel nicht so, dass eine Aussage, die gestern noch wahr war, heute falsch ist, sondern es handelt sich trotz verbal gleicher Sätze um verschiedene Aussagen. Und die Aussage "Quito ist gegenwärtig (also am 02.12.04) die Hauptstadt von Ecuador" bleibt wahr, auch wenn morgen (am 03.12.04) durch einen politischen Umsturz Guyaquil zur Hauptstadt von Ecuador erklärt würde.

Fazit: Die Ausdrucksweise: "Dieser Satz, der gestern wahr war, ist heute falsch" verdeckt die Tatsache, dass es sich genau genommen bei diesem Satz um zwei verschiedene Aussagen handelt und die beanstandete Ausdrucksweise ist insofern irreführend, als sie einen für die Sprache äußerst wichtigen Unterschied, den Unterschied in der Bedeutung, nicht berücksichtigt.

Auch wenn Du nicht akzeptierst, dass die Auszeichnung einer Aussage als "wahr" die Zeitunabhängigkeit dieser Auszeichnung beinhaltet, so solltest Du doch nach Ausdrucksformen suchen, die die oben genannten Unterschiede in den Bedeutungen verbal identischer Sätze berücksichtigen,

meint Eberhard.



hallo

offenbar habe ich dich beleidigt, in dem ich das wörtchen 'trivial' im zusammenhang mit etwas benutzt habe, das du geschrieben hast. so war das natürlich nicht gemeint, entschuldige bitte. ich meinte damit, dass es doch wohl klar ist, das etwas selbstverständlich als wahr gelten kann, wenn es die dazu erforderlichen formalen bedingungen erfüllt (respektive dein schuhladenbeispiel) und ansonsten meine ich daswas gershwin geschrieben hat.das was ich aber eigentlich ansprechen wollte ist der wahrheitsbegriff, der dem formalismus zu grunde liegt, damit meine ich das was man gemeinhin als 'definition' bezeichnet. natürlich ist es nicht falsch dass du dann einfach sagst "ja, ich weiss doch wohl das ich im schuhladen war", aber gleichzeitig ist das doch der einzige aspekt an dieser diskussion, der nicht einfach ist. also woher weiss ich, dass es wahr ist, das ich im schuhladen war?

p.s. grüssdich gershwin [grin]

- IV
- jacopo_belbo am 02. Dez. 2004, 20:55 Uhr

hallo ffloo,

wer mich beleidigen will, muss sich schon anstrengen ;)

ist es für die wahrheit des satzes relevant, ob ich mir sicher bin, dass ich gestern im schuhladen war? nein.
wenn ich nicht im schuhladen war, ist der satz falsch. egal, ob ich mich daran erinnere oder nicht.

wir steuern hier auf eine gewissheitsdebatte zu, die cartesischen ursprungs ist: wie sicher kann ich mir sein, wenn ich mir sicher bin?
so sicher, wie ich mir bei anderen sachen auch bin, so sicher, wie ich weiß, dass heute donnerstag ist, so sicher wie ich meinen namen weiß, so sicher, wie ich nachher zu bett gehen werde.

wir sollten dort zweifeln, wo es angebracht ist, und wir gründe haben. ansonsten ist die rede von "zweifel" bedeutungslos.

- mfg thomas

--------------------

hallo eberhard,

wenn ich auf deinen einwand eingehe, kann ich mein beispiel umformulieren:
person A glaubt, dass zu dem zeitpunkt, als sie die aussage trifft, quito hauptstadt von equador ist.
ebenso glauben andere, der person A bekannte personen (B,C,D), ebenfalls, dass quito zu diesem zeitpunkt an dem A seine aussage macht, hauptstadt von equador ist. deshalb werden sie urteilen, die Aussage von A sei wahr - und das obwohl sie den tatsachen zu diesem zeitpunkt widerspricht.

ich denke, damit ist meine darstellung korrigiert, und der unterschied zwischen "eine aussage für wahr halten" und "wahrsein einer aussage" deutlich.

- mfg thomas

- IV
- RatgeberinderNot am 02. Dez. 2004, 21:33 Uhr

Hallo,

ich weiß leider immer noch nicht warum es interessant ist zu wissen, ob Quito die Hauptstadt von Equador ist. Vom Schuhe kaufen und Niessen mal abgesehen.

Wahr ist ganz schlicht und einfach das, was dem jeweiligen Axiomensystem nicht widerspricht.
Punkt.

Aber was soll man jetzt aus diesen Diskussionen lernen.

Wo ist das Problem?

Gibt es irgendeinen Widerspruch?

Entweder bin ich abgehängt oder die Sache ist schlicht zu einfach für mich.

Ich hoffe auf eine Aufklärung, aus den früheren Beiträgen bin ich auch nicht schlauer geworden.

Gruß

- IV
- fFflLloOo am 02. Dez. 2004, 21:45 Uhr


on 12/02/04 um 20:55:10, jacopo_belbo wrote:

hallo ffloo,

wer mich beleidigen will, muss sich schon anstrengen ;)

ist es für die wahrheit des satzes relevant, ob ich mir sicher bin, dass ich gestern im schuhladen war? nein.
wenn ich nicht im schuhladen war, ist der satz falsch. egal, ob ich mich daran erinnere oder nicht.

wir steuern hier auf eine gewissheitsdebatte zu, die cartesischen ursprungs ist: wie sicher kann ich mir sein, wenn ich mir sicher bin?
so sicher, wie ich mir bei anderen sachen auch bin, so sicher, wie ich weiß, dass heute donnerstag ist, so sicher wie ich meinen namen weiß, so sicher, wie ich nachher zu bett gehen werde.

wir sollten dort zweifeln, wo es angebracht ist, und wir gründe haben. ansonsten ist die rede von "zweifel" bedeutungslos.

- mfg thomas



an den cartesischen zweifel musste ich übrigens auch denken...

ich weiss nicht was du willst, da haben wir es doch! genau das ist es worüber man diskutieren kann! jeder depp begreift, dass wahrheit per definition offenbar ist, aber der zweifel an der definition ist schwieriger.

das dürfte auch des ratgbers frage beantworten: die betrachtung des wahrheitswertes der überprüfung einer aussage bezüglich eines axiomatischen systems ist banal, aber nicht die debatte über die gewisheit über die definitionsgrundlage. es ist erneut mein eindruck, dass sich kernfragen der erkenntnistheorie auf einen 'cartesianismus' zurückführen lassen.

- IV
- Hermeneuticus am 03. Dez. 2004, 07:34 Uhr

Hallo Thomas/j.!



Zitat:

wahrheit besteht unabhängig davon, ob ich davon weiß oder nicht.

wahr ist die aussage in dem fall, wenn ich gestern schuhe gekauft habe. ich weiß nicht, wo hier ein problem ist.



Das Problem liegt darin, dass Du, ähnlich Wittgenstein im Tractatus, Wahrheit als eine Wiederspiegelung unabhängig von Kommunikation und Wissen bestehender Sachverhalte betrachtest. Wahrheit, die unabhängig vom Wissen "besteht", ist ein Metaphysicum. Wie hat man sich dieses "Bestehen" vorzustellen? Wie das platonische "Reich der Ideen" ?

Bei Dir verwandeln sich Sachverhalte und ihre sprachlichen Bilder zu einer irgendwo jenseits menschlichen Wissens existierenden, immer schon kompletten Welt. So wie in dem Scherzwort: "Die Fehler sind da, sie brauchen nur noch gemacht zu werden." Bei Dir sind die Wahrheiten da, sie müssen nur noch erkannt werden.

Der Grund dafür liegt darin, dass Du stur von der logischen Formel "'p' ist wahr genau dann, wenn p" ausgehst, ohne Dir Rechenschaft darüber abzulegen, was Logik de facto ist und wie sie in die Welt kam.

Meinst Du nicht, es sei wirklichkeitsnäher, ganz einfach davon auszugehen, wie wir den Gebrauch des Wahrheitsbegriffs gelernt haben?

Wahrheit als etwas anzusehen, das unabhängig von menschlichem Wissen "besteht" – so metaphysisch war nicht einmal ein Thomas von Aquin...


Gruß
H.

- IV
- jacopo_belbo am 03. Dez. 2004, 08:18 Uhr

hallo hermeneuticus,

du tust ja so, als sei "metaphysisch" ein schimpfwort *ggg* aber in dem fall lasse ich es dir noch einmal durchgehen. es gibt schlimmere schimpfwörter als "metaphysiker".

allerdings ist mein begriff der wahrheit weniger metaphysisch als du annimmst. ich sage ja lediglich, dass derjenige etwas wahres sagt, wenn er etwas mit den tatsachen übereinstimmendes sagt. ich behaupte nicht, dass es soetwas wie eine idee der wahrheit gibt, dass ihr irgendeine form des seins zukommt. es handelt sich lediglich um ein wort und die konsequente anwendung.
die behauptung, dass die wahrheitsdefinition "'X' ist genau dann wahr, wenn P" metaphysisch sei, besagt rein gar nichts. genausogut könntest du sagen, dass diese definition "blau" sei.

wenn wir davon ausgehen, wie du es vorschlägst, wie wir den gebrauch des wortes "wahr" lernen, so denke ich kommen wir nicht umhin, zu erkennen, dass wir sagen, wahr sei dasjenige, was in übereinstimmung mit den tatsachen ausgesagt wird. so lernen kinder den gebrauch des wortes "wahr". kinder hören vom weinachtsmann (dass er die geschenke bringt) und halten die aussage der eltern für wahr. später werden sie erkennen, dass der weihnachtsmann nicht existiert, und eltern oder verwandte die geschenke bringen. die aussage "der weihnachtsmann bringt die geschenke" ist falsch, weil es nicht mit der tatsache, dass eltern oder verwandte die geschenke bringen, übereinstimmt.

noch ein wort zum cartesischen zweifel, den ffloo mit ins spiel bringt:
zum einen ist die cartesische position schlecht fundiert, und zum anderen führt sie geradezu ins nichts.
descartes verfällt dem logischen fehlSchluss, dass dasjenige, was manchmal vorkommt, könne immer vorkommen. dieser Schluss ist nicht gerechtfertigt. es ist durchaus möglich, dass wir uns manchmal irren, dass wir uns manchmal falsch erinnern, aber das heißt nicht, dass wir es beständig tun. die absurdität dieser position muss selbst descartes eingeleuchtet haben, weshalb er den genius malignus eingeführt hat - der dann sozusagen vom deus ex machina wieder außer kraft gesetzt worden ist.
hinzu kommt, dass wir nur in den fällen zweifeln, wo wir gründe für unseren zweifel anbringen können. so funktioniert das sprachspiel "zweifeln". zum einen wird die gewissheit die man bezüglich einer sache hat in zweifel gezogen, zum anderen muss die möglichkeit bestehen, sich der sache zu vergewissern. der zweifel muss "entscheidbar" sein. wenn ich daran zweifele, ob ich gestern schuhe kaufen war, kann ich in den schuhladen gehen und fragen, ob ich gestern dort schuhe gekauft habe; oder ich sehe mir die kontobewegungen auf meinem konto an, und werde eine abbuchung "XY schuhe" vorfinden, etc. in jedem falle habe ich gute gründe, meinen zweifel zu beenden. sicher, man kann dann immer noch "zweifeln", ob dem wirklich so ist. aber dann verlassen wir das sprachspiel "zweifel". der zweifel wird dann zur bloßen "floskel".

ich denke die stärke in der wahrheitsdefinition, welche ich angeführt habe, liegt in ihrer unantastbarkeit. die wahrheit die so definiert ist, ist zwar nicht unantastbar, aber die definition ist es. selbst wenn wir im zweifel darüber sind, ob erinnerungen die wir haben korrekt sind; wenn es sich so verhält, wie die aussage besagt, so ist die aussage wahr. und damit steht der konsens- und der kohärenztheorie der wahrheit ein starkes argument gegenüber. es ist nicht hinreichend, dass aussagen von anderen geteilt werden -auch aussagen, die von niemandem außer dem sprecher getroffen werden, können wahr sein- und ebenso ist es nicht hinreichend, dass sich aussagen kohärent in ein weltbild einfügen lassen müssen -auch falsche aussagen können mit einem bestehenden weltbild kohärieren.
das sind argumente, die bisher keiner von euch entkräftet hat.

- mfg thomas

p.s.: ich denke, dass konsequenz bei der frage nach der wahrheit angebracht ist. - wir sollten nicht "konsequenz" mit "sturheit" verwechseln.

- IV
- Hermeneuticus am 03. Dez. 2004, 08:43 Uhr

Hallo miteinander!

Der Eindruck, dass sich diese Diskussion im Kreis dreht, nimmt bei mir überhand. Was Thomas und Eberhard zum Thema zu sagen haben, überblicke ich bequem (es sind halt wiederkehrende Formeln). Und ich habe keine Lust mehr, meine Einwände in immer neuen Variationen dagegenzuhalten und Fragen zu stellen, auf die nicht eingegangen wird. Das ist, was man ein "totes Rennen" nennt.

Ich steige aus. Ihr habt gewonnen.
:-)

Gruß
H.

- IV
- Dyade am 03. Dez. 2004, 12:28 Uhr

Hallo Hermeneuticus,
hallo zusammen,

sollen wir uns einmal den anderen Themen zuwenden?:

1. Gibt es "Information" in der Natur?
2. Die Hirnforscher und ihr Wille zur Willenlosigkeit
3. "Sein und Zeit" revisited (in the aftermath of the 'pragmatic turn')

Punkt 3 interessiert mich am stärksten, wobei ich die Erfahrung gemacht habe, das es Themen gibt, die eine gezielte und konzentrierte Lektüre verlangen. Bei "Sein und Zeit" gäbe es die Möglichkeit es online zu lesen, zumindest im Hinblick auf die wichtigsten Begriffe.

http://www.philosophisches-lesen.de/heidegger/suz/enzyklopaedie.html

würde mich freuen
herzliche Grüße
Dyade  [cool]

- IV
- RatgeberinderNot am 03. Dez. 2004, 13:00 Uhr

Ihr führt keine philosophische Diskussion hier!

Die Beschäftigung mit Begriffen und Kategorien, die vor ein paar Jahrhunderten die Front der philosophischen Forschung darstellten, sind längst überholt.
Das erinnert mich an die Beschäftigung mit Freud, dessen Theorien heute eher zum Bereich der Esoterik gezählt werden.

Nach der Quantenmechanik gibt es so etwas wie Objektivität überhaupt nicht. Wir können uns selber nicht aus dem Bild entfernen. Wir sind ein Teil der Natur, und wenn wir die Natur studieren, dann führt kein Weg daran vorbei, dass die Natur sich selbst studiert. Die Physik wurde zum Teil der Psychologie, vielleicht auch umgekehrt.


Es wird Notwendig, unsere gewöhnliche Denkweise abzulegen (und letztlich ganz <<das Denken zu überschreiten>>), und im Erfassen der Realität als eine Einheit haben das Phänomen der Erleuchtung und Wissenschaft der Physik vieles gemeinsam.

Albert Einstein sagte: »Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition.«

Gruß

- IV
- Dyade am 03. Dez. 2004, 13:47 Uhr


on 12/03/04 um 13:00:01, RatgeberinderNot wrote:

Ihr führt keine philosophische Diskussion hier!

Die Beschäftigung mit Begriffen und Kategorien, die vor ein paar Jahrhunderten die Front der philosophischen Forschung darstellten, sind längst überholt.
Das erinnert mich an die Beschäftigung mit Freud, dessen Theorien heute eher zum Bereich der Esoterik gezählt werden.

Nach der Quantenmechanik gibt es so etwas wie Objektivität überhaupt nicht. Wir können uns selber nicht aus dem Bild entfernen. Wir sind ein Teil der Natur, und wenn wir die Natur studieren, dann führt kein Weg daran vorbei, dass die Natur sich selbst studiert. Die Physik wurde zum Teil der Psychologie, vielleicht auch umgekehrt.


Es wird Notwendig, unsere gewöhnliche Denkweise abzulegen (und letztlich ganz <<das Denken zu überschreiten>>), und im Erfassen der Realität als eine Einheit haben das Phänomen der Erleuchtung und Wissenschaft der Physik vieles gemeinsam.

Albert Einstein sagte: »Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition.«

Gruß



mann oh mann, fällt mir dazu nur ein. Pass bloß auf das du nicht in deiner eigenen Bugwelle ertinkst. Sorry werde dann gleich wieder sachlicher.
[undecided]

- IV
- jacopo_belbo am 03. Dez. 2004, 14:09 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich bedauere deinen entSchluss sehr und respektiere ihn.

- mfg thomas

- IV
- jacopo_belbo am 03. Dez. 2004, 14:12 Uhr


on 12/03/04 um 13:00:01, RatgeberinderNot wrote:

Ihr führt keine philosophische Diskussion hier!

Die Beschäftigung mit Begriffen und Kategorien, die vor ein paar Jahrhunderten die Front der philosophischen Forschung darstellten, sind längst überholt.
Das erinnert mich an die Beschäftigung mit Freud, dessen Theorien heute eher zum Bereich der Esoterik gezählt werden.

Nach der Quantenmechanik gibt es so etwas wie Objektivität überhaupt nicht. Wir können uns selber nicht aus dem Bild entfernen. Wir sind ein Teil der Natur, und wenn wir die Natur studieren, dann führt kein Weg daran vorbei, dass die Natur sich selbst studiert. Die Physik wurde zum Teil der Psychologie, vielleicht auch umgekehrt.


Es wird Notwendig, unsere gewöhnliche Denkweise abzulegen (und letztlich ganz <<das Denken zu überschreiten>>), und im Erfassen der Realität als eine Einheit haben das Phänomen der Erleuchtung und Wissenschaft der Physik vieles gemeinsam.

Albert Einstein sagte: »Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition.«

Gruß




da hat wohl jemand den stein der weisen verschluckt, hm?

- IV
- Eberhard am 03. Dez. 2004, 17:55 Uhr

Hallo allerseits,

es ist zwar etwas unruhig geworden in der Runde und man hat Mühe, die Linie der Diskussion zu erkennen und die Spreu vom Weizen zu trennen, aber ich denke es gibt noch einiges herauszufinden bei der Beantwortung unserer Frage.

Hermeneuticus schrieb an Thomas (J): "In Deiner Argumentation unterschlägst Du (immer noch), dass Wahrheit eine "quaestio iuris", also eine Frage der BERECHTIGUNG von Aussagen ist. In der Welt eines Solipsisten besteht kein Bedarf für den Wahrheitsbegriff, sondern nur in einer Welt, in der Behauptungen aufgestellt, von anderen bestritten werden können und darum BEGRÜNDET werden müssen, damit sie gelten, d. h. ALS "wahr" ANERKANNT werden können."

Ich stimme mit Hermeneuticus darin überein, dass sich die Bedeutung und Funktion des Wortes 'wahr' nicht in der Formel erschöpft: "Der Satz 'p' ist wahr, wenn p".

Wenn ich eine Aussage p als wahr bezeichne, dann "behaupte" ich sie.

Inhaltlich habe ich damit nichts über das hinaus gesagt, was bereits in der Aussage enthalten ist.

Trotzdem ist meine Äußerung, "p ist wahr", nicht redundant und überflüssig.

Denn meine Äußerung ist als Behauptung eine "Sprechhandlung" (englisch speech-act) und hat als solche auch eine "performative" Bedeutung.

Wenn man die Auszeichnung einer Aussage als wahr als einen Sprechakt begreift, dann hat das erhebliche Konsequenzen und ich kann Probleme lösen, die ich bei einer rein logischen Analyse nicht lösen kann.



Ich will das an dem Satz "Dieser Satz ist falsch" – nennen wir ihn "q" - demonstrieren.

Logisch ist an dem Satz q nichts auszusetzen, denn er ist nicht widersprüchlich.

Trotzdem macht q den Logikern Schwierigkeiten, weil dem Satz q keiner der beiden Wahrheitswerte "wahr" und "falsch" zugeordnet werden kann:

Erklärt man q für wahr, dann widerspricht das dem Inhalt der Aussage, demgemäß der Satz falsch ist. Erklärt man q dagegen für falsch, dann macht man damit eine wahre Aussage.

Die Logiker haben das Problem mit derartigen paradoxen Sätzen (" Ein Kreter sagt, alle Kreter lügen" etc.) auf ihre Weise entschärft. Sie trafen eine Unterscheidung verschiedener Srachebenen (objektsprachlich, metasprachlich, usw.) und verbieten das Sprechen über die Sprachebene, in der gerade gesprochen wird. (so wie die Mathematiker die Division durch Null verbieten.)

Logische Widersprüche kann es dabei nur zwischen Aussagen der gleichen Sprachebene geben.

Meiner Ansicht nach lässt sich das Problem der paradoxen Sätze bereits dadurch lösen, dass man das Auszeichnen einer Aussage als "wahr" als eine bestimmte Sprechhandlung (" des Behauptens" ) auffasst und das Auszeichnen einer Aussage als falsch als die entgegengesetzte Sprechhandlung (" des Bestreitens" ) auffasst.

Damit ist gemeint: Die Behauptung einer Aussage p besitzt über die logisch-semantische Bedeutung von p hinaus u.a. auch noch die "performative" Bedeutung: "Die Aussage p soll gelten (d. h. sie soll zur Grundlage des Denkens und Handelns genommen werden).

Wenn ich also den Satz q (" Dieser Satz ist falsch" ) behaupte, dann verlange ich für q Geltung. (" q soll gelten" ).

Gleichzeitig verlange ich – wegen der inhaltlichen Bedeutung von q - für die Verneinung von q Geltung (" q soll nicht gelten" )

Damit haben wir einen echten logischen Widerspruch zwischen den performativen Bedeutungen "q soll gelten" und "q soll nicht gelten".

Das Paradox wird nun einfach dadurch beseitigt, dass wir die logische Grundregel anwenden "Es kann nicht sowohl "p" als auch "nicht p" wahr sein" (Verbot von widersprüchlichen Aussagen).

Nach Meinung von Anhängern des Ho(h)lismus  wird in dieser Runde zwar nicht philosophisch diskutiert, aber dafür schlagen wir,  wie man sieht, neue Lösungen für Jahrtausende alte Probleme der Philosophie vor.

An Eurer Kritik ist interessiert Eberhard.







- IV
- RatgeberinderNot am 03. Dez. 2004, 18:40 Uhr

Eberhard

eine scharfsinnige Analyse!
Ich werde darüber nachdenken müssen.

Ho(h)listische Grüße

- IV
- jacopo_belbo am 03. Dez. 2004, 19:44 Uhr

hallo eberhard,

so ganz verstehe ich nicht, was du uns hier vorgeführt hast.

wir haben eine aussage Q={" dieser satz ist falsch" }.
Zitat:

Logisch ist an dem Satz q nichts auszusetzen, denn er ist nicht widersprüchlich.


wie kann man die satzaussage analysieren?


Zitat:

Meiner Ansicht nach lässt sich das Problem der paradoxen Sätze bereits dadurch lösen, dass man das Auszeichnen einer Aussage als "wahr" als eine bestimmte Sprechhandlung (" des Behauptens" ) auffasst und das Auszeichnen einer Aussage als falsch als die entgegengesetzte Sprechhandlung (" des Bestreitens" ) auffasst.  
Damit ist gemeint: Die Behauptung einer Aussage p besitzt über die logisch-semantische Bedeutung von p hinaus u.a. auch noch die "performative" Bedeutung: "Die Aussage p soll gelten (d. h. sie soll zur Grundlage des Denkens und Handelns genommen werden).
Wenn ich also den Satz q (" Dieser Satz ist falsch" ) behaupte, dann verlange ich für q Geltung. (" q soll gelten" ).  
Gleichzeitig verlange ich – wegen der inhaltlichen Bedeutung von q - für die Verneinung von q Geltung (" q soll nicht gelten" )  
Damit haben wir einen echten logischen Widerspruch zwischen den performativen Bedeutungen "q soll gelten" und "q soll nicht gelten".  


und was wäre dadurch gewonnen?
semantisch gesehen haben wir zwei aussagen, auf zwei verschiedenen ebenen. wir haben eine aussage über Q ('Q' ist wahr oder falsch) und die aussage von Q. dazu ist es nicht nötig eine performative ebene einzuführen, die neben der semantischen betrachtung gelten soll. die semantische analyse reicht in diesem fall aus.
ansonsten haben wir nur eine verschiebung des problems von zwei semantischen ebenen auf eine performative ebene, in der der widerspruch widerkehrt.
und schwupps ist das paradoxon weg?
das paradoxon besteht weiter. so oder so.
auch wenn man es für semantisch bedeutungslos erklärt.
(im übrigen steckt ein fehler in der ableitung zur performativen ebene. du vermengst objekt- und metaebene in einer einzigen performativen ebene. korrekt dürftest du lediglich sagen: "Q soll (nicht)gelten". ansonsten müßtest du schnell eine meta-perfomative ebene einführen.)

es ist die frage ob ein paradoxon die restlichen sätze gefährdet oder nicht. und ich tendiere zu letzterem.


Zitat:

Ich stimme mit Hermeneuticus darin überein, dass sich die Bedeutung und Funktion des Wortes 'wahr' nicht in der Formel erschöpft: "Der Satz 'p' ist wahr, wenn p".


ich wollte nicht sagen, dass sich die verwendung des wortes "wahr" darin erschöpft. ich habe auch auf die persuasive verwendung des wortes "wahr" hingewiesen. allerdings besitzt es in diesem zusammenhang einen ganz anderen stellenwert, bzw. wird ganz anders gebraucht.

- mfg thomas

- IV
- RatgeberinderNot am 03. Dez. 2004, 19:58 Uhr

Hallo jacopo,

ich weiß immer noch nicht für welche Fragestellung  du dich interessierst.

Welche Erkenntnis erhoffst du dir von der Beantwortung der Frage: "Was ist Wahrheit?"

Gruß

- IV
- jacopo_belbo am 03. Dez. 2004, 20:06 Uhr

hi,

im grunde weiß jeder, was mit "wahr" gemeint ist; allerdings verfangen sich viele menschen in den verschiedenen verwendungsweisen des wortes.

- mfg thomas

- IV
- RatgeberinderNot am 03. Dez. 2004, 20:16 Uhr

" im grunde weiß jeder, was mit "wahr" gemeint ist; allerdings verfangen sich viele menschen in den verschiedenen verwendungsweisen des wortes. "

Im Grunde interessierst du dich also für eine Sammlung fehlerhafter Gebrauchsweisen des Begriffes "wahr" ?

Gruß

- IV
- jacopo_belbo am 03. Dez. 2004, 20:28 Uhr

sozusagen.

- IV
- RatgeberinderNot am 03. Dez. 2004, 20:50 Uhr

Warum?

- IV
- Eberhard am 04. Dez. 2004, 06:11 Uhr

Hallo Thomas,

Du fragst: "Und was wäre dadurch gewonnen?"

Das Paradox ist aufgelöst (ohne Einführung mehrerer Sprachebenen).

Wenn A sagt : "Dieser Satz ist falsch", dann begeht er weder einen grammatischen noch einen logischen Fehler. Dennoch ist seine Aussage weder wahr noch falsch. Das ist das Paradox. Wenn Dich das nicht stört, o.k.

Wenn A sagen würde: "Man soll den Satz q seinem Denken und Handeln zugrunde legen"

und B fragt zurück: "Und was besagt dieser Satz?"

Und A antwortet: "Er besagt: 'Man soll den Satz non-q seinem Denken und Handeln zugrunde legen'",

dann kann B sagen: "Du widersprichst Dir selber."

Ihm gehen also nicht die Argumente aus, wie beim Paradox, das einen sprachlos macht.

Das Paradox besteht also nicht weiter.

Wenn jemand sagt: "Ich sage niemals 'niemals'", dann ist das kein Paradox, sondern widersprüchlich.

In der gleichen Weise ist es nicht paradox sondern widersprüchlich, wenn jemand sagt: "Ich verlange Geltung für etwas, von dem ich selber sage, dass es nicht gelten soll" – und das macht der Kreter, der sagt, dass alle Kreter lügen.

Akzeptiert?

fragt Eberhard.

- IV
- Eberhard am 04. Dez. 2004, 08:32 Uhr

Hallo allerseits, hallo Thomas (J),

warum ist es sinnvoll, sich mit der Bedeutung des Wortes "wahr" zu beschäftigen?

Du schreibst:: "Im grunde weiß jeder, was mit "wahr" gemeint ist."

Damit meinst Du, dass eine Aussage wahr ist, wenn es so ist, wie diese Aussage besagt: Der Satz: "Jesus von Nazareth ist von den Toten auferstanden" ist wahr, wenn Jesus von den Toten auferstanden ist.

Dieser Bezugspunkt ist zwar unverzichtbar, aber er bringt uns noch nicht sehr weit.

Ein Beispiel kann das klar machen.

Wir kennen wohl alle die Schwierigkeiten der Ethik oder Moralphilosophie bei der Beantwortung der Frage: Wie sollen die Menschen handeln? Die Kontroversen und die Zweifel fangen bereits damit an, dass es strittig ist, ob es darauf überhaupt (richtige) Antworten geben kann.

Nun kommt Eberhard daher und sagt: Leute, die Sache ist doch sonnenklar, was damit gemeint ist, wenn man eine ethische Norm wie "Du sollst nicht töten" als gültig bezeichnet. Eine Norm n ist dann und nur dann gültig, wenn es so sein soll, wie die Norm n vorschreibt.

Damit haben wir zwar einen klaren Bezugspunkt, aber die eigentliche Aufgabe liegt noch vor uns.

Wir müssen noch etwas tiefer in die Problematik der Geltung von Sätzen und deren Bedeutungen, der Analyse dessen, was man macht, wenn man etwas behauptet, der Einlösung von Geltungsansprüchen durch Begründungen etc. etc. einsteigen, um hier voranzukommen.

Ich hoffe, dass wir das hier tun und dass wir uns möglichst wenig mit Texten befassen müssen, die mit der Beantwortung unserer Frage nichts zu tun haben.

Grüße an alle, denen klares und präzises Denken und Sprechen wichtig ist, von Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am 04. Dez. 2004, 10:38 Uhr

hallo eberhard,

wenn du sagst, dass, z. B. im gespräch jemand verlangt, dass Q gelten soll, und Q besagt gerade, dass Q nicht gelten soll, so widerspricht sich derjenige, der Q äußert. soweit so klar. aber darin besteht doch das paradoxon, dass es ein offener widerspruch ist?
wenn ein kreter sagt, alle kreter lügen, gibt er einen widersprüchlichen satz von sich. wenn er lügt, sagt er die wahrheit, wenn er die wahrheit sagt, lügt er. in einer diskussion kann man jemandem, nachdem man ihm gesagt hat, er widerspreche sich, auffordern, von solch' widersprüchlichen aussagen abstand zu nehmen. der widerspruch bleibt weiterhin bestehen.


Zitat:

Wenn A sagt : "Dieser Satz ist falsch", dann begeht er weder einen grammatischen noch einen logischen Fehler. Dennoch ist seine Aussage weder wahr noch falsch.


ich würde sagen, der satz sei nicht entscheidbar wahr.
er ist genau dann wahr, wenn er falsch ist, und genau dann falsch, wenn er wahr ist.

Zitat:

" Man soll den Satz q seinem Denken und Handeln zugrunde legen"



Zitat:

" Er besagt: 'Man soll den Satz non-q seinem Denken und Handeln zugrunde legen'"


das ist nicht die korrekte form des paradoxons.
es fehlt die selbstbezüglichkeit die das paradox erst ermöglicht. "es gilt, dass dieser satz nicht gilt" wäre korrekt.
gilt er, so ist es nicht so wie der satz sagt (dass er nicht gilt), d. h. er gilt nicht.
gilt er nicht, ist es so wie der satz sagt, also gilt er doch.

umgekehrt denke ich, ist ein system, das nicht widerspruchfrei ist, kein "beinbruch".


Zitat:

Wenn jemand sagt: "Ich sage niemals 'niemals'", dann ist das kein Paradox, sondern widersprüchlich.


stimmt. hat aber nichts mit selbstbezüglichen sätzen zu tun :]


Zitat:

Du schreibst:: "Im grunde weiß jeder, was mit "wahr" gemeint ist."



Zitat:

Dieser Bezugspunkt ist zwar unverzichtbar, aber er bringt uns noch nicht sehr weit.


ist davon abhängig, wohin man will.


Zitat:

Frage: Wie sollen die Menschen handeln? Die Kontroversen und die Zweifel fangen bereits damit an, dass es strittig ist, ob es darauf überhaupt (richtige) Antworten geben kann.


klare antwort: es gibt keine wahren ethischen sätze. "wahr" bezieht sich auf das bestehen und nichtbestehen von sachverhalten. nun sind sollens-sätze keine sachverhalte die bestehen oder nicht bestehen.
sätze der ethik sind positive, i.e. vom menschen gesetzte sätze.

Zitat:

" Du sollst nicht töten" als gültig bezeichnet. Eine Norm n ist dann und nur dann gültig, wenn es so sein soll, wie die Norm n vorschreibt.
Damit haben wir zwar einen klaren Bezugspunkt, aber die eigentliche Aufgabe liegt noch vor uns.



deswegen heißt es auch:

Zitat:

(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.

(StGB §211)

- mfg thomas

- IV
- RatgeberinderNot am 04. Dez. 2004, 14:08 Uhr

Jacopo, Eberhard,

- IV
- Hermeneuticus am 04. Dez. 2004, 14:23 Uhr

Hallo Eberhard!

Ich bin aus der Diskussion auch wegen DEINES Diskussionsverhaltens ausgestiegen. Denn mir schien, dass Du nicht mit "offenen Karten" diskutierst, dass Du auf Fragen, wenn überhaupt, ausweichende Antworten gibst, oder vorgibst, nicht zu verstehen, obwohl Du durchaus verstehst.

Ich will das an einem Beispiel belegen:

Hermeneuticus in Beitrag Nr.130 von Wahrheit II:


Zitat:

Mir scheint, unsere Differenzen über den Begriff der Wirklichkeit lassen sich darauf zurückführen, dass Ihr Euch dabei auf Wirklichkeit als GEGENSTAND (von deskriptiven Aussagen und Beobachtungen) beschränkt, während ich unterscheide zwischen Wirklichkeit als Gegenstand und Wirklichkeit als VOLLZUG (Performanz, Handlung).



Es folgen Erläuterungen.

Darauf Du in Beitrag Nr. !32:


Zitat:

Hermeneuticus,

ich muss gestehen, dass ich Deinen vorletzten Beitrag nicht verstanden habe, insbesondere was mit "Wirklichkeit als Vollzug" im Zusammenhang der Klärung des Wahrheitsbegriffs gemeint ist. Was ich tue, was ich vollziehe, ist doch auch für mich erfahrbar. Ich kann doch nicht nur das Geschehene sondern auch das gerade Geschehende wahrnehmen und reflektieren. Was hat Vollzug mit Erkenntnis zu tun?

Ich gehe davon aus, dass es bei unseren philosophischen Diskussionen um Fragen und deren richtige Beantwortung geht. Dies ist auch eine Form des Handelns, bei dem allerdings die angestrebten Resultate allein aus Sätzen bestehen.




Und in Nr. 137 sagst Du:


Zitat:

Hallo Hermeneuticus,

zum einen: ich bin mit Dir einer Meinung, dass die richtige Beantwortung von Fragen in Bezug auf das, was ist, eine sehr spezielle Tätigkeit ist, die die verschiedensten faktischen Bedingungen erfordert, um stattfinden zu können.  

Aber das ist doch in unserem Zusammenhang nur dann von Bedeutung, wenn dies Konsequenzen hinsichtlich unserer Problemstellung hätte, wenn sich  also deswegen die Fragen, die Methoden ihrer Beantwortung oder das Kriterium ihrer Geltung ändern würden. Solange das nicht gezeigt wird, sehe ich keinen Grund, diese Bedingungen näher zu analysieren.




Da ich als Synonym für das deutsche Wort "Vollzug" auch "Performanz" angegeben hatte, hättest Du durchaus wissen können, wovon ich sprach und welche Bedeutung der Rückgang auf das Sprechen als HANDELN für die Wahrheitsfrage hat. Der Begriff des "performativen Sprechaktes" jedenfalls, der zu Deutsch wiedergegeben werden kann mit "Sprechhandlung, die vollzogen wird", ist Dir bekannt. Denn in Wahrheit IV zauberst Du diesen Begriff plötzlich selbst aus dem Hut, um damit zu erläutern, was man auch einen "performativen Selbstwiderspruch" nennt. Insofern wusstest Du sehr wohl, wozu die Unterscheidung zwischen einer Äußerung (über die Wirklichkeit) und der Wirklichkeit des Äußerns (z. B.einer Aussage über die Wirklichkeit) gut ist. Stattdessen hast Du Dich dumm gestellt und mich zu seitenlangen Erläuterungen veranlasst.

Deine Fragen (in Beitrag Nr.3 von "Wahrheit III" ):


Zitat:

Aber inwiefern ergibt sich daraus eine besondere Wirklichkeit oder eine besondere Erkenntnis der Wirklichkeit?  

Welche Fragen kann ich nicht stellen oder nicht richtig beantworten, wenn mir der Begriff der Vollzugswirklichkeit fehlt?  

Was erkennt der Handelnde besonderes, was der Fragende, der Wahrnehmende und der Beobachtende nicht erkennen kann?

Hat man als Handelnder spezielle Sensorien, über die man als Beobachtender nicht verfügt?



So ein strategisches Sich-dumm-Stellen, bei dem man nicht offen sagt, was man weiß und denkt, sondern den anderen reden und sich rechtfertigen lässt, ist bei Lehrern gang und gäbe. Als pädagogische Methode ist es sogar unverzichtbar. Nur halte ich es als Haltung unter DISKUSSIONSPARTNERN für verfehlt. Denn es unterstellt ja, dass nicht von gleich zu gleich gesprochen wird, sondern die eigene Überlegenheit, das eigene Besserwissen wird vorausgesetzt.

Unter einer solchen Voraussetzung ist die Sichtweise des anderen nicht mehr nur eine andere mögliche, aber prinzipiell gleichberechtigte Sicht auf den Problemzusammenhang, sondern sie wird behandelt, als sei sie so lange nicht richtig, wie der andere die Probleme nicht genauso sieht wie man selbst. Man wechselt vom kommunikativen zum strategischen Handeln.

Also, um es noch einmal ganz klar zu sagen: So ein Verhalten finde ich "diskursethisch" verwerflich, weil eben nicht davon ausgegangen wird, dass es GLEICH  BERECHTIGTE Sichtweisen gibt.

Du wirst verstehen, dass ich keine Lust habe, mich von Dir wie ein Schüler behandeln zu lassen.

Gruß
H.

- IV
- fFflLloOo am 04. Dez. 2004, 15:44 Uhr

also echt wahr leute

- IV
- Eberhard am 04. Dez. 2004, 17:17 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

zu Deiner Kritik kann ich nur sagen, dass ich mich weder bewusst dumm gestellt habe noch Dich oder irgendeinen andern Diskussionsteilnehmer als nicht gleichberechtigt angesehen habe.

Vielleicht kann ein Dritter hier klärend wirken.

Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Du unserer Diskussionsrunde trotz manchem Frust an der Diskussion (wem geht das nicht so?) erhalten bliebest.

Es grüßt Dich Eberhard.

- IV
- RatgeberinderNot am 04. Dez. 2004, 17:54 Uhr

Hallo Hermeneuticus,
bitte bleib uns erhalten. Deine Aussagen erhellten des Öfteren meine Seele.


Meine Frage an dich: Hängen Wahrheit und Reproduzierbarkeit zusammen?

Gruß

- Guter Artikel
- Erich am 04. Dez. 2004, 19:02 Uhr

Guter Artikel, ist sehr hilfreich beim Nachdenken über das hier gepostete. Kann nur jedem empfehlen, diesen nachzulesen!

http://www.falsafeh.com/Wahrheit.htm
Danke für eure Aufmerksamkeit.

- IV
- Eberhard am 04. Dez. 2004, 20:02 Uhr

Hallo Thomas (J),

wir haben offenbar terminologische Schwierigkeiten.

Du schreibst: Wenn ein kreter sagt, alle kreter lügen, gibt er einen widersprüchlichen satz von sich. wenn er lügt, sagt er die wahrheit, wenn er die wahrheit sagt, lügt er.

Den Satz "Alle Kreter lügen" würde ich nicht als "widersprüchlich" bezeichnen. Ich sehe nicht, welche Aussage in einem Widerspruch zur irgendeiner anderen Aussage stehen soll. Wenn ich diesen Satz sage, dann mag er vielleicht  falsch sein, aber ich verwickle mich nicht in Selbstwidersprüche.

Widersprüchliche Sätze finden sich zum Beispiel in dem unter Kindern beliebten Gedicht:

Dunkel war's, der Mond schien helle,
als ein Auto bltizeschnelle
langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend in's Gespräch vertieft ...

Wenn Du sagst; "Der Satz wird dadurch widersprüchlich, dass ihn eine Kreter äußert", dann würde es völlig mysteriös, denn der Satz bleibt in seiner Bedeutung ja derselbe, ob der Satz nun von mir geäußert wird oder von einem Kreter.

Ich habe zwar nicht Logik studiert, aber das besondere am "Paradox des Lügners" ist doch wohl, dass es sich dort nicht um logische Widersprüche handelt, sondern um Aussagen, die scheinbar gleichzeitig wahr und falsch sind, denen also kein bestimmter Wahrheitswert zugeordnet werden kann.

Dass dies keine ganz unwichtige Problematik bildet, zeigt sich schon daran, dass so bemerkenswerte Beiträge zur Philosophie wie Russells Typentheorie und Tarskis Definition des Prädikats "wahr" für formale Sprachen sowie seine Unterscheidung verschiedener Sprachebenen aus der Anstrengung zur Beseitigung derartiger semantischer Paradoxien entstanden sind.

Es sei mir ausnahmsweise gestattet, einmal eine Passage zu zitieren: "Dass Paradoxien in formalen Sprachen vermieden werden können, ist als solche noch keine befriedigende Erklärung für das, was schief läuft, wenn man Paradoxien in natürlichen Sprachen begegnet." (Cambridge Dictionary of Philosophy).

Dazu muss der mit dem Prädikat "wahr" verbundene Anspruch (des jeweiligen Sprechers) auf Geltung des damit ausgezeichneten Satzes berücksichtigt werden, was auch von Hermeneuticus seit längerem betont wird.

Grüße an alle, Eberhard.

- IV
- Hermeneuticus am 05. Dez. 2004, 00:50 Uhr

Hallo Eberhard!

Tut mir leid, dass ich Dir etwas Falsches unterstellt habe.

Zugleich bin ich ziemlich verblüfft über meine Fehlinterpretation.
Auf der anderen Seite frage ich mich, ob ich mich damals wirklich so unverständlich ausgedrückt habe. Du erinnerst Dich vielleicht, dass ich über Dein Unverständnis damals schon erstaunt war; ich ging davon aus, auf etwas hingewiesen zu haben, das in der philosophischen Diskussion so unbekannt nicht ist.

Dazu zwei Zitate, die ich erst in den letzten Tagen gefunden bzw. wiederentdeckt habe. Das erste stammt von Max Scheler und wird von Heidegger in "Sein und Zeit" (S.48) zitiert. Das zweite stammt von Ernst Cassirer:


Zitat:

Niemals aber ist ein Akt auch ein Gegenstand; denn es gehört zum Wesen des Seins von Akten, nur im Vollzug selbst erlebt und in Reflexion gegeben zu sein.




Zitat:

Denn was könnte der Mensch eher und vollkommener begreifen - so hat schon Vico gefragt - als das, was er selbst erschaffen hat? Und doch tritt hier eine Schranke des Erkennens auf, die schwer zu überwinden ist. Denn der reflexive Prozess des Begreifens ist seiner Richtung nach dem produktiven Prozess entgegengesetzt; beide können nicht zugleich miteinander vollzogen werden.





Wie es aussieht, trifft mein Motto in größerem Umfang zu als ich dachte, als ich es ausgesucht habe...

Gruß
H.

- IV
- Hermeneuticus am 05. Dez. 2004, 01:09 Uhr


on 12/04/04 um 17:54:07, RatgeberinderNot wrote:

Hallo Hermeneuticus,
bitte bleib uns erhalten. Deine Aussagen erhellten des Öfteren meine Seele.


Meine Frage an dich: Hängen Wahrheit und Reproduzierbarkeit zusammen?

Gruß



Hallo Ratgeber!

Als "Seelsorger" hab ich mich bisher noch nicht gesehen... Muss ich nun umdenken?
:-)

Freut mich aber, von solchen positiven "Nebenwirkungen" zu hören. (Nebenwirkungen deshalb, weil nicht direkt beabsichtigt.)

Auf Deine Frage kann ich nur mit "ja" antworten. Es würde mich aber interessieren, wie Du zu dieser Frage kommst und wieso Du sie gerade an mich richtest.

Gruß
H.

- IV
- jacopo_belbo am 05. Dez. 2004, 02:08 Uhr

hallo eberhard,

wenn ein kreter sagt, alle kreter lügen - gehört der kreter dann zur menge der lügner, zu der ja alle kreter gehören sollen, dazu? wenn du als -hoffentlich nicht-kreter, sondern derzeit- deutscher staatsbürger mit wohnhaft in berlin diesen satz äußerst, ist das wohl ein unterschied. ich habe zumindest keine probleme dich zu der menge der nicht-kreter zu zählen. bei der menge der lügner bin ich mir noch nicht sicher ;)

und nennen wir nicht eine solche aussage paradox?

- mfg thomas

- IV
- jacopo_belbo am 05. Dez. 2004, 02:27 Uhr

hallo hermeneuticus,

welcome (back) aboard ;)

- IV
- Eberhard am 05. Dez. 2004, 09:50 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

ich finde es gut, dass Du wieder dabei bist. Vielleicht kann man aus unseren Schwierigkeiten für die Diskussion einige Lehren ziehen.

Ich bemühe mich, auf alle Kritiken und Fragen einzugehen (sofern es sich um Beiträge handelt, die am Ziel der Beantwortung unserer Frage orientiert sind.)

Manchmal, wenn sich die Beiträge häufen, gelingt das nicht, da meine Kräfte eingeschränkt sind.

Manchmal – wenn auch selten - kommt es jedoch auch vor, dass ich auf einen Beitrag nicht antworte, weil ich mir selber über die Sache noch nicht hinreichend klar bin. Dies war bei Deiner Kritik an meiner Verwendung des Wortes "Geltung" der Fall. Ich habe deshalb erstmal nicht geantwortet, sehe aber jetzt, dass es besser gewesen wäre, wenn ich eine kurze Nachricht rausgeschickt hätte, dass ich nicht erwidern kann, weil ich mir die Sache noch überlegen muss.

Weiterhin sollte man aus unsern Schwierigkeiten die Lehre ziehen, jeden Beitrag möglichst auf ein in sich abgeschlossenes Problem zu beschränken, um dies auch wirklich klären zu können. Sonst jonglieren wir mit zu vielen Bällen gleichzeitig.

Wir müssen bei unserer Diskussion nicht zu einem Konsens kommen, aber wir sollten uns bemühen, den Dissens möglichst genau herauszuarbeiten. Dies ist auch schon schwer genug, da es voraussetzt, dass man zu einer gemeinsamen Sprache findet. (Ich schätze, dass mehr als die Hälfte unserer Meinungsverschiedenheiten auf das Konto unterschiedlicher Terminologien geht.)

Da wir gerade bei "Verfahrensfragen" sind, noch ein Wunsch meinerseits, der Dich nicht betrifft: Bitte keine -1 Satz-Stellungnahmen (" Na und?" etc.). Ich denke, wenn man verständlich gegen die Position eines andern argumentieren will, kommt man ohne einen gewissen Begründungszusammenhang nicht aus – und der lässt sich nicht in 5 Worte packen.

Also auf ein Neues. Im Zeitalter des World Wide Web findet Erkenntnisfortschritt nicht nur in den Oberseminaren Philosophischer Fakultäten statt.

Es grüßt Dich Eberhard.

- IV
- Eberhard am 05. Dez. 2004, 11:47 Uhr

Hallo Thomas (J),

Ich frage Dich: Was ist an dem Satz: "Alle Kreter lügen" auszusetzen?

Wenn Du zu dem gleichen Resultat kommst, wie ich, dass an diesem Satz nichts auszusetzen ist, dann kann das Problem doch nur an der Situation liegen, in der dieser Satz geäußert wird, z. B. an der Person des Sprechers.

Wenn Du dieser Schlussfolgerung zustimmst, dann heißt das doch, dass nicht der Satz "Alle Kreter lügen" zu beanstanden ist, sondern das, was ein bestimmter Sprecher tut.

Welchen Fehler macht der Sprecher, bei dem es sich um einen Kreter handelt?

These: Der Fehler des Kreteers besteht darin, dass er zwei Forderungen erhebt, die einander widersprechen.

Diese Forderungen formuliert er nicht aus, sie sind jedoch implizit als Sinn seines Handelns (performativ) gegeben.

Begründung:

Die erste Forderung ergibt sich daraus, dass er etwas (als wahr) behauptet.

(Wenn es sich nicht um eine Behauptung handeln würde, dann gäbe es auch keine Paradoxie. Wenn der Kreter z. B. an einem der beliebten Fernsehjokes teilnehmen würde und der Talkmaster fordert die Mitspieler auf, möglichst schnell einen Satz mit drei Wörtern zu bilden, dann wäre nichts daran auszusetzen, wenn er den Satz: "Alle Kreter lügen" einbringt. Er erhebt dafür ja keinen Geltungsanspruch.)

Wenn ich einen Satz mit bestimmter Bedeutung (als wahr) behaupte, dann fordere ich damit implizit, dass dieser Satz gelten soll.

Damit haben wir die erste Forderung, die der Kreter aufstellt: "Der Satz: 'Alle Kreter lügen" soll gelten!"

Die zweite Forderung ergibt sich aus dem, WAS er behauptet.

Er behauptet: "Alle Kreter lügen (immer)."

Da vorausgesetzt wird, dass der Sprecher auch ein Kreter ist, impliziert seine Behauptung die Behauptung "Ich lüge (jetzt)".

Wenn "lügen" bedeutet, "bewusst die Unwahrheit sagen", dann ist diese Behauptung gleichbedeutend mit der Behauptung "Was ich jetzt sage, ist falsch".

Wenn ich einen Satz mit einer bestimmten Bedeutung als falsch bezeichne, dann fordere ich damit implizit, dass dieser Satz nicht gelten soll. (Ich bestreite ihn.)

Damit haben wir die zweite Forderung, die der Kreter aufstellt.: "Der Satz 'Alle Kreter lügen' soll nicht gelten!"

Ergebnis: Der Kreter erhebt mit seiner Äußerung zwei Forderungen, die einander widersprechen. Dies ist aus logischen Gründen unzulässig.

Dazu noch zwei Anmerkungen:

Erstens: Die Paradoxie ist verschwunden, denn die Behauptung eines Kreters, dass alle Kreter lügen, ist keine ernst zu nehmende Behauptung mehr.

Zweitens:  Dies obige Analyse gilt auch für die Umgangssprache, in der keine Sprachebenen unterschieden werden. Ich habe auch nicht mit dem Verbot des Selbstbezugs von Aussagen argumentiert.

Beide Vorschriften für die Konstruktion einer Sprache verhindern zwar ebenfalls, dass das Paradox des Lügners in dieser Sprache auftauchen kann, aber mit einem allgemeinen Verbot des Selbstbezugs wird mehr verboten, als sinnvoll ist. So ist der Satz : "Dieser Satz besteht aus sechs Wörtern" völlig in Ordnung, obwohl er sich auf sich selbst bezieht.
Das Problem taucht offenbar nur dann auf, wenn bestimmte Begriffe, wie z. B. "wahr" beteiligt sind, die eine implizite (performatorische) Bedeutung haben.

Habe ich mich verständlich gemacht?

fragt Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am 05. Dez. 2004, 12:49 Uhr

hallo eberhard,

du hast dich so verständlich gemacht wie schon zuvor :)
du eleminierst das paradoxon mit dem "satz des ausgeschlossenen dritten" (Pv~P). und mein einwand ist, dass die aussage des kretischen lügners nicht von der form Pv~P ist. wir haben somit ein "strohmann-argument". indem du den satz als Pv~P analysierst, gibst du vor, dass eigentliche paradoxon gelöst zu haben - was aber nicht zutrifft.

- mfg thomas

- IV
- Hermeneuticus am 05. Dez. 2004, 13:27 Uhr

Hallo Thomas/j.!


Zitat:

nun sind sollens-sätze keine sachverhalte die bestehen oder nicht bestehen.  
sätze der ethik sind positive, i.e. vom menschen gesetzte sätze.


Gegen die formelhafte Wiederholung einer schon diskutierten, aber offenbar immer noch strittigen Behauptung hilft nur die formelhafte Wiederholung der Bestreitung. Auf diese Weise wird allerdings die Ausdauer im Wiederholen diskussionsentscheidend, wie in solchen "Dialogen" zwischen Kindern: "Du bist blöd!" - "Nein, DU bist blöd!" - "Nein!" - "Doch!" - "Nein!" - "Doch!" (Es verliert, wer zuerst aufgibt.)
:-)

Sei's drum: Es kann wahre und unwahre Behauptungen darüber geben, welche Normen von Menschen "gesetzt" wurden. Insofern sind Sollens-Sätze durchaus Sachverhalte. (Wäre es anders, müssten nicht nur alle Gerichte der Welt sofort dicht machen, es wären auch all die parlamentarischen und außerparlamentarischen Diskussionen um das Erlassen neuer Gesetze weltfremde Sandkastenspiele.)

Hättest Du gesagt: "Sollens-Sätze behaupten keine Sachverhalte." würde ich Dir zustimmen.

Gruß
H.

- IV
- Hermeneuticus am 05. Dez. 2004, 13:40 Uhr

PS.


Zitat:

Gegen die formelhafte Wiederholung einer schon diskutierten, aber offenbar immer noch strittigen Behauptung hilft nur die formelhafte Wiederholung der Bestreitung. Auf diese Weise wird allerdings die Ausdauer im Wiederholen diskussionsentscheidend, wie in solchen "Dialogen" zwischen Kindern: "Du bist blöd!" - "Nein, DU bist blöd!" - "Nein!" - "Doch!" - "Nein!" - "Doch!" (Es verliert, wer zuerst aufgibt.)


Die Beteiligten an einem solchen Dialog erbringen performativ (!) den Beweis, dass BEIDE blöd sind. Und je länger dieser Dialog andauert, desto blöder sind sie. Darum hat zwar derjenige, der das letzte Wort behält, "gewonnen", aber er liegt auch im Rennen um den Blödheitspreis mit einer Nasenlänge vorn...

Der Satz, dass der Klügere nachgibt, ist also gut begründet.
[grin]

Grüßchen
H.

- IV
- jacopo_belbo am 05. Dez. 2004, 14:11 Uhr

der diskussion halber: sollens-sätze behaupten keine sachverhalte.

dennoch handelt es sich bei sollens-sätzen um positive, vom menschen gesetzte sätze. es gibt keinen grund für ihre geltung.

- IV
- Eberhard am 05. Dez. 2004, 14:18 Uhr

Hallo Thomas,

Du schreibst: "mein einwand ist, dass die aussage des kretischen lügners nicht von der form Pv~P ist.'"

Das verstehe ich nicht:

Was meinst Du mit "Aussage des Kreters?"

Das einzige, was der Kreter gesagt hat, ist der Satz: "Alle Kreter sind Lügner".

Und dieser Satz hat nun gewiss nicht die Form  pV~p.

Und erst Recht habe ich in keiner Weise vorausgesetzt, dass dem so sei.

Ich habe meinen Beitrag ja bewusst als eine explizite Folge von logischen Schritten angelegt. Vielleicht verstehe ich Deine Kiritk besser, wenn Du genau die Stelle angibst, wo ich eine falsche Schlussfolgerung ziehe und Du die Argumente nicht mehr mehr akzeptierst.

Es grüßt Dich Eberhard.

- IV
- Hermeneuticus am 05. Dez. 2004, 16:03 Uhr

Hallo Thomas!



Zitat:

dennoch handelt es sich bei sollens-sätzen um positive, vom menschen gesetzte sätze. es gibt keinen grund für ihre geltung.

"Geltung" ist nur ein anderes Wort für den Sachverhalt des (intersubjektiven) "Anerkannt-Seins". Eine Behauptung, die "gilt", wird von denjenigen, die sie "gelten lassen", anerkannt.

Es gibt eine "faktische" Anerkennung, die einfach darin besteht, dass niemand auftritt, der die Forderung oder Behauptung (oder auch die Entscheidungsbefugnis einer Person oder Instanz) anficht. Und es gibt eine explizite Anerkennung, die auf (gegebenen und nachvollzogenen) Begründungen beruht. Eine "faktische" Anerkennung muss nicht automatisch "irrational" sein; es ist durchaus möglich, dass sie sich gut begründen ließe. (So werden viele deutsche Bürger die Geltung der Gesetze und die Entscheidungsbefugnisse der staatlichen Instanzen faktisch anerkennen, ohne sich jemals über deren staatsrechtliche, historische und sachliche Begründung Gedanken zu machen.)

Gesetze sind Sollens-Sätze (auch wenn ihre sprachliche Form nicht ausdrücklich zu ihrer Befolgung auffordert, sondern nur die zu erwartenden Konsequenzen für den Fall der Übertretung konstatiert). Aber wie sich leicht an jedem beliebigen Gesetzgebungsverfahren zeigen lässt, werden neue Gesetze stets auch SACHLICH begründet. Denn schließlich geht es dabei ja um die faktische Gestaltung der gemeinsamen Wirklichkeit. Oder es geht darum, veraltete Gesetze der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzupassen, d. h. die gesellschaftliche Wirklichkeit als solche ANZUERKENNEN, also "gelten zu lassen". (Siehe etwa die Gesetzgebung zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften während der letzten 3 Jahrzehnte.)

Sollens-Sätze werden also nicht nur mit dem schieren Wollen begründet (oder anders gesagt: sie beruhen nicht auf bloßer Willkür, und sei diese auch eine "gemeinsame Willkür" ). Immer geht es dabei um die gemeinsame Wirklichkeit und deren Gestaltung (z. B. die Lösung von faktischen Konflikten).


Diese Überlegungen sollten genügen, um zu zeigen, dass es sehr wohl "Gründe" (und zwar verschiedener Art) für die Geltung von Sollens-Sätzen gibt.

Außerdem zeigt sich dabei: Rein logische Unterscheidungen - in diesem Fall die zwischen Behauptungen und Sollens-Sätzen - können leicht an der Wirklichkeit vorbeigehen.

Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 05. Dez. 2004, 19:50 Uhr

Hallo Hermeneuticus, hallo Thomas,

es wäre schade, wenn derjenige Recht behält, der am hartnäckigsten seine Meinung wiederholt. Ich gehe einmal davon aus, dass jeder, an einem Disput teilnimmt, die Regel bejaht, richtige Argumente gegen die eigene Meinung zu akzeptieren und seine Meinung entsprechend zu ändern. Dass diese Regel oft nicht eingehalten wird, steht auf einem anderen Blatt.

Um zu zeigen, dass mit der Feststellung "Eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ist wahr, wenn es so ist, wie die Aussage besagt" ( "p" ist wahr, dann und nur dann wenn p) noch nicht viel gewonnen ist, hatte ich eine analoge Formel für normative Sätze (Soll-Sätze) gebildet: "Ein normativer Satz bezogen auf menschliches Handeln ist richtig, wenn die Menschen so handeln sollen, wie der Satz besagt."

Ich habe dabei bewusst nicht das Wort "wahr" verwendet sondern das Wort "richtig", falls jemand die beiden Wörter "wahr" und "falsch" für Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit (Ist-Sätze, Tatsachenfeststellungen, deskriptive Sätze) reservieren will.

Wenn man per Definition den Gebrauch der Wörter "wahr" und "falsch" auf Aussagen darüber beschränkt, wie die Welt beschaffen IST, dann kann es logischer Weise keine wahren ethischen Normen geben, denn diese sagen nicht aus, was ist, sondern was sein SOLL.

Allerdings sind Definitionen nur sprachliche Konventionen, die man nicht akzeptieren muss. Definitionen sind Regeln für den Gebrauch von Wörtern und können deshalb nicht in der Weise wahr oder falsch sein wie Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit.

Aber selbst wenn man akzeptiert, dass die Wörter "wahr" und "falsch" nur auf deskriptive Sätze angewendet werden dürfen, schließt das nicht aus, dass man normative bzw. präskriptive Sätze als richtig oder allgemeingültig bezeichnet. Diese inhaltliche Frage ist nicht per Definition des Wortes "wahr" zu entscheiden.

Meine Frage an Thomas: Siehst Du das auch so, dass ein Moralphilosoph wenig gewonnen hat, wenn er weiß: << Die Norm "Man soll nicht töten" ist richtig, wenn man nicht töten soll >>?

Und siehst Du das auch so, dass entsprechendes für die Bestimmung: << "p" ist wahr, wenn p>> gilt?

Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen meines Erachtens da, wo man z. B. abgrenzen muss: Welcher Satz enthält eine Aussage über die Realität und welcher nicht?

Wir hatten bereits die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zu den Werturteilen (" Sein Handeln ist vorbildlich" etc,).

Wie ist es mit Aussagen über die faktische Geltung von Normen (" In England gilt das Links-fahr-Gebot" )

Welche der folgenden Sätze sind Aussagen über die Wirklichkeit und wenn 'ja' warum?:

Er hat gesagt, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
Er hat versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
Er soll ihre Schulden bezahlen.

Vielleicht lässt sich anhand konkreter Beispiele besser klären, was man unter einer "Aussage über die Wirklichkeit" zu verstehen hat.

Es grüßt Euch Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am 05. Dez. 2004, 21:21 Uhr

hallo,

wenn wir sagen, eine aussage P ist wahr oder falsch, so sagen wir, dass sie in übereinstimmung mit den tatsachen wahr dder falsch ist. wenn wir sagen, dass gerhard schröder derzeit bundeskanzler von deutschland ist, so benennen wir eine konkrete person (gerhard schröder) und identifizieren ihn mit dem bundeskanzler; der mann der mit "gerhard schröder" benannt ist, ist der selbe mann, der derzeit deutscher bundeskanzler ist. also ist die aussage, dass gerhard schröder derzeit deutscher bundeskanzler ist, genau dann wahr, wenn gehrhard schröder derzeit deutscher bundeskanzler ist.

wenn wir dagegen sagen, der artikel 1 des grundgesetzes handele von der menschenwürde, so kann diese aussage wahr -im sinne von- entsprechend dem, was der artikel 1 des grundgesetzes aussagt und falsch -im sinne von- nicht entsprechend dem was der artikel 1 des grundgesetzes aussagt, sein.

wenn wir stattdessen sagen "du sollst nicht töten", so können wir nicht sagen, diese forderung sei wahr oder nicht wahr. wir können sagen, sie sei dem entsprechend, was in der bibel unter den zehn geboten steht; also die aussage "'du sollst nicht töten' ist eines der zehn gebote" kann wahr oder falsch sein.
ebensowenig können wir sagen, die forderung, nicht zu töten sei "richtig" oder "falsch" - richtig oder falsch gemessen woran?

gesetze haben geltung, weil sie beschlossen worden sind und über ihre ausführung gewacht wird.


Zitat:

Er hat gesagt, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
Er hat versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
Er soll ihre Schulden bezahlen.



aussagen über die wirklichkeit sind die ersten drei sätze.
der letzte satz ist eine aufforderung.
der vierte satz ist eine aussage über eine regel die angewandt wird.


Zitat:

Meine Frage an Thomas: Siehst Du das auch so, dass ein Moralphilosoph wenig gewonnen hat, wenn er weiß: << Die Norm "Man soll nicht töten" ist richtig, wenn man nicht töten soll >>?


das zeigt, dass die die wahrheitsdefinition keine anwendung bei sätzen der ethik findet.
es läßt sich sagen, dass die norm "du sollst nicht töten" soviel aussaget, wie, dass niemand töten soll.
also ist es der norm entsprechend, wenn man sagt, "'du sollst nicht töten' heißt, dass niemand töten soll".


Zitat:

Und siehst Du das auch so, dass entsprechendes für die Bestimmung: << "p" ist wahr, wenn p>> gilt?


nein. der fall bei aussagen über die wirklichkeit ist ein anderer. durch die tarskische wahrheitsdefinition erhält unser begriff von wahrheit ein "bestehenselement", das überprüft werden kann. wenn es sich so verhält, wie die aussage besagt, ist die aussage wahr. ein solches bestehenselement gibt es bei sollensaussagen nicht.

- mfg thomas

p.s.: wenn ein kreter sagt, alle kreter seien lügner: gehört der kreter zur menge der lügner oder nicht?

- IV
- Hermeneuticus am 05. Dez. 2004, 22:26 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

gesetze haben geltung, weil sie beschlossen worden sind und über ihre ausführung gewacht wird.


Dann wären also Gesetze in einer Demokratie mit normierten Gesetzgebungsverfahren und "Gewaltenteilung" und Gesetze in einer Diktatur mit Führerprinzip und Gestapo im Grunde auf die gleiche Weise "gültig". Dann bliebe den Betroffenen (wie bei der autoritativen "Taufe" von Dingen...) nur eine Gehorsamspflicht ohne irgendwelche Rechte. "Rechtspersonen" wären dann jeweils nur die, die Gesetze erlassen. (Selbst im mittelalterlichen "Gottesgnadentum" der Herrschaft waren die "Untertanen" noch Rechtspersonen, die z. B. einen Anspruch auf Schutz und Rechtsfrieden gegenüber ihren Herrschern hatten).

Gerade hinsichtlich des gesetzten Rechts wird deutlich, dass "Geltung" aus der intersubjektiven Anerkennung hervorgeht, sei diese implizit oder explizit bekundet. Jede Rede von "Recht" oder "Gerechtigkeit" wäre sinnlos, wenn Gesetze allein aufgrund des Faktums ihrer Setzung gölten. Man hätte es nur mit Befehlen zu tun, nicht mit Recht. Damit wäre jeder Kritik an Unrechtsregimen der Boden entzogen.

In was für einer Welt lebst Du?


Gruß
H.

- IV
- Hermeneuticus am 05. Dez. 2004, 22:55 Uhr

Hallo Eberhard!

Tja, die Wirklichkeitsfrage begleitet uns auf Schritt und Tritt...


Zitat:

Welche der folgenden Sätze sind Aussagen über die Wirklichkeit und wenn 'ja' warum?:

Er hat gesagt, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
Er hat versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
Er soll ihre Schulden bezahlen.


Dies sind sämtlich Aussagen über die Wirklichkeit. Und der Grund dafür liegt darin, dass sie aus der Perspektive eines Beobachters über einen Dritten (" er" ) behauptet werden.

Bei den Aussagen 4 und 5 könnte man den Sprecher allerdings fragen, ob er die Gründe für die von ihm konstatierte Verpflichtung bzw. für das Sollen anerkennt oder unterstützt. Ob er sich also mit diesen Imperativen "identifiziert". Wenn ja, dann würden hier Aussage über die Wirklichkeit und normative Geltung zusammenfallen (wobei sie sich dennoch unterscheiden ließen).

Wir hatten diesen Punkt schon diskutiert: Der Imperativ einer Norm gilt nur für den, der sie anerkennt, also für einen "Beteiligten". Man könnte auch sagen: für Mitglieder eines "Geltungskollektivs". Ihnen ist gemeinsam, dass sie den Imperativ einer Norm auch auf sich selbst beziehen. Das hindert freilich nicht, dass sie die "faktische" Geltung einer Norm auch als Faktum konstatieren können: "Er ist verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen - wie auch jeder von uns an seiner Stelle dazu verpflichtet wäre. Gleiches Recht für alle!"

Bei den Aussagen 1 - 3 behauptet der Sprecher dagegen etwas darüber, was "er" GETAN hat. Er spricht von "seinen" Handlungen: "Er" hat etwas gesagt, etwas versprochen, eine Verpflichtung übernommen.
Allerdings gehört es zu den Voraussetzungen von Behauptung 2 und 3, dass der Sprecher weiß, was "Versprechen" und "Pflicht" bedeuten. Er muss also einen Begriff haben von "Verbindlichkeit" oder "normativer Geltung".


Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 05. Dez. 2004, 23:22 Uhr

Hallo Thomas (J),

wir haben die prekäre Situation, dass Du einerseits meine Auflösung der Lügner-Paradoxie für misslungen hältst, dass Du andererseits aber nicht angeben willst oder kannst, an welcher Stelle meiner aufwendig in logische Einzelschritte zerlegten Begründung Du einen Fehler siehst. Belassen wir es also dabei.

Ich habe analog zur Definition von "wahr" für deskriptive Sätze bzw. Aussagen eine Definition von "richtig" in Bezug auf präskriptive Sätze bzw. Normen ins Spiel gebracht. (" Eine Norm 'n' ist richtig, wenn n".)

Diese lehnst Du mit der rhetorischen Frage ab: richtig, gemessen woran?

Meine – provokative – Antwort auf Deine Frage: richtig, gemessen am allgemeinen Willen.

Zum Schluss noch zwei Fragen:

Kommt moralischen Normen Geltung zu?

Folgt nicht aus dem  Satz : "Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen."
logisch der Satz "Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen." ?

fragt Eberhard.

- IV
- Eberhard am 06. Dez. 2004, 06:38 Uhr

Hallo allerseits,

warum streitet man darüber, ob eine Aussage wahr ist?

Die Meinungen eines andern Menschen, das, was er für wahr hält, das, was er seinem Denken und Handeln zugrunde legt, können mir egal sein, solange nicht jemand davon betroffen ist, dessen Wohlergehen mir wichtig ist.

Meinungen, die folgenlos bleiben, können mir egal sein. Wenn ein anderer glaubt, dass er nach dem Tode wiedergeboren wird als Mensch oder Tier oder dass er dann in den Himmel kommt und ich in die Hölle, können mir deshalb egal bleiben.

Bedeutung gewinnt die Suche nach Wahrheit, wenn die Meinungen des andern diesen zu Handlungen führen, deren Folgen mein Wohl und Wehe berühren. Wenn jemand im Unterschied zu mir der Meinung ist, dass das Einatmen von Zigarettenrauch nicht gesundheitsschädlich ist und er deswegen in dem Zimmer raucht, wo ich mich aufhalte, dann wird das, was er für wahr hält, für mich wichtig, dann bekommt die Frage nach der Schädlichkeit des Rauchs und die richtige Antwort darauf Gewicht.

Wenn ich mit anderen in irgendeiner Hinsicht eine "Schicksalsgemeinschaft" bilde, sei es als Gruppe von Bergsteigern, als Lebensgemeinschaft oder als Staat, in der gemeinsames, aufeinander abgestimmtes Handeln erforderlich ist, dann hat das, was die andern für wahr halten, erhebliche Bedeutung für mich, denn es gilt das Prinzip : "Mit gefangen, mit gehangen!"

Wenn mein Mitbewohner meint, das Rauchen im Bett sei ungefährlich, dann brennen u. U. auch meine Sachen ab. Deshalb kommt der Klärung des Kriteriums für die Wahrheit einer Aussage und dessen Anwendung u. U. größte Bedeutung zu. Eine Gemeinschaft, in der die Methoden zur Überwindung von Meinungsverschiedenheiten nicht entwickelt sind, ist arm dran. Intersubjektiv nachvollziehbare Argumente und die Methoden ihrer Gewinnung sind gefragt,
    meint Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am 06. Dez. 2004, 07:47 Uhr

hallo zusammen?

in was für einer welt lebe ich? in einer welt, in der gesetze beschlossen werden, und deren einhaltung von dritten überwacht wird.
ich denke, dass das unabhängig von der staatsform ist, in der wir/man leben/lebt. so funktionieren gesetze - wie auch sonst? gesetze über deren einhaltung niemand wacht, wären keine gesetze. verstöße gegen die gesetze könnten nicht geahndet werden, weil niemand deren einhaltung überwacht.

Zitat:

Dann wären also Gesetze in einer Demokratie mit normierten Gesetzgebungsverfahren und "Gewaltenteilung" und Gesetze in einer Diktatur mit Führerprinzip und Gestapo im Grunde auf die gleiche Weise "gültig".


ja. es wäre auch absurd zu behaupten, dass z. B. die "brandverordnung" im dritten reich erlassen worden wäre, sie aber keine "gültigkeit" besessen hätte, weil das dritte reich ein "unrechtsstaat" bzw. eine "diktatur" gewesen wäre. die gesetze, die im dritten reich erlassen worden sind, sind nachwievor gesetze gewesen. ob wir deren "rechtscharakter" anzweifeln oder nicht; ob sie unserem rechtsempfinden entsprechen oder nicht.

desweiteren gebe ich (besonders hermeneuticus) zu bedenken, dass ich zwar gesagt habe, dass gesetze beschlossen werden - habe aber bewußt offengelassen wie, bzw. von wem. ich denke es spielt für das gesetz im einzelnen als solches keine rolle, ob es demokratisch zustandegekommen, diktatorisch beschlossen, oder päpstlich verlautbart worden ist. ebenso habe ich bewußt nicht von "anerkennung" gesprochen. was im grunde anerkannt wird, ist nicht das eigentliche gesetz, sondern die autorität des gesetzgebers - sei es pharao, priester, römischer kaiser, deutscher kaiser, diktator, bundestag und bundesrat. ob in der gesellschaft gewaltenteilung vorherrscht oder nicht, spielt für die geltung von gesetzen eine nebengeordnete rolle. wir sollten bedenken, dass es gesetze nicht nur in demokratien gibt, bzw. gegeben hat.


Zitat:

Dann bliebe den Betroffenen (wie bei der autoritativen "Taufe" von Dingen...) nur eine Gehorsamspflicht ohne irgendwelche Rechte. "Rechtspersonen" wären dann jeweils nur die, die Gesetze erlassen. (Selbst im mittelalterlichen "Gottesgnadentum" der Herrschaft waren die "Untertanen" noch Rechtspersonen, die z. B. einen Anspruch auf Schutz und Rechtsfrieden gegenüber ihren Herrschern hatten).  
Gerade hinsichtlich des gesetzten Rechts wird deutlich, dass "Geltung" aus der intersubjektiven Anerkennung hervorgeht, sei diese implizit oder explizit bekundet. Jede Rede von "Recht" oder "Gerechtigkeit" wäre sinnlos, wenn Gesetze allein aufgrund des Faktums ihrer Setzung gölten. Man hätte es nur mit Befehlen zu tun, nicht mit Recht. Damit wäre jeder Kritik an Unrechtsregimen der Boden entzogen.  


das hat mit dem, was ich gesagt habe nicht im entferntesten etwas zu tun - und ich denke, dass sollte nach obigen erläuterungen klar geworden sein.


Zitat:

(" Eine Norm 'n' ist richtig, wenn n".)  
Diese lehnst Du mit der rhetorischen Frage ab: richtig, gemessen woran?
Meine – provokative – Antwort auf Deine Frage: richtig, gemessen am allgemeinen Willen.


also ist die norm "hängt alle verbrecher" genau dann richtig, wenn es der allgmeine wille ist, dass alle verbrecher aufgehängt werden sollen?
das scheint mir aber eine seltsame vorstellung von der richtigkeit der normen zu sein.

ich denke mit dem begriff von "richtig" oder "falsch" kommen wir in diesem zusammenhang nicht weiter.

- mfg thomas

- IV
- Hermeneuticus am 06. Dez. 2004, 16:19 Uhr

Hallo Thomas!

Wir schweifen zwar ein wenig in die Rechtsphilosophie ab, aber da dies anlässlich des strittigen Begriffs der "Geltung" geschieht; und da auch der Wahrheitsbegriff - hier scheinen wenigstens Eberhard und ich uns weitgehend einig zu sein - eine praktische/ethische/normative Bedeutung hat, ist dieser Schwenk sachlich begründet.


on 12/06/04 um 07:47:12, jacopo_belbo wrote:

in was für einer welt lebe ich? in einer welt, in der gesetze beschlossen werden, und deren einhaltung von dritten überwacht wird.
ich denke, dass das unabhängig von der staatsform ist, in der wir/man leben/lebt. so funktionieren gesetze - wie auch sonst? gesetze über deren einhaltung niemand wacht, wären keine gesetze. verstöße gegen die gesetze könnten nicht geahndet werden, weil niemand deren einhaltung überwacht.


Mit dem Erlassen und Überwachen von Gesetzen habe ich kein Probleme. Ich habe dagegen protestiert, dass Du die GELTUNG der Gesetze mit dem Faktum ihres Erlasses und ihrer Überwachung identifizierst. Denn dadurch hebst Du den Begriff des Rechts auf, von dem wir die Gesetze nicht einfach ablösen können. Gesetze, die nur aufgrund ihrer autoritativen Setzung und der die Einhaltung garantierenden Zwangsgewalt "gelten", sind von bloßen Befehlen nicht zu unterscheiden.

Aber abgesehen davon, dass Du damit das Recht, das mir mit dem menschlichen In-der-Welt-Sein unauflöslich verknüpft zu sein scheint, ignorierst, wäre es auch ganz unrealistisch zu glauben, es könne irgendeine Form von gemeinschaftlichem Handeln ohne normative Geltung - also gegenseitige  Anerkennung - funktionieren.
Nehmen wir etwa einen typisch autoritären Verband wie eine Armee: Wieso gehorchen Hunderte oder Tausende einem Befehl? Wieso zeigen die Vielen dem Kommandeur, der sie ins Feuer schickt, nicht zuerst den Vogel und richten dann ihre Waffen auf ihn? Im Sinne ihrer individuellen Selbsterhaltung wäre das naheliegender und auch klüger als Gehorsam. Aber - diese Mehrzahl erkennt eben die Befehlsgewalt des Kommandeurs an; DARUM gehorcht sie. Denn warum sollten tausend bewaffnete Männer vor einem einzigen bewaffneten Mann Angst haben?
Dieser Gedanke ist ohne weiteres zu übertragen auf das ganze System der Rechtssetzung und -überwachung; denn jeder Tyrann ist auf eine große Zahl von Gefolgsleuten angewiesen, sie seine Herrschaft anerkennen und seine Befehle nicht nur blind befolgen, sondern auch EINSEHEN.  

Also: Ohne die intersubjektive Anerkennung von Normen (die hinter den Begriffen der "Geltung", "Legitimität" oder des "Rechts" steht), ist das schiere FUNKTIONIEREN von sozialem Zusammenleben nicht realistisch zu denken. Oder anders gesagt: Intersubjektive Anerkennung ist eine BEDINGUNG DER MÖGLICHKEIT von faktischem menschlichem Zusammenleben.



Zitat:

die gesetze, die im dritten reich erlassen worden sind, sind nach wie vor gesetze gewesen. ob wir deren "rechtscharakter" anzweifeln oder nicht; ob sie unserem rechtsempfinden entsprechen oder nicht.


Das Recht ist nicht zu reduzieren auf "Rechtsempfinden" - so wenig wie Wahrheit auf Geschmack. Damit will ich nicht behaupten, dass Geschmack oder Rechtsempfinden grundsätzlich "irrational" sein müssen, etwa weil sie nicht von der "Vernunft" ausgingen, sondern vom Lustprinzip; Geschmack und Rechtsgefühl sind nämlich kulturell erworben  (oder Resultate von "Bildungsprozessen" ) und darum nicht eo ipso unvernünftig. Aber jeder Begriff von Recht, Gerechtigkeit, Geltung ist mit dem Begriff der GLEICHHEIT verbunden, und d. h. mit der Kompetenz des Vergleichens, des Übertragens. Und diese ist wiederum die Voraussetzung dafür, überhaupt einer REGEL FOLGEN zu können.
Wenn der Begriff der Rationalität nur einen minimalen Sinn haben soll, dann liegt er in dieser Kompetenz des (selbständigen) Regelfolgens.

Zur Frage des Rechts im Nazi-Staat (" Drittes Reich" ist ein affirmativer Begriff der Nazi-Ideologie): Das Fatale an diesem Staat war, dass er sich auf eine breite Anerkennung stützen konnte. Zwar praktizierte das Regime Terror und Überwachung, aber nur gegen kritische Minderheiten (abgesehen vom Massenmord an den Juden). Anders hätte auch dieser Staat nicht funktionieren können. Weite Teile der Eliten und Bevölkerung duldeten das Hitler-Regime, wenn sie es nicht unterstützten. Mit zum Schauerlichsten, was es an Filmdokumenten aus dieser Zeit gibt, sind die Bilder der frenetisch jubelnden Massen, der hysterisch kreischenden Frauen, die ihrem Führer treu ergeben waren... Besonders in den ersten Kriegsjahren wurde das Regime von breiter Zustimmung getragen.

Und diese implizite und explizite Anerkennung des Regimes durch eine Mehrheit der Bürger ist es auch, die die Rede von einer "historischen Schuld" der Deutschen begründet.

Was ich damit auch sagen will: Man kann die Gesetze und die Gesetzgeber nicht so ohne weiteres trennen von denen, die die Gesetze befolgen. Im Befolgen liegt immer auch eine Anerkennung, und mag sie noch so rudimentär sein. -
Allerdings darf man die Macht der Verführung, der Verblendung, der Verhetzung, der Täuschung nicht unterschätzen (also die Rolle der Ideologie und Lüge); denn die schlimmsten Verbrechen von Staats wegen scheinen doch im Glauben an das Gute begangen zu werden.

Und das führt uns auch wieder zum Thema der "Wahrheit" und der Urteilsfähigkeit zurück...



Zitat:

ich denke es spielt für das gesetz im einzelnen als solches keine rolle, ob es demokratisch zustandegekommen, diktatorisch beschlossen, oder päpstlich verlautbart worden ist. (...) wir sollten bedenken, dass es gesetze nicht nur in demokratien gibt, bzw. gegeben hat.


Das ist die Ansicht eines extremen "Rechtspositivismus". Ich habe schon gesagt, warum das auf die Aufhebung des Rechtsbegriffs hinausläuft. "Rechtspositivismus" wäre demnach eigentlich ein schwarzer Schimmel... Er ist so etwas wie die Ausdehnung des Solipsismus auf das menschliche Zusammenleben...

Einen wichtigen Einwand gegen diese Position hat übrigens Eberhard schon gemacht, als er Dich nach der Geltung moralischer Normen fragte - also der Geltung nicht-" positiver" Normen. Immerhin sind Staaten (und mit ihnen das "gesetzte" Recht) nicht eines Tages vom Himmel gefallen. Ethische Normen gab es lange vor der Ausdifferenzierung von Staaten. Und es gibt sie natürlich auch INNERHALB eines jeden Staates, seit es Staaten gibt.
Ich möchte diese Frage bekräftigen: Wie stellst Du Dir die Geltung nicht-positiver Normen vor?


Gruß
H.

- IV
- jacopo_belbo am 06. Dez. 2004, 18:05 Uhr

hi hermeneuticus,


Zitat:

Wir schweifen zwar ein wenig in die Rechtsphilosophie ab,


war es nicht fritz teufel, der sagte: »...wenn's der wahrheitsfindung dient«. in diesem sinne, warum nicht auch einen kurzen abstecher in die rechtsphilosophie.

in der tat ist meine position eine rechtspositivistische. gesetze, regeln, normen etc. sehe ich als vom menschen gesetzte.
Zitat:

Gesetze, die nur aufgrund ihrer autoritativen Setzung und der die Einhaltung garantierenden Zwangsgewalt "gelten", sind von bloßen Befehlen nicht zu unterscheiden.


ich wüßte auch nicht, wo ein wesensmäßiger unterschied läge.


Zitat:

Mit dem Erlassen und Überwachen von Gesetzen habe ich kein Probleme. Ich habe dagegen protestiert, dass Du die GELTUNG der Gesetze mit dem Faktum ihres Erlasses und ihrer Überwachung identifizierst. Denn dadurch hebst Du den Begriff des Rechts auf, von dem wir die Gesetze nicht einfach ablösen können.


könntest du das näher ausführen?
ich denke, die geltung von gesetzen ist insofern gewährleistet, wenn ihre einhaltung überwacht, und entsprechende sanktionierungen getroffen werden können bei übertretung der gesetze. und das gilt nicht nur für gesetze im engeren, sondern auch für (spiel)regeln im weiteren. wenn es keine möglichkeit gibt, regelverstöße zu ahnden, ist die regel außer kraft gesetzt.
die regeln werden, wie du auch schon angedeutet hast, von denjenigen, die die autorität desjenigen anerkennen, der die regeln verfaßt hat, eingehalten.
das anerkennen der regeln ist aber keine notwendige bedingung. in diesem sinne notwendig ist ausschließich die möglichkeit, verstöße zu ahnden.
es ist nicht notwendig, dass jemand in deutschland e.g. das grundgesetz anerkennt - verstößt er allerdings dagegen wird sein verstoß geahndet.


Zitat:

. Aber jeder Begriff von Recht, Gerechtigkeit, Geltung ist mit dem Begriff der GLEICHHEIT verbunden, und d. h. mit der Kompetenz des Vergleichens, des Übertragens.


das ist eine zu enge vorstellung von recht und gesetz.
denkbar wäre ein recht, das zum beispiel menschen ungleich behandelt - menschen in stände unterteilt. insofern ist der begriff der gleichheit wieder ein wenig relativiert. andererseits gibt es auch in manchen gesellschaften rechtlose.

ein kleiner einschub: statt das unrechtsregime des dritten reichs können wir auch die jüngste deutsche geschichte heranziehen - die DDR.
nur als kreativer vorschlag.


Zitat:

Das ist die Ansicht eines extremen "Rechtspositivismus". Ich habe schon gesagt, warum das auf die Aufhebung des Rechtsbegriffs hinausläuft.


ich sehe keinen grund, weshalb eine rechtspositivistische position "auf die aufhebung des rechtsbegriff" hinausläuft. das gegenteil ist der fall. ich finde die positivistische rechtsphilosophie zeigt am nüchternsten, den charakter von recht und gesetz.


Zitat:

Wie stellst Du Dir die Geltung nicht-positiver Normen vor?


gar nicht.
was sind nicht-positive (also nicht gesetzte) normen?

- mfg thomas


p.s.: "drittes reich" ist ein terminus technicus und insoweit neutral.

- IV
- Hermeneuticus am 07. Dez. 2004, 00:29 Uhr

Hallo Thomas!


on 12/06/04 um 18:05:27, jacopo_belbo wrote:

könntest du das näher ausführen?
ich denke, die geltung von gesetzen ist insofern gewährleistet, wenn ihre einhaltung überwacht, und entsprechende sanktionierungen getroffen werden können bei übertretung der gesetze. und das gilt nicht nur für gesetze im engeren, sondern auch für (spiel)regeln im weiteren. wenn es keine möglichkeit gibt, regelverstöße zu ahnden, ist die regel außer kraft gesetzt.
die regeln werden, wie du auch schon angedeutet hast, von denjenigen, die die autorität desjenigen anerkennen, der die regeln verfaßt hat, eingehalten.
das anerkennen der regeln ist aber keine notwendige bedingung. in diesem sinne notwendig ist ausschließich die möglichkeit, verstöße zu ahnden.


So wenig, wie eine "Privatsprache" sinnvoll wäre, so wenig wären Regeln denkbar, die für diejenigen, die sie befolgen sollen, nichts wären als willkürliche Befehle mit Zwangsgewalt dahinter.
Das ist eine ebenso absurde Vorstellung wie die "Taufe" von Dingen mit "korrekten Namen". Wie schon damals gesagt: Prädikate sind eo ipso übertragbar auf analoge Fälle. Und wer den Gebrauch eines Prädikats erlernt, hat damit auch die Kompetenz, noch unbekannte Fälle damit zu belegen. Denn ein Prädikat wird zusammen mit einer Verwendungsregel gelernt.

Was aber bedeutet denn "Regel" - im Unterschied zu einem willkürlichen, von außen kommenden, zufälligen, immer unvorsehbar bleibenden Befehl?

Du selbst sprachst vom "Rechtsempfinden" ; vermutlich, um es nicht in den Rang jener "Objektivität" zu heben, den "Naturgesetze" für Dich haben. Aber was verstehst Du unter "Rechtsgefühl" ? Ist damit nicht ein kognitives Moment verknüpft - eine Urteilskompetenz, d. h. eine Anwendung von Regeln? "Recht", das auf externe Willküräußerungen und Zwangsgewalt reduziert wäre, hätte eben deshalb nichts mehr mit "Recht" gemein.

Worin liegt denn wohl der Sinn der (erst in der Neuzeit üblich gewordenen) Rede von "Naturgesetzen" ? Offenbar doch darin, dass diese festgestellten REGELMÄSSIGKEITEN Naturgeschehen ANTIZIPIERBAR machen. d. h. mit dem Wissen um diese "Gesetze" ist ein Mensch der Natur nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert wie einer blinden Zufallsmacht .

Selbst wenn wir einmal annehmen, diese "Naturgesetze" seien der Materie "real" einbeschrieben (statt sie für menschliche Konstruktionen zu halten): Die bloße Fähigkeit, solche Regelmäßigkeiten zu erkennen und sie ins eigene Handeln einzubauen, setzt den eigenständigen Umgang mit Regeln voraus. Hältst Du es für plausibel, dass Menschen zwar einerseits fähig seien, "Naturgesetze" nachzuvollziehen und planvoll mit ihnen umzugehen, aber dann andererseit im Umgang miteinander von einer völligen Regelamnesie befallen sein sollen, so dass sie hier nur willkürlichen, gewaltgestützten, externen Befehlen gehorchen können?

Müssten doch merkwürdige Wesen sein - oder?



Zitat:

das ist eine zu enge vorstellung von recht und gesetz.
denkbar wäre ein recht, das zum beispiel menschen ungleich behandelt - menschen in stände unterteilt. insofern ist der begriff der gleichheit wieder ein wenig relativiert. andererseits gibt es auch in manchen gesellschaften rechtlose.


Ich sage ja nicht, dass sich Recht auf Gleichheit REDUZIEREN ließe. Ich sage nur, dass die Vorstellung von "Recht" notwendig mit der von "Gleichheit" verknüpft ist.

Die Beispiele, die Du anführst, verfangen nicht. Zum Recht gehört das Prinzip, dass Gleiches gleich und Verschiedenes verschieden zu behandeln ist. Nur ist hier meine These, dass es, um Verschiedenes überhaupt ALS verschieden erkennen zu können, einer Vergleichsbasis (also Gleichheit in irgendeiner Hinsicht) bedarf.
Um zu erkennen, dass Blumen und Steine verschiedene Dinge sind, brauche ich aber zunächst mindestens die Klasse der DINGE, die sie als verschiedene und verschiedenartige Elemente dieser Klasse unterscheidbar macht.

Die "Stände" waren Rechtsbegriffe und die Standesangehörigen folglich Rechtspersonen. Auch in einer Demokratie ist es selbstverständlich, dass es Rechtspersonen mit verschiedenen Befugnissen gibt. So haben Richter die Befugnis, die Rechte anderer einzuschränken. Und ein Hauseigentümer hat andere Rechte als ein Mieter. Usw. Das ändert aber nichts daran, dass ALLE Staatsbürger PRINZIPIELL als gleich angesehen werden. Und genau wegen dieser vorausgesetzten Gleichheit unterliegt auch jede Einschränkung oder Erweiterung persönlicher Rechte der Pflicht zur Legitimation.

Der Begriff der "Rechtlosen"  - gemeint sind etwa Sklaven - weist schon darauf hin, dass er die Existenz von Recht voraussetzt. Nicht anders setzt der Begriff der "Ehrlosen" (wie es z. B. Henker, Spielleute und Prostituierte waren) die gesellschaftliche Institution von "Ehre" voraus. "Ehre" ist - wie "Recht" oder "Geltung" - ein Begriff für intersubjektive Anerkennungsverhältnisse.


Gruß
H.

- IV
- Hermeneuticus am 07. Dez. 2004, 01:09 Uhr

PS.


Zitat:

Hermeneuticus: Wie stellst Du Dir die Geltung nicht-positiver Normen vor?  

Thomas: gar nicht.
was sind nicht-positive (also nicht gesetzte) normen?



Wenn Du mir die persönliche Bemerkung erlaubst: Antworten von dieser Art lösen in mir den Wunsch zum sofortigen Abbruch der Diskussion aus.

Warum? Weil sich darin entweder a) ein kaum kurierbares Unverständnis oder b) der (provokative) Vorsatz zum Unverständnis oder c) die Zugehörigkeit zu einer anderen Welt bekundet.

Ich halte übrigens b) für die wahrscheinlichste Möglichkeit, motiviert von der Absicht, menschliches Zusammenleben konsequent als einen Anwendungsfall von menschlicher Naturerkenntnis zu betrachten und dafür auch Ignoranz und argumentative Inkonsistenz in Kauf zu nehmen.

Dass ich dennoch weiterdiskutiere, bitte ich mir als besondere philosophische Tapferkeit vor dem Feind zugute und den passenden Orden dafür schon einmal bereit zu halten...
[cheesy]


Gruß
H.

- IV
- jacopo_belbo am 07. Dez. 2004, 08:30 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich habe tatsächlich probleme zu verstehen, was du sagst. ich weiß nicht so recht, worauf du hinaus willst.
wenn du z. B. eingangs schreibst:
Zitat:

So wenig, wie eine "Privatsprache" sinnvoll wäre, so wenig wären Regeln denkbar, die für diejenigen, die sie befolgen sollen, nichts wären als willkürliche Befehle mit Zwangsgewalt dahinter.


so verstehe ich nicht, worin die analogie zwischen "privatsprache" und "gesetz" besteht (so wie du beides gebrauchst). eine privatsprache ist ebenso sinnlos wie eine private gesetzgebung. wir nennen ein gesetz, dass von einer person aufgestellt und eingehalten wird ebensowenig gesetz, wie wir eine sprache, die nur von einer person gesprochen wird eine sprache nennen.

Zitat:

268. warum kann meine rechte hand nicht meiner linken geld schenken? - meine rechte hand kann es in meine linke geben. meine rechte hand kann eine schenkungsurkunde schreiben und meine linke eine quittung.  aber die weiteren praktischen folgen wären nicht die einer schenkung. wenn die linke hand das geld von der rechten genommen hat, etc., wird man fragen: »nun, und was weiter?«

(wittgenstein, PU)

darüberhinaus verstehe ich nicht, wie deine analogie von "gesetzen" und "naturgesetzen" tragen soll?
das beides "gesetz" genannt wird, heißt ja nicht, dass sie in einer form "wesensgleich" sind - außer vielleicht insofern, als das gesetze nicht von jedem erlassen werden, und nicht jeder einfluß auf gesetze hat. wenn wir davon ausgehen, dass schwere körper zum erdmittelpunkt angezogen werden, dass also das gesetz der gravitation gilt, so gilt es a) unabhängig davon, ob jemand es erkannt hat oder nicht - es ist kein vom menschen gemachtes bestenfalls gefundenes gesetz und b) gilt es für alle menschen, tiere, selbst für den lieben gott - insofern er masse hat, plumpst auch er zu boden.

gesetze hingegen werden von menschen aufgestellt, und haben auch nur innerhalb des kontrollbereichs derjenigen, die das gesetz aufgestellt haben, geltung.

Zitat:

Hältst Du es für plausibel, dass Menschen zwar einerseits fähig seien, "Naturgesetze" nachzuvollziehen und planvoll mit ihnen umzugehen, aber dann andererseit im Umgang miteinander von einer völligen Regelamnesie befallen sein sollen, so dass sie hier nur willkürlichen, gewaltgestützten, externen Befehlen gehorchen können?


was ist das für ein einwand?


Zitat:

Aber was verstehst Du unter "Rechtsgefühl" ?


das rechtsgefühl ist ein produkt der sozialisierung, der internalisierung eines normen- und wertegefüges. in unserer gesellschaft sind die sogenannten "grundrechte" an erster stelle im grundgesetz verankert. das ist nicht selbstverständlich. wenn wir uns zum beispiel die weimarer verfassung ansehen, so findet sich das, was wir "grundrechte" nennen, in den artikeln 109-164 wieder; eingeschränkt durch artikel 48
Zitat:

Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.


eine solche regelung entspricht nicht unserem verständnis der idee der unantastbarkeit von grundrechten. wir haben gelernt, dass es wichtig ist, dass die "grundrechte" unantastbar sind - artikel 48 widerspricht unserem "rechtsempfinden".

(nebenbei:
Zitat:

Um zu erkennen, dass Blumen und Steine verschiedene Dinge sind, brauche ich aber zunächst mindestens die Klasse der DINGE, die sie als verschiedene und verschiedenartige Elemente dieser Klasse unterscheidbar macht.


eine seltsame vorstellung von "wahrnehmung" - wahrscheinlich kantischer provenienz -empfindung+begriff-; steine und blumen sind in der wahrnehmung allein schon aufgrund der unterschiedlichen form und textur unterschieden, es werden keine "klassen" im logischen sinne benötigt, um sie zu unterscheiden. wir nehmen sie schon als unterschiedlich wahr)

was soll die rede von einer
Zitat:

Pflicht zur Legitimation.


wenn damit gemeint ist, dass regeländerungen ausschließlich von den jeweiligen autoritäten vorgenommen werden können - einverstanden.


Zitat:

Hermeneuticus: Wie stellst Du Dir die Geltung nicht-positiver Normen vor?  
Thomas: gar nicht. was sind nicht-positive (also nicht gesetzte) normen?



Zitat:

Wenn Du mir die persönliche Bemerkung erlaubst: Antworten von dieser Art lösen in mir den Wunsch zum sofortigen Abbruch der Diskussion aus.


warum? nur weil ich nicht weiß, was nicht-positive normen sein sollen?

Zitat:

b) der (provokative) Vorsatz zum Unverständnis


wie wäre es mit möglichkeit (d) - der vorsatz neologismen als bedeutungslos offenzulegen?

Zitat:

" Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich doch auch etwas dabei denken lassen."

(arthur schopenhauer)

- mfg thomas

p.s.: sollten wir nicht wieder zum eigentlichen thema zurückkehren?

- IV
- Eberhard am 07. Dez. 2004, 18:01 Uhr

Hallo allerseits,

Nach diesem Ausflug in die Welt der gesetzten oder begründeten Normen sollten wir tatsächlich zu den Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zurückkehren.

Vielleicht ist es ganz sinnvoll, wenn ich für mich einmal eine Zwischenbilanz ziehe.

Dazu nehme ich meine ersten beiden Beiträge vom September und prüfe, was sich für mich verändert hat. Den ursprünglichen Text setze ich zur besseren Unterscheidung dabei in doppelte eckige Klammern.

<<Was heißt es, wenn man sagt, eine Aussage (über die Beschaffenheit der Wirklichkeit) sei wahr?" >>

Hier hat die Diskussion für mich ergeben, dass man die Wahrheitswerte "wahr" und "falsch" nicht Sätzen als grammatisch geordneten Folgen von Wörtern zuordnen kann, weil ein solcher Satz mehrdeutig sein kann. Es besteht also die Möglichkeit, dass der nach Buchstaben gleiche Satz in der einen Bedeutung wahr ist und in der anderen Bedeutung falsch. Weil dies in einem logischen Widerspruch endet, sollten die Wahrheitswerte nicht den Sätzen sondern den Bedeutungen der Sätze zugeordnet werden.

Die Bestimmung dessen, was wirklich ist, ist zwischen uns weiterhin unklar, wie die Antworten auf meine Beispielsätze gezeigt haben. Für mich ist das wirklich, was existiert, was da ist. Nur das, was direkt von uns wahrgenommen werden kann oder zur logischen Ordnung unsere Wahrnehmungen erforderlich ist und somit indirekt wahrnehmbar ist, existiert wirklich. Aber hier sind für mich noch manche Fragen offen.

<<Eine Aussage ist .. wahr, wenn es so ist, wie die Aussage besagt.>>

Diese Bestimmung bildet gewissermaßen den festen Bezugspunkt für das, was mit "wahr" gemeint ist. Allerdings ergibt sich daraus nicht unmittelbar ein Kriterium, um wahre Aussagen von falschen Aussagen unterscheiden zu können.  

<<Wenn (jemand) den Satz als "wahr" auszeichnet, dann "behauptet" er diesen Satz. Er beansprucht für diesen Satz "Geltung" in dem Sinne, dass er andere dazu auffordert, diesen Satz dem eigenen Denken und Handeln zu Grunde zu legen.>>

Hier ist mir - vor allem durch die Beiträge von Hermeneuticus - klar geworden, dass man den Sprecher und die Situation, in der eine Aussage gemacht wird, in die Analyse der Bedeutung von "wahr" einbeziehen muss. Eine Behauptung umfasst mehr als die damit behauptete Aussage. Durch die Auszeichnung einer Aussage als wahr behauptet man diese Aussage. Eine Behauptung ist eine sprachliche Handlung, die die Bedeutung enthält: hiermit werden alle Adressaten aufgefordert, die behauptete Aussage zu bejahen. Dieser soziale Zusammenhang wird durch den Bezugspunkt (" p" ist wahr, wenn p) nicht erfasst. Hier habe ich selber noch einigen Klärungsbedarf.

<<(Das Wort) "wahr" (ist) nicht auf bestimmte Zeitpunkte und Personen bezogen. Wenn etwas "wahr" ist, dann muss es für jedermann wahr sein. Der Anspruch auf die "Wahrheit" einer Aussage ist also ein Anspruch auf personunbhängige … Geltung.

Weiterhin kann die Aussage (p) zwar heute als wahr gelten und morgen vielleicht als falsch, sie kann aber nicht heute wahr sein und morgen falsch. Der Anspruch auf die "Wahrheit" einer Aussage ist also ein Anspruch auf zeitunabhängige Geltung.>>

Hier gab es wohl die meisten Kontroversen. Ich bin jedoch der Meinung, dass die personunabhängige und zeitunabhängige Geltung, die mit der Auszeichnung einer Aussage als wahr verbunden ist, unverzichtbar ist. Wenn "wahr" bedeuten würde "wahr für die Personengruppe x" oder "wahr zum Zeitpunkt y", dann müsste man auch eine personen- und zeitrelative Logik entwickeln. Und das erscheint mir als kaum durchführbar.

<<Begründungen von Behauptungen wenden sich an die vernünftige Einsicht. Man kann sie zurückweisen, wenn sie nicht akzeptabel sind. Sie üben auf den Angesprochenen zwar einen Einfluss jedoch keinerlei Zwang aus, weil sein kritisches Urteilsvermögen nicht ausgeschaltet oder umgangen wird.>>

Ich würde nicht so weit gehen wie Hermeneuticus und sagen, dass derjenige, der etwas behauptet, eine Verpflichtung hat, diese Behauptung zu begründen. Es gibt auch dogmatische Behauptungen, die ihren Geltungsanspruch nicht von Begründungen abhängig machen. Ich würde weiterhin nicht so weit gehen wie Hermeneuticus und sagen, dass eine Aussage streng genommen erst dann als wahr begründet ist, wenn alle Individuen dies tatsächlich eingesehen haben. Ich halte es für ausreichend, eine Begründung zu fordern, deren prüfender Nachvollzug durch andere möglich ist.

Soweit meine Zwischenbilanz. Ich glaube, dass es am fruchtbarsten wäre, wenn wir uns zunächst der Frage zuwenden, was Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit von anderen Behauptungen bzw. Aussagen unterscheidet. Also: Enthält der Satz: "Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen" eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit? Thomas und Hermeneuticus haben ihre Auffassungen ja bereits dargelegt. Ich muss noch ein wenig nachdenken …

Grüße an alle von Eberhard.

- IV
- Hermeneuticus am 07. Dez. 2004, 19:36 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

wenn du z. B. eingangs schreibst: "So wenig, wie eine "Privatsprache" sinnvoll wäre, so wenig wären Regeln denkbar, die für diejenigen, die sie befolgen sollen, nichts wären als willkürliche Befehle mit Zwangsgewalt dahinter."  

so verstehe ich nicht, worin die analogie zwischen "privatsprache" und "gesetz" besteht (so wie du beides gebrauchst).


Da das Sprechen einer Sprache ein kommunikatives Handeln ist, das auf intersubjektiv verbindlichen Regeln beruht, und Gesetze ebenfalls intersubjektiv verbindliche Regeln für das Handeln sind, liegt die Gemeinsamkeit auf der Hand.
Meinetwegen mag es Privatsprachen, private Gesetzgebungen, private Wahrheitstheorien oder sogar private Welten geben, nur wären sie für unsere Belange völlig unerheblich. Uns interessieren intersubjektiv verbindliche Regeln, und von solchen rede ich.

Mein Argument hob darauf ab: Alle Sprecher einer Sprache verfügen über ihre Regeln und können deshalb selbstädnig beurteilen, ob ein gegebenes sprachliches Gebilde richtig oder falsch im Sinne dieser Regeln ist. Dasselbe gilt aber auch für andere intersubjektiv verbindliche Handlungsnormen.

Wenn Gesetze allein durch das schiere Faktum ihres Erlasses und ihrer gewaltgestützten Überwachung "Geltung" hätten, wäre die Urteilskompetenz der von den Regeln Betroffenen überflüssig. Sie müssten diese Gesetze nicht "internalisieren", also sie sich nicht "zu eigen machen". Für sie käme der Anstoß zum richtigen Handeln immer nur von außen. Ja, sie wären nicht einmal in der Lage, VOR ihrer jeweiligen Handlung zu entscheiden, ob dieses Handeln mit dem Gesetz übereinstimmen wird oder nicht.
Aber eine solche Vorstellung geht nicht nur offenkundig an der Wirklichkeit vorbei, sie ist auch absurd.

Jedenfalls müssten selbst in einer solchen Welt diejenigen, die die Regeln setzen, und die, die ihre Einhaltung überwachen, zunächst im Besitz jener Urteilskompetenz sein - d. h. sie müssten an einer bestimmten Handlung, die sie beobachten, beurteilen können, ob sie dem Gesetz entspricht oder nicht. Und es ist genau diese intersubjektiv geteilte Fähigkeit, Regeln nicht nur zu verstehen, sondern sie auch immer wieder eigenständig anzuwenden, auf der "Geltung" letztlich beruht - da sie ja eine unerlässliche Voraussetzung für das Setzen und Überwachen von Regeln ist.


Zitat:

darüberhinaus verstehe ich nicht, wie deine analogie von "gesetzen" und "naturgesetzen" tragen soll?


Ich spreche von der Kompetenz, Regelmäßigkeiten mindestens zu erkennen (d. h. zu beurteilen, ob ein Ereignis der Regel entspricht oder davon abweicht). Eine solche Kompetenz ist jedenfalls unerlässlich, um "Naturgesetze" erkennen, formulieren und experimentiell überprüfen zu können.

Ebenso ist sie unerlässlich für jede Koordination von Handlungen.

Aber Dein Gesetzes-" Positivismus" sieht an dieser konstitutiven intersubjektiven Regelkompetenz völlig vorbei. Im Fall naturwissenschaftlicher Erkenntnisse oder vom Gebrauch der Logik wirst Du kaum umhin kommen, sie den an solchen Praxen Beteiligten zu unterstellen. Und es ist doch verwunderlich, wieso Du einen Begriff von Gesetzes-Geltung entwirfst, der auf diese menschliche Kompetenz keinerlei Bezug nimmt.


Zitat:

das rechtsgefühl ist ein produkt der sozialisierung, der internalisierung eines normen- und wertegefüges.


Aha, jetzt scheint die Fähigkeit der Normen-Internalisierung doch möglich zu sein. Umso unverständlicher ist es, dass Du diese Fähigkeit für die Frage der Rechtsgeltung außer Acht lässt.


Jemandem, der eine Regel "internalisiert" hat, d. h. der sie selbständig befolgen und mit ihrer Hilfe auch das Handeln anderer beurteilen kann, braucht man diese Regel nicht mehr als äußeren "Befehl" aufzuzwingen. Eine internalisierte Regel ist kein Zwang mehr.
Das gefährlich Demokratische an einer solchen "Internalisierung" besteht freilich darin, dass jemand mit Regelkompetenz auch das Handeln der Gesetzgeber oder Überwacher beurteilen kann...
Ein Gesetzgeber, der einer Schar von urteilskompetenten Rechtssubjekten gegenübersteht, wird so einen gewissen Druck zur Regel-Konsistenz verspüren. Er muss damit rechnen, eines Tages als Rechtsbrecher und Tyrann vom Thron gestoßen zu werden, wenn er gegen den "Geist" seiner eigenen Gesetzgebung verstößt. Denn seine Gesetze sind - von den Rechtssubjekten einmal internalisiert - eben nicht mehr nur SEINE Gesetze, sondern die eines ganzen Geltungskollektivs.

Woran man einmal mehr erkennt, dass "Recht" in der Tat ein egalitäres Prinzip ist... Außerdem hast Du hier auch eine Antwort auf die Frage, was die Rede von der "Legitimation" begründet.


Zitat:

eine seltsame vorstellung von "wahrnehmung" - wahrscheinlich kantischer provenienz -empfindung+begriff-; steine und blumen sind in der wahrnehmung allein schon aufgrund der unterschiedlichen form und textur unterschieden, es werden keine "klassen" im logischen sinne benötigt, um sie zu unterscheiden. wir nehmen sie schon als unterschiedlich wahr)


Ich sprach nicht von "wahrnehmen", sondern von "erkennen".

Im Grunde ist es unerheblich, ob die Unterschiede zwischen Klassen "gegeben" und als solche wahrgenommen sind oder (sprachlich vermitteltes) Produkt von Erkenntnisprozessen. Denn alle Fragen, die die Möglichkeit der intersubjektiv gültigen ERKENNTNIS jener Unterschiede betreffen, würden sich auf der Ebene ihrer Wahrnehmung wiederholen. Es muss ja doch sichergestellt werden können, dass wirklich alle, die sich mit ihren Behauptungen auf die "wirklich gegebenen" Unterschiede beziehen, diese auch alle gleich wahrnehmen. Und für die Prüfung, ob alle wirklich von derselben Wahrnehmung ausgehen, wird man (intersubjektiv gültige) Kriterien brauchen.  



Zitat:

nur weil ich nicht weiß, was nicht-positive normen sein sollen?


Der Begriff des "positiven" Rechts diente ursprünglich dazu, explizit "gesetzte" Rechte vom sog. "Naturrecht" abzugrenzen. (" Menschenrechte" z. B. werden auch heute meist nicht als historische, also kontingente "Gesetze" betrachtet.)
Aber abgesehen vom schwierigen Begriff des Naturrechts: Es gibt eine Menge intersubjektiv verbindlicher Regeln, die nicht auf explizite "Setzung" zurückgehen. Denk nur an die Regeln der sog. natürlichen Sprachen. Unmöglich anzunehmen, es hätten sich einst ein paar "weise Männer" ums Lagerfeuer gehockt und die Sprache mit ihren Regeln erfunden; denn wie hätten sie sich über diese Regeln verständigen und einigen können - OHNE Sprache?


Gruß
H.

- IV
- jacopo_belbo am 07. Dez. 2004, 19:53 Uhr

hallo,

da eberhard sich zeit erbeten hat, um nachzudenken, nutze ich die gelegenheit einen kleinen nachtrag für hermeneuticus zu verfassen.

ich finde es überaus erstaunlich, was du, hermeneuticus, so alles aus meinen texten herauszulesen vermagst - selbst sachen, die ich so nie gesagt habe.

ich wüßte nicht, dass ich die möglichkeit, regeln zu beurteilen, bzw. gesetze zu "internalisieren" bestritten hätte. ich verwies lediglich darauf, dass gesetze a) von denen, die autorität besitzen erlassen werden und b) dass über die einhaltung der gesetze gewacht wird - was einschließt, z. B. regelverstöße zu ahnden.

- mfg thomas

- IV
- Hermeneuticus am 07. Dez. 2004, 22:20 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

ich verwies lediglich darauf, dass gesetze a) von denen, die autorität besitzen erlassen werden und b) dass über die einhaltung der gesetze gewacht wird - was einschließt, z. B. regelverstöße zu ahnden.


Wie schon gesagt: Damit habe ich keine Probleme. Aber Du hast nicht einfach nur auf diese Punkte "verwiesen", sondern die GELTUNG von Gesetzen mit ihrer autoritativen Setzung und ihrer Überwachung (also Zwangsgewalt) GLEICHGESETZT:


Zitat:

gesetze haben geltung, weil sie beschlossen worden sind und über ihre ausführung gewacht wird.



und:


Zitat:

Hermeneuticus: Gesetze, die nur aufgrund ihrer autoritativen Setzung und der die Einhaltung garantierenden Zwangsgewalt "gelten", sind von bloßen Befehlen nicht zu unterscheiden.  
Thomas: ich wüßte auch nicht, wo ein wesensmäßiger unterschied läge.

 
Für Dich ist Recht gleichbedeutend mit einer Sammlung willkürlicher Befehle. Rechtspersonen werden zu bloßen Befehlsempfängern. Es gibt keine Kriterien für gerechte oder ungerechte "Setzungen". Du hast es ausdrücklich als beliebig behauptet, ob das gesetzgebende Organ ein Diktator oder eine Demokratie sei.

Dir kann der Begriff des Rechts und des Rechtsstaates also nichts bedeuten. Dir ist nicht klar, dass "Demokratie" etwas anderes meint als die Tyrannei des Pöbels - nämlich eine RECHTLICHE Staatsform, deren Subjekte RECHTSPERSONEN sind (und keine Befehlsempfänger).

Der Begriff der "Legitimität" (also der RECHTMÄSSIGKEIT) ist für Dich offenbar ein sinnloser Begriff:


Zitat:

was soll die rede von einer "Pflicht zur Legitimation" ? -
wenn damit gemeint ist, dass regeländerungen ausschließlich von den jeweiligen autoritäten vorgenommen werden können - einverstanden.


Die "jeweiligen Autoritäten" sind also offenbar die zufälligen Inhaber der Zwangsgewalt.

Das ist eine glatte Negation des Rechtsbegriffs, dessen Sinn gerade in der BEURTEILUNG von Machtverhältnissen anhand rationaler, intersubjektiv verbindlicher Kriterien liegt.
Recht ist gewissermaßen das praktische Gegenstück zur (theoretischen) Wahrheit.
Grundlage von beidem ist die Fähigkeit, intersubjektiv verbindlichen Regeln zu folgen.
Aber in Deinem Begriff von Gesetzes-Geltung spielt genau diese Kompetenz keine Rolle. Im Gegenteil, sie wird ausdrücklich als irrelevant erklärt.

Gruß
H.


- IV
- alphawill am 07. Dez. 2004, 23:56 Uhr

hallo jede/r

Was meinen wir wirklich, wenn wir sagen etwas ist wahr?

Die Gesetze und die Regime, von denen zuletzt die Rede war, sind sie und alles damit verbundene Schrifttum eigentlich wahr, im Sinne von voller Wirklichkeit? Oder die Aussage ich habe Kopfweh?
Ich habe zweifel daran.
Ein Komilitone von mir hat mich in einem Essaykurs auf den Gedanken gebracht, dass wir Sätze, damit sie hinreichend Wahrheitsgehalt haben, um der Wirklichkeit zu entsprechen, wohl nur im Präsens formulieren dürfen. Ich bin einer, dem der Kopf weh tut. In dem Moment der Aussage erlischt aber auch schon die Gültigkeit der Aussage. "Ich habe Kopfweh.", als Wahrer Satz verstanden, muss also als Prädikat, nicht nur des menschlichen Subjektes, sondern auch eines zuzuordnenden Zeitpunkts oder einer Zeitspanne verstanden werden, damit überhaupt von Wirklichkeitsgehalt die Rede sein kann.
Wirklichkeit ist jedoch immer ausschließlich präsentisch zu sehen, weil sie labil und dynamisch ist. Naturgsetze sind ja nicht wahr weil sie einmal gelten werden, sondern weil sie es jetzt tun. Wir können dagegen die Wahrheit von "ich habe Kopfweh" als zeitlich entfernt denken: "Ich hatte Kopfweh." gibt immer noch Sinn, kann trivial als wahr gelten, entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit, es sei denn, man gibt eine Zeitkoordinate an.
Dabei ist es kein fremdpsychisches Problem, dass keiner je wissen wird, was alle im einzelnen mit "Kopfweh haben" verbinden. Das Problem ist nicht die Distanz zwischen zwei Nervenzentren, sondern das worüber man sich unterhält, nämlich das Kopfweh, von dem keine eindeutige, weil wirklichkeitsgetreue Idee existieren kann:
Gibt es also Kopfweh? Welche Zustände verdienen es, so zusammengefasst zu werden.
Wenn ich denke, ich hätte jetzt gerade Kopfschmerzen, weil mich die Wahrnehmung an frühere Kopfschmerzen erinnert, von deren Wirklichkeit aber nur eine abstrahierte Teil(halb-)wahrheit in meiner Erinnerung übrig ist, begehe ich, so denke ich, einen logischen Fehler. Entweder ich gestatte mir die Freiheit, dass alles was ich als meine Ideen bezeichne prinzipiell unscharf sein muss, damit es irgendwie zusammenpaßt, in gewisser Weise mit meinen Vorstellungen kompatibel wird, oder ich verwende ungültigerweise einen Begriff für eine noch nicht gemachte Wahrnehmung, von der ich gar keine Idee haben kann.
(hier habe ich zweifel, denn ich halte es für notwendig, dinge vorwegzunehmen, ja zu unterstellen, um kommunikation zwischen fremden psychen oder der perzeption und der erinnerung zu ermöglichen; "ich habe kopfweh" - "ich weiß was du meinst". jedenfalls glaube ich nicht an den erkenntnistheoretischen anteil solcher aussagen.)
Diese Unschärfe/Fehlerbereitschaft kann nur durch die, den Empfindungen zugeordneten, Zeitkoordinaten, also notwendig lückenhafte Dokumentation partiell aufgelöst werden.
Weiterhin kann die Unschärfe durch Präzisierung (Erweiterung der Aussagen um beliebig viele, sekundäre Prädikate) eingedämmt werden. "jetzt gerade hämmert es von hinten gegen meine Stirn" ; das ist zwar schärfer, präziser aber [i]wahrer[i/] ist es nicht.
Zuletzt denke ich
Wenn wir also sagen "Ich habe Kopfschmerzen", können wir damit nicht mehr aussagen als "zum jetzigen Zeitpunkt fällt mir nichts anderes ein", und genau das ist das schlimme, jedanfalls an meinem Kopfschmerz.

mfG
Franz

- IV
- gershwin am 08. Dez. 2004, 01:37 Uhr

Hallo Leute, ich bin`s noch mal:

Was meint man, wenn man sagt, diese Aussage sei wahr?
So etwas wie absolute Wahrheit gibt es nicht, und was man mit wahr meint, hängt, wie ich schon oft zur Diskussion gestellt habe, einzig vom Kontext der betreffenden Aussage ab.

Bsp. 1: "Es gibt keine größte Primzahl." Man kann die Wahrheit dieser Aussage mit Hilfe eine formalen Algorithmus überprüfen, weil man sich in einem bekannten axiomatischen Rahmen bewegt.

Bsp. 2. "Ich habe gestern Schuhe gekauft." Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Wahrheit dieses Satzes zu überprüfen, doch der Sprecher hat viele Möglichkeiten, jede Falsifizierung in Zweifel zu ziehen.

Bsp. 3 : "Ich habe Kopfschmerzen." Nun kann der Sprecher jede, einfach jede Falsifizierung zur Seite schieben. Es gibt keine Möglichkeit, die Wahrheit oder Unwahrheit dieser Aussage zu beweisen.

Quine meinte einmal: "Jede Aussage kann, komme, was da wolle, für wahr gehalten werden, wenn wir nur hinreichend drastische Änderungen des Systems vornehmen."

Das EINZIGE, was die Zuschreibungen "wahr" für obige Aussagen eint, ist die Intention des Zuschreibers, dass sich der Angesprochene auf eben diese Aussage und die Folgerungen (die Art der erlaubten Folgerungen ist natürlich ebenfalls kontextabhängig) verlassen soll, sei es in ehrlicher, sei es in betrügerischer Absicht: Es sei p eine große Primzahl, wenn Du nur gründlich suchst, wirst Du mit Sicherheit eine größere finden. Ich habe gestern Schuhe gekauft, drum sind die 100 Euro weg, die Du mir gegeben hast. Ich habe Kopfschmerzen und kann jetzt darum nicht Mathe lernen.

Sprache ist Kommunikation vom Typ der Jasmonatproduktion. Durch die Codierung von Luftdruckschwankungen und die Etablierung einer Grammatik sind nahezu unendlich viele Aussagen möglich, darunter auch viele, auf die man sich besser nicht verlassen sollte. Besser im Hinblick auf die Überlebenswahrscheinlichkeit in einer Jäger-Sammler-Gesellschaft, die regelmäßig unter lebensbedrohlicher Ressourcenknappheit leidet. Diese Aussagen können auf einem Irrtum oder auf einer Betrugsabsicht des Sprechers beruhen. Und so ist es extrem nützlich, wenn ein Kundiger oder ein Verbündeter diese Aussagen mit "unwahr" kennzeichnen kann. "Unwahr!" ist also quasi eine Art Warnschrei.

Diese Funktion hat er in einer Überflußgesellschaft partiell eingebüßt. Wenige Prozent der Bevölkerung wären im Prinzip in der Lage, die Menschheit mit allem Überlebensnotwendigen zu versorgen. Der Rest müßte dastehen und die Hand aufhalten. Selbst etwas verdienen und sogar Reichtum anhäufen kann man nur, wenn man zusätzliche Bedürfnisse befriedigt, die es erst zu wecken gilt. Dies geschieht z. B. durch Werbung, ein kostitutiver Bestandteil unserer Konsumgesellschaft. Die Aussagen der Werbung sind sehr oft unwahr, aber niemand wünscht sich mehr einen Verbündeten, der uns davor warnt.

Freundliche Grüße
Thomas

- IV
- Eberhard am 08. Dez. 2004, 06:37 Uhr

Hallo allerseits,

noch eine Anmerkung zur Geltung von Rechtsnormen. Wenn der Rechtspositivist sagt: "Eine Rechtsordnung gilt, wenn sie wirksam sanktioniert wird", dann meint er, dass sie faktisch gilt, dass sie durchgesetzt wird. Die Frage, ob man eine faktisch geltende Rechtsordnung befolgen soll, bleibt dabei noch offen. Insofern ist für mich ein rechtspositivistischer Standpunkt noch nicht problematisch.

Problematisch wird es erst dann, wenn die Frage: "Soll man diese faktisch geltende Rechtsordnung anerkennen und befolgen?" als sinnlos abgetan wird. Problematisch wird es für mich auch, wenn die Frage: "Wie soll die Rechtsordnung beschaffen sein und aus welchen Gründen?" als sinnlos abgetan wird.

Es grüßt Euch Eberhard.

p.s.: In einer Diskussion sind falsche Ansichten kein moralisches Vergehen. Die Haltung: "Ich bin empört!" schadet der Wahrheitsfindung.

- IV
- Hermeneuticus am 08. Dez. 2004, 07:43 Uhr

Guten Morgen, Eberhard!


Zitat:

In einer Diskussion sind falsche Ansichten kein moralisches Vergehen. Die Haltung: "Ich bin empört!" schadet der Wahrheitsfindung.


Ich fühle mich von dieser Ermahnung betroffen, denn in der Tat empören mich Thomas' Anschten zur Rechtsgeltung.

Dies liegt aber daran, dass ich das Recht und seine Prinzipien nicht für rein theoretische Begriffe und insofern für beliebig disponible Setzungen halte. Ich identifiziere mich mit den rechtlichen Imperativen. Ich bin Mitglied eines Geltungskollektivs, und kann nicht so einfach Überzeugungen in der Reflexion einklammern, die meine Identität entscheidend mit ausmachen.

Ich gestehe aber Thomas gerne zu, dass sein alltäglicher Umgang mit Menschen ebenfalls von internalisierten Normen, also rechtlichen und moralischen "Überzheugungen"  getragen wird. Ich kann mir schwer vorstellen, dass er seine hier theoretisch vertretenen Ansichten zur Grundlage seines Handelns macht.

Im Grunde ist es dieser Widerspruch zwischen einer (realitätsfremden) Theorie und täglich gelebter Überzeugung, den ich ihm nachweisen möchte.

Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 08. Dez. 2004, 09:47 Uhr

Hallo allerseits,

meine Frage war:

Welche der folgenden 5 Sätze sind Aussagen über die Wirklichkeit und wenn 'ja' warum?:

1 Er hat gesagt, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
2. Er hat versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird.
3  Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
4  Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.
5  Er soll ihre Schulden bezahlen.

Thomas (J) hatte geantwortet: "aussagen über die wirklichkeit sind die ersten drei sätze.
der letzte satz ist eine aufforderung.
der vierte satz ist eine aussage über eine regel die angewandt wird.

Hermeneuticus hatte u.a. geantwortet: "Dies sind sämtlich Aussagen über die Wirklichkeit. Und der Grund dafür liegt darin, dass sie aus der Perspektive eines Beobachters über einen Dritten (" er" ) behauptet werden.

Die Sache ist verwickelt.

Der ersten Satz (" Er hat gesagt, dass er ihre Schulden bezahlen wird" ) ist sicher eine Tatsachenbehauptung. Insofern als das Gesagte nicht wörtlich zitiert wird sondern nur in seinem Sinn wiedergegeben wird, enthält der Satz allerdings auch ein sinndeutendes Element.

Der zweite Satz (" Er hat versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird" ) ist schwieriger einzuordnen. Dies hängt davon ab, welche Bedeutung das Wort "versprochen" hat. Es könnte sich zum einen auf eine bestehende moralische oder rechtliche Ordnung beziehen, in der festgelegt ist, wie etwas derartiges wie Versprechen zustande kommt und welche normativen Folgen sich daraus ergeben.

Das Versprechen ist eine soziale Institution, die von Menschen erdacht wurde. Es wären auch Gesellschaften denkbar, die die Institution des Versprechens nicht kennen. Allerdings ist die Institution des Versprechens derart elementar, dass man sich eine solche Gesellschaft nur schwer vorstellen kann.

Allgemein gesprochen ist das Versprechen ein normsetzendes Verfahren, bei dem ein Individuum sich selber eine Norm in Bezug auf sein zukünftiges Handeln setzt. Wenn A sagt: "Ich verspreche, die Handlung h zu tun" bedeutet das soviel wie: "Für mich gilt, dass ich h tun soll."

Das Versprechen als normsetzendes Verfahren kann jedoch unterschiedlich ausgeprägt sein, es kann von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedliche Bedingungen dafür geben, dass ein Versprechen zustande kommt (wie z. B. die Benutzung der Formel "Hiermit verspreche ich .. " oder ein Handschlag oder eine Unterschrift usw.) Wenn man in einem juristischen Wörterbuch unter dem Stichwort "Willenserklärung" nachschlägt, dann sieht man, wie komplex die Bedingungen einer wirksamen Willenserklärung in modernen Gesellschaften sind.

Der Satz: "A hat versprochen, dass .. " ist also nicht allein dadurch überprüfbar, dass man das Verhalten von A beobachtet, sondern es setzt eine bestimmte Definition des Versprechens voraus, die man nicht unbedingt teilen muss. Genauer müsste der Satz lauten: "Er hat gemäß der moralischen bzw. rechtlichen Ordnung O versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird."

Dies ist durch Beobachtung entscheidbar, erfordert allerdings eine einheitliche Interpretation der normativen Ordnung, auf die Bezug genommen wird.

Damit will ich erstmal Schluss machen. Es grüßt euch Eberhard.

- IV
- Reisender am 08. Dez. 2004, 10:35 Uhr

Eberhards Frage war:

Welche der folgenden 5 Sätze sind Aussagen über die Wirklichkeit und wenn 'ja' warum?:  

1 Er hat gesagt, dass er ihre Schulden bezahlen wird.  
2. Er hat versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird.  
3  Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.  
4  Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.  
5  Er soll ihre Schulden bezahlen.

Alle 5 Sätze sind Bestandteile der Wirklichkeit weil sie ausgesprochen wurden und somit existieren.
Denn nur was existiert ist Seiendes und somit wahr ! Sie enthalten Aussagen über die Wirklichkeit, in der u.a. ein Er, eine Sie und Schulden seien um deren Tilgung es geht, wobei nicht derjenige zahlen soll der die Schulden trägt sondern ein anderer, nämlich er.

Absichtserklärungen, Verpflichtungen, Forderungen sind keine Bestandteile der Wirklichkeit weil ja nichts geschehen ist was die Wirklichkeit verändert hat. Denn nur das was existiert ist wahr und somit Seiendes. Absichtserklärungen, Verpflichtungen, Forderungen sind Überlegungen wie die Wirklichkeit verändert werden soll, muss oder kann, das bedeutet jedoch nicht, dass es geschehen wird.

Mit freundlichen Grüßen
Reisender

- IV
- alphawill am 08. Dez. 2004, 11:47 Uhr

Guten Tag

Zu den fünf Besipielsätzen:

Zitat:
Alle 5 Sätze sind Bestandteile der Wirklichkeit weil sie ausgesprochen wurden und somit existieren.
Denn nur was existiert ist Seiendes und somit wahr ! Sie enthalten Aussagen über die Wirklichkeit[...]

So einfach kann ich es mir nicht machen. Wie ich sagte, ist die Schilderung der Wirklichkeit eine aus logischen Gründen unmögliche Sache. Die Wirklichkeit, sofern man sie nicht als ewig konstant voraussetzt, ist notwendigerweise vorbei, ehe man sich ein Bild von ihr machen kann und dieses wiedergibt.
Was irgendwann gesagt wurde, existiert nicht mehr! Die Schriftzeichen, die den Satz darstellen, tun dies nicht vollständig, also fehlerhaft, also nicht wahrheitsgemäß.
Gültig sind die fünf Sätze nur dann, wenn man sie als Beweismodelle zuläßt, und das verlangt, wie ich schon sagte, eine wohlwollende Nachlässigkeit, was die Beschreibung der Wirklichkeit angeht.

Exkurs: Modelle
Die Wirklichkeit ist meiner Meinung nach ein Modell dessen, was wir beschreiben wollen, aber nicht eigentlich erkennen können. Wahrheit impliziert Vollständigkeit, oder muss, wenn sie das nicht tun soll, als halbwahr (=gelogen?) betont werden.
Zur Erklärung des Modellcharakters der Wirklichkeit verwende ich ein anderes Besipiel für ein Modell - das ptolemäische Weltbild. Es diente 1400 Jahre lang zur hinreichenden Erklärung der Astronomie. Es entsprach jedoch nicht der Wirklichkeit, denn es warf Widersprüche auf. Zugleich war es selbst vitaler Teil der astronomischen Wirklichkeit, denn es schuf ein Begriffssystem, das selbst die Systemkritiker -noch heute-  benutzen müssen.
Auch unsere klassisch-wissenschaftlich postulierte Wirklichkeit ( ein fundamentaler Widerspruch, denn alles ist nicht mehr als ein Desiderat! ) könnte sehr bald durch ein anderes Modell abgelöst werden, z. B. durch mehrwertige, inkonsistente Logiken, religiöse Vorstellungen, streng deterministischer materialismus...  
Ende Exkurs


Ich bin immer noch überzeugt, dass es keine wirkliche Idee von der Wahrheit gibt und, dass Begriffe wie Wahrheit oder Wirklichkeit - verstanden als wahrheitsgemäße begriffliche Darstellung dieser Idee - keine Bedeutung ( außer für "gläubige" menschen ) haben.
Zwar verwende ich selbst die Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit, aber ich verbinde mit ihnen nichts weiter als hyle, aus dem sich jeder ein gemütliches Bett oder einen bequemen Stuhl zimmern kann, wie er es gerade braucht. Das eidos der Wirklichkeit ist uns dem Wesen nach stets enteilt und deswegen unerfassbar.

Danke im Voraus für neue Gedanken
Franz

- IV
- Hermeneuticus am 08. Dez. 2004, 14:49 Uhr

Hallo Franz!


on 12/07/04 um 23:56:27, alphawill wrote:

Was meinen wir wirklich, wenn wir sagen etwas ist wahr?


Wir haben uns schon zu Beginn der (langen) Diskussion darauf geeinigt, dass wir "wahr" als beurteilendes Prädikat für Aussagen bzw. Behauptungen (über die Wirklichkeit) betrachten wollen.
Das ist keine beliebige Setzung, sondern orientiert sich am faktischen Sprachgebrauch. Zwar gibt es Ausdrücke wie "wahrer Held" oder "wahrer Schelm", aber es ist leicht zu sehen, dass damit keine zusätzliche Eigenschaft der so bezeichneten Personen oder Dinge gemeint ist, sondern eine Bekräftigung der Bezeichnung selbst. Etwa: "Es ist wahr, ihn einen 'Helden' zu nennen." Oder: "Es mögen viele 'Held" genannt werden. Aber x ist wirklich ein Held." Oder: "Hier ist es nicht gelogen oder übertrieben, wenn man sagt: 'x ist ein Held.'"


Zitat:

Die Gesetze und die Regime, von denen zuletzt die Rede war, sind sie und alles damit verbundene Schrifttum eigentlich wahr, im Sinne von voller Wirklichkeit?


Hier verwendest Du "wahr" als Synonym von "wirklich". Damit würde der Begriff allerdings überflüssig. Denn "wirklicher" als "wirklich" kann etwas doch kaum sein - oder? Ist "volle Wirklichkeit" (=" wahre" Wirklichkeit) mehr als "Wirklichkeit" ?  

Ich will nicht abstreiten, dass es einen Zusammenhang von Wirklichkeit und wahrem Wissen gibt. (Dabei will ich hier Wissen nur als verbalisiertes Wissen verstehen. Aber es gibt auch das non-verbale "Know-how", also technische Fertigkeiten, die uns auf das engste mit der Wirklichkeit verbinden. Denken wir nur an die verschiedenen Fähigkeiten der Fortbewegung auf ebener Erde, auf Eis, in unwegsamem Gelände, im Gebirge, im Wasser...)

Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass es Wirkliches gibt, von dem wir nichts oder noch nichts wissen. Aber für unsere Lebensbewältigung kann dieses unbekannte Wirkliche keine Rolle spielen - es sei denn, es breche plötzlich "von außen" in die uns bekannte Wirklichkeit ein wie ein riesiger Meteorit. Wir machen immer Erfahrungen, an denen wir lernen, dass die uns bekannte Wirklichkeit begrenzt ist. Und jeder Wissenserwerb zielt darauf, diese Grenzen zu erweitern.
Lebenspraktisch verfügbar ist aber einstweilen immer nur die bekannte Wirklichkeit, d. h. unser WISSEN von ihr, das wir unserer Orientierung und Lebensbewältigung zugrunde legen. Die Tatsache, dass wir es zugrunde legen KÖNNEN, ohne dabei zu scheitern oder unsere jeweiligen Ziele zu verfehlen, ist eine praktische BEWÄHRUNG dieses Wissens. d. h. hier können wir davon ausgehen, dass unser Wissen der Beschaffenheit der Wirklichkeit zumindest nicht widerspricht; ob und inwieweit es sich "mit ihr deckt", ist damit freilich nicht entschieden, weil es sich nicht ausschließen lässt, dass wir durch neue Erfahrungen und Widerfahrnisse des Irrtums überführt werden.

Es ist also sinnvoll, zwischen unserem Wissen von der Wirklichkeit und der Wirklichkeit zu unterscheiden, weil unser Wissen immer vorläufig und fallibel bleibt. Und genau diese Vorläufigkeit und Fallibilität des Wissens macht es überhaupt erst sinnvoll, zwischen "wahrem" und "falschem" Wissen zu unterscheiden.
Im Sinne dieser skizzenhaften Überlegung kann man nun auch sagen, "wahr" sei Wissen von der Wirklichkeit dann, wenn es bei der Verfolgung unserer Ziele nicht durch unerwartete Widerfahrnisse widerlegt wird. Das Kriterium für die Wahrheit unseres Wissens wäre - in seiner allgemeinsten Form - somit seine VERTRÄGLICHKEIT mit jenen Teilen der Wirklichkeit, auf die wir durch unser Handeln jeweils keinen Einfluss nehmen können.

Wenn wir nun aber die Wahrheit von expliziten, sprachlichen BEHAUPTUNGEN über die Wirklichkeit ins Auge fassen, rückt sofort in den Blick, dass es sich bei dieser Wirklichkeit immer um eine mit anderen GETEILTE, also GEMEINSAME handelt. Und aus diesem Grund ist es unverzichtbar, dass wahre Aussagen auch intersubjektiv verträglich sein müssen, d. h. von allen in diese gemeinsame Wirklichkeit verwickelten Subjekten müssen geteilt werden können.

Wenn eine bestimmte Behauptung von anderen angezweifelt wird, entsteht das Bedürfnis, diese Behauptung zu "begründen". Und wie vermittelt das auch immer geschehen mag - das "Begründen" wird zurückgreifen auf einen von allen Beteiligten NICHT BEZWEIFELTEN Wissensbestand (oder unbezweifelte gemeinsame "Voraussetzungen" ), um von daher entscheidbar zu machen, ob die fragliche Behauptung sich daran in irgend einer Weise anschließen lässt.
Der unbezweifelte, gemeinsam vorausgesetzte Wissensbestand wird wohl auch mit der Wirklichkeit verträglich sein. Von der gerade diskutierten Behauptung können die Beteiligten das aber noch nicht wissen. Um das herauszufinden, geht es eben in der Begründung.


Dies nur als knapper Hinweis auf den unauflöslichen Zusammenhang von Wahrheit und Wirklichkeit. Es zeigt sich aber daran auch, dass Wahrheit trotz dieses Zusammenhangs sich nur auf das Wissen von der Wirklichkeit bezieht, nicht auf die Wirklichkeit, von der dieses Wissen jeweils handelt.



Zitat:

Ein Komilitone von mir hat mich in einem Essaykurs auf den Gedanken gebracht, dass wir Sätze, damit sie hinreichend Wahrheitsgehalt haben, um der Wirklichkeit zu entsprechen, wohl nur im Präsens formulieren dürfen.

"Der Wirklichkeit entsprechen". - Dass diese Vorstellung nicht sinnvoll ist, wenn sie als Kriterium für Wahrheit ÜBERHAUPT dienen soll, lässt sich ebenfalls meiner obigen Überlegung entnehmen. Denn für die Anwendung dieses Kriteriums müsste man ja beides getrennt überblicken: die Wirklichkeit und die Aussage darüber.

Innerhalb so und so begrenzter Erfahrungsbereiche ist dies durchaus möglich. So lässt sich die Behauptung "Diese Rose ist rot." bequem durch einen kurzen Blick auf die gemeinte Rose überprüfen.
Wenn es aber um ganze Theoriegebäude geht, die von Bereichen handeln, die ohne die zu dieser Theorie gehörenden Begriffe und Verfahren gar nicht zugänglich sind, ist eine Überprüfung nicht mehr durch einen solchen Vergleich zu entscheiden. Denn hier formuliert die Theorie die Summe des Wissens, das wir von diesem Wirklichkeitsbereich überhaupt haben. Wir können also nicht die Theorie beiseite lassen, um sie mit einem "theoriefreien" Blick auf die "Wirklichkeit selbst" zu überprüfen...

Auch die Bilder, die uns das Hubble-Teleskop von entfernten, bis dahin unbekannten Himmelskörpern auf die Erde sendet, können wir nicht durch einen "unverstellten Blick" auf ihre Richtigkeit prüfen. Wir können aber sehr wohl versuchen, diese Bilder an den bisherigen Wissensbestand "anzuschließen", sie also auf ihre Verträglichkeit mit diesem Wissensbestand hin prüfen.

Kurz: "Übereinstimmung mit der Wirklichkeit" kann kein generelles Wahrheitskriterium sein, sondern nur ein innerhalb bestimmter Regionen brauchbares.

Das mag erst einmal genügen.

Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 08. Dez. 2004, 17:13 Uhr

Hallo Reisender,

Du hast Dich zu meinen fünf Fragen geäußert. Dazu einige Anmerkungen.

Du schreibst: "Alle 5 Sätze sind Bestandteile der Wirklichkeit."

Das ist richtig, die Frage war aber, welcher der Sätze etwas über die Wirklichkeit und deren Beschaffenheit aussagt.

Du schreibst: "Nur was existiert, ist Seiendes und somit wahr."

Hier habe ich Schwierigkeiten mit Deinem Sprachgebrauch: "wahr" können für mich nur SÄTZE ÜBER Seiendes sein, nicht jedoch das Seiende selbst.

Du schreibst: "Absichtserklärungen, Verpflichtungen, Forderungen sind keine Bestandteile der Wirklichkeit."

Ich würde sagen: Eine Forderung ist als Äußerung etwas Wirkliches. Der Satz: "Er fordert mehr Lohn" beschreibt etwas Reales. Aber der Inhalt der Forderung ist keine Beschreibung der Realität sondern drückt den Willen aus, dass etwas (die Lohnerhöhung) verwirklicht werden soll.

Welche der 5 Sätze beschreiben die Wirklichkeit?

Es grüßt Dich auf der Durchreise Eberhard.

- IV
- Eberhard am 08. Dez. 2004, 17:59 Uhr

Hallo Franz aus alphaville,

Du scheibst: "Wahrheit impliziert Vollständigkeit, oder muss, wenn sie das nicht tun soll, als halbwahr (=gelogen?) betont werden." Du sprichst von "wahr, im Sinne von voller Wirklichkeit"

Anders ausgedrückt: "Wahr" kann für Dich niemals ein einzelner Satz sein, denn er beschreibt die Wirklichkeit immer nur unvollständig. Insofern gebrauchst du das Wort "wahr" in einem anderen Sinne, etwa so wie der Richter, der den Zeugen ermahnt, die ganze Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen, was für die Aufklärung und Beurteilung einer Tat von Bedeutung sein könnte.

Eine vollständige Beschreibung eines Sachverhaltes kann es jedoch nicht geben. Letztlich müsste eine solche die Lage aller Atome umfassen und mehr.

In dem Sinne, wie ich das Wort "wahr" verwende, kann auch ein vergleichsweise unpräziser Satz wahr sein, wie z. B. der Satz: "Es waren mindestens 200 Besucher gekommen." Ein solcher Satz kann wahr sein, aber nicht "halb" wahr. Ich gestehe Dir jedoch zu, dass die Rede von der "halben Wahrheit" ebenfalls eine etablierte Bedeutung des Wortes "wahr" darstellt.

Es grüßt dich Eberhard.

- IV
- Eberhard am 08. Dez. 2004, 21:52 Uhr

Hallo gershwin,

Du schreibst: "Das EINZIGE, was die Zuschreibungen "wahr" für obige Aussagen eint, ist die Intention des Zuschreibers, dass sich der Angesprochene auf eben diese Aussage und die Folgerungen (die Art der erlaubten Folgerungen ist natürlich ebenfalls kontextabhängig) verlassen soll, sei es in ehrlicher, sei es in betrügerischer Absicht:"

Diese Auffassung deckt sich teilweise mit meiner Auffassung, dass man eine Aussage mit deren Kennzeichnung als wahr "behauptet". Wenn ich etwas behaupte, dann fordere ich dafür Geltung, ich fordere jedermann auf, diese Aussage seinem Denken und Handeln zugrunde zu legen. Zugleich sichere ich Irrtums- und Enttäuschungsfreiheit zu.

Bei Dir fehlt jedoch der Aspekt der Begründung dieses Geltungsanspruchs weitgehend. Du schreibst: "Wer eine Aussage als wahr bezeichnet, hat entweder konkrete Gründe dafür (die vielschichtiger Natur sein können) oder schlicht keine interessante Alternative, die ihn veranlassen könnte, die Aussage in Frage zu stellen." Bei den vielschichtigen Gründen, von denen Du hier sprichst, handelt es sich offensichtlich um Motive (Beweggründe) aber nicht um rationale Argumente (Vernunftgründe).

Das besondere an einem Anspruch auf "Wahrheit" ist jedoch gerade, dass der damit verbundene Geltungsanspruch für die Adressaten dieses Anspruchs zwangfrei nachvollziehbar sein muss. Wenn jemand zu mir sagt: "Das ist wahr. Halte das für wahr!" dann kann ich nach der Begründung für diese Behauptung fragen, und wenn sich herausstellt, dass ich nicht die Möglichkeit habe, die Wahrheit selber einzusehen, dann ist der gemeinsamen Diskussion der Boden entzogen. "Argumente", die ich nicht einsehen kann, sind keine Argumente, sie sind nur verbale Verschleierungen einer Machtausübung durch Einwirkungen auf meine Psyche.

Bei aller Wertschätzung realistischer und illusionsloser Analysen: Mit der beschränkten Perspektive: Welche Funktion hat dies Element der Sprache im Konkurrenzkampf um Erhaltung und Verbreitung der je eigenen Art? wirst Du dem besonderen Geltungsanspruch, der sich mit dem Wort "wahr" verbindet, nicht gerecht. Du kannst nicht mehr unterscheiden zwischen einer rationalen Argumentation und einer rhetorischen Beeinflussung, zwischen einer Überzeugung, die auf einsichtigen Gründen beruht, und einer Meinung, die auf manipulativer Überredung oder "Gehirnwäsche" beruht. Für Dich sind beides jeweils nur verschiedene Mittel im Überlebenskampf.

Aber was man nicht unterscheiden kann, das kann man auch nicht unterschiedlich bewerten und auf das kann man auch nicht unterschiedlich reagieren. Gerade das ist in diesem Fall jedoch angebracht.

Es grüßt Dich Eberhard.

- IV
- Reisender am 09. Dez. 2004, 11:22 Uhr

Hallo Eberhard !


>Hallo Reisender,

>Du hast Dich zu meinen fünf Fragen geäußert. Dazu einige Anmerkungen.  

>Du schreibst: "Alle 5 Sätze sind Bestandteile der Wirklichkeit."

>Das ist richtig, die Frage war aber, welcher der Sätze etwas über die Wirklichkeit und deren >Beschaffenheit aussagt.

Du ursprüngliche Frage lautete: "Welche der folgenden 5 Sätze sind Aussagen über die Wirklichkeit und wenn 'ja' warum?:" Antwort 106

Folglich ist Dein Widerspruch nicht wahr.

Denn der ursprüngliche Satz beinhaltet keine Erweiterung "und deren Beschaffenheit" und auch keine Teilbetrachtung sondern eine Ganzheitsbetrachtung Deiner Sätze.

>Du schreibst: "Nur was existiert, ist Seiendes und somit wahr."

>Hier habe ich Schwierigkeiten mit Deinem Sprachgebrauch: "wahr" können für mich nur SÄTZE ÜBER >Seiendes sein, nicht jedoch das Seiende selbst.

Hier befindest Du Dich in einem grundlegendem Irrtum: Nur Seiendes kann wahr sein, Sätze aber beinhalten drei Möglichkeiten: Sie sind wahr, unwahr, teilweise wahr oder teilweise unwahr.


>Du schreibst: "Absichtserklärungen, Verpflichtungen, Forderungen sind keine Bestandteile der >Wirklichkeit."

>Ich würde sagen: Eine Forderung ist als Äußerung etwas Wirkliches.

Nur die Äußerung ist Seiendes und somit wahr. Und die Äußerung ist etwas Wirkliches.


>Der Satz: "Er fordert mehr Lohn" beschreibt etwas Reales.
Aber der Satz ist ein Satz und er kann den Lohn nicht verändern. Die Aufgabe eines Satzes ist, dass er gelesen wird. Kontostände kann er nicht verändern.

>Aber der Inhalt der Forderung ist keine Beschreibung der Realität sondern drückt den Willen aus, >dass etwas (die Lohnerhöhung) verwirklicht werden soll.

Hier behauptest Du in fast einem Atemzug gegensätzliches: "beschreibt etwas Reales" und "keine Beschreibung der Realität"  Da es um einen Satz geht: "Er fordert mehr Lohn" kann nur einer Deiner Behauptungen wahr sein.

>Welche der 5 Sätze beschreiben die Wirklichkeit?

Das hat mit der ursprünglichen Frage nichts mehr zu tun. Vielleicht solltest Du, da Dir der Begriff "beschreiben" wichtig erscheint diesen erläutern und bestimmen .  Aussagen über die Wirklichkeit, Beschaffenheit der Wirlichkeit oder Beschreibung der Wirklichkeit sind DREI Begriffe.

Mit freundlichen Grüßen
Reisender

- IV
- Eberhard am 09. Dez. 2004, 12:54 Uhr

Hallo Reisender,

danke für Deine Entgegnung. Ich schlage vor, wir belassen es dabei. Ich glaube nicht, dass es uns in unserer Fragestellung weiterbringt, wenn wir beide uns auseinandersetzen, da Du ja schon meinen Sprachgebrauch als "Irrtum" bezeichnest und wir offenbar in allzu vielem nicht dieselbe Sprache sprechen.

Es grüßt Dich Eberhard.

- IV
- Reisender am 09. Dez. 2004, 14:45 Uhr

Hallo  Eberhard !

Selbstverständlich ist das in Ordnung wenn Du hier abbrichst auch wenn Du die Gründe verschweigst.

Unwahr ist allerdings nicht im moralischen Sinne was so aufgefasst werden könnte, dass ich Deinen "Sprachgebrauch" als Irrtum bezeichnet hätte. Das habe ich nie getan.

Unwahr ist weiterhin, dass "wir offenbar in allzu vielem nicht dieselbe Sprache sprechen". Selbstverständlich erkenne ich den versteckten Sinn.

Was der wirkliche Sinn Deines Handelns ist bleibt vermutlich für immer im Dunkeln.
Ich habe nicht die Pflicht zu hinterfragen.



Mit freundlichen Grüßen
Reisender

- IV
- Eberhard am 09. Dez. 2004, 17:43 Uhr

Hallo Reisender,

Damit kein falscher Eindruck entsteht: mir geht es um Fortschritte in der Sache um die Klärung dessen, was man meint, wenn man Aussagen über die Welt (als der Gesamtheit alles Wirklichen) als wahr bezeichnet. Und damit zusammen hängen Fragen nach dem Kriterium dafür, ob eine solche Aussage wahr ist oder nicht, und Fragen nach den Methoden zur Gewinnung richtiger Antworten auf unsere Fragen hinsichtlich der Beschaffenheit der Welt.

In diesem Zusammenhang sind wir im Verlauf unserer Diskussion immer wieder auf die Frage gestoßen: wie kann man Aussagen über die Welt, wie sie wirklich ist, unterscheiden von anderen Äußerungen, wie z. B. Regeln, wie man bestimmte Wörter verwenden soll, oder Normen, wie sich Menschen verhalten sollen oder Deutungen des Sinns von  Zeichengebilden.

Meine 5 Sätze waren konkrete Beispiele, um diese Problematik produktiv zu diskutieren. Sie lauteten:
1. Er hat gesagt, dass er ihre Schulden bezahlen wird.  
2. Er hat versprochen, dass er ihre Schulden bezahlen wird.  
3  Er hat sich verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.  
4  Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.  
5  Er soll ihre Schulden bezahlen.

Und ich hatte gefragt:
Welche der folgenden Sätze sind Aussagen über die Wirklichkeit und wenn 'ja' warum?:

Da ich Deine bisherigen Antworten auf diese Frage nicht richtig verstanden habe, bitte ich Dich  noch einmal zu sagen, welcher der obigen Sätze eine Aussage über die Wirklichkeit enthält. Zusätzlich wären die Gründe interesssant, die zu Deiner Auswahl geführt haben.

Mit freundlichen Grüßen, Eberhard.

- IV
- alphawill am 09. Dez. 2004, 18:32 Uhr

hallo eberhard

nachdem mir einige neue gedanken angetragen wurden, habe ich fragen zu den Sätzen 4 und 5.

ich nehme zuerst an, dass deren Formulierung bewußt die moralischer Urteile ist. Mir ist nicht so wichtig ob es sich dabei um ein objektives oder ein subjektives Urteil handelt. (siehe: 4:  Er ist  verpflichtet, ihre Schulden zu bezahlen.  
und 5:  Er soll ihre Schulden bezahlen.) Mir liegt viel mehr daran, die Moral an sich als etwas wirkliches zu betonen.


Wirklichkeit, da habe ich keinen echten Gegenbeweis gefunden oder gelesen, ist etwas geteiltes und gemeinsames, ein Produkt des Menschen und seiner stets fehlerhaften Erkenntnis, jedoch nicht seine eigentliche Umgebung. (wenngleich die Wahrnehmung uns nicht zufällig gegen Bäume laufen und in tiefe Löcher fallen lässt)
Wahr ist dagen nur, was wir wahr-nehmen (ob nun selbst oder aus dritter hand sei diesmal nebensächlich). Durch Kommunikation können wir theoretisch zumindest die perzipierte Wahrheit zur Wirklichkeit erheben. "Siehst du was ich sehe?"

Mit der Moral ist es ganz ähnlich. Sie ist eine Empfindung, ganz unabhängig von ihren Normen oder sonstigen Ausprägungen. Moral ist selbst Perzeption, die gewissen Regeln folgt. Wie zum Beispiel das Auge Licht wahrnimmt, analysiert das Moralische Empfinden Situationen. (das ist kein guter Vergleich, aber man wird ihn verstehen).

Moralisches Empfinden ist etwas, das dem Menschen ebenso bei der Orientierung helfen kann, wie eine konsistente Erinnerung an die Wirklichkeit: Er wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig verhalten; sie ist also selbst eine Quelle der Erkenntnis über das am besten zu machende.

Demnach ist auch ein Satz mit rein morlischem Gehalt auch so wahr wie einer ganz ohne ( er hat gesagt, er hat versprochen), wenn man den moralischen Prämissen zustimmt - so wie man der Prämisse von Hermeneuticus zustimmen würde, dass es die Wirklichkeit schon deshalb gibt, damit man sinnvoll über etwas reden kann.

Ohne Wirklichkeit wäre ja nichts...
ich kann dazu nur denken, ja, vielleicht.

eine angenehme Nacht allen
Franz

- IV
- Eberhard am 09. Dez. 2004, 21:53 Uhr

Hallo allerseits,

in Bezug auf die 5 Sätze neige ich einerseits dazu, die Sätze zwei bis fünf nicht als normale Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit anzusehen, sondern als Interpretationen normativer Ordnungen und deren Anwendung unter Voraussetzung bestimmter Aussagen über die beobachtbare Wirklichkeit. Andererseits sind diese institutionellen "Fakten" (Versprechen, Heiraten, Adoptionen, Eide, Schenkungen etc.) Teil der Wirklichkeit, sogar ein sehr wichtiger Teil.

Zur Anwendung einer normativen Ordnung (z. B. durch Feststellung einer bestimmten Verpflichtung) sind zwar auch empirische Tatsachen erforderlich (die Verwendung der Formel "Hiermit verspreche ich .." ), ob damit jedoch bestimmte normative Folgen verbunden sind, hängt von der inhaltlichen Gestaltung dieser normativen Ordnung und von deren Auslegung ab.

Um ein anderes Beispiel zu nehmen: angenommen in einer bestimmten Gesellschaft geben Frauen mit der Heirat automatisch das Versprechen ab, sich verbrennen zu lassen, wenn ihr Ehemann vor ihnen stirbt. Wenn nun ein solcher Fall eintritt, kommt ein Normenkundiger zu der Aussage: "Die Witwe soll sich (gemäß herrschender Sitte) verbrennen lassen!" Dies ist eine Sache der Auslegung, der Anwendung von Normen auf Fakten.

Institutionelle "Tatsachen" wie das Abgeben von Versprechen und die damit verbundenen normativen Konsequenzen sind an die Auslegung von Normen gebunden. Insofern sind Aussagen über sie von anderer Art als Aussagen über die wahrnehmbare Wirklichkeit.

Es grüßt euch ein unentschiedener Eberhard.

- IV
- gershwin am 10. Dez. 2004, 05:02 Uhr

Hallo Eberhardt

Zitat:

Bei den vielschichtigen Gründen, von denen Du hier sprichst, handelt es sich offensichtlich um Motive (Beweggründe) aber nicht um rationale Argumente (Vernunftgründe).



Nö, es können schon auch Vernunftgründe sein, obwohl es ja eine alte Streitfrage ist, ob es außerhalb axiomatischer formaler Systeme völlig motivfreie rationale Begründungen gibt.
Dies gilt zumindest für einen riesengroßen Aussagebereich: Einige Beispiele:
1. Wenn man einem Menschen mit herausoperierten Balken zu einer Handlung auffordert derart, dass nur die rechte Gehirnhälfte das mitkriegt, und anschließend nach dem Grund für die Handlung fragt, wird die Person voller Überzeugung einen Grund konfabulieren, wie man das so schön nennt. Der Verdacht liegt nahe, dass man das verallgemeinern kann, es gibt Tausende psychologischer Experimente dazu.
2. Wenn man sich in einer bestimmten Sekunde entscheidet, einen von zwei verschiedenfarbigen Knöpfen zu drücken, ist im Gehirn bereits bis zu 0,5 Sek. vor diesem mutmaßlichen Entscheidungszeitpunkt die Entscheidung gefallen.
3. Im Bereich der Ethik ist die Willkür von Begründungen besonders ausgeprägt. Man kann sogar im Namen der Liebe foltern, kein Problem, wurde jahhundertelang gemacht. Ich habe das vor längerer Zeit mal in einigen längeren Beiträgen im Ethik-Forum ausgeführt.
4. Es ist bekannt, dass, wenn es gilt, jemanden von etwas zu überzeugen, beispielsweise das äußere Erscheinungsbild (oder nicht wahrnehmbare Gerüche u. ä.) eine wichtigere Rolle spielen kann als die vorgetragenen "rationalen" Argumente.


Zitat:

Du kannst nicht mehr unterscheiden zwischen einer rationalen Argumentation und einer rhetorischen Beeinflussung, zwischen einer Überzeugung, die auf einsichtigen Gründen beruht, und einer Meinung, die auf manipulativer Überredung oder "Gehirnwäsche" beruht.



Ich fürchte, das kann man auch prinzipiell nicht. Nimm doch die ganze Wissenschaftsgeschichte, die durch solche Suggestionen (Autoritäten) dramatisch verlangsamt wurde. Selbst die Genialsten der Genialen haben Irrtümer übernommen und weitergegeben, deren Berichtigung uns geradezu lächerlich einfach erscheint im Vergleich zu dem, was diese Denker ansonsten so geleistet haben. Es gab bereits einige Revolutionen (Paradigmenwechsel), und nach der nächsten werden sich vielleicht einige Überzeugungen, die auf vermeintlich einsichtigen Gründen beruhen, als zeitgeistbedingt, als "sozial manipuliert" erweisen.


Zitat:

" Argumente", die ich nicht einsehen kann, sind keine Argumente, sie sind nur verbale Verschleierungen einer Machtausübung durch Einwirkungen auf meine Psyche.



Ja, das sagst Du, aber das kann jeder sagen: ein Kreationist, ein Astrologe, ein überzeugter Anhänger des Kommunismus usw. Diese Personen können offensichtlich Deine "Argumente" nicht einsehen, und es gibt keinerlei Möglichkeit (wie etwa in einem axiomatischen formalen System), eine definitive Entscheidung herzuleiten. Man kann Kreationismus mit Hilfe Hunderter "geistiger Epizykeln" gegen jede rationale Argumentation ebenso rational verteidigen. Wir Normalos haben uns aus rein pragmatischen (also interessegeleiteten) Gründen auf die ET als Erklärungsmodell geeinigt.


Zitat:

Mit der beschränkten Perspektive: Welche Funktion hat dies Element der Sprache im Konkurrenzkampf um Erhaltung und Verbreitung der je eigenen Art?.... Für Dich sind beides jeweils nur verschiedene Mittel im Überlebenskampf.



Hoffentlich liegt hier kein missverständnis vor. Ich betrachte natürlich nicht singuläre Meinungen oder ganze Weltbilder unter dem Aspekt der Nützlichkeit im Überlebenskampf (das wäre ziemlicher Unsinn), sondern die Struktur der neuronalen Verschaltungen, welche eben diese Meinungen begünstigen. Die haben sich ja in geo-biologischen und sozialen Umwelten etabliert, welche schon lange nicht mehr existieren. Einfach ausgedrückt: Unsere motorische Muskulatur (d. h. die Verschaltung der zugrundeliegenden Nervennetze) impliziert physikalische Theorien über eine bis dato nur wenig veränderte physikalische Welt. Wir können daher bei recht unterschiedlichen Strömungs-, Wind- oder Bodenverhältnisse dennoch gezielt schwimmen, laufen, rennen, werfen usw. Unsere Sprechmuskulatur (d. h. die Verschaltung der zugrundeliegenden Nervennetze) impliziert (wie auch die motorische, doch in weit größerem Ausmaß) vor allem Theorien über die soziale Umwelt, und die hat sich mittlerweile dramatisch geändert. Unsere Verschaltung ist aber noch auf die uralten sozialen Umwelten hin selektioniert.


Zitat:

Bei Dir fehlt jedoch der Aspekt der Begründung dieses Geltungsanspruchs weitgehend.



Weil dieser Aspekt meiner Meinung nach kontextabhängig ist und es einfach zu viel Arbeit wäre, hier Einzelfälle abzuhandeln. In der Wissenschaft hat man sich beispielsweise als Wahrheitskriterien geeinigt auf Meßbarkeit, Wiederholbarkeit, intersubjektive Überprüfbarkeit, prinzipielle Falsifizierbarkeit. In der Logik sind es die Axiome und erlaubten Operationen. In der Religion sind offensichtlich individuelle Erfahrungen dominante Wahrheitskriterien, anders kann man sich nicht erklären, dass sich diese schwachsinnigen Offenbarungsreligionen auch weiterhin halten, obwohl ihre historische Basis längst ad absurdum geführt wurden.
Usw. usw. ich muss jetzt Schluss machen.
Freundliche Grüße
Thomas

- IV
- Eberhard am 10. Dez. 2004, 18:15 Uhr

Hallo Thomas (G),

Du befürchtest, dass man prinzipiell nicht unterscheiden kann zwischen einer rationalen Argumentation und einer rhetorischen Beeinflussung, zwischen einer Überzeugung, die auf einsichtigen Gründen beruht, und einer Meinung, die auf manipulativer Überredung oder "Gehirnwäsche" beruht.

Insofern hältst Du die Anwendung des Wahrheitsbegriffs in seinem empfehlenden Aspekt (" Das ist wahr! Da kannst Du Dich drauf verlassen!) für wichtiger als den damit ausgedrückten Anspruch auf allgemeine Geltung und dessen Einlösung.

Um Deiner Skepsis in Bezug auf die Bedeutung der Vernunft im menschlichen Leben etwas entgegen zu wirken, will ich unser Problem einmal von einer anderen Seite her aufrollen.

Menschen leben von Natur aus gesellig, so wie unsere Artverwandten, die Menschenaffen. Wichtig für das Gedeihen und Überleben einer menschlichen Gesellschaft sind die Vorteile des gemeinsamen Handelns: vier Augen sehen mehr als zwei, sechs Arme heben, was zwei Arme nicht von der Stelle bewegen. Wichtig für das Gedeihen einer menschlichen Gesellschaft ist auch die Fähigkeit, Konflikte innerhalb dieser Gesellschaft friedlich zu lösen.

Sowohl für die Schlichtung von Konflikten wie auch für das gemeinsame Handeln spielt das Bild der Wirklichkeit eine Rolle, das die Beteiligten haben. Wenn die Meinungen über die Ursachen von Schwierigkeiten oder über die Folgen von Handlungen auseinander gehen, gehen auch die Vorstellungen vom richtigen gemeinsamen Handeln auseinander. Und wo die Meinungen darüber, wer ein bestimmtes Verbrechen begangen hat, auseinander gehen, oder auf wessen Leistung bestimmte Erfolge beruhen, da kann keine Strafe verhängt und keine Belohnung erteilt werden.

Meinungsunterschiede, Unterschiede im Bild von der Wirklichkeit drücken sich aus in gegensätzlichen Antworten auf entsprechende Fragen. Um nach außen gemeinsam handeln zu können und nach innen Konflikte friedlich beilegen zu können, müssen auf die wichtigen offenen Fragen Antworten gegeben werden, die dann für alle, d. h. allgemein gelten.

Die Entscheidung darüber, welche Antworten sozial gelten sollen und zur Grundlage des gemeinsamen Handelns nach innen und nach außen gemacht werden, kann zum einen gelöst werden, indem bestimmte Instanzen die Antworten vorgeben, die gelten sollen, und dafür Glauben und Gehorsam verlangen.

Es kann jedoch auch nach Antworten gesucht werden, die nicht in dieser Weise den Individuen Gewalt antun, weil nach solchen Antworten gesucht wird, deren Geltung mit Argumenten begründet werden kann, die zumindest im Prinzip von allen Beteiligten nachvollzogen, akzeptiert und eingesehen werden können.

Autoritative Setzung und argumentative Beratung sind die Elemente sozialer Entscheidungsfindung, die in konkreten Gesellschaften in sehr unterschiedlichen Mischungsverhältnissen vorkommen.

In der Diskussion, im Streitgespräch wird nach Antworten gesucht, deren Begründung der Kritik standhält. Dies setzt eine gemeinsame Sprache oder zumindest mehrere ineinander übersetzbare Sprachen voraus.

Es werden Argumente ausgetauscht und daraufhin geprüft, ob sie von den Beteiligten akzeptiert werden können.

Es werden widersprüchliche Argumente verworfen, denn widersprüchliche Antworten sind gar keine Antworten,

Es werden ungültige Schlussfolgerungen verworfen, weil sie den Bedeutungsgehalt nicht erhalten sondern verändern, also unkontrolliert neue Gehalte einführen und somit von bereits akzeptierten Inhalten möglicherweise zu nicht akzeptierten Inhalten übergehen.

Es werden Argumente verworfen, die nicht intersubjektiv nachvollziehbar sind.

Es wird also nach Antworten gesucht, deren allgemeine Geltung begründet wird durch allgemein akzeptable Argumente.

Hier sehe ich den Platz für den Begriff "wahr".

Ich breche hier erstmal ab, damit die Sache überschaubar bleibt.

Es grüßt Dich Eberhard.

p.s.: Die Rhapsodie in Blue ist einer meiner musikalischen Favoriten.

- IV
- Eberhard am 10. Dez. 2004, 23:20 Uhr

Hallo Franz,

Deiner Auffassung nach enthalten Sätze wie: "Er ist verpflichtet, x zu tun" moralische Urteile über das "am besten zu tuende". Und so, wie wir die Wirklichkeit über unsere Sinne wahrnehmen, so erkennen wir mit unserem moralischen Empfinden, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten sollen. Moralische Urteile können deshalb in gleicher Weise wahr sein wie nicht-moralische Urteile bzw. Behauptungen.

Die Theorien vom "moralischen Sinn", von der moralischen "Intuition", von der "Werteschau" haben in der Moralphilosophie eine lange Tradition. Ihr Schwachpunkt ist, dass die moralischen Empfindungen und Gewissensinhalte von Mensch zu Mensch verschieden sein können und sich auch für ein und dasselbe Individuum im Zeitverlauf verändern können.

Deshalb ist das moralische Empfinden kein geeignetes Kriterium für die Bestimmung allgemeingültiger moralischer Normen. (Was nicht heißt, dass Gewissen und Rechtsempfinden deshalb wertlos sind. Ich halte die Verinnerlichung von Normen für außerordentlich wichtig. Soviel Polizei kann es gar nicht geben, wie eine Gesellschaft ohne verinnerlichte Moral benötigt – und wer überwacht die Polizisten!?)

Es grüßt Euch Eberhard.

- IV
- gershwin am 11. Dez. 2004, 02:32 Uhr

Hallo Eberhard

Zitat:

Insofern hältst Du die Anwendung des Wahrheitsbegriffs in seinem empfehlenden Aspekt (" Das ist wahr! Da kannst Du Dich drauf verlassen!" ) für wichtiger als den damit ausgedrückten Anspruch auf allgemeine Geltung und dessen Einlösung.



In diesem Thread ging es ja um die Frage "Was ist Wahrheit?", und mein Beitrag hierzu sollte die Behauptung sein, dass dieser empfehlende Aspekt, wie Du Dich ausdrücktest, der einzige ist, der ALLGEMEIN diskutiert werden kann. Alle anderen Aspekte sind auch sehr wichtig, können aber meiner Meinung nach sinnvollerweise nicht diskutiert werden, ohne den Kontext der in Frage stehenden Aussage zu berücksichtigen. (Gegen Vernunft habe ich nicht das Geringste, im Gegenteil! Ich weiß gar nicht, wie Du darauf kommst. Wenn ich in diesen Heidegger-Thread reingucke, schüttelts mich richtig [hairstand]) Allerdings kommt man bei der RIESENGROßEN Mehrheit der im menschlichen Zusammenleben (in und außerhalb der Laboratorien) getätigten Äußerungen mit Rationalität alleine bei der Wahrheitsfindung nicht aus. Wir können gerne alle Gegenbeispiele diskutieren, die Du postulierst.

Freundliche Grüße
Thomas

PS: Die Rhapsodie ist auch mein Lieblingsstück von Gershwin zusammen mit dem Klavierkonzert in F-Dur und Porgy and Bess.

- IV
- jacopo_belbo am 11. Dez. 2004, 19:05 Uhr

hallo alle zusammen,

ich bitte um entschuldigung, dass ich in den letzten tagen nicht dazu gekommen bin, weiter an der diskussion teilzunehmen. ich bin aus privaten gründen nicht dazu gekommen. - und ich weiß, es ist ein wenig unhöflich, jetzt einfach so "dazwischenzufunken". ich hatte bisher wenig zeit, mir die weiteren beiträge en detail durchzulesen.

wie es aussieht, haben wir einige neue diskussionsteilnehmer hinzugewonnen, was ich für sehr erfreulich halte. einzig, so scheint es mir, werden einige alte fragen erneut aufgeworfen, und die beantwortung artet in einer repetitionsstunde aus. das halte ich für weniger erfreulich.
deshalb meine frage an die diskussionsteilnehmer, ob interesse besteht, mit dem punkt, den eberhard für diesen thread vorgesehen hatte -die diskussion von aussagen über psychische tatsachen im zusammenhang mit der wahrheitsfrage- einfach fortzufahren?

- mfg thomas

p.s.: @ gershwin


Zitat:

dass dieser empfehlende Aspekt, wie Du Dich ausdrücktest, der einzige ist, der ALLGEMEIN diskutiert werden kann.


warum sollte es der einzige aspekt sein, der diskutiert werden kann. ich denke schon, dass es gewisse probleme bei der überprüfung von z. B. geschmacksurteilen gibt. diesen bereich haben wir als solches versucht abzugrenzen mit der begründung, es handele sich um keine aussage über die beschaffenheit der wirklichkeit (sondern z. B. um ein "geschmacksurteil" ). außer diesem gibt es aber noch andere bereiche in denen aussagen auf ihren wahrheitsgehalt überprüft werden können (e.g. "dort drüben steht ein tannenbaum und kein plastikbaum" ). es würde mich interessieren, wie du zu deiner ansicht gekommen bist.

Zitat:

Alle anderen Aspekte sind auch sehr wichtig, können aber meiner Meinung nach sinnvollerweise nicht diskutiert werden, ohne den Kontext der in Frage stehenden Aussage zu berücksichtigen.


ich verstehe nicht, inwieweit die kontextuellen aspekte "sinnvollerweise nicht diskutiert werden" können. umgekehrt stellt sich dann die frage, was eine kontextfreie erörterung sein sollte. auch hier wären einige erläuternde sätze durchaus hilfreich.

Zitat:

Wir können gerne alle Gegenbeispiele diskutieren, die Du postulierst.


wie wäre es mit "ich sehe unserem haus gegenüber ein nagelstudio". inwiefern ist dieser satz überprüfbar wahr; inwiefern ist er von kontextuellen elementen abhängig; bzw. von welcher interpretationsleistung ist es abhängig, ob dieser satz wahr oder falsch ist?

- IV
- Eberhard am 11. Dez. 2004, 22:55 Uhr

Hallo Thomas (G),

Du schreibst, dass die Begründungen für Wahrheitsansprüche kontextabhängige Einzelfälle sind, und in der Logik, der Naturwissenschaft oder der Religion jeweils andere Wahrheitskriterien gelten. Meiner Meinung nach ist jedoch für jede Art von Wahrheitsanspruch die intersubjektiv nachvollziehbare und akzeptable Begründung zentral. Wenn der Satz "Diese Aussage ist wahr" mehr bedeuten soll als der Satz: "Diese Aussage ist zu glauben!", dann muss ich diese Aussage selber einsehen können. Wenn "diese Aussage ist wahr" bedeutet "Diese Aussage gilt (allgemein, also auch für Dich)", dann fordere ich Gründe für diese Aussage, die ich teilen und akzeptieren kann. Wer nicht bereit ist, solche Gründe zu geben, der vermittelt keine Wahrheit, sondern der fordert Glauben und das ist für mich ein großer Unterschied, denn damit ist die Grundlage der Diskussion zerstört. Es kommt nicht mehr auf gute Argumente an.

Es grüßt Dich Eberhard.

- IV
- Eberhard am 12. Dez. 2004, 10:07 Uhr

Hallo Thomas (j),

Kommen wir zu den Aussagen über Eigenpsychisches wie zum Beispiel:
- ich habe mörderische Kopfschmerzen,
- ich habe ständig ein Pfeifen im Ohr,
- ich brauche dringend etwas Stoff,
- ich habe Hunger,
- ich fühle mich geborgen,
- immer, wenn ich Sirenen höre, bekomme ich Angst,
- ich bin todmüde,
- ich liebe dich,
- ich will Karriere machen,
- ich kann mich nicht entscheiden,
- ich erinnere mich an ihn,
- ich rieche Lavendel,
- ich überlege gerade,
- ich kenne ihn nicht,
- ich habe sie noch nie gesehen,
- vom Kettenkarussell wird mir immer ganz schwindelig,
- ich hab heute Nacht etwas Komisches geträumt,
- ich lüge nicht,
- ich weiß, warum die Sonne beim Untergang rot erscheint,
- Deine blauen Augen machen mich so sentimental,
- ich finde dich zum Kotzen,
- die Blumen gefallen mir,
- ich fahre lieber nach Paris als nach Rom,
- ich schäme mich,
- ich bin mir keiner Schuld bewusst,
- ich fühle etwas Kaltes, Hartes, Glattes,
- ich habe keine Angst vor der Prüfung.

Ich habe extra eine längere Liste zusammengestellt, um deutlich zu machen, welche große Bedeutung das Eigenpsychische hat: unsere Selbstwahrnehmung, unsere Selbsterkenntnis, unsere Selbsteinschätzung und unsere Selbstbewertung.

Dass Sinneseindrücke, Empfindungen, Gefühle, Stimmungen, Wünsche, Vorlieben, Absichten, Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen, Erwartungen etwas Wirkliches sind, ist wohl unstrittig. Sie können vom jeweiligen Individuum wahrgenommen und bewusst registriert werden. Man kann einen Menschen auffordern, alles zu sagen, was "in ihm vorgeht" und "was ihm durch den Kopf geht", "was er sieht, hört und riecht".

Allerdings spürt den Schmerz nur derjenige, auf dessen Zeh ich gerade getreten bin. Während man bei Aussagen über die "äußere" Welt wie "Vor dem Bahnhof in Hannover steht ein Reiterdenkmal" letztlich argumentieren kann: "Geh doch hin und sieh selber nach!", geht dies bei Aussagen über Eigenpsychisches nicht. Es gibt nicht die konsensstiftende intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmung.

Deshalb wollten manche behavioristischen Psychologen auf derartige "Introspektion" oder Innenschau ganz verzichten. Beobachtbar waren nur die äußeren Reize, die auf das Individuum einwirken, und seine Reaktionen auf diese Reize. Was zwischen "stimulus and response" lag, wurde als "black box" betrachtet, dessen Inhalt in der Weise durch hypothetische Faktoren und Wirkungszusammenhänge konstruiert werden musste, dass die jeweiligen Reaktionen durch die Reize möglichst vollständig erklärt wurden.

Heute ist man da etwas weniger streng und bezieht introspektive Aussagen über Eigenpsychisches mit ein, allerdings nicht als fertige Erkenntnisse sondern nur als Daten, die der Interpretation und Erklärung bedürfen, so wie auch die Daten über beobachtbare Reaktionen.

Aussagen über Fremdpsychisches lassen sich meiner Ansicht nach indirekt an der Erfahrung überprüfen. Es gibt z. B. Versuchsanordnungen, durch die man sogar nachweisen kann, welche Farben bestimmte Tierarten unterscheiden können und welche Tonfrequenzen bestimmte Tierarten wahrnehmen können.

Es grüßt Euch Eberhard.

p.s.: Wie ist das mit der Aussage: "Ich habe mich in der Hausnummer geirrt" ? Ist das ein Satz über die Wirklichkeit? Setzt er die Wahrheit einer Aussage voraus?

- IV
- jacopo_belbo am 12. Dez. 2004, 11:36 Uhr

hallo eberhard,

ich würde gern ein wenig resonanz der übrigen diskussionsteilnehmer abwarten, bevor ich das ein oder andere sagen werde.

deine liste ist in der tat sehr umfangreich, und spiegelt sehr gut die breite, welches dieses thema annehmen kann, wider. beim lesen ist mir ein bereich eingefallen, der so von deiner liste nicht erfaßt wird. erst im post scriptum findet er erwähnung
Zitat:

p.s.: Wie ist das mit der Aussage: "Ich habe mich in der Hausnummer geirrt" ? Ist das ein Satz über die Wirklichkeit? Setzt er die Wahrheit einer Aussage voraus?

.

zu diesem speziellen bereich zähle ich auch sätze wie »ich meinte eigentlich [...]« oder »ich wollte eigentlich [...]«. inwiefern sind stehen solche aussagen für psychische eigenzustände des sprechers.

ich weiß nicht, ob der folgende punkt die diskussion sprengt, ich möchte ihn zumindest anführen, und wir sehen im weiteren verlauf, ob wir darauf eingehen können.
es geht um den in der psychologie eingeführten begriff der intentionalität. dabei geht es mir nicht um die diskussion, ob unser bewußtsein stets intentional ist - ich denke, dass läßt sich verneinen; denken wir nur einmal an aussagen wie: »ich habe angst« oder »ich bin gut gelaunt« es würde meiner ansicht nach das konzept der intentionalität sprengen, wenn man solche zustände als intentional bezeichnet.worum es mir eigentlich geht, ist, aufzuzeigen, dass dieser begriff problematisch ist.
inwieweit ist diese frage für unsere diskussion relevant?
ich habe die diskussion um intentionalität an anderer stelle geführt; es ging um sätze wie »ich glaube, dass P«
zu dieser art von sätzen gab es zwei positionen:
(i) sätze dieser art sind beschreibungen eines "inneren zustands". dieser innere zustand ist intentional durch das "objekt" bestimmt. e.g. wenn wir sagen, »ich glaube peters auto ist rot« so beziehen wir uns (intentional) auf peters auto. dieser "innere zustand" ist unterschieden von zuständen, die z. B. durch sätze wie "ich weiß, peters auto ist rot".
(ii) die zweite position -die ich in diesem falle vertrete- ist die, dass sätze des glaubens, meinens etc. sich nicht auf innere zustände in dem oben angeführten sinne beziehen. sätze des glaubens und meinens sind prinzipiell aussagesätze wie andere aussagesätze auch. es gibt für mich keinen unterschied zwischen der aussage, peters auto sei rot oder jemand glaube, dass dem so sei. einzig, so meine behauptung, wird sprachlich zwischen diesen sätzen getrennt, nicht psychisch. ich denke, dass sich sätze, wie die angesprochenen alle in aussagesätze umformulieren lassen.
darüberhinaus sind solche sätze keine beschreibungen intentionaler zustände in dem obigen sinn.

- mfg thomas

- IV
- gershwin am 13. Dez. 2004, 06:24 Uhr

Hallo Thomas J

Zitat:

ich verstehe nicht, inwieweit die kontextuellen aspekte "sinnvollerweise nicht diskutiert werden" können. umgekehrt stellt sich dann die frage, was eine kontextfreie erörterung sein sollte.



Hier liegt evtl. ein missverständnis vor. Selbstverständlich können die kontextuellen Aspekte sinnvollerweise diskutiert werden. Meine Argumentation zielte JA GERADE auf diese Notwendkeit. EBEN WEGEN dieser Notwendigkeit erachte ich die Frage "Was ist Wahrheit" in dieser Allgemeinheit als ziemlich fruchtlos, eine philosophische Laufradrennerei. ALLGEMEIN ist der Begriff "wahr" eine Empfehlung, sich auf eine bestimmte Aussage und deren Folgerungen (die entsprechenden Operationen sind wiederum kontextabhängig, vielleicht komme ich weiter unten noch zu einem Beispiel) zu verlassen. (Bzw. der Begriff unwahr eine Art Warnschrei).

Ich möchte das an Deinem Beispiel verdeutlichen: "dort drüben steht ein tannenbaum und kein plastikbaum"

Was muss man tun, um dieser Aussage die Zuschreibung "wahr" zu attestieren? Angucken reicht offensichtlich nicht, es gibt sicher verblüffend gut gemachte Plastikbäume. Kunststoffe sind unendlich vielfältig, also kann man sicherlich auch Plastikbäume herstellen, die auch nach Betasten schwer zu erkennen sind. Wir müssen also zur Sicherheit noch daran riechen.
Zum Verständnis der Aussage ist überdies auch die Kenntnis gewisser Definitionen (z. B. Plastik) nötig. Folgern kann man dann daraus, dass man das Ding zu echten Holzscheiten für den Ofen zersägen kann. Tut man das und das Zeugs schmilzt statt dass es brennt, dann war die Zuschreibung wahr ein Irrtum oder Betrug.

Nehmen wir zum Vergleich Deine zweite Aussage: Angenommen, Du sagst zu mir: "ich sehe unserem haus gegenüber ein nagelstudio".

Ein erster kontextabhängier Unterschied wäre schon mal der, dass Dir (im Falle, das Studio ist Dir näher bekannt, weil es sich dort schon länger befindet) im Moment der Aussage ihr Wahrheitscharakter nahezu gewiss ist (aber vielleicht ist es gestern verkauft worden und jetzt kein Nagelstudio mehr, vielleicht hast du gerade wachgeträumt, vielleicht hat Dir jemand was in den Tee geschüttet usw. usw.). Wenn ich mich dessen vergewissern wollte, nützt mir u. U. hinauschauen, anfassen oder riechen nur wenig. Ich muss reingehen und mich zur Sicherheit vielleicht noch beim Gerwerbeamt erkundigen. Stimme ich zu: "wahr", dann kann ich daraus zwar folgern, dass ich das Ding wegen der vielen giftigen Lösungsmittel besser nicht in meinem Ofen verbrennen sollte, aber die wirklich relevanten Folgerungen für mein Leben sind doch andere.
Rationalität alleine reicht weder aus, das Verifikationsverfahren für eine Aussage zu wählen noch die relevanten Folgerungen von den irrelevanten zu unterscheiden. In der KI nennt man das das "frame problem", und viele KIler ziehen daraus den Schluss, dass das Gehirn unmöglich wie eine Turing-Maschine arbeiten kann. Und wie ich Wittgenstein verstanden habe, ist dies auch ein Hauptgrund, weshalb er vom Abbildkonzept (Struktur der Sprache bildet Struktur der Welt ab) abgerückt ist und die schöne Metapher von den Sprachspielen ausgearbeitet hat.

Laß mich noch mal von einer anderen Seite kommen: die Amygdala (Mandelkern) ist ja eine Hirnstruktur, die u.a. beim Erkennen von furchterregenden Umweltreizen und auch bei der Erzeugung des Gefühls der Angst eine Schlüsselrolle zu spielen scheint. Jetzt wurde neulich in der 3Sat-Sendung delta gesagt, dass Menschen, deren beide Mandelkerne (bei nur einem passiert erstaunlich wenig) zerstört sind, nicht mehr fähig sind, einem Menschen zu misstrauen. Sie glauben alles, ignorieren alle Warnhinweise, lernen auch nicht aus der Erfahrung mit einem Betrüger und sind wegen dieser krankhaften Vertrauensseligkeit extrem leicht ausnutzbar. Mir kam dabei sofort der Gedanke, dass Skepsis und Zweifel (" Wahr oder unwahr?" ) entwicklungsgeschichtlich eng verwandt mit der Angst sein könnten. Dann wäre meine Formulierung, die Zuschreibung unwahr wäre eine Art Warnschrei, besonders treffend.
Die Frage "Was ist Wahrheit" wäre dann analog zur Frage: "Was ist ein Warnschreiauslöser?" und daran sieht man noch mal sehr deutlich, dass eine kontextvernachlässigende Erörterung ZIEMLICH fruchtlos ist. Man muss beispielsweise wissen, dass da ein Bügeleisen ist, dass der Stecker drin ist, dass Strom aus der Steckdose kommt und die Kabel ok sind usw. usw. Gemeinsam haben Warnschreie nur, einen Artgenossen (oder die Hauskatze  :-)) vor Unheil zu bewahren, wobei auch ein Warnschrei irrtümlich oder in betrügerischer Absicht ausgestoßen werden kann.

Freundliche Grüße
Thomas

PS: Bezeichnend ist auch, dass ihr Geschmacksurteile abgrenzen müßt. Das wirkt doch ziemlich gekünstelt. "Dieser Pilz schmeckt bitter", oder "Diese Frau gefällt mir nicht", sind fundamentale Aussagen, aus denen man ziemlich wichtige Folgerungen ziehen kann. Es gibt übrigens Studien, die ergaben, dass weltweit deutlich über die Hälfte aller Gespräche unter die Rubrik Klatsch und Tratsch einzuordnen sind. Und zwar nicht nur in der Disco oder am Stammtisch, sondern, sehr erstaunlich, auch in Labors, Universitätsinstituten, in Ministerien usw. Im Zusammenhang mit Klatsch und Tratsch sieht man ebenfalls sehr schön die Problematik der Frage: "Was ist Wahrheit?" Eine an der ET angelehnte Betrachtungsweise macht dagegen wenig Probleme: Seit wir die Fähigkeit zum Lügen und Betrügen besitzen, ist es extrem wichtig, Informationen über unsere Mitmenschen zu sammeln, über ihre Zuverlässigkeit, über ihre Zugehörigkeit zu Bündnissen, wer liebt wen, wer bekriegt sich mit wem usw.
Es gibt ein Buch, das mir sehr gut gefallen hat: Der Autor heißt Devlin, Vorname und Titel des Buches sind mir leider entfallen. Darin wird die These ausgeführt, dass sich die Fähigkeit zur Mathematik direkt aus sprach-sozialen Fähigkeiten ableitet. Das ist, wenn man es näher bedenkt, nicht sonderlich erstaunlich, denn jene Gehirnstrukturen, die uns zur Mathematik befähigen, hatten ursprünglich sicherlich eine ganz andere Funktion.

- IV
- gershwin am 13. Dez. 2004, 06:26 Uhr

Hallo Eberhard
Deine Forderung nach Gründen für eine Aussage ist verständlich, wenn Du Grund zur Skepsis hast. Die allermeisten Aussagen glaubst Du allerdings völlig ohne Prüfung. Und das gilt nicht nur für die lange Zeit Deiner Kindheit, sondern noch heute.

Jeder Begriff ist mehr oder weniger unscharf, desgleichen die Kriterien für erlaubte Folgerungen (Angeber sind doof. Gershwin ist ein Angeber. Gershwin ist doof.). Ich möchte noch mal auf die beiden Computerbilder verweisen: eines eindeutig Tisch, eines eindeutig nicht Tisch. Die kontinuierliche Überführung ineinander ergibt Zwischenbilder, die bei Befragung nicht einhellig als Tisch oder nicht Tisch bezeichnet werden. Nehmen wir an, ich zeige auf so ein Bild und sage: Das ist ein Tisch. (Oder: Das ist das Bild eines Tisches.) Wahr oder unwahr? Argumente und Rationalität helfen hier nicht weiter.
Diese Unschärfe aller Begriffe bleibt gewöhnlich verborgen, da wir Menschen ja ein gemeinsames Interesse haben, uns in einer Welt zu verständigen, die uns nicht gerade freundlich gesinnt ist. Innerartliche Konfliktvermeidung ist ja ebenso vorteilhaft wie das innerartliche Durchsetzen eigener Interessen auf Kosten anderer.

Mittlerweile ist es allerdings in Orwellscher Manier gewissen Gruppen gelungen, Sprachspielregeln (per Suggestion, Macht, Rhethorik usw.) zu etablieren, die nur Partikularinteressen dienen und der Mehrheit eher schaden. Vertreter von Offenbarungsreligioinen sind da mein Standardbeispiel, aber im Bereich Medizin, Diätetik, Politik und vielleicht auch Ökonomie kann man das ebenso beobachten.

Ich möchte nochmal kurz zusammenfassen: Argumente gegen Deinen Wahrheitsbegriff (bzw. gegen die Sinnhaftigkeit einer so allgemeinen Frage wie: Was ist Wahrheit?) findet man u.a. vorgetragen von:
-      Popperianern
-      Pragmatikern
-      Konstruktivisten
-      Relativisten
-      mir  :-)

Schließlich hat sich unser Sprachorgan (d. h. die Sprachmotorik, und die dahinterstehende Nervenverschaltung) nicht entwickelt, um Wahrheit abzubilden, sondern um Wirkungen bei Artgenossen hervorzurufen.

Ganz allgemein scheint mir die Diskussion hier noch zu sehr einem Tractatus-Verständnis von Sprache anzuhängen. Es wird ein riesger Anteil aller möglichen Aussagen ausgeblendet und sich auf jene konzentriert, die auf den ersten Blick (was die erlaubten Operationen betrifft) mit rein formalen Systemen analogierbar sind. Die allermeisten Aussagen sind aber nicht von diesem Typ.

Freundliche Grüße
Thomas

- IV
- Hermeneuticus am 13. Dez. 2004, 07:59 Uhr

Hallo Eberhard!

Etwas verspätet möchte ich noch einmal auf die "Wirklichkeitsfrage" eingehen, die Du in Deiner Zwischenbilanz ansprichst. Mein Beitrag ist ziemlich umfangreich geworden, weil er sich über ein paar Tage hinweg, in denen ich nicht zuhause war, entwickelt hat.

Du schriebst:

Zitat:

Die Bestimmung dessen, was wirklich ist, ist zwischen uns weiterhin unklar, wie die Antworten auf meine Beispielsätze gezeigt haben. Für mich ist das wirklich, was existiert, was da ist. Nur das, was direkt von uns wahrgenommen werden kann oder zur logischen Ordnung unsere Wahrnehmungen erforderlich ist und somit indirekt wahrnehmbar ist, existiert wirklich. Aber hier sind für mich noch manche Fragen offen.


Deine Definition von "Wirklichkeit" mag einem Empiristen unmittelbar einleuchten. Aber für mich sind die Begriffe, die Du dabei verwendest, alles andere als klar. Was bedeutet "da sein" oder "existieren" ? Das bedarf schon der Erläuterung. Wenn Du im nächsten Satz das, was "wirklich existiert", von unserer "Wahrnehmung" abhängig machst, erklärst Du den Begriff der Existenz nicht, sondern gibst nur das Kriterium an, anhand dessen man Existierendes erkennen kann. Dabei handelt es sich um "unsere Wahrnehmungen" : Es existiert, was wir wahrnehmen können.

Abgesehen davon, dass der Begriff der Wahrnehmung alles andere als selbstverständlich ist, wäre hier auch danach zu fragen, wieso denn überhaupt (sinnliche) Wahrnehmbarkeit ein Kriterium für Existenz sein kann.

Ist Wahrnehmung nun etwas Aktives (also eine Handlung) oder etwas Passives (ein Widerfahrnis)? Sind Wahrnehmungen kausal bedingte Eindrücke, die gewissermaßen ihre unbezweifelbare "Wahrheit" von Natur aus haben, weil sie uns sozusagen von den "Dingen selbst" eingeprägt werden? Oder enthält das Wahrnehmen interpretative und damit irrtumsanfällige Momente?

Um die Undeutlichkeit des Begriffs "Wahrnehmung" zu zeigen, genügt es, noch einmal an unser Schach-Beispiel zu erinnern: Nehmen ein Schachspieler und jemand, der keine Ahnung vom Schachspiel hat, dasselbe wahr, wenn sie einer Schachpartie zusehen? Kann man Züge in einem Schachspiel wahrnehmen, d. h. existieren sie als solche? Oder existieren nur die bewegten Körper der Spieler, das Schachbrett und die Figuren, während "alles andere" bloß subjektive Konstruktion bzw. Interpretation von Existierendem wäre? (Wobei dann zu fragen wäre, ob das Interpretieren/Konstruieren als Handlung seinerseits nichts Wirkliches sei.)

Die Frage würde allgemein lauten: Lässt sich das Wahrgenommene als eine Art "neutraler Grundstoff" isolieren, der für jeden Wahrnehmenden derselbe ist und somit jeder möglichen Interpretation gegenüber invariant bleibt? Nur wenn das möglich wäre, könnte der Inhalt von Wahrnehmungen ein intersubjektiv verbindliches Indiz für die Existenz eines davon unabhängigen Wahrgenommenen sein. Aber wie könnte man herausfinden, ob es sich bei allen wahrnehmenden Individuen immer um denselben Wahrnehmungsinhalt handelte?


Wenn man "Wahrnehmung" zum Kriterium für Existenz erhebt, droht das Problem einer Aufspaltung unserer menschlichen Wirklichkeit in einen "wirklich existenten", physischen Bereich und einen "metaphysischen" Bereich aus bloß subjektiven Interpretationen und Wertungen. Wir hätten das Problem des Leib-Seele-Dualismus oder der "zwei Welten" (oder wie man diese theoretische Inkonsistenz sonst noch nennen mag). Wir hätten außerdem das Problem, nicht zeigen zu können, wieso es überhaupt intersubjektiv verbindliche Wertungen oder Normen geben kann, denn sie dürften ja nicht als (existierender) "Teil der gemeinsamen Wirklichkeit" gedacht werden.

Diesem Dilemma können wir nur entgehen, wenn wir als "grundlegende", primäre Wirklichkeit unser gemeinschaftliches menschliches Handeln ansetzen und die Aufspaltung in Sein und Sollen/Wahrgenommenes und Gedachtes/Wirklichkeit und Wissen/...  als sekundäres Produkt der Reflexion begreifen.
Der Unterschied z. B. zwischen "Sein" und "Sollen" ist nicht einfach als naturgegeben hinzunehmen, sondern es ist (rekonstruktiv) danach zu fragen, wie wir zu dieser Unterscheidung gekommen sind. Analoges gilt für den Zusammenhang von "Existenz" und "Wahrnehmung" (als deren Kriterium): Es ist zu fragen, wie es zu dieser Festlegung kam,  ob und wie sie begründet ist.


Wenn Du behaupten würdest, dass unser Wissen ausnahmslos auf Erfahrung beruhe, würde ich zustimmen. Allerdings wäre dann sofort zu fragen, was wir mit dem Begriff der Erfahrung meinen. Empiristen (wie Hobbes, Locke, Hume) reduzieren ihn letztlich auf ein passives "Abbilden" von "Gegebenem". Ich verstehe (in der konstitutionstheoretischen Tradition Kants) Erfahrung dagegen als Handeln, und zwar "Handeln" in dem präzisierten Sinne, der es von bloßem "Verhalten" unterscheidet. Erfahrung ist kein Naturgeschehen, sondern aktiver, zweckgebundener Wissenserwerb, der mit unserer Lebensbewältigung in konkreten Lagen unauflöslich verknüpft bleibt.
Die "Ursituation" einer erkenntnistheoretischen Rekonstruktion ist somit nicht eine Opposition von "existierenden Dingen" auf der einen und "wahrnehmenden Individuen" auf der anderen Seite. Es ist vielmehr unsere eigene (handelnde) Existenz und Lebensbewältigung, zu der auch der Wissenserwerb ursprünglich gehört.

- - - - - - - - - -

Hier nun einige Überlegungen zur Unterscheidung von "Wirklichkeit" und "Wissen", die zeigen sollen, dass unser Begriff der Wirklichkeit etwas komplizierter ist als die Definition "wirklich ist, was existiert" glauben macht. Ich gehe dabei vom Wissenserwerb als dynamischem Prozedere, als Lern- und Reflexionsprozess aus.
(Wem der Begriff des Wissens nicht geheuer ist, als zu voraussetzungsreich oder gar "mentalistisch" erscheint, darf sich damit beruhigen, dass ich hier vor allem verbalisiertes Wissen, also Behauptungen/Aussagen meine. Trotzdem ist es nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass das verbalisierte Wissen nicht deckungsgleich ist mit "Wissen überhaupt". Zur Lebensbewältigung – auch zum Betreiben von Wissenschaft - brauchen wir vielmehr eine unabsehbare Fülle von sprachfreien Handlungsschemata, die wir erlernen und üben müssen, die somit als eine Art von - tradierbarem und intersubjektiv geteiltem! - Wissen anzusehen sind. Außerdem hat dieses erlernte Handlungswissen (" know-how" ), das nicht mit naturbedingtem Verhalten – wie etwa der Verdauung – gleichgesetzt werden kann, insofern eine "rationale" Struktur, als es sich auf seine Zweckmäßigkeit hin beurteilen lässt. Man kann sich eine Tasse Kaffee "richtig" oder "falsch" eingießen, einen Nagel "richtig" oder "falsch" einschlagen - so wie man auch ein Experiment "richtig" oder "falsch" durchführen kann.)


Es ist durchaus sinnvoll, unser Wissen von der Wirklichkeit zu unterscheiden von der "Wirklichkeit selbst". Denn wir machen immer wieder Erfahrungen, die uns auf diesen Unterschied stoßen, indem sie uns zur Revision unseres Wissens veranlassen. Denken wir etwa an Dein Beispiel aus dem ersten Teil unserer langen Diskussion (Thread "Wahrheit): Wir sahen einen Gegenstand, den wir spontan als "Stuhl" identifizierten. Beim Versuch, sich auf diesen Stuhl zu setzen, fanden wir heraus: es ist gar kein wirklicher Stuhl, sondern nur eine Attrappe aus Styropor. Die Aussage "Dies ist ein Stuhl" war also falsch, wir müssen sie revidieren.

Was wir VOR einer solchen Revision für "Wirklichkeit" hielten, hat sich NACH der Revision als Schein herausgestellt. VOR der Revision waren wir nicht geneigt, klar zwischen Wissen und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wir haben einen Stuhl gesehen und das auch mit Bestimmtheit ausgesagt. NACH der Revision hat sich herausgestellt, dass es einen klaren Unterschied zwischen unserem Wissen und der Wirklichkeit gab, obwohl wir ihn nicht bemerkten.

Bei einer von der Erfahrung veranlassten Revision unseres Wissens "lernen" wir also. Aber dieses Lernen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Einerseits werden einzelne Aussagen als "falsch" erkannt und durch andere, "wahre" Aussagen ersetzt. Aber wenn wir solche Revisionen wiederholt vornehmen mussten, lernen wir dabei auch etwas Grundsätzliches über unser Wissen: Wir lernen, dass es immer wahr oder falsch sein kann. Eine solche Einsicht betrifft nicht mehr nur einzelne Behauptungen, sondern unsere Behauptungen insgesamt. Sie verdankt sich also einer – aus dem wiederholten Lernen hervorgehenden - Reflexion und Verallgemeinerung.

Erst mit der Einsicht in die grundsätzliche Irrtumsanfälligkeit unserer Aussagen kommt auch ein allgemeiner Begriff von "Wirklichkeit" zur Abhebung. Damit ist dann so etwas gemeint wie das Gesamt von Gegenständen oder Sachverhalten, auf die unsere Aussagen sich jeweils beziehen. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es sich ebenfalls um eine Verallgemeinerung handelt, die sich zugleich mit der Reflexion auf unser "Wissen überhaupt" ergibt.

Der so gewonnene Begriff der Wirklichkeit meint zwar so etwas wie das "tatsächlich Gegebene" oder "Vorgegebene". Und dieses sei unabhängig von unserem Wissen da, es bleibe gegenüber unserem (als irrtumsanfällig erwiesenen) Wissen beständig "es selbst". Das Wirkliche sei da, und wir behaupteten etwas darüber, wobei wir es mal träfen, mal verfehlten. - Aber diese Bedeutung kann der Begriff "Wirklichkeit" erst annehmen, nachdem wir die Irrtumsanfälligkeit unseres Wissens eingesehen haben. Erst in den Reflexionen, die sich an unsere (wiederholten) Irrtumserfahrungen anschließen, können wir überhaupt den Begriff von einer Wirklichkeit bilden, die unabhängig von unserem Wissen besteht, die also so etwas wie der "absolute" Widerhalt unseres "relativen" Wissens wäre.

Um das noch klarer zu machen, nehmen wir an, es sei nie erforderlich gewesen, einen bestimmten Wissensbestand zu revidieren. Hier können wir uns etwa eine Dschungelkultur denken, die seit Jahrzehntausenden auf nahezu dieselbe Weise überlebt hat und deren Wissen sich kaum weiterentwickeln musste. Evolutionsbiologisch müsste man diese Kultur als äußerst erfolgreich ansehen. Sie kann kaum wegen ihrer Dürftigkeit immerzu hart am Abgrund des Untergangs geschwebt haben, denn vernunftbegabte Wesen hätten aus so einer prekären Lage bald gelernt und praktische Konsequenzen gezogen, d. h. diese Kultur hätte sich entwickelt.
Wie auch immer: Für Mitglieder einer solchen erfolgreichen und beständigen Kultur wäre es unmöglich, ihre Weltsicht als eine bloße Weltsicht zu durchschauen und sie somit zu relativieren. Denn sie ist bewährt und dabei alternativlos. Diese Dschungelbewohner werden also das, was sie von der Welt wissen und was ihre Vorfahren durch Jahrtausende gewusst haben, für die "Wirklichkeit selbst" halten. Und zwar mit gutem Grund!
Europäische Besucher dagegen würden sofort die Grenzen dieser "Wirklichkeit" erkennen, denn sie kämen ja von jenseits dieser Grenzen zu den Dschungelbewohnern (und würden daher von diesen vielleicht "die weißen Götter" genannt werden...). Die Besucher dagegen könnten die eigene Weltsicht mit der Weltsicht des Dschungelvolks bequem vergleichen. Sie überblickten ja bei ihrem Besuch mindestens zwei alternative Weltbilder und könnten sie daher als bloße Weltbilder von einer - davon unabhängig bestehenden - Wirklichkeit abheben. Für sie gehört es eben längst zum bewährten Wissen über Wissen, dass es relativ und vorläufig ist, dass Welt und Weltsicht zweierlei sind.  

Es setzt also ein Wissen von der Möglichkeit verschiedener Wissensbestände (Plural!) - voraus, um zu einem Begriff von "Wirklichkeit" zu gelangen. Das "Wirkliche" wird dann konzipiert als die Instanz, anhand derer unter den verschiedenen möglichen Ansichten eine faktisch zutreffende  ausgewählt werden kann. "Wirklichkeit" kommt so zur Abhebung als etwas "Beständiges" oder "Substantielles", das von der Kontingenz unseres Wissens unberührt bleibt.

Aber ist diese Beständigkeit eine "faktische Eigenschaft", die wir ihr auf die gleiche Weise zuschreiben können, wie wir einer Rose die Röte zuschreiben? Offenbar nicht. Der Begriff der "Wirklichkeit selbst" ist ein Reflexionsbegriff, der nichts Gegenständliches bezeichnet. Denn was immer wir an Wirklichem konkret bestimmen, repräsentiert jeweils unserer faktisches Wissen, und von dem wissen wir ja aus Erfahrung, dass es nicht mit der "Wirklichkeit selbst" übereinstimmen muss. Der Begriff der "Wirklichkeit" ist demnach, wenn er etwas bezeichnen soll, das jenseits unseres jeweiligen Wissens "existiert", kein empirischer Begriff und sollte auch nicht so verwendet werden!
(Eine falsche Verwendung des Begriffs, die seine Herkunft aus menschlichen Lernprozessen überspringt, würde zu seiner "Naturalisierung" führen. Einer naturalisierten "Wirklichkeit" gegenüber wird es jedoch unvermeidlich, das menschliche Erkennen in irgendeiner Weise als "Abbildung" dieses Gesamts aus vorgegebenen, an-sich-seienden und kompletten "Entitäten" zu fassen.)



Ich denke, diese Einsicht ergibt sich zwingend aus der Analyse des Wahrheitsbegriffs. - Dass wir überhaupt einen Begriff der Wahrheit brauchen, dass dieser also einen Sinn hat, setzt die Erfahrung voraus, dass unser Wissen falsch und revisionsbedürftig sein kann. Und nur relativ zur Einsicht in die grundsätzliche Revisionsbedürftigkeit unseres Wissens wird es überhaupt sinnvoll, einen Begriff zu bilden für dasjenige, was von allen notwendig werdenden Wissensrevisionen unberührt bleibt – die "Wirklichkeit". Aber dieser Begriff bezeichnet eben nichts Gegenständliches, sondern gehört in den Zusammenhang einer metasprachlichen Rede von unserem Wissen und fortschreitenden Wissenserwerb. Sobald wir uns mit gegenständlichen Behauptungen auf diese "Wirklichkeit" beziehen wollen, sprechen wir jeweils immer nur aus, was wir aktuell, also faktisch von ihr wissen.


Damit ist zugleich klar, dass Behauptungen generell nicht dann "wahr" genannt werden können, wenn sie "mit der Wirklichkeit übereinstimmen". Denn wir können unseren faktischen Wissensbestand nur in der Reflexion einklammern. Aber eine solche Reflexion erlaubt uns keinen faktisch vergleichenden Blick auf die "Wirklichkeit selbst", durch den sich faktisches Wissen überprüfen ließe." Wahr" können Behauptungen darum immer nur relativ zu den Prüfungs- und Begründungsverfahren sein, die uns jeweils zur Verfügung stehen.

Dass übrigens in solchen Verfahren auch Wahrnehmung oder Beobachtung eine wichtige Rolle spielt, will ich nicht bestreiten. Aber es wäre abwegig zu glauben, dass Wahrnehmung genau jenen "unverstellten", theorie- und interpretationsfreien Blick auf die "Wirklichkeit selbst" gewähren würde, den die sog. Abbildtheorie der Wahrheit postuliert.


Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 13. Dez. 2004, 11:20 Uhr

Hallo allerseits,

ich will noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob es sinnvoll ist zu sagen: "Was heute noch wahr ist, kann morgen schon falsch sein." Meine Position dazu ist, dass es nicht sinnvoll ist, das Wort "wahr" relativ zu bestimmten Zeitpunkten zu gebrauchen. Das bedeutet: "Wenn die Aussage p heute falsch ist, dann war p auch schon gestern falsch."

Der Einwand gegen eine zeitrelative Verwendung des Wortes "wahr" ist der, dass man dann entweder logische Widersprüche zulassen müsste (" p und non-p" ), was das Ende der Logik bedeuten würde, oder dass man eine zeitrelative Logik erfinden müsste, was jedoch auch wenig sinnvoll erscheint. Die Prämissen einer logischen Schlussfolgerung werden als geltend vorausgesetzt - ohne Beschränkung auf bestimmte Personengruppen oder Zeiträume.

Aus einer solchen Position (" Wenn eine Aussage p wahr ist, dann ist p zeitlich unbeschränkt wahr" ), scheint zu folgen, dass man deshalb an "ewige Wahrheiten" glauben und ihnen nachjagen müsste.

Hermeneuticus hat meine Position in diesem Sinne kritisiert. Er schrieb: "Auf der einen Seite bestreitest Du, dass Aussagen nur temporär "wahr" sein könnten. Auf der anderen Seite räumst Du ein, dass eine Behauptung, die heute als unbeschränkt wahr gilt, morgen revidiert werden müsste, wenn neue Wahrnehmungsbefunde dieser Behauptung den Boden (die Berechtigung) entzögen.
Ich frage mich, wozu hier die Einführung der "Geltung" gut sein soll, was man sich, salopp gesagt, für eine solche "unbeschränkte Geltung" kaufen kann, wenn man doch weiß, dass veränderte Umstände diese Geltung jederzeit beenden können.  
Im Grunde motivierst Du die Intertemporalität der "Geltung" aus praktischen Bedürfnissen. Wenn ich handle, möchte ich nicht enttäuscht werden. Ich kann darum Aussagen über die Wirklichkeit, die nicht nur jetzt, sondern auch morgen und übermorgen... ad infinitum gelten, gut gebrauchen. Aber so motiviert, ist die Unbeschränktheit der Geltung nicht mehr als der Ausdruck eines Wunsches … . Insbesondere dann, wenn ich doch – ebenfalls mit Gewissheit - weiß, dass Enttäuschungen niemals auszuschließen sind."

Diese Kritik geht jedoch daneben. Wenn man sagt: "Die Aussage p ist wahr", dann drückt man damit aus, dass p gilt und zwar zeitlich unbefristet. "Unbefristet" ist jedoch nicht dasselbe wie "ad infinitum" oder "ewig". Ich will das an einem Vergleich deutlich machen.

Wenn ich einen zeitlich unbefristeten Mietvertrag abschließe, dann beinhaltet das nicht, dass der Mietvertrag für immer gilt. Ein zeitlich unbefristeter Mietvertrag könnte eines Tages beendet werden kann, z. B. wenn für eine der Parteien ein Kündigungsgrund eingetreten ist. Ansonsten kann der Mietvertrag unbegrenzt weiter gelten.

Wenn ich jedoch einen Mietvertrag "für immer und ewig" abschließe, dann schließe ich schon heute aus, dass der Mietvertrag beendet wird. Es gibt dann im Vertrag keine Kündigungsmöglichkeit.

Entsprechend bedeutet die Verwendung des Wortes "wahr" in Bezug auf Aussagen soviel wie "unbefristet geltend".

Der Satz "Die Aussage p ist wahr", bedeutet also:

zum einen, dass die Aussage p zum gegenwärtigen Zeitpunkt berechtigterweise gilt (dass ich sie also einem Denken und Handeln zugrunde legen und in mein Weltbild aufnehmen soll), und

zum andern, dass die Aussage p solange weiter gilt, bis in dem ständigen Strom neuer Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen solche Wahrnehmungen enthalten sind, die in Widerspruch zu p stehen und die eine Korrektur und Umgestaltung  meines Weltbildes sinnvoll erscheinen lassen, indem p durch die besser mit den Wahrnehmungen übereinstimmende Aussage p2 ersetzt wird.

So wie ein unbefristeter Mietvertrag von großem Nutzen sein kann, so ist auch die unbefristete Geltung einer Aussage für mich von Nutzen.

Dass Irren menschlich ist, dass ich mein Weltbild verbessern muss, ist keine Katastrophe. Die Aussage p, die nun als falsch verworfen wird, hat mir in der Vergangenheit gute Dienste geleistet. Aber nun benötige ich eine andere Aussage, die mit den neuen Erfahrungen im Einklang steht.

Gefährlich sind eher umgekehrt die "ewigen Wahrheiten", die jede Falsifikationsmöglichkeit ausgeschlossen haben und die den Menschen unfähig machen, aus der Erfahrung zu lernen und sich veränderten Verhältnissen anzupassen.

Es grüßt Euch Eberhard.

- IV
- RatgeberinderNot am 13. Dez. 2004, 13:09 Uhr

Hallo,
@eberhard
ich will mich nur kurz einmischen. "Der Einwand gegen eine zeitrelative Verwendung des Wortes "wahr" ist der, dass man dann entweder logische Widersprüche zulassen müsste (" p und non-p" ), was das Ende der Logik bedeuten würde, oder dass man eine zeitrelative Logik erfinden müsste, was jedoch auch wenig sinnvoll erscheint."

Lebt Schrödingers Katze?

Ist das nicht das Ende der Logik?

Gruß

- IV
- jacopo_belbo am 13. Dez. 2004, 13:25 Uhr

hallo ratgeber,

ich fahre relativ häufig mit dem bus oder zug, und ich denke, dir wird das phänomen daher relativ geläufig sein:
du rennst um 6:58 zum gleis 2. der zug hat um 7:00 abfahrt. du benötigst genau 2 minuten zum gleis.
frage: ist der zug weg, oder ist er noch da?
und warum ist das bahnsystem noch nicht zusammengebrochen?

- mfg thomas

- IV
- RatgeberinderNot am 13. Dez. 2004, 14:21 Uhr

Hallo jacopo,

ist das eine ernstgemeinte Antwort?
Oder handelt es sich um Ironie?

Gruß

- IV
- Eberhard am 13. Dez. 2004, 16:57 Uhr

Hallo Thomas(G),

das Problem der Unschärfe von Begriffen tangiert nicht speziell das Wahrheitsproblem, sondern beeinträchtigt überhaupt das gegenseitige Verstehen. Aber wenn die "Grauzone" zwischen "ist ein Tisch" und "ist kein Tisch" zu einem Problem wird, kann man durch eine ausführlichere Definition des Wortes "Tisch" die Grauzone verkleinern.

Übrigens lautet unsere Frage nicht: "Was ist Wahrheit?" Solche 'Was ist x?" - Fragen sind zwar im philtalk sehr beliebt, aber kranken von Anfang an daran, dass unklar ist, ob nach dem Wortgebrauch (nach "x" ) oder nach der Sache (x) gefragt wird. Unsere Frage lautet: "Was meint man, wenn man eine Aussge (über die Wirklichkeit) als 'wahr' bezeichnet?" Diese Fragestellung ist nicht zu allgemein, um eine sinnvolle Antwort zu bekommen.

Zur Kritik an unseren Beispielen von Aussagen: welche Art von Aussagen sollten wir noch berücksichtigen? Bisher haben wir die Abgrenzung zu Definitionen (" Schimmel sind weiße Pferde" ) und zu Werturteilen (" Sein Haltung war vorbildlich" ) diskutiert. Außerdem gibt es noch Dissens und Unklarheiten bei Aussagen über "institutionelle Fakten" (" Er hat versprochen, x zu tun" ) Gegenwärtig stehen Aussagen über Psychisches und deren Besonderheiten zur Diskussion.

Du schreibst, dass nicht nur Du, sondern auch die Popperianer, die Pragmatiker, die Konstruktivisten und die Relativisten etwas gegen einen Begriff von "wahr" einzuwenden hätten, wie ich ihn vertrete. Aber vielleicht müssen sie nur genauer hinsehen: Den Popperianern müsste es zusagen, dass alle Aussagen prinzipiell fallibel bleiben, den Pragmatikern müsste gefallen, dass es bei der Wahrheitsfrage um die Vermeidung von entäuschten Erwartungen geht, den Konstruktivisten müsste es gefallen, dass jenseits der Ebene der elementaren Sinnesdaten die Welt aus hypothetischen Konstrukten besteht. Den Relativisten sollte es zusagen, dass das Gerede von "absoluter" Wahrheit ad acta gelegt wurde.

Es grüßt Dich Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am 13. Dez. 2004, 21:50 Uhr

kleiner nachtrag @gershwin:


Zitat:

Bezeichnend ist auch, dass ihr Geschmacksurteile abgrenzen müßt.


von müssen kann nicht die rede sein. nur denke ich, ist es a) sinnvoller sie bei dieser betrachtung außen vor zu lassen, weil b) es keine aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit sind, sondern bewertung von wirklichkeit. um diese beiden aussagearten einmal gegenüberzustellen: »diese kirsche ist süß« und »der fruchtzuckergehalt beträgt bei dieser sorte kirschen im schnitt x mg/kg kirschen«


Zitat:

ALLGEMEIN ist der Begriff "wahr" eine Empfehlung, sich auf eine bestimmte Aussage und deren Folgerungen (die entsprechenden Operationen sind wiederum kontextabhängig, vielleicht komme ich weiter unten noch zu einem Beispiel) zu verlassen.



Zitat:

Wir müssen also zur Sicherheit noch daran riechen.  
Zum Verständnis der Aussage ist überdies auch die Kenntnis gewisser Definitionen (z. B. Plastik) nötig. Folgern kann man dann daraus, dass man das Ding zu echten Holzscheiten für den Ofen zersägen kann. Tut man das und das Zeugs schmilzt statt dass es brennt, dann war die Zuschreibung wahr ein Irrtum oder Betrug.


demnach ist der charakter der aufforderung oder empfehlung nur ein aspekt von wahren aussagen. darüberhinaus ist, wie du selbst anführst, noch ein "bestehenselement" notwendig; das bestehenselement ist grundlage der überprüfung, ob die aussage wahr ist, oder nicht. zum spiel "entfernung angeben" gehört eben das element "nachmessen". und, um erfolgreich das spiel "nachmessen" betreiben zu können bedarf es gegenstände mit denen das spiel gespielt wird; die einen "abstand" konstituieren.


Zitat:

Und wie ich Wittgenstein verstanden habe, ist dies auch ein Hauptgrund, weshalb er vom Abbildkonzept (Struktur der Sprache bildet Struktur der Welt ab) abgerückt ist und die schöne Metapher von den Sprachspielen ausgearbeitet hat.


die antwort auf die frage, ob wittgenstein vom abbildkonzept "abgerückt" ist, oder nicht, überlasse ich den fachleuten. zumindest läßt sich sagen, dass wittgenstein seine ansichten über "sätze", die er im tractatus hatte, modifiziert hat.
wie dem auch immer sei, halte ich es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass das "sprachspiel" per se bedeutungslos ist, wenn nicht in irgendeiner art und weise auf eine ihm (dem spiel) korresponierende welt bezug genommen wird. es ist natürlich eine frage, wie weit man den begriff "abbild" strapazieren möchte.
ich habe schon sehr früh in unserer diskussion eine "text" -analogie eingeführt. es gibt einen sozusagen literalen oder im bezug auf die wirklichkeit materialen grund unserer welt auf dem alle interpretationen letztlich ruhen. wir können uns über die funktionale interpretation eines gegenstandes streiten, e.g. ob ein gegebener gegenstand nun ein "stuhl" oder schon ein "sessel" ist, aber wir können uns nicht darüber streiten, ob da etwas ist, das wir so und so interpretieren.

- mfg thomas

- IV
- Eberhard am 14. Dez. 2004, 06:31 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Auf die Frage: "Was ist wirklich?" hatte ich geantwortet: "Das, was da ist, das, was existiert." Du fragst: "Was bedeutet das?" Ich weiß nicht recht, ob man so elementarer Begriffe wie: "da sein " noch weiter mit anderen weniger elementaren Begriffen erläutern kann.

Praktisch bedeutet die Unterscheidung zwischen etwas "da seiendem" und etwas "nicht da seiendem", dass man das "nicht da seiende" ohne Folgen aus seinem Weltbild streichen kann. Es ist wirkungslos.

Vielleicht sollten wir die Frage nach dem, was Wirkliches von Unwirklichem, nur Fiktivem, nur Vorgestelltem unterscheidet, an Beispielen diskutieren, wie den Aussagen: "Es gibt ein Leben nach dem Tod" oder "Es gibt ein Leben vor der Geburt".

Diskussionswürdig erscheint mir auch die besondere Wirklichkeit "institutioneller Fakten". Nehmen wir das Beispiel von Thomas (J): "Ich habe mir gestern Schuhe gekauft".

Kann man einen Kauf sehen? In einer physikalischen Sprache, die keine Bedeutung und keinen Willen kennt, lässt sich das, was einen Kauf ausmacht, nicht  oder nur sehr kompliziert beschreiben. Was bedeutet "Kauf" ? Ein Tausch von Waren gegen Geld. Was bedeutet "Tausch" ? A und B tauschen eine Jacke gegen eine Mütze, wenn A dem B eine Mütze gibt und B dem A eine Jacke? Aber vielleicht geben beide nur geliehene Gegenstände zurück? Offenbar ist ein Tausch die wechselseitige Übertragung von Eigentumsrechten? Was bedeutet "Eigentumsrecht" ? Kann man das wahrnehmen? Wie kann man das feststellen?

Ich denke wie Du, dass der Begriff der "Handlung" in einem sozialen Gefüge von Institutionen weiter geklärt werden muss. Dies ist eine spezielle, nur in Begriffen des Wollens und Sollens beschreibbare Wirklichkeit, die von einer rein "behavioristischen" Begrifflichkeit nicht erfasst werden.

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.

- IV
- Hermeneuticus am 14. Dez. 2004, 08:23 Uhr

Hallo Eberhard!


Zitat:

Institutionelle "Tatsachen" wie das Abgeben von Versprechen und die damit verbundenen normativen Konsequenzen sind an die Auslegung von Normen gebunden. Insofern sind Aussagen über sie von anderer Art als Aussagen über die wahrnehmbare Wirklichkeit.


Ich gebe Dir zu, dass normative Aussagen von anderer Art sind als empirische Aussagen. Aber ich sehe diese beiden Arten von Aussagen nicht als zwei unabhängig nebeneinander bestehende Klassen, zwischen denen man – je nach Bedarf – zu wählen hat. Sondern ich sehe ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen derart, dass es von intersubjektiv geltenden Normierungen abhängt, wann eine Aussage überhaupt als eine empirische gelten kann.


Beispiele:

- Dein Hinweis auf die Witwenverbrennung bringt mich auf die Verwirrung, die bei der "empirischen" Feststellung des Todes herrscht. Es gibt offenbar verschiedene und kontroverse Kriterien dafür, wann ein Mensch als "faktisch tot" bezeichnet werden darf. (Ist ein Hirntoter "wirklich tot" ?) Und ebenso offenbar ist es, dass diese Kriterien normativer Art sind.
Am anderen Ende des Menschlebens gibt es eine entsprechende Verwirrung darüber, ab wann ein Fötus "faktisch" ein Mensch "ist".

- Uneinigkeit herrscht in den Biowissenschaften über die Definition der Arten, und es lässt sich zeigen, dass verschiedene wissenschaftliche Zwecksetzungen zu unterschiedlichen Definitionen von "Art" führen. Die Folge davon ist, dass es in der einen Disziplin empirische Aussagen über Arten gibt, die in einer anderen Disziplin als gegenstandslos betrachtet würden. (Ein Genetiker hat ein ganz anderes - nämlich statistisches - Verständnis davon, was eine Art "in Wirklichkeit" ist als z. B. ein vergleichender Morphologe.)

- Ähnlich kontrovers ist die "Wirklichkeit" von lebenden Organismen zwischen reduktionistischen und systemtheoretischen Biowissenschaftlern. Die Reduktionisten verfolgen das Ziel, organische Prozesse vollständig als physiko-chemische Prozesse zu beschreiben, während die Systemtheoretiker organische Funktionseinheiten für irreduzibel halten. Funktionale Ganzheiten sind aber kein Teil der physikalischen oder chemischen "Wirklichkeit" ; ein Reduktionist wird also auch keine empirischen Aussagen darüber machen können.  

Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
Worauf es mir ankommt: Eine Aussage kann erst dann als Aussage "über die Wirklichkeit" identifiziert werden, wenn klar ist, was jeweils als Wirklichkeit DEFINIERT ist, d. h. was ALS Wirklichkeit GILT. Definitionen aber sind Verwendungsregeln für Begriffe (= Normen).


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Du selbst sprichst von Deiner Unentschiedenheit hinsichtlich der "Empirizität" von Aussagen. Ich denke, sie ist darauf zurückzuführen, dass Du Deinen im Grunde pragmatischen Ansatz nicht konsequent durchhältst.

Wo es um das Behaupten, Begründen, intersubjektive Nachvollziehen usw. geht, argumentierst Du pragmatisch und erläuterst den Sinn des Wahrheitsbegriffs aus den Zwecksetzungen der Subjekte, die eine gemeinsame Wirklichkeit teilen.
Wenn es dagegen um die Prüfungskriterien für die Wahrheit von Aussagen geht, wird Dein Konzept empiristisch/naturalistisch. Hier bist Du geneigt, Aussagesätze nach der Art der extensionalen Logik als fertig gegeben hinzunehmen und als "wirklich" anzusehen, worauf sich diese Sprachform anwenden lässt. Die Wirklichkeit ist dann plötzlich "alles, was der Fall ist". Aber dies ist ein anderer Begriff von Wirklichkeit als der, den Du am pragmatischen Ausgangspunkt Deiner Wahrheitstheorie zugrundelegst. Und Du kannst nicht darlegen, wie sich Behauptungen und auffordernde Rede zueinander verhalten. So wie es Behauptungen und Sollsätze als zwei irgendwie vorhandene Klassen von Sätzen gibt, so sind ihnen "Sein" und "Sollen" als gesonderte Regionen zugeordnet.

Der pragmatische Ansatz zur Wahrheitstheorie geht aus von der TEILNEHMERPERSPEKTIVE derjenigen, die eine gemeinsame Wirklichkeit haben. Das "Haben" dieser gemeinsamen Wirklichkeit bedeutet allerdings, dass sie diese dauernd durch ihr zweckgerichtetes Handeln gestalten bzw. überhaupt erst HERVORBRINGEN.
Die Aussagenlogik dagegen ist eine formale Analyse von beschreibenden Sätze aus einer BEOBACHTERPERSPEKTIVE. Was immer Gegenstand einer (mit dem Zusatz "es gibt  mindestens ein" versehenen) Proposition sein kann, ist bereits ein so und so definierter – und vor allem: FERTIG GEGEBENER Sachverhalt. Hinter diese "Gegebenheit" kann von hier aus nicht zurückgefragt werden.
Entscheidet man sich nun von vornherein für die Beobachterperspektive, aus der "gegebene Sachverhalte" beschrieben werden, wird man keine Chance mehr haben, die Teilnehmerperspektive zu integrieren.

Aufgabe einer konsistenten Wahrheitstheorie ist es, diese beiden Perspektiven nicht unverbunden nebeneinander stehen zu lassen, sondern zu zeigen, wie die eine aus der anderen hervorgeht. Hier müsstest Du Dich freilich dazu durchringen, Deinen Begriff der Wirklichkeit konsequent pragmatisch durchzuführen. Stattdessen lässt Du Dir diesen Begriff teilweise von den Naturwissenschaften vorgeben (und dies ist ein naturalistisch/empiristischer Wirklichkeitsbegriff nach der Devise "Hume plus Logik" ).


(Als Beispiel für die Inkonsistenzen, die das naturalistische "Vergessen" der Teilnehmerperspektive zur Folge hat, weise ich nochmals auf gewisse Hirnforscher und ihre Popularisierer hin, die Handlungen als determinierte Folgen von neuronalen Prozessen betrachten. Sie untersuchen "neuronale Verschaltungen", also Sachverhalte, die definiert sind nach dem Modell von elektronischen Aggregaten. Wer sich auf die Suche nach solcherart modellierten Sachverhalten begibt, wird – schlicht aufgrund der selbst gewählten Konstitution seines Gegenstandes – dabei niemals auf etwas stoßen können, das einer zweckgerichteten Handlung oder einer Sinnstruktur ähnelt. Paradox genug, weil doch technische Geräte immer bestimmten Zwecken dienen. Natürliche Prozesse dagegen, die nach dem Modell menschlicher Technik konstituiert werden, hat man sich als "zweckfreie Maschinen"  vorzustellen.
Trotzdem glauben viele naturalistischen Hirnforscher und ihre Anhänger (siehe unseren Gershwin :-) ),  jene "Verschaltungen" seien irgendwie "dasselbe" wie die "volitiven Akte", die wir aus der Teilnehmerperspektive jederzeit vollziehen, auf die wir zu unserer Lebensbewältigung auch nicht verzichten können und ohne die wir selbstverständlich niemals einen Begriff von einem zweckmäßigen Werkzeug oder einer Maschine hätten...  
Die Hirnforscher geben für die Unverzichtbarkeit von zweckgerichtetem Handeln selbst ein Beispiel, und zwar mit dem Treiben von Wissenschaft, z. B. mit der Definition ihres Gegenstands nach dem Vorbild von Maschinen. Sie werden ja wohl nicht behaupten, dass sie sich ihren Gegenstand von den "Verschaltungen" ihrer Hirne haben diktieren lassen, dass sie als Wissenschaftler ferngesteuert arbeiten wie Roboter. Es erforschen da nicht Hirne Hirne oder Maschinen Maschinen. Die Forscher werden vielmehr in der Lage sein, ihre Definitionen und Verfahren mit nachvollziehbaren Gründen auszuweisen – nämlich aus der Perspektive von Teilnehmern an wissenschaftsüblichen Begründungsdiskursen.
Beim popularisierenden Kurzschluss von naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen mit der Teilnehmerperspektive handelnder Subjekte wird salopp darüber hinweggesehen, dass man es mit verschiedenen, ja miteinander unverträglichen Bedeutungen von Wörtern zu tun hat, die nur scheinbar dasselbe bezeichnen.
Außerdem wird salopp darüber hinweggesehen, dass beschreibende Aussagen über so und so definierte Sachverhalte zunächst die Teilnahme an der normierten Praxis namens "Hirnforschung" (zeitlich und logisch) VORAUSSETZT. d. h. um überhaupt zu irgendwelchen empirischen Aussagen über die Wirklichkeit von "Verschaltungen" in Gehirnen zu kommen, muss man sich zuerst auf die unter Wissenschaftlern geltenden Normen eingelassen haben.)


Gruß
H.

- IV
- Eberhard am 15. Dez. 2004, 11:02 Uhr

Hallo Thomas G,

Du hast geschrieben: "ALLGEMEIN ist der Begriff 'wahr' eine Empfehlung, sich auf eine bestimmte Aussage und deren Folgerungen zu verlassen bzw. der Begriff 'unwahr' eine Art Warnschrei. …
Die Frage 'Was ist Wahrheit?' wäre dann analog zur Frage: 'Was ist ein Warnschreiauslöser?'"

Weitere allgemeine Aussagen über die Verwendungsregeln für die Wörter "wahr" und "unwahr" z. B. in Bezug auf die Rechtfertigung ihrer Anwendung erscheinen Dir nicht möglich.

Deine Position erinnert mich an die Position der 'Emotivisten' im Streit um die Bedeutung ethischer Sätze in den 30er Jahren. Da die Positivisten des Wiener Kreises zu dem Schluss gekommen waren, dass ethische Normen keine Information über die Beschaffenheit der Welt enthalten, stellte sich für sie die Frage nach der Bedeutung moralischer Urteile. Die Emotivisten vertraten dabei - grob gesprochen - die Meinung, dass Werturteile eine positive oder negative Einstellung zu dem bewerteten Objekt ausdrücken, dass ihre Bedeutung also dieselbe sei, als wenn man "bravo!" oder "pfui!" zu etwas sagt. Danach haben Werturteile die soziale Funktion, die Einstellungen der jeweils Angesprochenen zu beeinflussen.

Dies ist zwar nicht falsch, doch geht die Bedeutung wertender und vorschreibender Sätze nicht in dieser Funktion auf. Entsprechendes gilt für Deine Deutung des Wortes 'unwahr' als eine Art Warnschrei unter Artgenossen, der die gleiche Bedeutung hat wie das aufgeregte 'Gock! Gock!' unter Hühnern.

Damit wird nur ein Aspekt der Sache erfasst. Denn die Wörter 'wahr' und 'falsch' werden nicht nur aktuell in verschiedenen, von einander isolierten Situationen benutzt, sondern sie sind auch unverzichtbar bei der Gestaltung des 'Weltbildes', das jeder denkende Mensch ausbildet und aufgrund neuer Informationen fortbildet. Dies Weltbild umfasst alle vom Individuum für wahr gehaltenen Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit. Der Nutzen dieses Weltbildes für das jeweilige Individuum bemisst sich daran, in wie weit es auf die dem Individuum wichtigen Fragen eindeutige und enttäuschungsfreie Antworten geben kann.

Die Inhalte dieses relativ stabilen Weltbildes können vom Individuum nun unabhängig von konkretem Handlungsdruck denkend bearbeitet werden:

- einzelne Inhalte können bezweifelt werden,

- der Grad ihrer Gewissheit kann verändert werden,

- verschiedene Inhalte können auf ihre logische Vereinbarkeit hin überprüft werden,

- die Begründungen bestimmter Inhalte können in ihrem Aufbau überprüft werden,
- die Anwendbarkeit und Leistungsfähigkeit des jeweiligen Weltbildes kann in "Gedankenexperimenten" probeweise getestet werden usw.

Dies kann auch durch Konfrontation mit den Weltbildern anderer geschehen (Erfahrungsaustausch, Meinungsaustausch).

Was wir in dieser Diskussionsrunde machen, ist z. B. eine derartige Überprüfung verschwommener Bereiche unseres Weltbildes und der Versuch, durch Klärung von benutzten Begriffen zu besseren Antworten auf unsere Fragen zu kommen.

All dies zeigt, dass die "Warnschrei-Theorie" nur einen Aspekt von "wahr" erfasst.

Zum Abschluss noch eine Anmerkung zur "Kontextabhängigkeit" von Begründungen und Überprüfungskriterien.

Unbestritten ist, dass keine Situation der andern völlig gleicht, dass es unendlich viele verschiedene Fragen und Antworten gibt. Wenn man jedoch sich fragt, wie diese Fragen richtig beantwortet werden können, dann braucht man nicht jedes Mal beim Punkt 'null' anzufangen, sondern man kann bestimmte Arten von Fragen bzw. die dazu gehörigen Antworten zusammenfassen, die sich in der anzuwendenden Begründung und Überprüfung ähneln.

Die Untersuchung der verschiedenen Arten von Behauptungen bzw. Aussagen auf ihre Bedeutung und die Möglichkeiten ihrer Überprüfung ist meiner Ansicht nach eine vorrangig von der Philosophie zu leistende Aufgabe. Mit dem Verweis auf die Kontextabhängigkeit aller Wort- und Satzbedeutungen kann man diese mühselige Aufgabe elegant beiseite schieben.

Grüße von Eberhard.

p.s.: Was sind "Kller" ? Dass "ET" die Abkürzung für "Entwicklungstheorie" ist, habe ich inzwischen herausgefunden. Vielleicht sollten wir überhaupt so wenig wie möglich "Fach-Chinesisch" sprechen und auch an unsere Leser denken, die nicht vom Fach sind.

Hermeneuticus@, Deine längeren Beiträge sind nicht vergessen. Ich denke noch darüber nach … .

- IV
- jacopo_belbo am 15. Dez. 2004, 12:18 Uhr

KI, AI = künstlicher intelligenz, artificial intelligence :)

- IV
- Hermeneuticus am 15. Dez. 2004, 16:07 Uhr

Hallo Eberhard!


on 12/14/04 um 06:31:38, Eberhard wrote:

Ich weiß nicht recht, ob man so elementarer Begriffe wie: "da sein " noch weiter mit anderen weniger elementaren Begriffen erläutern kann.


Aus einer onto-logischen Beobachterperspektive wird man das wohl nicht können. "Existenz" ist dann etwas, was zu einem Sachverhalt, den man unabhängig von seinem "Bestehen" analysieren kann, irgendwie "hinzukommt". Hier endet die logische Untersuchung. Die Frage, ob der Sachverhalt existiert, muss sozusagen an eine andere "Instanz" überwiesen werden, üblicherweise ist das die Wahrnehmung. Mit dieser Überweisung, so scheint es, hat man den Bereich des Sprachlichen verlassen. In der sinnlichen Wahrnehmung begegnen sich dann gewissermaßen Seiendes und Seiendes. Entität stößt unmittelbar an Entität. Eine davon ist das wahrgenommene Ding (Objekt), das andere ist das wahrnehmende Ding (Subjekt).  

Ich will nicht den Sinn einer solchen Betrachtungsweise (" Logik + Sinnesdaten" ) grundsätzlich bestreiten, sondern behaupte nur, dass sie zu begrenzt ist, um als Grundlage einer Wahrheitstheorie zu taugen.

Außerdem denke ich, dass wir den Sinn von "existieren" oder "da sein" in einer grundlegenden Weise von unserem eigenen "Dasein" kennen. Aus unserer Teilnehmerperspektive lässt sich unsere Existenz durchaus (sprachanalytisch und phänomenologisch) explizieren. Und aus dieser Sicht zeigt sich auch sofort, dass unser Dasein sich doch erheblich unterscheidet vom Dasein etwa eines Steins oder einer Pflanze. Im Schema "Logik + Sinnesdaten" ist dagegen die zu den Sachverhalten "hinzukommende" Existenz unterschiedslos anzuwenden.


Zitat:

Praktisch bedeutet die Unterscheidung zwischen etwas "da seiendem" und etwas "nicht da seiendem", dass man das "nicht da seiende" ohne Folgen aus seinem Weltbild streichen kann. Es ist wirkungslos.


Das sehe ich ähnlich.


Zitat:

Kann man einen Kauf sehen? In einer physikalischen Sprache, die keine Bedeutung und keinen Willen kennt, lässt sich das, was einen Kauf ausmacht, nicht  oder nur sehr kompliziert beschreiben.


Wenn wir uns darauf einigen können, dass die Teilnehmerperspektive nicht nur eine frei wählbare Alternative zur Beobachterperspektive ist, sondern letztere sich sozusagen aus der ersteren "ausdifferenziert" hat; dass wir eine Beobachterperspektive immer nur regional und zeitlich begrenzt einnehmen können, während wir dabei IMMER und auf unverfügbare Weise Teilnehmer am menschlichen Miteinander-Sein bleiben; dass also z. B. eine physikalische Betrachtungsweise nur EINE von vielen menschlichen Praxen mit begrenzter Gültigkeit ist - dann ist Deine Frage relativ leicht zu beantworten.

Die Teilnehmerperspektive, die unser lebensweltliches "Dasein" ausmacht, ist mehr als nur eine alternative Sichtweise. Sie ist die Voraussetzung, die wir niemals aufkündigen können. Auch Physiker können sich niemals daraus lösen. Selbst ihre gemeinsame Praxis des Forschens, des Diskutierens usw. bleibt immer lebensweltlich (kein Physiker kann sich und seine Kollegen durchgängig nur als physikalische Phänomene betrachten und entsprechend handeln).
Darum ist die Rede vom "lebensweltlichen Apriori" der Wissenschaften (J.Mittelstraß) gut begründet.


Zitat:

Was bedeutet "Kauf" ? (...) Was bedeutet "Tausch" ? (...) Was bedeutet "Eigentumsrecht" ? Kann man das wahrnehmen? Wie kann man das feststellen?


Wenn man "wahrnehmen" als einen Naturvorgang versteht (Ding berührt Ding), dann sind natürlich solche Handlungen, Rechtsgeschäfte und rechtliche Institutionen nicht wahrnehmbar. Aber ich halte ein solches Verständnis von Wahrnehmung für eine philosophische Fiktion, die nur unter sehr spezialisierten Bedingungen der Reflexion und Forschung entstehen konnte und sich dann in der erkenntnistheoretischen Tradition fortgepflanzt hat. Subjekt, Objekt, Denken, Sinnesdaten usw. - dieses ganze Arsenal tradierter Kategorein gehört zum ersten, was jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, lernt. Das schlichte erkenntnistheoretische Modell eines Hobbes ist heutzutage schon so etwas wie eine "Volkstheorie", ein bildungssprachliches Allgemeingut. Wer lange genug in diesen Bahnen denkt - und das tun leider auch die meisten Naturwissenschaftler, die nur im Nebenberuf philosophieren -, nimmt sich selbst die Chance, nach den Voraussetzungen und Grenzen dieser Kategorien zu fragen.
Jeder Blick darauf, wie wir das Wahrnehmen faktisch lernen, wie es immer schon in Kommunikation und auffordernde Rede - sprich: in eine gemeinsame Praxis eingebunden ist, wird sofort erkennen, dass das Objekt-Subjekt-Modell eine grobe Stilisierung ist (um das wenigste zu sagen...).

Unser Wahrnehmen ist "immer schon" ein Wahrnehmen von etwas als etwas. Und so wie wir lernen, Handlungen von Naturgeschehnissen, absichtliche Bewegungen von unabsichtlichen Regungen usw. zu unterscheiden, so lernen wir - mit der dazugehörenden Begrifflichkeit - auch, Rechtshandlungen als solche WAHRZUNEHMEN. Sicher: Wenn man nicht weiß, dass auch der Brötchenkauf beim Bäcker der Abschluss eines Kaufvertrags ist, kann man einen solchen auch nicht wahrnehmen. Ebenso wenig kann man aber "Materie" wahrnehmen, wenn man nicht weiß, was mit diesem Begriff gemeint ist; sondern man wird Holz oder Erde oder Stein oder Kunststoff oder Blech oder etwas sonstwie Spezifiziertes wahrnehmen. Man man muss also eigens lernen, von allen diesen Spezifikationen zu abstrahieren, um "nur Materie" vor sich haben zu können.

Anders gesagt: Unser Wahrnehmen ist immer schon vorsortiert nach bestimmten "Hinsichten" - also Merkmalen, die Gegenstände zu Äquivalenzklassen zusammenfassen. Den Gebrauch dieser Merkmale muss man lernen, um etwas wahrzunehmen, das ihnen entspricht. Aber genau das tun wir ja, wenn wir heranwachsen und den Gebrauch unserer Sinne nach und nach so lernen, wie es zu unserer kultürlichen Lebensbewältigung erforderlich ist.

Und im Sinne Deiner Gleichsetzung von Nicht-Existenz und Wirkungslosigkeit (s.o.) könnte man z. B. sagen: Für jemanden, der keine Verwendung für den Begriff der Materie hat, ist sie inexistent. Wer den Umgang mit diesem Wort nicht gelernt hat, wird auch keine Materie wahrnehmen. Er wird allerdings sehr wohl Dinge wahrnehmen, die von Physikern, Philosophen, Religionslehrern... zutreffend zur Klasse der "materiellen Dinge" zusammengefasst werden.



Zitat:

Ich denke wie Du, dass der Begriff der "Handlung" in einem sozialen Gefüge von Institutionen weiter geklärt werden muss. Dies ist eine spezielle, nur in Begriffen des Wollens und Sollens beschreibbare Wirklichkeit, die von einer rein "behavioristischen" Begrifflichkeit nicht erfasst werden.


Dass die soziale Wirklichkeit "eine spezielle" sei, das bestreite ich ja gerade. Sie ist die primäre Wirklichkeit, aus der alle anderen Weltsichten sich ausdifferenziert haben - nämlich als Spezialisierungen oder Hochstilisierungen von lebensweltlichen Praxen. "Soziale Wirklichkeit" ist ein Ausdruck aus einer wissenschaftlichen Beobachterperspektive. Aus derTeilnehmerperspektive ist "soziale Wirklichkeit" das "Element" unseres In-der-Welt-Seins, das wir niemals völlig verlassen können - allenfalls in der Reflexion.


Gruß
H.

- IV
- Dyade am 15. Dez. 2004, 20:46 Uhr

" Praktisch bedeutet die Unterscheidung zwischen etwas "da seiendem" und etwas "nicht da seiendem", dass man das "nicht da seiende" ohne Folgen aus seinem Weltbild streichen kann. Es ist wirkungslos." (Eberhard) "Das sehe ich ähnlich." (Hermeneuticus)

Mal ne Frage: Das 'nicht da sein' von Regen im Sommer hat doch wohl erhebliche Auswirkung auf die Ernte, oder? Das 'nicht da sein' von Nahrung sogar für Leben überhaupt, oder? Das 'nicht da sein' meines Haustürschlüssels hat erhebliche Auswirkungen für mein Wohlbefinden am Abend, besonders jetzt im Winter. oder... oder überhaupt:-) Was ist die Ontologie nur so schwierig, verdammt :-)  

- IV
- Eberhard am 15. Dez. 2004, 21:50 Uhr

Hallo Dyade,

Ich hatte an Hermeneuticus geschrieben: "Auf die Frage: "Was ist wirklich?" hatte ich geantwortet: "Das, was da ist, das, was existiert." Du fragst: "Was bedeutet das?" Ich weiß nicht recht, ob man so elementarer Begriffe wie: "da sein " noch weiter mit anderen weniger elementaren Begriffen erläutern kann.

Praktisch bedeutet die Unterscheidung zwischen etwas "da seiendem" und etwas "nicht da seiendem", dass man das "nicht da seiende" ohne Folgen aus seinem Weltbild streichen kann. Es ist wirkungslos. "

Du merkst an: "Das 'nicht da sein' meines Haustürschlüssels hat erhebliche Auswirkungen für mein Wohlbefinden am Abend, besonders jetzt im Winter."

Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich auflösen. Du benutzt "da sein" im Sinne von "zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort da sein", während ich "da sein" benutzt habe im Sinne von "irgendwann an irgendeinem Ort da sein".

Grüße von Eberhard.

- IV
- Dyade am Vorgestern, 01:51 Uhr

Hallo Eberhard,

ist nicht "Dasein" immer(!), Dasein zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort?

Außerdem, was "nicht da ist" in deinem Sinne, muss ich... ja kann ich garnicht ausschließen aus meinem Weltbild, weil es einfach nicht "da" ist.

Ich denke wir drehen uns im Kreis, denn letzlich kommen wir wieder zum Punkt : Was ist Wahrnehmung?

Grüße
Dyade

- IV
- WuWei am Vorgestern, 09:12 Uhr

Ich muss Dyade recht geben: es gibt kein Dasein irgendwann an irgendeinem Ort. Es gibt nur Dasein jetzt und hier. "Dasein irgendwann und irgendwo" ist wiederum nur eine Vorstellung davon, und zwar hier und jetzt.

Der nicht-auffindbare Hausschlüssel ist kein Nicht-Dasein, sondern das Dasein der Vorstellung, dass da eigentlich ein Schlüssel sein sollte.  [spin]

Wenn ich den Schlüssel weder wahrnehme noch vermisse, dann gibt es weder ein Dasein noch ein Nicht-Dasein des Schlüssels. Genausowenig wie sich im Tiefschlaf für mich die Frage stellt, ob ich bewußt bin oder nicht.

Was ich sagen will: das Nicht-Dasein kann niemals Gegenstand der Erörterung oder der Wahrnehmung sein, sonst wäre es bereits ein Dasein, in welcher Form auch immer.

Der Knackpunkt dabei ist tatsächlich die Wahrnehmung.  
Das Nicht-Dasein ist immer hier! Aber nicht als Ding, es ist das, was sich aller Dinge, und auch aller Gedankenspiele über Dasein und Nicht-Dasein bewußt ist. Es ist die Wahrnehmung selbst. Wie soll es denn anders sein?

Wie Hermeneuticus oben richtig schreibt, ist Wahrnehmung nicht einfach "Ding berührt Ding". Wenn ich Brötchen kaufe, nehme ich einfach nur Brötchen und all die anderen Menschen und Dinge in der Bäckerei wahr. Wird mir aber bewußt, dass es sich dabei um einen Kauf handelt, dann nehme ich ebenso die gedankliche Vorstellung eines Kaufes wahr.

Hermeneuticus schreibt: "In der sinnlichen Wahrnehmung begegnen sich dann gewissermaßen Seiendes und Seiendes. Entität stößt unmittelbar an Entität. Eine davon ist das wahrgenommene Ding (Objekt), das andere ist das wahrnehmende Ding (Subjekt)."

Sorry Hermeneuticus, aber glaube mir, genau das ist der große Irrtum aller dualistischen Philosophien.
In der Wahrnehmung begegnen sich nicht Seiendes und Seiendes, sondern Seiendes und Nicht-Seiendes! Wenn man das einmal verstanden hat, dann hat man auch nicht mehr all diese Probleme mit dem Nicht-Sein, die sich auch in dieser Diskussion wieder offenbart haben.

Das Nicht-Sein ist das, was sich des Seins bewußt ist, es wahrnimmt. Es gibt kein wahrnehmendes "Ding" ! Wie könnte Subjekt selbst ein Objekt sein? Wenn es das wäre, dann könnte man Bewußtsein bzw. Geist im Körper finden. Subjekt ist nicht etwas, das gefunden werden kann, sondern das, was sich des Suchens bewußt ist.

Der Witz ist aber, dass sich Nicht-Seiendes und Seiendes in Wirklichkeit gar nicht begegnen, weil sie nämlich nie getrennt waren.

Wenn wir z. B. einen Gedanken denken, dann sind wir uns in diesem Moment des Gedankens bewußt, sonst wüßten wir ja nicht von ihm. Sind wir nicht immer Denker und Zuhörer in einem? Seiendes und Nicht-Seiendes? Aber der vermeintliche Denker und der vermeintliche Zuhörer sind nicht voneinander zu trennen. In Wirklichkeit sind da nur Gedanken, die sich selbst wahrnehmen. Besser gesagt, die Gedanken SIND Wahrnehmung, Gedanken existieren nur als wahrgenommene Gedanken.

Und das gleiche gilt nicht nur für Gedanken, sondern auch für Brötchen und alle Dinge. Dann wird auch klar, was Krishnamurti meinte mit: Beobachter und Beobachtetes sind ein- und dasselbe.

viele Grüße,
WuWei

- IV
- Hermeneuticus am Vorgestern, 10:57 Uhr

Hallo WuWei!


Zitat:

Es ist die Wahrnehmung selbst.

"Wahrnehmung selbst" ist ebenso ein Reflexionsbegriff wie "Wirklichkeit (selbst)". d. h. er hat seinen Gebrauch in einer erkenntnistheoretischen Reflexion über Wissen, Wirklichkeit usw.

Das Problem Deiner All-Einheits-Philosophie sehe ich darin, dass Dein Ausgangspunkt kein lebensweltlicher ist, sondern bereits eine bestimmte Erkenntnistheorie voraussetzt. Man könnte den gedanklichen Rahmen, den Du voraussetzt, auch historisch näher lokalisieren. Mich erinnert er an die Position Berkeleys gegenüber Locke und Hume. Gemeinsam ist ihnen aber der Ausgangspunkt von der monologischen Instanz des "Subjekts" oder des "Ich". Nur für jemanden, der diesen kategorialen erkenntnistheoretischen Rahmen plausibel findet, kann auch Deiner Position etwas abgewinnen.

Die Reflexionen, mit denen Du recht geschickt alles Seiende ins "Hier und Jetzt" auflöst (das dann zugleich "Nichts" ist), setzen das reflektierende/wahrnehmende Ich absolut. Darum fallen z. B. andere Iche immer nur in den Objektbereich dieses Hier-und-Jetzt-Ich-Alles.

Das geht aber an unserem grundsätzlich sozialen, mit-menschlichen, kommunikativen Dasein schon im Ansatz vorbei. Anders gesagt: Du fragst nicht nach den Bedingungen des vor sich hin reflektierenden Ichs. Und hier liegt die entscheidende Schwäche jeder monologischen Reflexion: dass sie ihren Horizont nur einfach hinnehmen kann, ohne seine Begrenztheit mitreflektieren zu können. Daraus folgt bei Dir, dass die soziale Wirklichkeit immer nur als Objekt, nicht als Voraussetzung in den Blick kommt. Du kannst in Deinen Kategorien nicht mitdenken, dass die monologische Reflexion des Ichs de facto von der sozialen Wirklichkeit abgleitet ist.
Nimm allein die Sprache, in der Du reflektierst: Hättest Du nicht die Umgangssprache von anderen Menschen gelernt, hättest Du keine philosophischen Fachbücher gelesen, könntest Du gar nicht in dieser Weise reflektieren. Aber in der wonnigen Konzentration aufs "Hierjetztichallesnichts" KANN so etwas gar keine Rolle mehr spielen.



Gruß
H.

- IV
- Dyade am Vorgestern, 11:58 Uhr

Liebe WuWei,

du schreibst: "Der Witz ist aber, dass sich Nicht-Seiendes und Seiendes in Wirklichkeit gar nicht begegnen, weil sie nämlich nie getrennt waren."

Neben den Bemerkungen die Hermeneuticus schon gamacht hat, denen ich mich voll und ganz anschließe, möchte ich noch folgendes hinzufügen:

Dein Satz oben, ist zutiefst wiedersprüchlich. Besonders gegenüber der Aussage die du weiter oben machst, das 'nicht Seiendes' nie "Gegenstand einer Erörterung" sein könne. Mit dem zitierten Satz ist dies jedoch ein performativer Wiederspruch.

Desweiteren hast du mich auch falsch zitiert, bzw. mich falsch verstanden. Ich sprach nicht vom 'hic et nunc' sondern von einem bestimmten Zeitpunkt und einem bestimmten Ort den unsere Anschauung von Raum und Zeit, salopp formuliert, immer schon mitliefert wenn wir von einem 'da-seienden' reden.  

Was nun die Subjekt/Objekt-Trennung angeht; da gibt es wohl tiefe Differenzen zwischen fernöstlichen Verhältnissen und der europäischen Philosophie. Die wären aber Thema eines anderen Treads. Mit den Gedanken über Reflexion ua. sind wir jedoch noch in der Nähe der Fragen "über die Wahrheit".

Was diese Frage angeht gibt es selbst in der europäisch/angelsächsischen Philosophietradition eine tiefe Spaltung, zumindest seit Freges sprachanalytischem Ansatz gibt es die Schiene 'Frege - Wittgenstein - Tarski' und jene von Nietzsche - Heidegger - Derrida. Zutiefst verwirrend sag ich dir [bookworm] [nixweiss]

Grüße
Dyade

[cool]

- IV
- jacopo_belbo am Vorgestern, 13:44 Uhr

hallo,

bevor wir uns im dickicht der sprache verlieren, sollten wir vielleicht einen augenblick innehalten, und überlegen, was wir eigentlich genau sagen.

wenn wir davon sprechen, dass der hausschlüssel "nicht da" sei, so ist damit nicht unbedingt gesagt, dass dieser nicht existent sei - was ein wenig seltsam wäre. wenn wir sagen: »der hausschlüssel ist nicht da«, so ist das meist eine elliptische formulierung, die "der hausschlüssel ist nicht da, wo er jetzt sein sollte - z. B. in meiner jackentasche" bedeutet. ich denke es wäre albern zu behaupten, dass ein verlorener haustürschlüssel nicht (mehr) existent sei.
dementsprechend meinen wir auch etwas anderes damit, wenn wir von "existenz" als "vorhandensein" bzw. "dasein" sprechen.
wenn ich zum beispiel sage, dass einhörner existieren, so meine ich nicht, dass sie hier und jetzt vor meinen augen stehen müssen. wenn ich sage, dass einhörner existieren, so sage ich nichts weniger als dass es etwas gibt, das korrekt mit "einhorn" benannt werden kann.
wir haben eine beschreibung dessen, was ein "einhorn" sein soll und behaupten, dass es ein etwas -einen referenten- zu dieser beschreibung gibt, so, dass dasjenige als einhorn benannt werden kann.
wenn ich im gegenzug behaupte, es existierten keine einhörner, so sage ich nichts weniger als dass dasjenige, was mit der beschreibung benannt werden soll, nicht existiert. es gibt kein etwas -keinen referenten- für die beschreibung "einhorn".

um die diskussion zielstrebiger zu führen, wäre es sinnvoll, sich auf eine ontologie zu einigen - ansonsten läuft die diskussion in die leere.

- mfg thomas

p.s.: ich weiß nicht, inwieweit uns derrida weiterhelfen kann...

- IV
- WuWei am Vorgestern, 14:44 Uhr

Hallo Hermeneuticus und Dyade,

es ist doch wirklich zum Mäusemelken mit euch [grin]. Aber auch sehr spannend.

Kennt ihr die Hundebesitzer, die mit ihrem Finger auf etwas deuten und auch in 10 Jahren nicht bemerken, dass der Hund nie auf das guckt, auf das sie deuten, sondern immer nur auf den Finger? Und genauso guckt ihr nicht auf das, auf was ich deute, sondern immer nur auf meinen Finger. (Bitte bitte diesen Vergleich nicht übelnehmen, ich will natürlich niemanden mit einem Hund vergleichen. Es geht nur um dieses Prinzip, ok?)

So sagt Hermeneuticus: "Wahrnehmung selbst" ist ebenso ein Reflexionsbegriff wie "Wirklichkeit (selbst)". d. h. er hat seinen Gebrauch in einer erkenntnistheoretischen Reflexion über Wissen, Wirklichkeit usw."

Das ist zwar völlig richtig, aber dieser Reflexionsbegriff ist eben der erwähnte Finger. Mein Finger deutet aber auf dich selbst, der, der sich dieses Reflexionsbegriffes bewußt ist, der diesen Begriff hört, liest oder denkt.
 
Nein, mein Ansatz (der nicht wirklich "mein" Ansatz ist) braucht überhaupt keine Erkenntnistheorie. Er zeigt nur, was die ganze Zeit hier und jetzt geschieht. Natürlich kannst du es mit Berkeley vergleichen und klassifizieren. Aber vergiß dabei nicht, WER da vergleicht und klassifiziert ;-).

Ich versuche nichts anderes, als euch an eure eigene Subjektivität zu erinnern. Ich versuche nur klarzumachen, dass Subjektivität/Bewußtsein/ICH keinerlei objektive Eigenschaften hat. Aber wenn ich kommuniziere, muss ich einen objektiven Begriff (z. B. Wahrnehmung selbst) für etwas verwenden, das eigentlich frei von Objektivität ist. Das ist die Crux. Ich nehme also einen Finger und deute auf das Subjektive. Ihr aber schnappt euch meinen Finger und zerlegt ihn [grin].

Natürlich könnt ihr über das Subjektive alle möglichen objektiven Erörterungen anstellen, aber ihr tut es immer aus der subjektiven Perspektive heraus. Geht gar nicht anders. Genau das aber "vergessen" fast alle, egal ob Philosophen oder Wissenschaftler. Subjektivität ist nicht, WAS ich wahrnehme oder darüber denke, sondern dass ich wahrnehme und denke.  

du schreibst: "Die Reflexionen, mit denen Du recht geschickt alles Seiende ins "Hier und Jetzt" auflöst (das dann zugleich "Nichts" ist), setzen das reflektierende/wahrnehmende Ich absolut. Darum fallen z. B. andere Iche immer nur in den Objektbereich dieses Hier-und-Jetzt-Ich-Alles."

Da hast du recht, vor allem was das "recht geschickt" angeht [cheesy]. Aber im Ernst: natürlich ist das wahrnehmende Ich absolut, alles was es wahrnimmt, ist relativ bzw. objektiv. Dazu gehört aber auch mein persönliches Ich/Ego. Das wahrnehmende Ich ist das absolute Subjekt (von dem es keine Mehrzahl gibt), das auch die Gedanken, Erinnerungen und Gefühle meiner Persönlichkeit wahrnimmt, das auch andere wahrnimmt.

Und sei mal ehrlich zu dir: in der Welt, die du wahrnimmst, bist "du" der einzig Wahrnehmende. Du siehst aber viele andere, die scheinbar ebenso wahrnehmen. Das ist aber wiederum deine Wahrnehmung. Du bist der Ausgangspunkt, sonst niemand. Genau das geschieht die ganze Zeit vor deinen Augen, in deinem "sozialen, mit-menschlichen, kommunikativen Dasein", du willst es nur nicht wahrhaben (entschuldige bitte, das klingt etwas altklug...)

Weil du die Sprache erwähnst: Gerade die Sprache fördert die Subjektblindheit. Zum Beispiel sagst du: "Ich sehe Markus an und ich sehe Monika an". Dann sagst du: "Markus sieht Monika an". Aber das stimmt nicht ganz. Es müßte lauten: "Ich sehe Markus, wie er Monika ansieht" oder "Ich sehe Monika, wie sie Markus ansieht". Das ist, was wirklich geschieht, nicht wahr? Aber wir unterdrücken normalerweise dieses wahrnehmende Ich, sprachlich wie auch gedanklich.
(WER tut das eigentlich? Eben dieses Ich selbst [spin])

Ja, es stimmt: alles, was ich sehe, fällt in den Objektbereich dieses Hier-und-Jetzt-Ich-Alles, wie du sagtest. Aber ich kenne natürlich deinen Einwand, der jetzt kommt: dass ich andere Menschen damit zu bloßen Objekten degradiere.
Nein, das würde ich nur dann tun, wenn ich dieses Hier-und-Jetzt-Ich-Alles für ein persönliches halten würde. Das tue ich aber nicht, ich gestehe dir (und jedem) zu, dass du es genauso bist wie ich. Aus deiner Perspektive bin ich genauso dein wahrgenommenes Objekt, wie du es aus meiner Perspektive bist. Also bin ich du (ohne dass ich dir zu nahe treten will [grin]).

du schreibst: "Daraus folgt bei Dir, dass die soziale Wirklichkeit immer nur als Objekt, nicht als Voraussetzung in den Blick kommt. Du kannst in Deinen Kategorien nicht mitdenken, dass die monologische Reflexion des Ichs de facto von der sozialen Wirklichkeit abgleitet ist. Nimm allein die Sprache, in der Du reflektierst: Hättest Du nicht die Umgangssprache von anderen Menschen gelernt, hättest Du keine philosophischen Fachbücher gelesen, könntest Du gar nicht in dieser Weise reflektieren."

damit hast du in gewisser Weise vollkommen recht. Aber auch hier verwechselst du meiner Ansicht nach wieder Subjekt und Objekt. Die soziale Wirklichkeit ist in der Tat ursächlich dafür, wie (!!) und was (!!) ich über meine Wahrnehmungen denke. Auch was ich über das "absolute Ich" denke. Ohne die entsprechenden Bücher hätte ich von alledem keine Ahnung. Aber dass (!!!!!) ich wahrnehme, ist wiederum ursächlich dafür, dass es für mich überhaupt eine soziale Wirklichkeit gibt. Ob mir das klar ist oder nicht. Ich will immer nur auf diesen Ausgangspunkt hinweisen, nicht mehr und nicht weniger. Es ist viel simpler als du denkst. "Aber in der wonnigen Konzentration aufs "Hierjetztichallesnichts" KANN so etwas gar keine Rolle mehr spielen."

Siehst du, wieder Subjekt/Objekt-Verwechslung  [grin]! Ich kann mich nicht auf das "hierjetztichalles" konzentrieren, sonst wäre es ja ein Objekt.

Hallo Dyade,

erstmal will ich dir verraten, dass WuWei ein Er, keine Sie ist. Ist aber nicht so wichtig.....

Du sagst, dass sich folgende zwei Aussagen von mir zutiefst widersprechen: "Der Witz ist aber, dass sich Nicht-Seiendes und Seiendes in Wirklichkeit gar nicht begegnen, weil sie nämlich nie getrennt waren." "Das 'nicht Seiende' kann nie "Gegenstand einer Erörterung" sein"

Ich sehe keinen Widerspruch. Gerade weil Nicht-Seiendes und Seiendes EINE Wirklichkeit bilden, kann das Nicht-Seiende nicht erörtert werden. Genausowenig wie deine rechte Hand sich selbst ergreifen kann. Du kannst das Seiende erörtern, aber dabei ist ständig das Nicht-Seiende anwesend, schließlich bist du dir doch der Erörterung bewußt, nicht wahr?

Jetzt und Zeit bilden ebenso EINE Wirklichkeit. Egal welche Zeit du misst, empfindest, erinnerst oder dir vorstellst, du kannst es immer nur jetzt tun. Das jetzt "beinhaltet" alle Zeit, so wie das Nicht-Sein alles Sein "beinhaltet". Sind eh nur verschiedene Begriffe für ein- und dasselbe. Und deshalb kannst du "das" jetzt nicht erfassen, nicht wahrnehmen und nicht erörtern. Weil du es selbst bist!

Naja, es wäre schon ein mittleres Wunder, wenn ihr mir das abkaufen würdet [grin]. Aber wenn ich euch wenigstens ein bißchen ins Grübeln gebracht habe, freut es mich. Habe selbst genug gegrübelt.

Falls euch auch ein gemeiner Vergleich einfällt: nur zu, ich werde ihn auf keinen Fall übelnehmen [balloon].

liebe Grüße,
WuWei

- IV
- Dyade am Vorgestern, 15:38 Uhr

@ Thomas,

du hast recht, das war auch nicht so ganz ernst gemeint mit den Ontologeleien. :-) Derrida, kann auch ruhig außen vor bleiben.

greetings
Dy

- IV
- Dyade am Vorgestern, 16:07 Uhr

Hallo WuWei,

also ich kenne ein ganz schöne Sammlung von Koans und andere 'Niederschriften von der smaragdenen Felswand' auch Texte von Nagarjuna und so weiter... ( auch Krishnamurti, wenn du den von den Zweien meinst den ich meine :-)) aber alle sind nach meiner bescheidenen Meinung um eine Reflexionsstufe "zu niedrig geschaltet". Aber wir müssen das hier nicht weiter ausführen. Ich denke ich kann das aktzeptieren das du dies anders siehst.

Grüße
Dy

- IV
- Eberhard am Vorgestern, 23:25 Uhr

Hallo WuWei,

ich habe Probleme mit Deinem Argumentationsstil. Ich weiß nicht, ob Du Dir dessen bewusst bist, aber Deine Argumentation ist vor allem eine schnelle Folge von Behauptungen, nur relativ selten unterbrochen von einer kurzen Begründung.

Ich nehme mal Deinen ersten Beitrag (#143) und markiere begründende Passagen. Du schreibst:



<<Ich muss Dyade recht geben: es gibt kein Dasein irgendwann an irgendeinem Ort. Es gibt nur Dasein jetzt und hier. "Dasein irgendwann und irgendwo" ist wiederum nur eine Vorstellung davon, und zwar hier und jetzt.  

Der nicht-auffindbare Hausschlüssel ist kein Nicht-Dasein, sondern das Dasein der Vorstellung, dass da eigentlich ein Schlüssel sein sollte.    

Wenn ich den Schlüssel weder wahrnehme noch vermisse, dann gibt es weder ein Dasein noch ein Nicht-Dasein des Schlüssels.

Genausowenig wie sich im Tiefschlaf für mich die Frage stellt, ob ich bewußt bin oder nicht.  

Was ich sagen will: das Nicht-Dasein kann niemals Gegenstand der Erörterung oder der Wahrnehmung sein, s o n s t   w ä r e   e s   b e r e i t s   e i n   D a s e i n , in welcher Form auch immer.

Der Knackpunkt dabei ist tatsächlich die Wahrnehmung.  
Das Nicht-Dasein ist immer hier! Aber nicht als Ding, es ist das, was sich aller Dinge, und auch aller Gedankenspiele über Dasein und Nicht-Dasein bewußt ist. Es ist die Wahrnehmung selbst. Wie soll es denn anders sein?  

Wie Hermeneuticus oben richtig schreibt, ist Wahrnehmung nicht einfach "Ding berührt Ding". Wenn ich Brötchen kaufe, nehme ich einfach nur Brötchen und all die anderen Menschen und Dinge in der Bäckerei wahr. Wird mir aber bewußt, dass es sich dabei um einen Kauf handelt, dann nehme ich ebenso die gedankliche Vorstellung eines Kaufes wahr.  

Hermeneuticus schreibt: "In der sinnlichen Wahrnehmung begegnen sich dann gewissermaßen Seiendes und Seiendes. Entität stößt unmittelbar an Entität. Eine davon ist das wahrgenommene Ding (Objekt), das andere ist das wahrnehmende Ding (Subjekt)."

Sorry Hermeneuticus, aber glaube mir, genau das ist der große Irrtum aller dualistischen Philosophien.
In der Wahrnehmung begegnen sich nicht Seiendes und Seiendes, sondern Seiendes und Nicht-Seiendes! Wenn man das einmal verstanden hat, dann hat man auch nicht mehr all diese Probleme mit dem Nicht-Sein, die sich auch in dieser Diskussion wieder offenbart haben.

Das Nicht-Sein ist das, was sich des Seins bewußt ist, es wahrnimmt. Es gibt kein wahrnehmendes "Ding" ! Wie könnte Subjekt selbst ein Objekt sein?  W e n n   e s   d a s   w ä r e ,   d a n n   k ö n n t e   m a n   B e w u ß t s e i n   b z w .   G e i s t   i m   K ö r p e r   f i n d e n . Subjekt ist nicht etwas, das gefunden werden kann, sondern das, was sich des Suchens bewußt ist.  

Der Witz ist aber, dass sich Nicht-Seiendes und Seiendes in Wirklichkeit gar nicht begegnen, weil sie nämlich nie getrennt waren.  

Wenn wir z. B. einen Gedanken denken, dann sind wir uns in diesem Moment des Gedankens bewußt,  s o n s t   w ü ß t e n   w i r   j a   n i c h t   v o n   i h m . Sind wir nicht immer Denker und Zuhörer in einem? Seiendes und Nicht-Seiendes? Aber der vermeintliche Denker und der vermeintliche Zuhörer sind nicht voneinander zu trennen. In Wirklichkeit sind da nur Gedanken, die sich selbst wahrnehmen. Besser gesagt, die Gedanken SIND Wahrnehmung, Gedanken existieren nur als wahrgenommene Gedanken.  

Und das gleiche gilt nicht nur für Gedanken, sondern auch für Brötchen und alle Dinge. Dann wird auch klar, was Krishnamurti meinte mit: Beobachter und Beobachtetes sind ein- und dasselbe. >>



Ich ersaufe förmlich in der Menge von Behauptungen, die Du Satz für Satz herausschleuderst, ohne Dich um Begründungen zu kümmern. Eine Klärung der aufgestellten Behauptungen ist dadurch unmöglich. Nehmen wir nur einmal eine Deiner Behauptungen wie die Folgende: "Das Nicht-Sein ist das, was sich des Seins bewußt ist, es wahrnimmt."

Ich glaube, wir hätten eine Menge zu tun, um nur zu klären, was Du mir und andern damit sagen willst. Und eine kritische Überprüfung dieser These würde wohl so manche Seite füllen.

Abschließend noch kurz zur Sache. Ich hatte meine Verwendung des Wortes "Wirklichkeit" als Bezeichnung für das erläutert, was da ist, was da war und was da sein wird, was in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft existiert.

Ich sehe keine Probleme in der Formulierung "Auf drei Feldern des Schachspiels sind noch Bauern" oder in dem Satz: "Da müssen irgendwo noch Streichhölzer sein. Ich habe gestern erst welche gekauft." Thomas J hat dazu schon das Nötige gesagt.

(Natürlich kann man die Wörter wegen ihrer Vieldeutigkeit und Unschärfe auch so lange quetschen, bis ein Satz keinen Sinn ergibt.)

Grüße an alle von Eberhard.

p.s.: Ich hoffe, ich habe bald wieder mehr Zeit.

- IV
- WuWei am Gestern, 08:09 Uhr

Hallo Eberhard,

danke für deine ehrliche Kritik. Offenbar sind meine Beiträge so sehr komprimiert, so dass dein geschilderter Eindruck entsteht.

Auf der anderen Seite geht es mir aber genauso. Ich lese hier auch unzählige Behauptungen, für die ich keine Begründung sehe.

Wenn ich z. B. sage, Subjekt kann nicht wahrgenommen werden, weil es sonst ein Objekt und nicht Subjekt wäre, wie soll ich das noch weiter begründen? Ist das wirklich völlig unklar?

Oder der Satz von mir: "Das Nicht-Sein ist das, was sich des Seins bewußt ist, es wahrnimmt."

Ich habe bislang in zahlreichen meiner Beiträge geschrieben - vielleicht diesmal nicht - dass Nicht-Sein nur die subjektive Wahrnehmung sein kann. Das einzige, was niemals als Objekt wahrgenommen werden kann, ist die Wahrnehmung selbst. Du kannst dein Sehen nicht sehen, dir des Bewußtseins nicht bewußt sein usw. Ist das wirklich so schwer nachvollziehbar?
Das ist so einfach, ich weiß gar nicht, wie ich das noch weiter begründen soll. Vielleicht ist dir das alles zu einfach.

z. B. jener Satz:
<<Ich muss Dyade recht geben: es gibt kein Dasein irgendwann an irgendeinem Ort. Es gibt nur Dasein jetzt und hier. "Dasein irgendwann und irgendwo" ist wiederum nur eine Vorstellung davon, und zwar hier und jetzt."

Ich meine, einfacher geht es doch gar nicht mehr. Der Witz ist der, dass du für etwas, das du ganz leicht selbst überprüfen könntest, eine intellektuelle Begründung erwartest.
Brauchst du einen Beweis für deine Existenz, hier und jetzt?

Ich schrieb mal an Ratgeber: "Es gibt nichts außerhalb der Subjektivität. Was immer du über eine objektive Außenwelt glaubst zu wissen oder berechnet zu haben, ist wieder nur eine subjektive Wahrnehmung oder Vorstellung. Natürlich kannst du glauben, dass dort draußen eine objektive Welt existiert, unabhängig von deiner Wahrnehmung, aber auch das ist nur eine subjektive Vorstellung".

muss man das noch begründen? Kann es etwas offensichtlicheres geben? Und doch scheinen sich die wenigsten dessen bewußt zu sein.

Ich schreibe keine abstrakten Abhandlungen über irgendwelche Theorien, auch wenn ich gerne mit Subjekt und Objekt arbeite. Dennoch geht es immer nur um das, was du hier und jetzt überprüfen kannst. Vielleicht verkürze ich aber manchmal zu sehr, das mag sein.

Oder der Satz: "Der nicht-auffindbare Hausschlüssel ist kein Nicht-Dasein, sondern das Dasein der Vorstellung, dass da eigentlich ein Schlüssel sein sollte." Entweder man versteht das oder nicht. Wenn man es anders sieht, muss man halt ein Argument dagegen liefern.

Vielleicht ist dir vieles einfach nur ungewohnt, vielleicht solltest du einfach mal in Ruhe darüber nachdenken. Wenn du dafür keine Zeit hast, dann natürlich nicht.

Trotzdem werde ich versuchen, deine konstruktive Kritik zu berücksichtigen. Meine Beiträge sind sicherlich aus einer sehr eindeutigen Haltung heraus geschrieben, ich kann dir aber versichern, dass ich alle anderen Meinungen ebenso respektiere. Jedenfalls wirst du nicht erleben, dass ich mich hier herumstreite.

viele Grüße,
WuWei

- IV
- Eberhard am Gestern, 11:12 Uhr

Hallo Wuwei,

vielleicht können wir das gegenseitige Verständnis dadurch fördern, dass wir die aufgeworfenen Fragen an folgendem Beispiel diskutieren: Ist die Aussage "Es gibt keine Einhörner" wahr?

Du hast nun geschrieben:" Das Nicht-Dasein kann niemals Gegenstand der Erörterung oder der Wahrnehmung sein, sonst wäre es bereits ein Dasein,"

Meine Frage an Dich: Kann man das Nicht-Dasein von Einhörnern nicht erörtern?

fragt Dich Eberhard.

- IV
- Dyade am Gestern, 11:35 Uhr

Lieber WuWei, hallo Wahr-nehmer,

nur ein paar Notizen "Der Ort der Wahrheit ist der Satz".

Das ist mehr oder weniger das Grundgesetz der Sprachanalytik, ein Satz der zunächst einmal auch nur als Behauptung daher kommt. Behauptungen -es gibt bestimmt Statistiken darüber- machen einen sehr großen Teil der Sprechaktionen aus, die wir im Alltag durchführen, ohne sie zu belegen. Ich behaupte einmal etwas salopp; diese Behauptungen machen das Problem der Wahrheit überhaupt erst akut.

Es gibt jedoch zunächst viele Behauptungen im Alltag, die wir überhaupt nicht einer Wahrheitsprüfung (was immer das ist) unterziehen. Wo kämen wir auch hin würden wir das immer tun. Wenn mich gleich ein Freund anruft mit dem ich zu einem Konzertbesuch verabredet bin und der sagt mir: "das Konzert fällt aus", dann ist das zunächst auch nur eine Behauptung. Es ist ein Freund und deshalb komme ich nicht unbedingt auf die Idee die Behauptung zu prüfen. Ich glaube ihm. Ruft mich der Veranstalter an, glaube ich es auch.

Eine Vorladung vor Gericht mit pompösen Stempeln, überbracht von der Polizei, werde ich selten als die bloße Behauptung eines Gerichtstermines bezweifeln. Ich handele danach und gehe dorthin, ohne es separat zu überprüfen auf Wahrheitskriteien hin, die dafür sprechen das es einen Termin wirklich gibt.

Das Problem das dahinter steht ist das der Korrelation die ich in jedem der Fälle unterstelle. Ich denke, die Aussage "am 21.12 ist ein Gerichtstermin" ist eine Aussage die koreliert mit der Tatsache in der Wirklichkeit das solch ein Termin für diesen Tag angesetzt ist.

Anderes Beispiel: Ich stehe auf dem Bahnsteig und bin mir nicht sicher ob mein Zug schon abgefahren ist oder nicht. Ich frage einen Bahnangestellten der behaupte der Zug ist schon weg. Daraufhin ruft ein Betrunkener: "das stimmt überhaupt nicht". da ich absolut nicht in der Lage bin den Sachverhalt (Zug kommt noch oder nicht) zu prüfen, werde ich wohl dem Bahnangestellten glauben oder eine Umfrage auf dem Bahnsteig starten und dann nach der Mehrheitsmeinung entscheiden. :-)

Das zeigt drei Probleme auf: 1) das die Frage nach Wahrheit einer Aussage im Alltag sehr stark phsychologisch gefärbt ist (ist der Sprecher glaubhaft oder nicht). 2) Das sie überhaupt im Alltag nur in der Kommunikation auftritt, und 3) das ich in sehr sehr vielen Fällen überhaupt nicht in der Lage bin solche Aussagen auf Wahrheit hin zu pürfen.

Punkt drei ist sogar enorm akut in einer Mediengesellschaft in der Nachrichten aus aller Welt Allabendlich über die Bildschirme flattern ohne das ich auch nur eine davon wirklich überprüfen kann. Die Frage die mich interessiert, muss/darf ich bei der Frage nach Wahrheit als philosophischer Frage den Psychologismus ausblenden?

Grüße
Dyade

- IV
- jacopo_belbo am Gestern, 12:59 Uhr

hallo dyade,

ich stimme deinem letzten beitrag zu.
ich würde die pointe aber anders setzen.
es ist in der tat so wie du sagst, dass wir in vielen situationen des alltags auf eine prüfung der aussagen, behauptungen etc. verzichten. nur denke ich, wäre es nicht unbedingt hilfreich, anzunehmen, dass wir damit explizit jenen aussagen das attribut "wahr" zuweisen denen wir glauben, und den anderen das attribut "falsch" zuweisen, denen wir nicht glauben. es verhält sich meiner ansicht nach ein wenig anders. wenn wir die aussagen unter dem aspekt des handelns betrachten, so handeln wir entsprechend dem, was uns gesagt wird. du gibst das beispiel des ausfallenden konzerts. wenn mich jemand anruft, dass konzert, auf das ich mich schon seit wochen gefreut habe, fiele aus, so werde ich gewisse dinge nicht tun (mich chic anziehen, ins auto setzen, zur konzerthalle fahren) etc. d. h. nicht, dass ich explizit sage, ich glaube, dass es wahr ist, dass das konzert ausfällt. ich handele einfach nach der pragmatik, die sich aus der botschaft "das konzert fällt aus" ergibt. sicherlich ist bei diesem beispiel zu beachten, wie du angeführt hast, dyade, dass der empfänger der botschaft, dem sender vertraut - bzw. dass der sender "glaubwürdig" ist. insofern wird man bei einem anruf des konzertveranstalters weniger veranlaßt sein, darüber nachzudenken, ob dem so ist, als wenn eine x-beliebige person, oder was dem gleichkommt, eine wenig vertrauenswürdige person mir die botschaft sendet.
entsprechend stellt sich das von dir angesprochene problem
Zitat:

Punkt drei ist sogar enorm akut in einer Mediengesellschaft in der Nachrichten aus aller Welt Allabendlich über die Bildschirme flattern ohne das ich auch nur eine davon wirklich überprüfen kann.


die frage lautet dann, welchen kredit -im wortsinn- besitzt die nachrichtenquelle. glaube ich der tagesschau mehr als den rtl II news?

wenn wir wahrheit unter diesem gesichtspunkt betrachten, gehen wir der frage nach, wann wir eine aussage für wahr halten und nicht der frage, wann eine aussage wahr ist.

- mfg thomas

p.s.: kleiner nachtrag ... kennt jemand wag the dog mit dustin hoffmann?

- IV
- WuWei am Gestern, 14:42 Uhr

Hallo Eberhard,

du fragtest: "Kann man das Nicht-Dasein von Einhörnern nicht erörtern?"

Natürlich kannst du das erörtern, es kommt aber darauf an, aus welchem Blickwinkel du das tust.

Das Nicht-Dasein von Einhörnern ist zugleich das Dasein einer Vorstellung von Einhörnern. Ohne die Vorstellung von Einhörnern wäre da auch kein Nicht-Dasein von Einhörnern.

So gesehen bist du ständig vom Nicht-Dasein hellgrüner Wildschweine umgeben. Das ist dir aber bislang wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Erst wo du dies hier liest,
machst du dir unwillkürlich eine Vorstellung von ihnen. Und schon sind sie da (als Vorstellung) und gleichzeitig nicht da (als wahrnehmbare Körper). Vorher waren sie weder da noch nicht-da.

Die Aussage: "es gibt keine Einhörner" ist relativ genauso falsch wie relativ wahr. Es kommt eben drauf an, auf was sie sich bezieht. Du wirst überhaupt nichts finden, das absolut wahr oder absolut falsch ist. Es kann hier immer nur um relative Wahrheiten gehen.

Alles was geschrieben, gesprochen oder gedacht wird, kann nur relativ wahr sein. Weil es immer in Beziehung zu etwas stehen muss. Eine absolute Wahrheit dürfte sich auf nichts mehr beziehen müssen, richtig. Wenn die absolute Wahrheit also alles, wirklich alles umfassen muss, dann muss sie auch die Unwahrheit umfassen. Die absolute Wahrheit muss wahr und falsch beinhalten, dadurch ist sie selbst jenseits davon. Aber dann kann ich sie nicht mehr Wahrheit nennen.

Das ist die dualistische Crux mit den Kategorien. Die Wahrheit kann nicht unter eine Kategorie fallen, weil sie dann den Gegenpol ausschließen würde.

Und das Entscheidende: selbst wenn ich mir der absoluten Wahrheit gewahr wäre - in dem Moment, wo ich sie ausspreche oder denke, stelle ich mich neben oder über sie, und dadurch ist sie schon wieder unvollständig.

Fazit: die Wahrheit ist kein Objekt, sie kann nicht formuliert werden, weil sie dann den Formulierenden selbst nicht berücksichtigen kann. Also kann die Wahrheit nur SEIN. Hier und jetzt ;-).

Insofern schließe ich mich also Thomas an, der auf den praktischen nutzen pocht. Es kommt drauf an, was ich für wahr halte, und welche Zwecke ich verfolge.

Grüße,
WuWei

- IV
- jacopo_belbo am Gestern, 15:02 Uhr

hallo wuwei,

in deinem letzten beitrag habe ich einige punkte entdeckt, die man klären sollte:


Zitat:

Das Nicht-Dasein von Einhörnern ist zugleich das Dasein einer Vorstellung von Einhörnern. Ohne die Vorstellung von Einhörnern wäre da auch kein Nicht-Dasein von Einhörnern.


das ist in dieser formulierung unverständlich.
wenn wir sagen, es gebe keine einhörner, und du entgegnest, es gebe doch einhörner - wenn auch als vorstellung, so ist das einerseits unfug und andererseits falsch.
wenn ich sage, es gibt keine einhörner und du entgegnest, es gebe vorstellungen von einhörnern, entgegne ich dir, dass wir in diesem falle aneinander vorbeireden; denn ich sagte nicht, es gebe keine vorstellungen von einhörnern, sondern ich sagte, es gebe keine einhörner. und es ist falsch anzunehmen, vorstellungen von einhörnern seien das selbe wie einhörner - genausowenig ist die vorstellung eines hundert euro-scheins ein hundert euroschein.


Zitat:

So gesehen bist du ständig vom Nicht-Dasein hellgrüner Wildschweine umgeben.


ich denke, dass es sich bei dieser formulierung um einen sprachlichen lapsus handelt. inwiefern kann man von einem "nicht-dasein" umgeben sein? das ist ebenso absurd, wie zu behaupten, man könne mit "nicht-farben" ein "nicht-bild" malen.


Zitat:

Erst wo du dies hier liest,
machst du dir unwillkürlich eine Vorstellung von ihnen. Und schon sind sie da (als Vorstellung) und gleichzeitig nicht da (als wahrnehmbare Körper). Vorher waren sie weder da noch nicht-da.


nachwievor bin ich der überzeugung, dass grüne wildschweine nicht existieren.
darüberhinaus würde mich interessieren, wie "grüne wildschweine" als "vorstellung" existieren?


Zitat:

Eine absolute Wahrheit dürfte sich auf nichts mehr beziehen müssen, richtig. Wenn die absolute Wahrheit also alles, wirklich alles umfassen muss, dann muss sie auch die Unwahrheit umfassen. Die absolute Wahrheit muss wahr und falsch beinhalten, dadurch ist sie selbst jenseits davon. Aber dann kann ich sie nicht mehr Wahrheit nennen.


was ist eine absolute wahrheit? ich verstehe nicht, was das sein soll. wir haben wahrheit, bzw. wahre aussagen und falsche aussagen. was soll an wahren aussagen absolut sein? absolut heißt übersetzt "losgelöst" - losgelöst von was sind solche aussagen wahr?


Zitat:

Fazit: die Wahrheit ist kein Objekt


d'accord.
wahrheit ist das bestehen eines sachverhaltes und insofern metapsrachlich.


Zitat:

Insofern schließe ich mich also Thomas an, der auf den praktischen nutzen pocht. Es kommt drauf an, was ich für wahr halte, und welche Zwecke ich verfolge.


der praktische nutzen umfaßt allerdings nicht alle aspekte von "wahrheit".

- mfg thomas

- IV
- Hermeneuticus am Gestern, 16:15 Uhr

Hallo Thomas!



Zitat:

wenn wir wahrheit unter diesem gesichtspunkt betrachten, gehen wir der frage nach, wann wir eine aussage für wahr halten und nicht der frage, wann eine aussage wahr ist.


Das Wahr-Sein einer Aussage ist aber doch wohl keine Eigenschaft, vergleichbar der Röte einer roten Rose - oder? Sprechen wir über Aussagen in einer "Objektsprache" ?
Nein. Vielmehr gehört das beurteilende Prädikat "wahr" unserer (reflexiven) "Metasprache" an, in der wir auch über über die Bedeutungen von Aussagen sprechen. Und so wenig, wie die Bedeutung einer Aussage eine "objektive Eigenschaft" ist, so wenig ist auch ihr Wahr-Sein ein objektiver Sachverhalt, den wir mit dem Prädikat "wahr" gewissermaßen "zutreffend beschreiben" würden...

Der Versuch, das Fürwahrhalten aus der Diskussion auszublenden - etwa, weil es eine "bloß subjektive" Angelegenheit sei -, liefe auf eine Verdinglichung von Sprache und Sprachstücken hinaus. Aussagen sind dann vorfindliche Gegenstände, über die wir ebenso unversehens stolpern wie über Steine im Weg. Wo sie herkommen, warum sie überhaupt in der Welt sind, wäre gleichgültig. Wahrheitstheorie wäre dann ein Zweig der Naturwissenschaft, der von den Eigenschaften sprachlicher Objekte handelte.

Aber Aussagen sind nur in der Welt, weil es Sprecher gibt, die anderen Sprechern etwas mitteilen wollen. Insofern lässt sich der "subjektive Faktor" des Behauptens, Meinens, des Verstehens oder Nicht-Verstehens, des Fürwahrhaltens und Irrens... nicht einfach ausblenden.
Der "subjektive Faktor" zeigt sich allein schon darin, dass Aussagen grundsätzlich wahr ODER falsch sein KÖNNEN. Ohne dies Wahr-oder-falsch-sein-Können unserer Aussagen wäre der Begriff der Wahrheit überflüssig.

Nur in der Logik lässt sich die Zuschreibung von Wahrheitswerten - und damit die Möglichkeit des Wahr-oder-falsch-Seins - wie eine "objektive Eigenschaft" von Sätzen behandeln. Hier ist der Spielraum von möglichen Wahrheitswerten in der FORM von Sätzen begründet. Aber wie wir wissen, haben die formalen Wahrheitswerte von Sätzen nichts mit deren EMPIRISCHEN WAHRHEIT zu tun.
Und sobald es darum geht, die Wahrheit von ERFAHRUNGS-Sätzen zu untersuchen, brauchen wir Subjekte, die Erfahrungen machen. Es gibt keine "subjektunabhängige Erfahrung", so wenig wie es "Sinnesdaten" ohne Individuen geben kann. Erfahrung ist IMMER "subjektiv".

Also, um es noch einmal ganz klar zu sagen: Ich meine Aussagen aus unserer/über unsere Erfahrungswelt, wenn ich sage, dass Aussagen immer wahr oder falsch sein können. Das Wahr-oder-falsch-Sein-Können solcher empirischen Aussagen kennen wir übrigens ebenfalls nur aus der Erfahrung - nämlich der wiederholten Erfahrung des Irrtums.  d. h. die Irrtumsanfälligkeit unserer Aussagen ist ein FAKTUM.

Nur wenn man vergisst, dass Aussagen immer nur von endlichen Subjekten gemacht werden können, kann man auf die Idee verfallen, das Fürwahrhalten habe in einer Wahrheitstheorie von vornherein nichts zu suchen. Jede wahre Aussage ist - als Äußerung eines Subjekts - zunächst einmal die Äußerung eines Fürwahrhaltens (also eine Behauptung). Wenn sich zeigt, dass die betreffende Aussage sich von diesem subjektiven Fürwahrhalten ablösen lässt, wenn sie also in ihrer Geltung davon nicht abhängt, dann "ist" sie auch intersubjektiv wahr.

Aber diese Zusammenhänge haben wir in "Wahrheit III" schon ausführlich diskutiert.

Gruß
H.

- IV
- Eberhard am Gestern, 18:24 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Da meine Möglichkeiten zu einer zusammenhängenden Entgegnung auf Deine Ausführugnen nicht ausreichen, will ich wenigstens auf einzelne Punkte eingehen.

Du fragst: "Sind Wahrnehmungen kausal bedingte Eindrücke, die gewissermaßen ihre unbezweifelbare "Wahrheit" von Natur aus haben, weil sie uns sozusagen von den "Dingen selbst" eingeprägt werden? Oder enthält das Wahrnehmen interpretative und damit irrtumsanfällige Momente?"

Nehmen wir die wichtigste Sinneswahrnehmung beim Menschen, das Sehen, für das wohl ein Drittel des Gehirns zuständig ist. Das Sehen beruht auf pysikalischen Vorgängen, die relativ gut erforscht sind. Auf der Netzhaut befinden sich Sinneszellen, die zum einen Graustufen von weiß bis Schwarz und zum andern Farben unterscheiden können. Unser Gehirn besitzt Verarbeitungsprogramme für die eintreffenden Signale des Sehnervs, die automatisch die Daten interpretieren und uns nicht Millionen von Pixeln als Wahrnehmung vorlegen, sondern immer schon bestimmte uns bekannte Formen und Gestalten. Diese Gestaltswahrnehmung kann Irrtums anfällig sein. Jeder kennt wohl die Situation, wo er in der nächtlichen Dunkelheit eine etwas unheimliche Wegstrecke gehen muss, und ihm jeder Busch als dunkle Gestalt erscheint.

Du schreibst weiter: " Wenn man "Wahrnehmung" zum Kriterium für Existenz erhebt, droht das Problem einer Aufspaltung unserer menschlichen Wirklichkeit in einen "wirklich existenten", physischen Bereich und einen "metaphysischen" Bereich aus bloß subjektiven Interpretationen und Wertungen. Wir hätten das Problem des Leib-Seele-Dualismus oder der "zwei Welten" (oder wie man diese theoretische Inkonsistenz sonst noch nennen mag)."

Es geht hier um die so genannten "institutionellen Fakten" wie die Handlungen des Versprechens, des Schenkens, des Kaufens usw., also um  sinnhafte Handlungen, die durch Wahrnehmung des Verhaltens allein nicht erfasst werden können, weil zur Feststellung ihres Vorkommens bekannt sein muss, dass ein bestimmtes Verhalten eine bestimmten institutionalisierte Bedeutung hat, z. B. dass der Handschlag die Besiegelung eines Geschäfts bedeutet.

Ich glaube nicht, dass sich hieraus eine Zweiteilung der Wirklichkeit ergeben muss. Bei der Erfassung institutioneller Fakten muss eben zu der Beobachtung des Verhaltens ein entsprechendes Deutungsschema hinzukommen. Dies Schema lässt sich erlernen.

An den Rollenspielen der Kinder kann man beobachten, wie diese sinnhaften Handlungen eingeübt werden. Und schon früh lernen Kinder die Bedeutung und die normativen Konsequenzen solcher Handlungen. Sie sagen: 'Geschenkt ist geschenkt, wieder genommen - in die Hölle gekommen'. Oder 'Versprochen ist versprochen' (Ich erinnere mich auch an die kleinen Tricks. Wenn man etwas versprach, aber dabei gleichzeitig Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand überkreuzte, dann galt das Versprechen nicht und man war nicht daran gebunden.) Auch die Wichtigkeit solcher Institutionen war den Kindern bekannt. Sie wussten: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht".

Uns ist die Bedeutung bestimmter Handlungen derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir auf die Frage: "Hat A dem Vorschlag zugestimmt?" antworten können, obwohl die unterschiedlichsten Verhaltensweisen eine Zustimmung bedeuten können: A hat mit dem Kopf genickt, A hat unterschrieben, A hat in die geöffnete Hand eingeschlagen, A hat gesagt "Ja, abgemacht!", (" Ich bin einverstanden", "Ich stimme zu", "Ich bin dafür", "Ich bin mit von der Partie" usw.).

Du schreibst: "Du kannst nicht darlegen, wie sich Behauptungen und auffordernde Rede zueinander verhalten. So wie es Behauptungen und Sollsätze als zwei irgendwie vorhandene Klassen von Sätzen gibt, so sind ihnen "Sein" und "Sollen" als gesonderte Regionen zugeordnet."

Mein philosophischer  Ausgangspunkt sind die Fragen, die ich und andere haben, und auf die wir eine Antwort suchen. Fragen nach der Beschaffenheit der Welt, wie sie ist und warum sie so ist, wie sie ist, bilden die eine große Gruppe. Hier trete ich der Welt als Betrachter und als Erkennender gegenüber. Gegenstand meiner Fragen sind auch die existierenden menschlichen Ordnungen. Ich frage nach den bestehenden Moral- und Rechtssystemen und wie sie beschaffen sind.

Es gibt jedoch nicht nur die Perspektive des Beobachters, sondern auch die Perspektive des Menschen, der etwas will und der sich mit dem Willen anderer konfrontiert sieht. Als Wollender frage ich (strategisch): "Was soll ich tun, um meine Ziele zu erreichen?" und ich frage gemeinsam mit den andern (ethisch): "Welche Normen sollen für unser Zusammenleben gelten?"

Welche Zusammenhänge und wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Fragen nach dem Sein und den Fragen nach dem Sollen bestehen, zeigt sich dann im Prozess der Beantwortung dieser Fragen. Ich muss die Reflektion dabei nur soweit treiben, wie es zur Beantwortung der jeweiligen Fragen erforderlich ist. Alles andere kann ich getrost den Einzelwissenschaften Psychologie, Soziologie, Linguistik, Geschichtswissenschaft etc. überlassen.

Mit dieser Skizze meiner philosophischen "Perspektive" grüßt Dich Eberhard.

- IV
- jacopo_belbo am Gestern, 21:02 Uhr

hallo hermeneuticus,

wenn ich deine letzte entgegnung lese, scheint es mir, als bestünde zwischen uns ein großes missverständnis. das äußert sich vor allem in folgendem

Zitat:

Der Versuch, das Fürwahrhalten aus der Diskussion auszublenden



Zitat:

Insofern lässt sich der "subjektive Faktor" des Behauptens, Meinens, des Verstehens oder Nicht-Verstehens, des Fürwahrhaltens und Irrens... nicht einfach ausblenden.



Zitat:

Es gibt keine "subjektunabhängige Erfahrung", so wenig wie es "Sinnesdaten" ohne Individuen geben kann. Erfahrung ist IMMER "subjektiv".



Zitat:

das Fürwahrhalten habe in einer Wahrheitstheorie von vornherein nichts zu suchen.


damit gibst du meinen standpunkt nur unzureichend wieder.
ich habe nicht gesagt, dass man den aspekt des "für-wahr-haltens" ausblenden soll. ich plädiere im gegenteil dafür, diesen aspekt auch miteinzubeziehen. aber damit ist nicht die gesamte "wahrheitsfrage" gelöst. das ist eben nur ein aspekt von der verwendung des wortes "wahr". ebenso wie es nur ein aspekt ist, wenn wir sagen, dass ein satz genau dann wahr ist, wenn das zutrifft, was der satz aussagt. und das eine kann auch unabhängig vom anderen bestehen; ich kann einen satz für wahr halten, obwohl er falsch ist, bzw. können sätze die ich für falsch halte wahr sein.


im übrigen finde ich deine wortwahl ein wenig seltsam - wenn du z. B. schreibst, dass es keine subjektsunabhängige erfahrung gebe. sicher, ich stimme dir zu. aber dass erfahrung als solche subjektiv ist, ist nur eine seite der medaille. wir dürfen nicht vergessen, dass das, was wir erkennen, unserer subjektivität vorgängig ist. insofern ist die rede von objektivität auch nur im rahmen der menschlichen erkenntnis sinnvoll - objektivität innerhalb der subjektivität.


Zitat:

Das Wahr-oder-falsch-Sein-Können solcher empirischen Aussagen kennen wir übrigens ebenfalls nur aus der Erfahrung - nämlich der wiederholten Erfahrung des Irrtums.


inwieweit ist das falschsein empirisch?

soweit...

- mfg thomas

- IV
- Hermeneuticus am Gestern, 21:34 Uhr

Hallo Eberhard, hallo Thomas!

Nun endgültig: Ich steige aus der Diskussion aus. Ganz offenbar kann ich mich Euch nicht verständlich machen. Der Aufwand meiner Versuche diesbezüglich steht in keinem interessanten Verhältnis zum Ertrag.

Viel Spaß noch!

Gruß
H.

- IV
- jacopo_belbo am Gestern, 21:57 Uhr

schade, dass du erneut aufgibst.
wenn du allerdings sagst, du kannst dich nicht verständlich  machen, so fragt sich, weshalb du zu diesem eindruck kommst. ich denke schon, dass wir verstehen, was du meinst. ich denke nicht, dass du und ich beispielsweise weit voneinander entfernt sind. allerdings habe ich den eindruck, dass du gegen punkte argumentierst, die ich so nicht vertrete.

- mfg thomas

- IV
- Eberhard am Heute, 09:32 Uhr

Hallo allerseits,

schade, dass Du aussteigst, Hermeneuticus. Aber vielleicht gibt es ja irgendwann wieder Gelegenheit zu einem Austausch von Argumenten – mit weniger großem Aufwand.

Ich glaube übrigens nicht, dass Du Dich nicht verständlich gemacht hast. Du hast immer betont, dass der Prozess des Erkennens kein Naturvorgang ist, sondern dass das Erkennen aus der sozialen Praxis hervorgeht. Insofern ist das Erkennen immer ein an Regeln orientiertes soziales Handeln. Insofern Erkenntnis immer an Sprache gebunden ist, gelten auch hierfür soziale Regeln, die die Bedeutung der Wörter und den Aufbau von Sätzen festlegen.

Du hast immer betont, dass die Erkenntnis – und erst recht die wissenschaftliche Erkenntnis – nur einen kleinen Teil der ansonsten fraglos sich vollziehenden sozialen Abläufe darstellt.
Dabei betonst Du die "Teilnehmerperspektive", die unser lebensweltliches Dasein ausmacht und die die Voraussetzung für die "Beobachterperspektive" bildet. Dein Ziel ist es zu zeigen, wie die Perspektive des Beobachters aus der des Teilnehmers hervorgeht.

An diesem Punkt trennen sich offenbar unsere Wege, da ich an der Klärung und Beantwortung der folgenden Fragen interessiert bin:

Was ist mit "wahren Aussagen" gemeint?  (allgemeine Geltung)

Welche Implikationen hat es, wenn man etwas als wahr behauptet? (Intersubjektivität)  

Was ist das Kriterium für die Wahrheit einer Aussage? (übereinstimmende Wahrnehmung, gemeinsamer Wille, soziale Konvention)

Gibt es verschiedene Kriterien für verschiedene Arten von Aussagen?

Welche Begründungen für die Wahrheit sind  jeweils für die verschiedenen Behauptungen und Arten von Behauptungen geeignet? (Augenschein, glaubhafte Berichte, logische Ableitung)

Welche Argumente sind ungeeignet, den Anspruch auf Wahrheit für eine Aussage einzulösen? (Widerspruchsfreiheit, Nachvollziehbarkeit, keine Aufkündigung der Diskussionsgrundlage)

Wie verhält sich "Wahrheit" zu anderen Auszeichnungen von Behauptungen wie "Allgemeingültigkeit", "Richtigkeit", "Vertretbarkeit", "Plausibilität", "Triftigkeit", "faktische Geltung", "herrschende Lehre bzw. Meinung", "Verbindlichkeit" ?

Viel Spaß bei neuen Disputen wünscht Dir Eberhard.

- IV
- WuWei am Heute, 12:02 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

ich habe deinen letzten Beitrag verstanden und stimme ihm auch weitgehend zu. Jedes angebliche Wahr-Sein ist immer ein Für-wahr-halten.

Meiner bescheidenen Meinung nach trennt ihr aber alle immer wieder Subjektivität und Objektivität. Ihr glaubt, dass es Objektivität außerhalb des Subjekts bzw.unabhängig von ihm geben könnte. Obwohl bereits dieser Glaube subjektiv ist.

Thomas erwähnt das zwar, schreibt aber dennoch: "ich kann einen satz für wahr halten, obwohl er falsch ist, bzw. können sätze die ich für falsch halte wahr sein".

Auch hier geht er offenbar davon aus, dass ein Satz für sich objektiv wahr oder falsch sein kann. Aber diese Objektivität ist wiederum nur innerhalb der Subjektivität möglich. Das heißt, der Satz an sich kann nicht wahr oder falsch sein, aber die überwältignde Mehrheit kann ihn für wahr halten.
Selbst die Aussage: "eins plus eins ist zwei" ist nicht für sich wahr, sondern wird von allen - zu recht - für wahr gehalten.
Das mag bei diesem Beispiel albern wirken, ist es aber nicht.

z. B. ist auch die Röte der Rose keine objektive Eigenschaft für sich, sondern eine subjektive Wahrnehmung. (dass Farbe keine physikalische Eigenschaft, sondern eine Wahrnehmung ist, lernen sogar Azubis in der Floristen-Ausbildung). Dennoch scheinen wir uns alle darüber einig zu sein, dass die Rose rot ist. Wir haben eine gemeinsame Wahrnehmung. Das läßt uns glauben, dass das gemeinsam Wahrgenommene ein objektives Ding ist, dass es also für sich genauso ist, wie es sich für uns darstellt. Wir glauben, wenn wir es nicht wahrnehmen, ist es für sich genauso, wie wir es zuvor wahrgenommen haben (man beachte die Absurdität dieser Vorstellung!).
Oder wir vermuten, dass sich hinter unserer subjektiven Wahrnehmung einer roten Rose eine objektive Realität verbirgt. Schließlich muss es doch, so glauben wir, für unsere subjektive Wahrnehmung eine Ursache, also eine Quelle geben. Trotz aller Intersubjektivität aber bleibt das eine reine Annahme, weil wir auf diese vermutete objektive Realität niemals auch nur den geringsten direkten Hinweis erhalten können. Auch hier wird also getrennt zwischen subjektiver Wahrnehmung hier und objektiver Realität dort.

Dasselbe ist es mit der Zeit. Vor etwa 15 Jahren gab es die "Wende". Diese 15 Jahre erscheinen im Rückblick jedem anders, dem einen kommt diese Zeitspanne ewig vor, dem anderen wie im Flug vergangen. Subjektiv unterschiedlich eben. Intersubjektiv sind wir uns aber alle einig, dass seitdem 15 Sommer und 15 Winter vergangen sind, und entsprechend viele Tage. Wir können also diese Zeit objektiv messen, kein Zweifel. Nur: auch diese objektive Zeitspanne ist nicht von unserer subjektiven Wahrnehmung zu trennen. Diese 15 Jahre sind nirgendwo anders als in unserem zeitlosen Jetzt-Bewußtsein vergangen. Während dieser 15 Jahre war es immer nur jetzt. Da wir uns aber über die objektive Dauer dieser 15 Jahre einig sind, glauben wir, dass diese Zeitspanne für sich da draußen, quasi als objektives Ding, existiert.
dass der Vorgang der "Wende" in einer objektiven, von der Gegenwart getrennten Vergangenheit stattgefunden hat.
Wir glauben also, dass es objektive Zeit an sich gibt.

Wenn mich also jemand fragt, wann die Wende war, werde ich nicht spitzfindigerweise sagen: "Jetzt", sondern "vor 15 Jahren", nur bin ich mir dabei bewußt, dass diese Zeitspanne nicht objektiv, sondern intersubjektiv ist.

Was meint ihr dazu?

Grüße,
WuWei

- IV
- WuWei am Heute, 12:48 Uhr

Hallo Thomas,

ich fürchte, wir haben ein wenig aneinander vorbeigeredet. Verrückt, dass das auch hier ständig passiert, obwohl wir uns alle viel Mühe geben, uns klar auszudrücken.

Natürlich ist ein vorgestelltes Einhorn nicht dasselbe wie ein wahrgenommenes Einhorn. Aber ich hatte es so verstanden, dass wir nicht darüber diskutieren, ob es Einhörner gibt, sondern ob es ein Nicht-Dasein von Einhörnern geben kann?

Und ich wollte klarmachen, dass es ein Nicht-Dasein von irgendetwas - egal ob Einhörner oder Pferde - nicht geben kann. Verstehst du, ein Nicht-Dasein als solches!

Diese Absurdität wollte ich auch mit meinem Beispiel von hellgrünen Wildschweinen verdeutlichen. Natürlich kann ich nicht von einem Nicht-Dasein von was-auch-immer umgeben sein. Oder anders ausgedrückt: ich kann immer nur "etwas" wahrnehmen, aber nicht "nichts".

Du kannst nicht wahrnehmen, dass du keinen Motorradhelm aufhast. Du kannst nur deinen Gedanken wahrnehmen (muss ich das jetzt begründen?), dass du keinen Helm aufhast, oder einen aufhaben solltest.

du schreibst: "was ist eine absolute wahrheit? ich verstehe nicht, was das sein soll. wir haben wahrheit, bzw. wahre aussagen und falsche aussagen. was soll an wahren aussagen absolut sein? absolut heißt übersetzt "losgelöst" - losgelöst von was sind solche aussagen wahr?".

Eine absolute Wahrheit wäre also losgelöst, das heißt sie müßte für sich selbst stehen, sie dürfte sich auf nichts beziehen und von nichts abhängen. Demzufolge kann eine absolute Wahrheit niemals gedacht oder ausgesprochen werden, weil sie dann bereits relativiert wird durch den, der sie denkt oder ausspricht.

Wenn dir also klar ist, dass auch die Aussage: "Es gibt keine Einhörner" nur relativ wahr sein kann, dann paßt ja alles.
Oft aber werden relative Wahrheiten für absolute gehalten, das ist das Problem.

Grüße,
WuWei

- IV
- Dyade am Heute, 14:30 Uhr

Ihr Lieben,

ich habe mir die Mühe gemacht alle "Treads" über die Wahrheit, seit März dieses Jahres, auszudrucken. Es sind stattliche 282 Seiten A4 bei einer Schrifthöhe von ca. 10, also Buchdruckformat.

Ich halte sehr viele, auch kürzere Beiträge, für wunderbare Beispiele, wie elementarste Gedankengänge über das Thema Wahrheit in der Geschichte der Philosophie, wieder und wieder gegangen werden ohne das der jeweilige Autor sich vielleicht darüber im klaren ist, das er zB. Aristoteles, Platon, Demokrit, Hume, Bacon, Descarte, Kant oder wen auch immer, bestätigt oder wiederspricht, ergänzt oder leugnet, versteht oder missversteht. Dies ist für mich unter anderem ein Beleg dafür, das "die große Erzählung", obwohl längst tot gesagt, immer noch am Werke ist.

Es ist für mich auch ein Beleg dafür, das Philosophie lebt. Gleichzeitig ist in den Texten alles vertreten was Menschen auszeichnet wenn sie über das Denken nachdenken. Versuch und Irrtum, Inkonsistenz von Argumenten, wunderbare "Beweise" und wunderbare Wiederlegungen von Behauptungen und scheinbaren Beweisen bis hin zum Scheitern in dem Versuch sich verständlich zu machen und dem damit einhergehenden Ausdruck der Frustration "einfach nicht verstanden zu werden".

Neben all diesen, in meinen Augen bemerkenswerten Qualitäten, die sich immer dann auftun wenn Menschen miteinander reden, gegeneinander argumentieren, wenn Lebensentwürfe aufeinanderprallen, gibt es für mich auch etwas vollkommen Neues, bedingt durch die Form dieses Zusammentreffens.

Wann hat es je in dieser Form solch vielstimmige schriftliche Diskussionen gegeben? Es gab natürlich die großen Salons indenen sich Menschen zum Gespräch trafen, angefangen von dem der Asphasia der parallel zu Platons Akademie "draußen vor der Stadt" einen Zirkel von Menschen zu einem Gespräch zusammenführte, quasi als subversives Element innerhalb der Herrschaft des Perikles über die Stadt Es gab die französischen Salons, den der Catherine de Vivonne, Marquise Rambouillet aus dem die Akademie Francais letzlich hervorging, bis hin zu den Salons der Henriette Herz und der Rahel Varnhagen indenen Menschen sich 'Face to Face' zum Gespräch trafen.

Die Schriftlichkeit als herausragendes Formelement von Foren wie diesem, macht die neue Qualität aus. Ich halte es für wichtig, sich solch identitäts- und differenzstiftender Perspektiven zu bedienen auch, damit man die inhärenten Probleme (1) die sich speziell aus dieser Form ergeben vielleicht besser in den Griff bekommen lassen.                                                                                                                                                                                  

Jetzt, wo die 282 Seiten ausgedruckt vor mir liegen, hat das Ganze auf sonderbare Weise, nicht nur offensichtlich, ein ganz anderes Gewicht. Herausoperiert aus den digitalen Speichern, entwunden den unsicheren Gefilden des digitalen Datentransfers, vorerst gesichert auf Papier, bereit zu überdauern, natürlich auch und leider dem Leben entrissen, liegt es vor mir und ich weiß nicht recht was ich damit anfangen soll.
[bookworm]

Grüße
Dy

(1)(Stichworte: Anonymität, flaming, fehlen jeglicher nonverbaler Zeichen, defacto Sanktionsunfähigkeit der Gemeinschaft gegenüber dem der "ausrastet" uva.)
 

 

 

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