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PhilTalk-Diskussion
 

 Wahrheit III

 

 

PhilTalk Philosophieforen

Theoretische Philosophie >> Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie >> Wahrheit III
(Thema begonnen von: Hermeneuticus am 13. Nov. 2004, 18:14 Uhr)

- III
- Hermeneuticus am 13. Nov. 2004, 18:14 Uhr

Liebe Wahrheitssucher! :-)

Die bisherige Diskussion blieb m.E. unbefriedigend, weil wir methodisch zu ungeordnet vorgegangen sind. Zwar war der Diskussionsansatz "analytisch", aber für meine Begriffe nicht analytisch genug...

Wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir den Gebrauch der Prädikate "wahr" oder "falsch" auf "Aussagen über die Wirklichkeit" beschränken (also sprach-analytisch vorgehen) wollten. Das ist auch sinnvoll, weil man gewöhnlich "wahr" oder "unwahr" nur Aussagen oder Behauptungen nennt. Nachdem das so weit geklärt war, kreiste fast die gesamte Diskussion in "Wahrheit II" um den Begriff der Wirklichkeit, der dabei ja vorausgesetzt wird. Und es ist wohl leicht einzusehen, dass wir mit einer Definition von Wahrheit als das "Zutreffen von Aussagen über die Wirklichkeit" wenig anfangen können, wenn es unentscheidbar oder gar beliebig bleibt, was wir mit "Wirklichkeit" meinen. Wenn jeder etwas anderes darunter versteht, erübrigt sich auch der Wahrheitsbegriff.

Um das "Wirklichkeitsproblem" entscheidbar zu machen, schlage ich vor, dass wir uns näher mit den Situationen beschäftigen, in denen man gewöhnlich den Begriff der Wahrheit verwendet. Damit hätten wir den Wahrheitsbegriff von vornherein in die WIRKLICHE  PRAXIS eingebettet, in der Aussagen auf ihr Zutreffen hin diskutiert werden, d. h. in denen man die Prädikate "wahr" oder "unwahr" TATSÄCHLICH  GEBRAUCHT.
Es soll dabei keine Vorentscheidung über einen spezifischen, fachgebundenen, wissenschaftlichen oder philosophischen Gebrauch getroffen sein. Vielmehr soll es auch Thema sein, wie sich etwa ein lebensweltlicher Gebrauch des Wahrheitsbegriffs zu einem wissenschaftlichen verhält.

Außerdem schlage ich vor, dass wir uns dabei auch Rechenschaft geben über die Rolle, die die REFLEXION (der Zweifel) bei der Verwendung des Wahrheitsbegriffs spielt. –
Was meine ich damit?

Stellen wir uns vor, A sagt im Gespräch zu B: "Iss besser nicht so viel tierische Fette! Davon bekommst du Arteriosklerose."
A begründet also seinen Ratschlag mit einer Behauptung über die Wirklichkeit: Zu viel tierische Fette in der Nahrung erzeugen Arteriosklerose.

Wenn nun B antwortet: "Ja, ich sollte wirklich etwas besser aufpassen." hat sich das Thema erledigt. Mit seiner Zustimmung hat er, ohne viel darüber nachzudenken, die Behauptung über den Zusammenhang von tierischen Fetten und Arteriosklerose als "wahr" akzeptiert.

Antwortet B dagegen: "Das stimmt doch gar nicht! Neulich im Fernsehen..." Und schon befinden sie sich in einer "Wahrheitsdiskussion", d. h. sie machen jene Behauptung über die Wirklichkeit zum Thema. Sie REFLEKTIEREN darüber, weil B sie bezweifelt hat.
Man kann das auch so ausdrücken, dass ihr Gespräch von der "Objektsprache" auf eine "metasprachliche Ebene" gewechselt hat. Erst NACH diesem Wechsel des Themas ist der Unterschied zwischen "wahr" und "falsch" relevant geworden.
Oder anders gesagt: Der Unterschied zwischen "wahr" und "falsch" setzt eine REFLEXION voraus, in der mit der Behauptung über die Wirklichkeit auch diese Wirklichkeit selbst in Frage steht. Es wird also eigentlich danach gefragt, "was denn nun Sache ist", wie es sich WIRKLICH verhält.

Daran wird auch noch einmal erkennbar, dass man nicht einen Begriff der "Wirklichkeit, wie sie ist" einfach als "gegeben" voraussetzen kann, wenn man über die Wahrheit von Aussagen diskutiert. Die Wahrheitsfrage ist zugleich immer auch eine Frage nach der Wirklichkeit.

Ich will, um diesen Gedankengang abzurunden, einen Passus aus der "Logisch-pragmatischen Propädeutik" von P.Janich zitieren, in dem er vier Sprachebenen – Ebenen der Reflexion – von einander abhebt. Mir scheint es nützlich für die Diskussion, sich jeweils Klarheit darüber zu verschaffen, auf welcher Ebene sich die eigenen Äußerungen gerade befinden.

Zitat:

Hält man sich die im vorangegangenen Abschnitt aufgezählten Wahrheitstypen und ihre unterschiedliche Kontrolle schon im Alltag vor Augen, lassen sich vier Sprachebenen unterscheiden: Die unterste ist die des Behauptens in einem Gespräch zwischen Personen. Werden diese objektsprachlichen Behauptungen Gegenstand des Zweifels, beginnt ein metasprachliches Gespräch über deren Zustimmungswürdigkeit. Auf dieser zweiten Ebene werden Begründungen oder Widerlegungen, allgemeiner Argumente für oder wider die fraglichen Behauptungen vorgetragen. Führt auch dieser (" Wahrheits-" ) Diskurs zu Kontroversen, wäre auf einer dritten Sprachebene etwa zu klären, welche Wahrheitskriterien für eine Begründung oder Widerlegung in Frage kommen. Auf dieser dritten Ebene würde etwa erörtert, ob die fraglichen Behauptungen der Objektsprache zum Beispiel tatsächlich an Erfahrung scheitern können oder nicht vielmehr eine logische Folge der zugrunde gelegten Wortverwendungen sind. (...)
Würde nun auch auf dieser dritten Sprachebene des Diskurses über Wahrheitskriterien (...) ein Dissens auftreten, müssten auf einer vierten Sprachebene konkurrierende Wahrheitskriterien bzw. Wahrheitstheorien erörtert werden. Hierher gehören Fragen der oben schon behandelten Art, ob Wahrheit als Strukturähnlichkeit zu einer menschenunabhängigen Realität aufgefasst werden könne oder nicht.
Bei einem Diskurs auf dieser vierten Ebene  handelt es sich nicht mehr um ein Gegeneinander von Argumenten, die selbst nach wahr oder falsch beurteilt werden können. Vielmehr geht es hier um die Rechtfertigung konkurrierender Systeme von Vorschriften, nach denen dem Wahrheitsproblem beizukommen sei.


P.Janich, Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001, S.165f.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 13. Nov. 2004, 21:58 Uhr


Vorbemerkung: Das Folgende wurde geschrieben, als ich noch nichts von diesem neuen Thread wusste.

Hallo Hermeneuticus,

Dir ist wichtig, zwischen "Vollzugswirklichkeit" und "gegenständlicher Wirklichkeit" zu unterscheiden. Ich gebe zu, dass ich weiterhin Probleme habe, den Sinn dieser Unterscheidung einzusehen.

Du schreibst, "dass 'Denken' als schiere, nicht näher bestimmte geistige TÄTIGKEIT mit 'Sein' (Dasein) identisch ist. Nur eben nicht logisch identisch, sondern als Vollzug. ... Die Vollzugseinheit von Denken und Sein bleibt in jeder möglichen gegenständlichen Bestimmung des Denkens erhalten. Aber es ist auch klar, dass sie den jeweiligen Denkinhalten gewissermaßen "im Rücken" liegt; sie wird als solche nicht gedacht – und widersetzt sich auch einer gedanklichen Erfassung."

Was ist aber eine "Vollzugseinheit" bzw. eine "Identität als Vollzug" in Bezug auf Denken und Sein? Vollkommen mysteriös wird es für mich, wenn Du schreibst, dass die Vollzugseinheit von Denken und Sein sich einer gedanklichen Erfassung "widersetzt".  

Ich kann das Verhältnis von Denken und Sein in dem Satz ausdrücken: "Wer denkt, der muss logischer Weise auch existieren." Dabei kommt es nicht auf die gedachten Inhalte an, sondern nur auf das Faktum des Denkens.  

Was darüber hinaus noch eine "Identität als Vollzug" bedeutet, kann ich nicht erkennen. Was ist, gehört zur Wirklichkeit, sei es auch noch flüchtig, veränderlich, unfertig, partikular, individuell, banal etc.  

Du schreibst: " … erfahrungsgemäß begleitet uns die Selbstgewissheit des Daseins ja in vielerlei Vollzügen …" Richtig ist, dass bei vielem, was ich tue, keinerlei Nachdenken oder Zweifel aufkommen – und auch völlig überflüssig, wenn nicht sogar hinderlich wären. Aber um das festzustellen, benötige ich nicht den Begriff der "Vollzugswirklichkeit".  

Dir ist wichtig, dass die Praxis dem Begründen vorangeht. Ich kann dem insofern zustimmen, als etwas nicht deswegen wirklich ist, weil wir es zum Gegenstand von wahren Aussagen machen. Den Kometen Hale-Bopp, der vor wenigen Jahren am Firmament auftauchte, hat es schon gegeben, bevor Menschen ihn entdeckten.

Allerdings: um ihn für wirklich zu halten und diese Überzeugung in einer entsprechenden Existenzbehauptung auszudrücken (" Es gibt einen Kometen mit der Flugbahn x,y,z. Er trägt den Namen 'Hale-Bopp'" ), muss es dafür Begründungen geben.

Die Ebenen des "wirklich seins" (das unabhängig von unserem Denken der Fall sein kann) und die Ebene des "als wirklich halten bzw. behaupten" (das eine Begründung verlangt) müssen deshalb sorgfältig auseinander gehalten werden.

Damit hat sich wohl auch Deine Frage zur Handlung des Aussagens erledigt, wo Du fragst: "Ist die Handlung wirklich deshalb, weil man darüber Aussagen machen kann? Oder ist sie auch wirklich, ohne dass sie zum Gegenstand einer Aussage wird?

Unter der mangelnden Unterscheidung der beiden Ebenen des "wirklich seins" und des "für wirklich halten" leidet auch Deine Feststellung: "Und darum ist nicht nur das … 'wirklich'  … , was durch aufwendige Praktiken der Begründung gegen JEDEN MÖGLICHEN Zweifel abgesichert ist."

Der Komet Hale-Bopp war bereits wirklich, bevor Menschen ihn entdeckten und begründen konnten, dass es einen derartigen Himmelskörper gibt. Aber es ist nicht zulässig, etwas als "wirklich" zu behaupten, ohne dass man über Gründe für die behauptete Existenz des Kometen verfügt.

Es grüßt Dich ein um Verständnis bemühter Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 01:10 Uhr

Hallo Eberhard!

Zitat:

Was ist aber eine "Vollzugseinheit" bzw. eine "Identität als Vollzug" in Bezug auf Denken und Sein? Vollkommen mysteriös wird es für mich, wenn Du schreibst, dass die Vollzugseinheit von Denken und Sein sich einer gedanklichen Erfassung "widersetzt".

Nun, zunächst einmal ist es ein Unterschied, ob man sich eine Handlung nur vorstellt, sie beschreibt oder beobachtet oder ob man sie selbst vollzieht.
Denke ich ÜBER eine Handlung nach oder beobachte bzw. beschreibe ich eine Handlung, die jemand anderes vollzieht, ist diese Handlung ein GEGENSTAND des Wissens. Man kann bestimmen, wo sie anfängt, wo sie endet, welches Ziel sie hat, in welche Teilhandlungen sie zerfällt, welche methodische Ordnung es unter den Teilhandlungen geben muss, damit die Handlung als ganze erfolgreich ist usw. Eine solche Analyse lässt sich mit einer Handlung, die man gerade vollzieht, gewöhnlich nicht durchführen.

Nehmen wir an, die beobachtete Handlung sei eine sprachliche Äußerung. Ist sie einmal gemacht, lässt sie sich beliebig fein bis in die phonetischen Details analysieren und auch - hinsichtlich der sprachlichen Regeln - beurteilen. Es lässt sich auch zurAbhebung bringen, was daran standardisiert ist und was zum "Stil", zum individuellen "Ausdruck" des Sprechers gehört. Usw.
Aber alle diese Untersuchungen kann ein Sprecher unmöglich vornehmen, der gerade spricht. Denn er ist mitten im VOLLZUG dieser Handlung, und genau das verhindert, dass er gleichzeitig ihr unbeteiligter Beobachter ist. Wer denkt den an die Gesetze der Phonetik, die Regeln der Grammatik usw. wenn er einen Satz äußert? Wenn wir sprechen, bauen wir unsere Äußerungen nicht gleichsam aus ihren digitalen Partikeln zusammen.

Sicherlich: Wenn wir bestimmte Handlungsschemata lernen - etwa das Sprechen oder das Klavierspielen oder das Hemdenbügeln -, dann beobachten und kontrollieren wir dabei unsere Versuche. Man nennt das "Üben". Aber eine Handlung üben ist nicht: sie WIRKLICH VOLLZIEHEN. Übungen sind nämlich immer auf einzelne Aspekte fokussiert. So kann man beim Klavierüben mal auf die Hauptstimme, mal auf die Nebenstimmen achten oder auf einzelne musikalische Parameter (Rhythmus, Dynamik, Artikulation usw.). Wenn man aber "richtig spielt", vollzieht man ein (Sinn-) Ganzes, das nicht mehr bis in die Details überblickt wird und auch nicht überblickt werden könnte, wenn man es wollte. Diese Details müssen bis dahin "abgespeichert", automatisiert sein - was aber zugleich bedeutet, dass sie im Vollzug gar nicht mehr bewusst werden. Die Automatisierung "entlastet" unsere bewusste Kontrolle, die offensichtlich recht begrenzt ist.

Nun ist Klavierspielen eine überaus komplexe Handlung. Aber ich denke, wenn man kleine Handlungen aus dem Alltag, die man völlig automatisiert und bewußtslos vollzieht, genau analysiert, wird man entdecken, dass sie - etwa im Vergleich zu den Rechenoperationen eine Computers - immer noch ungeheuer komplex sind, so dass es völlig ausgeschlossen wäre, sie bewusst bis in ihre Details zu überblicken, während wir sie vollziehen.

Das kann man dem armen Bewusstsein nicht als Mangel ankreiden. Denn es arbeitet eben nach dem Prinzip der Selektion des Relevanten aus einem nur vage überblickten Gesamtzusammenhang. Wenn ich mein Bewusstsein auf einige wenige Aspekte dieses Zusammenhangs - die "wesentlichen" - fokussiere, werden die vielen anderen notwendigerweise abgeblendet. Dies ist bereits beim Beobachten eines vor meinen Augen ablaufenden Geschehens so. Umso mehr gilt es für eine Handlung, die ich gerade selbst vollziehe.

Auch ist es für die Sozialwissenschaften eine erkenntnistheoretisch sehr relevante Frage, ob man einen gesellschaftlichen Sachverhalt aus der Sicht des Beobachters oder aus der Beteiligtenperspektive sieht. (Wir haben dieses Problem schon berührt, als wir auf Normen zu sprechen kamen.) Und es ist ein bekanntes Phänomen, dass Beteiligte in mancher Hinsicht "mehr" und auch anderes sehen als Außenstehende; dass aber auch Außenstehende in anderen Hinsichten mehr sehen können als die Beteiligten. So kann jemand, der die Regeln des Schachspiels nicht kennt, keine Züge im Spiel beobachten oder gar beurteilen. Umgekehrt ist ein von einem spanndenden Spiel gefesselter Spieler nicht in der Lage, sich und seine Eigenheiten, die er sich beim Spielen angewöhnt hat, wahrzunehmen.

Das umgangssprachliche Wort von der "Betriebsblindheit" zielt genau auf den von mir gemeinten Unterschied zwischen der Wirklichkeit des Vollzugs (die eine "Innensicht" ist) und der (gegenständlichen) Wirklichkeit des (" äußeren" ) Beobachters.

Ich hoffe, ich habe mich nun etwas verständlicher gemacht.

Zitat:

Ich kann das Verhältnis von Denken und Sein in dem Satz ausdrücken: "Wer denkt, der muss logischer Weise auch existieren." Dabei kommt es nicht auf die gedachten Inhalte an, sondern nur auf das Faktum des Denkens.

Ich bestreite, dass es eine LOGISCHE Abhängigkeit ist, die in Descartes' Satz "Ich denke, also bin ich" aufgezeigt wird. Wie überhaupt "Existenz" kein Thema der Logik ist, sondern allenfalls der Empirie. (Wenn man aus einem Begriff auf seine Existenz schließen könnte, wäre der ontologische Gottesbeweis noch gültig.)

Nun sprichst Du vom "Faktum" des Denkens. Wörtlich übersetzt, bedeutet "Faktum" das Gemachte, Gehandelte. Aber diese Herkunft denken wir gewöhnlich nicht, wenn wir von einem Faktum sprechen. Wir meinen vielmehr etwas, "das der Fall ist". Und dabei nehmen wir gewöhnlich auch die Perspektive des Beobachters ein. Wir haben uns daran gewöhnt, "Fakten" auf den Bereich des (sinnlich) Wahrgenommen oder Wahrnehmbaren zu beschränken.
Aber ein solches sinnlich wahrnehmbares "Faktum" ist das Denken gerade nicht. Man kann es jemandem auch nicht ansehen, ob  er gerade denkt oder nicht. Wohl kann man einer Handlung oder einer Äußerung meist ansehen, ob sich darin das Denken ihres Urhebers manifestiert.
Doch jenes "ich denke", von dem Descartes spricht, ist ein ganz und gar privates "Faktum".

Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, das eigene Denken zu "beobachten". Versuch doch mal, Deine Gedanken zu beschreiben - so, als ob Du eine Handlung beschriebest! Und stell Dir vor, es gelänge Dir - meinst Du, dass wir viel mit Deinen Beschreibungen anfangen könnten? Wüssten wir dann, wie Dein Denken "wirklich beschaffen" ist? Weißt Du selbst, wie Dein Denken "wirklich beschaffen" ist?

Es ist wohl offensichtlich, dass die Gewissheit, die ich von meinem Denken habe, WÄHREND ich denke, von ganz anderer Art ist als die Gewissheit, die ich von einem Vorgang habe, den ich beobachte. Und ich denke, das liegt daran, dass man hier eben KEIN BEOBACHTER ist, sondern EIN HANDELNDER.

Übrigens ist das auch ein wichtiger Punkt für die Diskussion: Wie steht es mit der Wahrheit bei "inneren Wahrnehmungen" (wie eben dem Denken oder Schmerzempfindungen)? Hat hier Wahrheit einen anderen Gebrauch und andere Kriterien als im Falle von empirischen Beobachtungen?

Zitat:

Dir ist wichtig, dass die Praxis dem Begründen vorangeht. Ich kann dem insofern zustimmen, als etwas nicht deswegen wirklich ist, weil wir es zum Gegenstand von wahren Aussagen machen. Den Kometen Hale-Bopp, der vor wenigen Jahren am Firmament auftauchte, hat es schon gegeben, bevor Menschen ihn entdeckten.

Dies wissen wir aber, streng genommen, nicht aus unmittelbarer Erfahrung, sondern wir schließen darauf. Das ist ein erkenntnistheoretisch wichtiger Unterschied.

Und vielleicht wirst Du mir zustimmen, dass etwas, das wir unmittelbar erfahren - sei es als Teilnehmer oder als Beobachter -, "wirklicher" für uns ist als etwas, auf das wir nur schließen können. Es ist ein Unterschied, ob wir Knochen, Rekonstruktionen, Computeranimationen von Dinosauriern betrachten oder ob wir einem solchen Wesen persönlich begegnen. Und ich bin sicher, dass wir bei der Begegnung mit einem Tyrannussaurus Rex nicht viel Zeit auf - für sich genommen, sehr interessante - morphologische Studien verwenden würden...

Bis hierher erst einmal. Auf die weiteren Abschnitte Deines Beitrags gehe ich noch ein.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 14. Nov. 2004, 10:11 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Ich will mich auf einen Punkt beschränken, auf die "Vollzugswirklichkeit" im Unterschied zur "gegenständlichen Wirklichkeit".

Du veranschaulichst das, was Du unter "Vollzugswirklichkeit" verstehst, durch die Perspektive des Handelnden im Vollzug der Handlung und fragst rhetorisch: "Wer denkt denn an die Gesetze der Phonetik, die Regeln der Grammatik usw. wenn er einen Satz äußert?"

Mir ist zwar klar, dass jemand die Fähigkeit haben kann, etwas auszuführen, ohne selber zu wissen, wie er das macht. Wenn ich eine Melodie pfeife und jemand fragt mich: "Wie machst Du das? Ich will das auch können!", so hätte ich wahrscheinlich Schwierigkeiten zu sagen, welche Muskelnbewegungen ich dabei ausführe. Es handelt sich um weitgehend automatisierte Abläufe, bei denen die Nervenimpulse nicht mehr im Großhirn verarbeitet werden, sondern "direkter" geschaltet werden, vergleichbar den Funktionstasten auf der Tastatur, die mit fertigen kleinen Programmen belegt sind.

Mir ist auch klar, dass es so etwas wie die "Weisheit des Körpers" gibt, z. B. wenn unser Körper auf eine zu große Erwärmung mit Schwitzen reagiert, was den Körper wegen der Verdunstungskälte wieder abkühlt. Unser Körper kann also seine Temperatur regeln, ohne dass wir wissen müssen, wie er das macht. Er "weiß", wie es geht.

Aber inwiefern ergibt sich daraus eine besondere Wirklichkeit oder eine besondere Erkenntnis der Wirklichkeit?

Welche Fragen kann ich nicht stellen oder nicht richtig beantworten, wenn mir der Begriff der Vollzugswirklichkeit fehlt?

Was erkennt der Handelnde besonderes, was der Fragende, der Wahrnehmende und der Beobachtende nicht erkennen kann?

Hat man als Handelnder spezielle Sensorien, über die man als Beobachtender nicht verfügt?

fragt Dich Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 14. Nov. 2004, 10:50 Uhr

hallo,

ich muss zugestehen, ich weiß im moment nicht, wo diese diskussion hinführt. lassen wir uns einmal treiben. ich sehe bisher weder vor noch nachteile durch die punkte, die wir bis jetzt herausgestellt haben.

· "wahr" und "falsch" gelten bezüglich sätzen über die wirklichkeit, resp. sätze über die beschaffenheit der wirklichkeit

· wirklichkeit, so war mein vorschlag, ist nichts anderes als die summe all dessen, was in existenzaussagen vorkommen kann. dies habe ich in anlehnung an quines aufsatz "on what there is" vorgeschlagen. es handelt sich bei existenzaussagen um ontologische festlegungen. offen gelassen wird, auf was man sich festlegen möchte. auch hierin denke ich, kann man quine folgen.

· es ist zwischen seins- und sollens-sätzen zu unterscheiden. erstere geben uns auskunft darüber, wie die wirklichkeit ist, letztere sind handlungsanweisungen wie die wirklichkeit sein soll, bzw. wertende sätze, wie handeln entsprechend einer norm beurteilt wird. diese letzteren sätze geben uns keine information über die beschaffenheit der wirklichkeit. sie geben auskunft über einschätzungen, wertungen, und damit implizit auskunft über das werte und normengefüge, welches das handeln der jeweiligen person (möglicherweise) bestimmt.

insofern kann ich den geäußerten vorwurf
Zitat:

weil wir methodisch zu ungeordnet vorgegangen sind

nicht verstehen, und weise ihn als unbegründet zurück. es ist sehr wohl methodisch vorgegangen worden - auch wenn nicht alle mit dieser methodik einverstanden waren.

mit dem abschnitt
Zitat:

Stellen wir uns vor, A sagt im Gespräch zu B: "Iss besser nicht so viel tierische Fette! Davon bekommst du Arteriosklerose."  
A begründet also seinen Ratschlag mit einer Behauptung über die Wirklichkeit: Zu viel tierische Fette in der Nahrung erzeugen Arteriosklerose.  

Wenn nun B antwortet: "Ja, ich sollte wirklich etwas besser aufpassen." hat sich das Thema erledigt. Mit seiner Zustimmung hat er, ohne viel darüber nachzudenken, die Behauptung über den Zusammenhang von tierischen Fetten und Arteriosklerose als "wahr" akzeptiert.  

Antwortet B dagegen: "Das stimmt doch gar nicht! Neulich im Fernsehen..." Und schon befinden sie sich in einer "Wahrheitsdiskussion", d. h. sie machen jene Behauptung über die Wirklichkeit zum Thema. Sie REFLEKTIEREN darüber, weil B sie bezweifelt hat.  


verlassen wir den boden der eigentlichen diskussion und begeben uns ins feld der rhetorik/ideologie(kritik).
es ist dann zu unterscheiden zwischen aussagen, die wahr und falsch sind, und überzeugungen, von denen der sprecher glaubt, sie seien wahr, und die er entsprechend argumentativ verteidigt. es geht dann nicht mehr um aussagen über die wirklichkeit, sondern darum, was die sprecher glauben, von der wirklichkeit zu wissen. demnach gibt es aussagen, die zwar wahr sind, von denen aber keiner der sprecher überzeugt ist. dann gibt es aussagen, die zwar wahr, wovon aber nur ein teil der sprecher überzeugt sind. sie müssen ebenso wie die gegenseite ihre überzeugungen darlegen und argumentativ verteidigen. das problem ist, dass wir hier ein sophistisches problem haben, dass nämlich nicht zwangsweise die überzeugung die der wahrheit entspricht, sich durchsetzt, sondern die, die argumentativ besser verteidigt wird.
der letzte und trivialste fall ist, dass die überzeugungen der sprecher der wahrheit entsprechen.

- mfg thomas

- III
- Dyade am 14. Nov. 2004, 12:42 Uhr

nur ein Zwischenruf :-)

es gab einen Astronomen (ein Lehrer Kants) der berechnete die Wiederkunft eines beobachteten Kometen auf eine bestimmte Anzahl von Jahren hin. Und siehe da, mit angenäherter Genauigkeit kam ein Komet zum berechneten Datum am Himmel wieder zum Vorschein. Welch ein enormer Beweis für die "Wahrheit" der Reflexion, dachte man.

Dann stellte sich jedoch nach Jahrzehnten heraus, das es leider ein anderer Komet war der am Himmel seine Bahn zog.

Es ist also keine kleine Wichtigkeit hier Erkenntnistheoretisch zu Unterscheiden.

- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 12:45 Uhr

Hallo Eberhard!

Zitat:

Es handelt sich um weitgehend automatisierte Abläufe, bei denen die Nervenimpulse nicht mehr im Großhirn verarbeitet werden, sondern "direkter" geschaltet werden, vergleichbar den Funktionstasten auf der Tastatur, die mit fertigen kleinen Programmen belegt sind.

Von "Nervenimpulsen" und "Großhirn" hat ein Handelnder keine eigene, sinnliche Erfahrung. Er kann als naturwissenschaftlich Interessierter Informationen darüber haben. Oder er kann selbst Hirnforscher sein. Aber auch ein Hirnforscher hat keine unmittelbare Erfahrung von dem, was in seinem Grroßhirn vorgeht. Man mag das für eine bedauerliche Beschränkung unserer Erfahrung halten, wird es aber wohl als "naturgegeben" hinnehmen müssen.

Außerdem müssen wir auch die Informationen, die wir von anderen erhalten, oder die experimentell gewonnenen Daten irgendwann in unsere bewusste, sinnliche, unmittelbare Wahrnehmung überführen. Denn noch sind wir nicht so weit, dass unsere Apparate und Computer uns erklären, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, noch müssen wir unsere Sinne unmittelbar gebrauchen und sprachlich interpretieren, welche Bedeutung unsere unmittelbaren Sinneseindrücke haben.
Will sagen: An unserer unmittelbaren Erfahrung und an unseren unmittelbaren Handlungsvollzügen hängt letztlich ALLE Wirklichkeit, von der wir ein Wissen haben und haben können.

Vielleicht lässt sich diese lästige, beschränkte und so fehleranfällige Instanz eines Tages umgehen, so dass Großhirne andere Großhirne "direkt" und fehlerfrei erforschen. Einstweilen brauchen wir noch unsere fünf Sinne, unsere Sprache, unser Denken, brauchen wir "Sinn", brauchen wir Interpretationen - brauchen wir den unmittelbaren Vollzug von Handlungen, um überhaupt irgendeinen Zugang zur Wirklichkeit außer unserer selbst zu haben.

Im übrigen spreche ich die ganze Zeit von menschlichen Handlungen, nicht vom beobachtbaren "Verhalten" menschlicher Organe. Und wenn wir uns einig darüber sind, dass es so etwas wie Handlungen in der Wirklichkeit gibt, die sich von Naturvorgängen signifikant unterscheiden, sollten wir nicht beides miteinander vermengen.

Zitat:

Aber inwiefern ergibt sich daraus eine besondere Wirklichkeit oder eine besondere Erkenntnis der Wirklichkeit?

Nicht "eine besondere", sondern DIE menschliche Wirklichkeit, Siehe oben.

Zitat:

Welche Fragen kann ich nicht stellen oder nicht richtig beantworten, wenn mir der Begriff der Vollzugswirklichkeit fehlt?

Auf diesen Begriff können wir durchaus verzichten, aber wir können nicht darauf verzichten, Handlungen zu vollziehen. Das Stellen einer Frage ist ja eine Handlung.

Zitat:

Was erkennt der Handelnde besonderes, was der Fragende, der Wahrnehmende und der Beobachtende nicht erkennen kann?

Diesen Unterschied wirst Du leicht feststellen, wenn Du zuerst einem anderen Menschen zusiehst, während er sich mit dem Hammer auf den Daumen haut, und dann genau dieselbe Handlung vollziehst. Wetten, dass Du durch diesen Vollzug etwas erkennst, was Du als Beobachter nicht erkannt hast? (Ich setze 10 000 €)

Zitat:

Hat man als Handelnder spezielle Sensorien, über die man als Beobachtender nicht verfügt?

Offenbar nicht. Aber man macht einen anderen Gebrauch davon.

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 13:08 Uhr

PS zur Unterscheidung von Handlungen und Naturvorgängen.

Ein Naturvorgang wie meine Verdauung oder bestimmte hormonelle Zyklen geschehen "von selbst". Handlungen müssen wir ERLERNEN und üben. Wir erwerben Handlungsschemata nicht dadurch, dass sie unserem Großhirn von kompetenter Seite "einprogrammiert" werden. Wir müssen sie selbst DURCH DEN VOLLZUG erlernen. Und niemand hat je eine Handlung dadurch gelernt, dass sie ihm detailliert beschrieben wurde oder dass er sie immer nur beobachtet hat.
Es wäre vielleicht sehr schön, wenn das ginge. Aber bis jetzt sind wir auf das "learning by doing" angewiesen. Noch müssen wir unsere Fehler selber machen, um daraus zu lernen...

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 15:28 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

wirklichkeit, so war mein vorschlag, ist nichts anderes als die summe all dessen, was in existenzaussagen vorkommen kann.

Aber diesen Vorschlag habe ich als unzureichend zurückgewiesen.
Denn, wie gesagt, so kommt Wirklichkeit immer nur als gegenständliche, beobachtete Wirklichkeit in den Blick.

Ich könnte auch sagen: "Existenzaussagen" sind - als Handlungen - schon zu komplex, um von ihnen als einem Ersten, nicht weiter Hinterfragbaren ausgehen zu dürfen. z. B. wird dafür bereits eine etablierte Wissenschaft der Logik beansprucht und deren Zuständigkeit unbefragt vorausgesetzt.

Zitat:

es ist zwischen seins- und sollens-sätzen zu unterscheiden. erstere geben uns auskunft darüber, wie die wirklichkeit ist, letztere sind handlungsanweisungen wie die wirklichkeit sein soll, bzw. wertende sätze, wie handeln entsprechend einer norm beurteilt wird. diese letzteren sätze geben uns keine information über die beschaffenheit der wirklichkeit. sie geben auskunft über einschätzungen, wertungen, und damit implizit auskunft über das werte und normengefüge, welches das handeln der jeweiligen person (möglicherweise) bestimmt.

Wenn wir vom Handeln ausgehen, das, wie ich behaupte, menschliche Wirklichkeit überhaupt ausmacht, müssen Regeln oder Normen als KONSTITUTIVE "Bestandteile" dieser Wirklichkeit anerkannt werden.

Ich hatte Dich schon einmal vergeblich gefragt (ach, ich habe Dir in meinen letzten 10-20 Beiträgen eine Menge nicht-rhetorisch gemeinter Fragen gestellt, die unbeantwortet blieben...), ob z. B. das Schachspiel ALS Schachspiel zur Wirklichkeit gehöre. Wir sind uns doch hoffentlich so weit einig, dass man nicht WIRKLICH Schach spielen kann, ohne seine Regeln zu kennen und zu befolgen.
Wenn aber das Schachspiel ALS Schachspiel, d. h. als eine  bestimmte menschliche Praxis, zur Wirklichkeit gehört, dann vermitteln seine Regeln sehr wohl "Informationen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit".
Solltest Du aber der Ansicht sein, dass das Schachspiel zerlegt werden muss - in Körperbewegungen, mentale Akte, Interpretationen usw. - ehe man auf die "eigentliche" Wirklichkeit stößt, dann könnten auch andere menschliche Praxen ALS SOLCHE nicht Bestandteil der Wirklichkeit sein.

(Dennoch ist es aber zweifellos eine "Existenzaussage" zu behaupten: "Es gibt unter den menschlichen Spielen eins, das 'Schach' genannt wird und das die und die Regeln hat." )

Zitat:

insofern kann ich den geäußerten vorwurf
nicht verstehen, und weise ihn als unbegründet zurück. es ist sehr wohl methodisch vorgegangen worden - auch wenn nicht alle mit dieser methodik einverstanden waren.

Der Begriff der Wahrheit hat seinen Sitz und Sinn ausschließlich im menschlichen Sprachgebrauch. Wenn wir nun seine Bedeutung untersuchen wollen, sollten wir - methodisch geordnet - auch genau von diesem GEBRAUCH ausgehen (statt bereits eine von irgendwo her bekannte Bedeutung als die einzig richtige vorauszusetzen). Es sollte gefragt werden, bei welchen Anlässen Menschen den Begriff der Wahrheit wie verwenden und was sie TUN, INDEM sie ihn verwenden.

Was die Unterscheidung zwischen deskriptiven und präskriptiven Sätzen und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit angeht, so sprachst Du selbst von einer "Vorentscheidung". Mag ja sein, dass sie bei Philosophen einer bestimmten Tradition unhinterfragter Usus ist, es gibt aber auch eine Tradition, die diesen Usus hinterfragt. Insofern können wir diesen Usus nicht einfach als allgemein gültig übernehmen.

Zitat:

mit dem abschnitt (...)
verlassen wir den boden der eigentlichen diskussion und begeben uns ins feld der rhetorik/ideologie(kritik).

Was die "eigentliche" Diskussion ist, können nur die Teilnehmer gemeinsam entscheiden.

Die von Dir inkriminierte Passage ist nichts weiter als ein lebensweltliches Beispiel dafür, wie der Begriff der Wahrheit gebraucht wird. Zu beachten ist auch im einzelnen, WOFÜR ich es als Beispiel genommen habe: Mir ging es dabei um die Unterscheidung verschiedener Sprachebenen (Objektsprache/Metasprache) und Reflexionsniveaus. Und diese Unterscheidung halte im Hinblick auf eine Klärung dessen, was es heißt, den Begriff der Wahrheit zu gebrauchen, für sehr nützlich.

Zitat:

es ist dann zu unterscheiden zwischen aussagen, die wahr und falsch sind, und überzeugungen, von denen der sprecher glaubt, sie seien wahr, und die er entsprechend argumentativ verteidigt.

Nun mal langsam!

Aussagen sind ja nicht "einfach so" wahr oder falsch. Sondern sie sind es nur durch eine Begründung. (Und dann wäre - in einem weiteren Schritt - zu fragen, was denn jeweils als Begründung gelten solle; da kann es unterschiedliche Antworten geben.) VOR der - wirklich geleisteten! - Begründung sind auch solche Aussagen, die sich später als zutreffend herausstellen, nur (für wahr gehaltene) Meinungen.

Man darf wohl - im Einklag mit der bis auf Platon zurückgehenden erkenntnistheoretischen Tradition - wahre Aussagen als BEGRÜNDETE MEINUNGEN verstehen.

Nun ist es aber nicht so, dass wir mit lauter "Meinungen" durchs Leben gehen, sondern wir halten das meiste Wissen, das wir haben, für wahr. So lange, wie es gutgeht. Denn wir können durch neue Erfahrungen oder durch einen Gesprächspartner, der Widerspruch geltend macht, darüber belehrt werden, dass unsere vormalige "Wahrheit" nur eine unzureichend begründete "Meinung" war. So wird also NACHTRÄGLICH aus einem Wissen nur ein Für-wahr-Halten.

Fragt sich, ob ein solches "Für-wahr-Halten" GRUNDSÄTZLICH illegitim, weil ja noch nicht begründet, sei. Indessen sind auch alle Begründungen, die Menschen geben können, immer nur vorläufig. So etwas wie eine "aposteriorische Notwendigkeit" (also die Feststellung einer Notwendigkeit durch Erfahrung) kann es nicht geben, weil wir eben nie ausschließen können, eines Tages des Irrtums überführt zu werden. Und es wäre nichts weniger als die Umstoßung DES erfahrungswissenschaftlichen Prinzips, wenn wir die Fallibilität unserer Begründungen per Dekret ausschließen würden (denn das bedeutet ja "notwendig", dass etwas nur so und nie anders sein kann).

Notwendige Wahrheiten gibt es nur in axiomatischen Sprachen. Aber da wird das mögliche Anders-Sein von Antworten bereits durch die Definitionen und syntaktischen Regeln (also a priori) ausgeschlossen.

Zitat:

es geht dann nicht mehr um aussagen über die wirklichkeit, sondern darum, was die sprecher glauben, von der wirklichkeit zu wissen.

Was meinst Du denn, weiß ein experimentierender Wissenschaftler VOR seinem Experiment? Warum führt er überhaupt ein Experiment durch? Doch offenbar, weil er - "von der Wirklichkeit" - darüber belehrt werden möchte, ob seine Vermutung, sein Für-wahr-Halten in diesem oder jenem Aspekt sich als zutreffend (= "wahr" ) herausstellen wird. VOR dieser Erfahrung kann seine Vermutung eben auch falsch sein und ist eben DARUM eine Vermutung.

An dieser Stelle zeigt sich die Verschiedenheit unseres Vorgehens sehr deutlich: Du beschränkst Dich auf vorliegende "Aussagen über die Wirklichkeit". Ich bestehe darauf, dass wir die Sprecher nicht vergessen, die solche Aussagen hervorbringen. Aussagen sind eben an die empirisch vorkommenden Menschen gebunden, die sie aussprechen und die sie verstehen. Das gilt auch für Aussagen, die in einem Lehrbuch stehen.

Zitat:

demnach gibt es aussagen, die zwar wahr sind, von denen aber keiner der sprecher überzeugt ist. dann gibt es aussagen, die zwar wahr, wovon aber nur ein teil der sprecher überzeugt sind. sie müssen ebenso wie die gegenseite ihre überzeugungen darlegen und argumentativ verteidigen. das problem ist, dass wir hier ein sophistisches problem haben, dass nämlich nicht zwangsweise die überzeugung die der wahrheit entspricht, sich durchsetzt, sondern die, die argumentativ besser verteidigt wird.
der letzte und trivialste fall ist, dass die überzeugungen der sprecher der wahrheit entsprechen.

Pardon, aber wenn wir davon ausgehen, dass jede Aussage von fehlbaren Menschen gemacht wird (und das dürfte eine realistische Annahme sein), werden wir nirgends auf Wahrheiten stoßen, die "einfach so" wahr sind. Sondern Alle Wahrheiten waren einmal Meinungen. Und sie wurden wahr, weil Menschen sie auf die eine oder andere Weise begründet haben. Da aber diese Begründungen - erfahrungsgemäß - nicht für die Ewigkeit gelten, sondern nur bis zur Widerlegung, ist diesem Kreislauf von Meinen-Zweifeln-Begründen-Wissen-Irren... nicht grundsätzlich zu entkommen.

Es macht geradezu die WISSENSCHAFTLICHKEIT aus, dass wir diesen Kreislauf möglichst rege IN GANG HALTEN. Denn das eben macht "Lernen" und "Erkennen" doch aus! Eine Erfahrungswissenschaft, die eines Tages beschlösse, von nun an keine Erfahrungen mehr zu machen, weil an ihrem Wissensbestand jedes "bloße Meinen" und "Glauben" ein für alle Mal ausgeschlossen sei, würde sich durch diesen Akt in eine Kirche verwandeln, die über geoffenbarte Weistümer verfügt.

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 16:05 Uhr

Hallo Dy!

Deinen Zwischenruf kann ich nur bekräftigen.

In meiner letzten Antwort an Eberhard sagte ich schon, dass letztlich alle Erfahrungsdaten, alle Informationen, auch alle erschlossenen Kenntnisse in unser unmittelbares Wahrnehmen und Verstehen überführt werden müssen. Daran hängt letztlich die "Empirie", die den logischen und mathematischen Erkenntnissen die Kleinigkeit voraus hat, dass sie sich auf die "Wirklichkeit" bezieht.

Messinstrumente müssen letztlich mit den menschlichen Augen abgelesen werden; Versuchsapparate müssen entworfen und angeordnet werden; Versuchsabläufe müssen mit dem uns allein zur Verfügung stehenden Bewusstsein "verstanden" oder "interpretiert" werden. Mag sein, dass wir von einer riesigen Menge von Himmelskörpern nur mithilfe des Hubble-Teleskops wissen. Aber wir wissen von ihnen letztlich doch nur, weil wir die von Hubble gesendeten Bilder "mit eigenen Augen" betrachten. Usw.

Also, wenn wir dem Begriff der "Erfahrung" überhaupt eine unverzichtbare Leistung in Bezug auf die Erkenntnis der Wirklichkeit zugestehen wollen, dann müssen wir auch anerkennen, dass diese Erfahrung IN LETZTER INSTANZ immer in die Unmittelbarkeit des Wahrnehmungs- und Verstehensvollzuges zurückführt.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 14. Nov. 2004, 16:06 Uhr

Hallo allerseits,

ich bin wie Thomas der Ansicht, dass unsere Diskussion zu der Frage: "Was heißt es, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr" nicht so unsystematisch war.

Wir haben uns mit der Definition des Wortes "wahr" beschäftigt, insofern es auf Sätze bezogen ist.

Wir haben uns mit der intersubjektiven und intertemporalen Geltung wahrer Aussagen beschäftigt und gefragt, ob und inwieweit Wahrheit Allgemeingültigkeit impliziert.

Wir haben uns dabei auf die Wahrheit derjenigen Sätze beschränkt, die Aussagen über die Wirklichkeit machen.

Wir haben uns dann befasst mit der Unterscheidung zwischen Aussagen über die Wirklichkeit und Definitionen, die die Bedeutung von Worten festlegen.

Wir haben uns mit den Problemen beschäftigt, die durch die Verwendung unterschiedlicher Begriffe, Klassifikationssysteme und Sprachen entstehen.

Wir haben uns mit der Abgrenzung von Aussagen über die Wirklichkeit gegenüber  Werturteilen und normativen Sätzen beschäftigt.

Wir haben uns schließlich mit der Frage beschäftigt, was mit dem Wort "Wirklichkeit" gemeint ist.

Was wir noch diskutieren sollten, ist zum einen das Kriterium der Wahrheit von Aussagen über die Wirklichkeit und zum andern die Besonderheiten, die Aussagen über Psychisches, also z. B. introspektive Aussagen haben.

Es grüßt Euch Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 14. Nov. 2004, 16:13 Uhr

hi hermeneuticus,

die aussage, "ich war gestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich gestern schuhe kaufen war. ich wüßte nicht, inwieweit ich begründen muss, dass ich schuhe gekauft habe. es kann sein, dass du mir nicht glauben wirst, dann werde ich dir den beleg aus dem schuhladen zeigen. dieser beleg hat aber nichts mit der wahrheit oder falschheit des satzes zu tun, sondern damit, dass du die überzeugung hast, ich sei gestern unmöglich schuhe kaufen gewesen.

wenn ich sage, die new york knicks sind besser als die chicago bulls, so wird das eine überzeugung sein, die ich als solche vielleicht begründen sollte. aber ihr wahrheitswert ist unabhängig von meiner begründung. entweder sie sind besser, oder sie sind nicht besser als die bulls. um das zu klären könnte man einen blick in die aktuelle tabelle werfen, und evtl. die leistungen der letzten 20 jahre miteinander vergleichen.

überzeugungen kann man unabhängig von tatsachen haben. sie können wahr oder falsch sein, im vergleich mit den tatsachen.

der satz "vor 10000 jahren ging die sonnen auf" ist genau dann wahr, wenn die sonne vor 10000 jahren aufgegangen ist. allerdings ist der satz so nicht (mehr) überprüfbar.

- mfg thomas

p.s.: existenzaussagen sind das formal-logische äquivalent zu "es gibt [...]". insofern kann ich nicht verstehen, wie man solche aussagen zurückweisen kann. es scheint mir nicht besonders sinnvoll über die wirklichkeit sprechen zu wollen, ohne zu sagen, was es gibt.

- III
- jacopo_belbo am 14. Nov. 2004, 16:20 Uhr

hallo eberhard,

Zitat:

zum andern die Besonderheiten, die Aussagen über Psychisches, also z. B. introspektive Aussagen haben

ein sehr heikles gebiet. :)

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 00:45 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

die aussage, "ich war gestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich gestern schuhe kaufen war. ich wüßte nicht, inwieweit ich begründen muss, dass ich schuhe gekauft habe.

Begründen MUSST Du diesen Satz nicht einmal dann, wenn ihn jemand anzweifeln sollte. Allerdings: Wenn der Zweifelnde jemand wäre, mit dem Du aus irgendwelchen Gründen gut auskommen wolltest - nehmen wir an, es sei Deine brünette Freundin, die bei Deiner (recht späten) Rückkehr aus dem Schuhgeschäft ein langes blondes (!) Haar auf Deiner Schulter gefunden hat... - also, ich glaube, dann würde Dir auch etwas daran liegen, Deiner Behauptung zur nicht mehr bezweifelten GELTUNG zu verhelfen.

Wie ich auch schon einmal sagte: Gelingende Praxen bedürfen keiner zusätzlichen Begründung. Ein Zweifel, ein Dissens, ein Streit, Misstrauen... nun, das würde ich als Anzeichen für ein mehr oder weniger gravierendes Missverstehen oder Misslingen deuten.

Deine ersten beiden Sätze, denke ich, beruhen jedoch auf einem Missverständnis des Wahrheitsbegriffs. "Wahr", darin waren wir uns doch einig, ist ein (metasprachliches) Prädikat, das wir Aussagen zu- oder absprechen. Nun brauchen wir für die Zuschreibung von Prädikaten stets Kriterien, die erfüllt sein müssen, und zwar vom jeweiligen x, dem wir sie zuschreiben. Eine Rose, die wir rot nennen, sollte auch rot SEIN. Und das stellen wir mithilfe unserer Kenntnis des Wortes "rot" und einer dazu passenden sinnlichen Wahrnehmung, die wir von der fraglichen Rose haben, fest.

In unserem Fall ist das x nun aber eine AUSSAGE. Welche Kriterien muss eine Aussage erfüllen, damit die Zuschreibung "wahr" berechtigt/begründet ist? Die Antwort kann zwar lauten: "Sie muss wahr SEIN." Aber dann wäre "Wahrheit" quasi eine "Eigenschaft" von Aussagen, ganz analog der Röte einer roten Rose? Und brauchten wir dazu nur die fragliche Aussage genauer anzuschauen, um zu erkennen, ob sie diese Eigenschaft hat oder nicht?

Offenbar ist das so einfach nicht. Und hier liegt auch wohl der Grund für die Einführung des Begriffs der "Geltung". Wir sagen zwar umgangssprachlich, eine Behauptung SEI wahr, gemeint ist aber eigentlich, dass sie ALS wahr GILT. Und diese Geltung ist eben nicht eine Eigenschaft des Satzes, sondern beruht auf der intersubjektiven ANERKENNUNG zwischen Sprecher und Adressaten. Es ist also die ANERKENNUNG der Adressaten, die einer Aussage zur Geltung verhilft, indem sie sie GELTEN LÄSST. Und das bedeutet, dass diese Geltung vom Urteil DER ADRESSATEN abhängt.

Wenn also Dein Gesprächspartner Deine Aussage gelten lässt - sie also als "wahr" BEURTEILT -, dann brauchst Du sie nicht zu begründen. Lässt er sie aber nicht gelten, und Dir ist an ihrer Geltung gelegen, so wirst Du in den sauren Apfel beißen und Deine VERPFLICHTUNG zur Begründung Deiner Aussage anerkennen und ihr auch nachkommen.

Die Funktion von Begründungen ist also eine kommunikative, ich möchte sagen ethische. Und "Geltung" ist kein Faktum, sondern ein Phänomen der Anerkennung durch eine Adressatengemeinschaft. Kant unterschied hier die "quaestio facti" - die Frage nach den Fakten - von der "quaestio iuris" - der Frage nach der BERECHTIGUNG. Und wenn es um die GELTUNG von ANSPRÜCHEN geht, dann hat die Frage nach der Berechtigung Vorrang vor der Faktenlage.

Wenn in einer Kommunikationsgemeinschaft geklärt ist, dass Geltungsansprüche von Behauptungen über die Wirklichkeit durch FAKTEN eingelöst werden, dann wird die Faktenlage eben auch der fraglichen Behauptung zu ihrer Anerkennung und Geltung als "wahr" verhelfen.

Es ist also - zumindest für eine philosophische Analyse - eine unzulässige Vergröberung der Dinge, wenn man sagt, dass es die Fakten sind, die eine Aussage wahr machen. Wahrheit ist ein kommunikativer, ein Geltungs- und Anerkennungsbegriff. Er bezeichnet keine Eigenschaft von Dingen.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 15. Nov. 2004, 07:16 Uhr

hallo hermeneuticus,

wie darf ich deinen letzten beitrag verstehen? dass ich schuhe kaufen war, ist erst dann wahr, wenn mir jemand glaubt, dass ich wirklich schuhe kaufen war? "ich war vorgestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich vorgestern schuhe gekauft habe. ich wüßte nicht, wieso dieser satz zusätzlich noch "geltung" benötigt. "ich war vorgestern schuhe kaufen" ist genau dann falsch, wenn ich vorgestern keine schuhe kaufen war, sondern z. B. den ganzen tag über zuhause krank im bett lag.

ist das unverständlich?

- mfg thomas

p.s.: wie gesagt, hat die überzeugung einer person nichts mit der wahrheit oder falschheit von aussagen zu tun.

- III
- Eberhard am 15. Nov. 2004, 08:21 Uhr

dem Vorschlag von Hermeneuticus folgend, will ich mein Verständnis des Begriffs "wahr" in einem praktischen Zusammenhang verdeutlichen.

Marcus ist sauer und schimpft: "Joscha hat meinen MP3-Stick kaputt gemacht." Joscha beteuert: "Das ist nicht wahr! Der MP3-Stick war schon kaputt, als Joscha ihn mir gegeben hat." Aber Marcus bestreitet das: "Nein! Als ich ihm den MP3-Stick gegeben habe, war er noch völlig in Ordnung! Ich lüge nicht! Das ist die reine Wahrheit!"

Wir haben hier Marcus, der etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit behauptet (" Joscha hat meinen MP3-Stick kaputt  gemacht!" ) und diese Behauptung als "wahr" kennzeichnet. Und wir haben Marcus, der dies bestreitet.

Wenn z. B. die Norm gilt: "Wer eine geliehene Sache kaputt macht, muss sie auf seine Kosten wieder in Ordnung bringen lassen", dann kommt es bei der Anwendung dieser Norm auf den tatsächlichen Sachverhalt an. Und wenn wir uns darauf verständigen können, dass ein Satz dann als "wahr" bezeichnet werden soll, wenn es so ist, wie der Satz besagt, so kommt es  bei der Anwendung der genannten Norm auf die Wahrheit der Behauptungen über diesen Sachverhalt an. Insofern ist der Begriff "Wahrheit" (oder etwas Entsprechendes) unentbehrlich.

Außerdem zeigt das Beispiel, dass die Frage nach der Wahrheit dann aufkommt, wenn es um Behauptungen über die Wirklichkeit  geht. Wenn jemand einen Witz erzählt oder aus seinem Roman liest und jemand wendet dagegen ein: "Das ist aber nicht wahr!", so kann man nur mit dem Kopf schütteln und sagen: "Das hat ja auch niemand behauptet!"

Das besondere an Behauptungen ist, dass sie einen mehr oder weniger offen ausgedrückten allgemeinen Geltungsanspruch  besitzen. Wenn ich meine Behauptung mit dem Satz unterstreiche: "Das ist wahr!", dann fordere ich jedes beliebige Individuum zur Bejahung und Anerkennung dieses Satzes auf. Mit der Kennzeichnung einer Behauptung als "wahr" wird also unausgesprochen ein überpersönlicher oder "intersubjektiver" Geltungsanspruch für diese Behauptung erhoben.

Anders ausgedrückt: Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er nicht nur für mich wahr, sondern auch für jeden beliebigen anderen. Wenn in unserm Beispiel Joscha zu Marcus sagen würde: "Das mag deine Wahrheit sein, aber meine Wahrheit ist eine andere", so wäre Marcus sicher erstmal verdutzt und er würde dann mit gutem Grund das Gespräch als sinnlos beenden. Wenn es jemandem gar nicht um die eine, gemeinsame Wahrheit geht, gibt es mit ihm auch keine gemeinsame Ebene der Diskussion mehr.

Und noch ein anderer Aspekt des Begriffs "wahr" ist wichtig. Angenommen, in unserm Beispiel gibt Joscha schließlich zu, dass er den MP3-Stick kaputt gemacht hat. Als Marcus ihn am nächsten Tag auffordert, den MP3-Stick zur Reparatur zu bringen, schüttelt Joscha mit dem Kopf und sagt: "Es ist gar nicht wahr, dass ich den MP3-Stick kaputt gemacht habe." Marcus stutzt etwas und sagt: "Aber gestern hast Du doch selber gesagt, dass es stimmt, dass Du ihn kaputt gemacht hast!" Darauf sagt Joscha nur cool: "Was gestern wahr war, muss ja nicht heute wahr sein." Marcus fällt der Unterkiefer runter und nach einer kurzen Überraschungspause wendet er sich mit den Worten: "Der spinnt ja wohl" von Joscha ab.

(Meiner Ansicht nach zu recht, denn wenn ein Satz heute wahr ist, dann muss er auch gestern wahr gewesen sein. Die  Auszeichnung einer Behauptung als "wahr" ist ein  zeitunabhängiger Geltungsanspruch, ich beanspruche also für  einen als wahr bezeichnete Behauptung neben der intersubjektiven Geltung auch noch eine "intertemporale" Geltung.  Kurz gesagt: Mit der Auszeichnung eines Satzes als "wahr" wird für diesen Satz ein allgemeiner Anspruch auf Geltung verbunden.)

Die Frage ist natürlich, wie die Wahrheit oder Unwahrheit eines bestimmten Satzes (" Joscha hat den MP3-Stick von Marcus kaputt gemacht" ) festgestellt werden kann. Zum Kriterium der Wahrheit demnächst mehr.

Es grüßt Euch Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 10:50 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

wie darf ich deinen letzten beitrag verstehen? dass ich schuhe kaufen war, ist erst dann wahr, wenn mir jemand glaubt, dass ich wirklich schuhe kaufen war?


Nein, nicht wenn er GLAUBT, gilt Deine Behauptung, sondern wenn Dein Gesprächspartner URTEILT, dass sie den Tatsachen entspricht.


Zitat:

" ich war vorgestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich vorgestern schuhe gekauft habe. ich wüßte nicht, wieso dieser satz zusätzlich noch "geltung" benötigt.


Sätze sind nicht "einfach so" in der Welt und haben dann die und die "Eigenschaften" wie alle anderen Dinge. Sondern Sätze, Aussagen, Behauptungen wenden sich an - ihrerseits sprach- und urteilskompetente - Adressaten. Man spricht zu anderen Menschen oder schreibt etwas an andere Menschen Gerichtetes, weil man damit etwas BEI IHNEN erreichen will. Wozu sonst sollte man mit ihnen sprechen? Wenn sich doch alles "von selbst" (=automatisch) versteht, kann man sich die Mühe sparen. Und wenn immer das wahr IST, was ein bestimmter Personenkreis sagt, können die anderen immer nur gehorsam abnicken.

Ob Du (inzwischen: vor-) gestern Schuhe kaufen warst oder nicht, ist den allermeisten Menschen auf der Welt Schnuppe. Jedenfalls habe ICH kein Problem damit, Dir zu glauben, dass Deine Behauptung stimmt. Wenn sie nicht stimmt, hat das in meiner Welt keine Folgen (und die chaostheoretischen Szenarien, in denen ein Schmetterling in Australien einen Taifun in Japan "verursachen" könne, halte ich für natur-" wissenschaftlichen" Hokuspokus).
Zu Dissens über die Wahrheit von Behauptungen kann es nur kommen, wenn die Adressaten der Behauptungen ein INTERESSE an ihrer Wahrheit haben, z. B. wenn damit mittelbar oder unmittelbar Folgen für sie verknüpft sind. Und hier tritt das Begründen ins Mittel, ein VERFAHREN, das es den betroffenen Adressaten erlaubt, sich selbst EIN URTEIL über den Sachverhalt zu bilden. Hätte die Begründung nur die Funktion, ein wenig genauer zu erläutern, was den Adressaten als wahr zu glauben BEFOHLEN wird, könnte man sich die Begründung gleich schenken. Gründe sollen einsichtig für die Adressaten sein, sie sollen NACHVOLLZOGEN werden können. (Da haben wir wieder den unmittelbaren Vollzug, den ich für unverzichtbar halte...).

Dabei ist es genau die Eigenschaft von GRÜNDEN, in der JE EIGENEN EINSICHT NACHVOLLZOGEN werden zu können, die es den Adressaten erlaubt, eine begründete Behauptung nicht einfach nur zu GLAUBEN, sondern sie zu BEURTEILEN.



Du erinnerst Dich an unsere Diskussion über die "Taufe" von Dingen durch "korrekte Namen" (in: Wahrheit II, Beiträge Nr. 46 ff.). Damals hatte ich bereits darauf aufmerksam gemacht, dass damit die URTEILSKOMPETENZ von Sprechern kassiert werde. Der Vater hat das Wasser "Wasser" getauft, das Kind gehorcht. So funktionieren Eigennamen tatsächlich. Aber wenn wir den Gebrauch eines Prädikats erlernen, erwerben wir damit zugleich die kognitive Kompetenz, es eigenständig auf andere, noch nicht "getaufte" Fälle anzuwenden. Diese Kompetenz nennt man auch URTEILSVERMÖGEN.

Genau an dieses hat die Aufklärung appelliert - gegen das autoritäre Dogma, gegen das Vorurteil. Und es gehörte eben zur aufklärerischen Vorreiterrolle der Wissenschaften, dass sie keine Wahrheiten mehr VERKÜNDETEN, sondern VON JEDERMANN NACHPRÜFBARE (d. h. beurteilbare) Behauptungen aufstellten.
Dass dieser aufklärerische Hintergrund sich heute weitgehend aus den Naturwissenschaften verflüchtigt hat, dass naturwissenschaftliche Behauptungen (sic!) kursieren wie ehedem Glaubenssätze, dass "Wahrheit" verdinglicht wird zu einer Eigenschaft von Sätzen usw. - das mag wohl so sein. Aber dazu sind wir ja "Philosophen", so etwas nicht einfach durchgehen zu lassen.


Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 12:45 Uhr

Hallo Eberhard!

Mit Deinen Ausführungen bin ich weitgehend einverstanden. Nur denke ich, dass so, wie Du über die "Geltung" von Behauptungen sprichst, der Anschein erweckt wird, diese Geltung sei eine EIGENSCHAFT, die ihnen irgendwie "an sich" anhaftet.

Es freut mich, dass Du meinem Vorschlag gefolgt bist, die Analyse des Wahrheitsbegriffs anhand einer kommunikativen Situation mit mehreren Beteiligten zu erläutern. Aber dieser Ansatz wirkt sich nicht auf die Resultate Deiner Analyse aus.

Ich will das erläutern:  

on 11/15/04 um 08:21:17, Eberhard wrote:

Und wenn wir uns darauf verständigen können, dass ein Satz dann als "wahr" bezeichnet werden soll, wenn es so ist, wie der Satz besagt, so kommt es  bei der Anwendung der genannten Norm auf die Wahrheit der Behauptungen über diesen Sachverhalt an. Insofern ist der Begriff "Wahrheit" (oder etwas Entsprechendes) unentbehrlich.

Da bin ich mit Dir ganz einig.

Aber nun kommt der entscheidende Dissens, der sich wie ein roter Faden durch unsere Diskussionen zieht:  

Zitat:

Das besondere an Behauptungen ist, dass sie einen mehr oder weniger offen ausgedrückten allgemeinen Geltungsanspruch besitzen. Wenn ich meine Behauptung mit dem Satz unterstreiche: "Das ist wahr!", dann fordere ich jedes beliebige Individuum zur Bejahung und Anerkennung dieses Satzes auf. Mit der Kennzeichnung einer Behauptung als "wahr" wird also unausgesprochen ein überpersönlicher oder "intersubjektiver" Geltungsanspruch für diese Behauptung erhoben.

Du formulierst: Behauptungen "besitzen" einen Geltungsanspruch. Nun, das mag nur eine ungeschickte Wortwahl sein, aber Deine weiteren Ausführungen legen die Vermutung nahe, dass Du es auch so meinst: Geltung sei eine Eigenschaft, die Behauptungen anhaftet. Einfach so, wie rote Rosen die Eigenschaft der Röte haben.

Es lässt sich aber doch nicht übersehen, dass es der jeweilige SPRECHER ist, der etwas behauptet, und dass er sich damit an wirkliche ADRESSATEN wendet. Und alles, was er will, ist, dass DIESE ADRESSATEN seine Behauptung anerkennen, dass sie sie als "wahr" GELTEN LASSEN.

Dies ist ein ganz entscheidender Punkt! Die "Geltung" liegt nicht in den Sätzen, sie beruht auf der Anerkennung durch die Adressaten. Es ist IHR URTEIL, ihre EINSICHT, die eine Behauptung VERBINDLICH macht - nämlich auch für sie selbst. Nur DESHALB, weil die Adressaten das Urteil NACHVOLLZIEHEN, gilt es dann auch INTERSUBJEKTIV.

Diesen Nachvollzug kann man unmöglich überspringen, GERADE wenn man von "intersubjektiver Geltung" spricht (statt von "objektiver" oder "tatsächlicher" Geltung).


Wenn man jemanden konkret anspricht und etwas behauptet, dann beansprucht man damit keineswegs "automatisch", es möge ihm "jedes beliebige Individuum" beipflichten. Dies BEHAUPTEST Du, Eberhard, aber es folgt mitnichten aus Deinem Beispiel. Man spricht nicht zu "beliebigen" Individuen, sondern zu ganz konkreten, mit denen man umgeht.

Im vorliegenden Beispiel ist es völlig abwegig anzunehmen, Marcus erhebe einen unbeschränkten Geltungsanspruch - selbst an Menschen in Frankreich oder Australien, von denen Marcus nicht einmal weiß, ob es sie gibt.
Woher soll denn seiner Behauptung, die ER faktisch ausspricht, dieser weltumspannende, ja universelle Geltungsanspruch zuwachsen? Ist "wahr" eine Art Zauberwort mit magischen Qualitäten, von denen die, die es gebrauchen, nichts wissen und die sich hinter ihrem Rücken, hinter ihrer Absicht "einfach so" durchsetzen? Oder sollen wir nicht doch besser die Bedeutung von Begriffen mit dem konkreten GEBRAUCH durch die Sprecher und dem konkreten Verständnis der Adressaten verknüpfen? Und sollten wir nicht doch besser "Geltung" als eine Folge KONKRETER ÜBEREINSTIMMUNG zwischen konkreten Menschen betrachten, Folge nämlich ihrer übereinstimmenden URTEILE, die sie aufgrund ihrer Urteilskompetenz fällen?
Für mich ist klar: Ja, das sollten wir tun.


Damit ist ja keineswegs die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die "Intersubjektivität" der Geltungsansprüche sich bei manchen Behauptungen wirklich auf ALLE Subjekte bezieht. Bei wissenschaftlichen Behauptungen ist das zweifellos so.

Nur ist ein so hoher Anspruch dann auch mit besonders aufwendigen Verfahren der BEGRÜNDUNG verknüpft. Denn schließlich erwächst aus einer so anspruchsvollen Behauptung eine VERPFLICHTUNG allen jenen gegenüber, die dem Anspruch der Behauptung GELTUNG verschaffen, d. h. sie als VERBINDLICH anerkennen mögen. Und diese Verpflichtung besteht darin, die Adressaten nicht zu übergehen, nicht über ihre Köpfe hinweg etwas zu behaupten, das für sie u. U. folgenreich sein kann.
Mit dem ANSPRUCH auf verbindliche Geltung übernimmt man eine BEWEISLAST. Und das Verfahren des Beweises - diese "Methode", dieser "Weg, den man mitgehen kann" - hat den Sinn, diejenigen, an die der Geltungsanspruch ergeht, zu befähigen, SELBST ZU URTEILEN.

Streng genommen (und wir sollten hier auch wirklich streng sein!) ist ein allgemeiner Geltungsanspruch erst dann FAKTISCH eingelöst, wenn wirklich alle, "to whom it may concern", ihn anerkannt HABEN. Nun ergibt es sich aus den faktischen Beschränkungen endlicher Individuen und ihrer Kommunikationen, dass dieses Ziel FAKTISCH nicht zu erreichen ist. Aber daraus folgt dann streng genommen, dass Sätze immer noch ANSPRÜCHE erheben, immer noch BEHAUPTUNGEN sind, wenn sie nicht von allen Adressaten anerkannt SIND, selbst dann, wenn diese die (theoretische) MÖGLICHKEIT haben, sich ein  eigenes Urteil zu bilden. Denn eine Möglichkeit ist eben keine Wirklichkeit.

Analog ist auch die "Intertemporalität" von Geltungsansprüchen zu analysieren.

Bis hier her einstweilen.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 15. Nov. 2004, 13:07 Uhr

hallo ihr beiden,

ich werde bei meiner stellungnahme chronologisch vorgehen. ich denke ihr seid einverstanden :)

also nun zunächst zu eberhard:

Zitat:

Das besondere an Behauptungen ist, dass sie einen mehr oder weniger offen ausgedrückten allgemeinen Geltungsanspruch  besitzen. Wenn ich meine Behauptung mit dem Satz unterstreiche: "Das ist wahr!", dann fordere ich jedes beliebige Individuum zur Bejahung und Anerkennung dieses Satzes auf. Mit der Kennzeichnung einer Behauptung als "wahr" wird also unausgesprochen ein überpersönlicher oder "intersubjektiver" Geltungsanspruch für diese Behauptung erhoben.

wir haben es dann aber nicht mehr mit einer rein epistemischen/deskriptiven funktion von sätzen zu tun, sondern mit einem konglommerat aus epistemischer funktion und persuasiver. wenn ich behaupte, ein satz sei wahr, so versuche ich meine(n) diskussionspartner davon zu überzeugen, dass dem so ist, wie ich sage. dafür ist es nicht notwendig, dass das, wovon ich meine gesprächspartner überzeugen will, auch wahr ist.
wir stellen uns vor, dass, bis gestern, quito die hauptstadt von ecuador war, aber seit 0:00 ist guayaquil -durch einen akt boshafter revolutionäre- die hauptstadt von ecuador.
ich unterhalte mich mit meinem freund darüber, was denn die hauptstadt von ecuador sei. und ich zeige ihm meinen brockhaus. dort steht quito sei die hauptstadt von ecuador. und ich belege meine bloße behauptung, dass es wahr sei, dass quito die hauptstadt von ecuador sei, damit, dass ich ihm eine verlässliche quelle meiner information zeige.
a) meine behauptung ist falsch - denn quito ist in unserem beispiel nicht mehr hauptstadt von ecuador
b) der beleg ist ebenfalls falsch - aus dem selben grund wie (a)
c) glaubt mir mein freund, da er meiner quellenangabe vertraut und akzeptiert meine behauptung

es wird ersichtlich, dass in diesem fall wahrheit und behauptung nicht übereinstimmen, sowie, dass es möglich ist, jemanden von etwas zu überzeugen, was falsch ist.

Zitat:

Außerdem zeigt das Beispiel, dass die Frage nach der Wahrheit dann aufkommt, wenn es um Behauptungen über die Wirklichkeit  geht.

das sehe ich ein wenig anders. der fall, dass wir uns über die beschaffenheit der wirklichkeit unterhalten ist eine möglichkeit, uns mit fragen nach der wahrheit von aussagen zu beschäftigen. wie steht es aber mit fragen der art: "war saruman der weiße gegenspieler von gandalf dem grauem in tolkiens herrn der ringe" ? es wäre verblüffend daraus eine frage nach der beschaffenheit der wirklichkeit zu generieren.

Zitat:

Die  Auszeichnung einer Behauptung als "wahr" ist ein  zeitunabhängiger Geltungsanspruch,


auch das halte ich nicht für offensichtlich, bzw. einsichtig. wir sollten zwischen aussagen unterscheiden, die diese zeitunabhänigie qualität haben, und denen, die sie nicht haben: e.g. "gestern hat es in quito geregnet".

eine andere betrachtungsweise ist die der wahrheit über mögliche welten hinweg. der satz "aristoteles ist der schüler von platon" ist nicht in jeder möglichen welt wahr. es wäre denkbar, dass aristoteles in einer anderen welt, nicht schüler von platon war. hingegen ist die aussage "aristoteles ist aristoteles" in jeder möglichen welt wahr. ebenso der satz "gestern hat es in quito geregnet" ist nicht notwendigerweise in allen welten wahr, auch wenn in allen denkbaren welten quito existiert.

soweit zu eberhard.

nun zu hermeneuticus:

Zitat:

Man spricht zu anderen Menschen oder schreibt etwas an andere Menschen Gerichtetes, weil man damit etwas BEI IHNEN erreichen will. Wozu sonst sollte man mit ihnen sprechen?

ich finde die formulierung "etwas erreichen wollen" ein wenig weitgespannt. außerdem ist die folge der sätze zirkulär:
(i) man spricht zu anderen menschen, um etwas erreichen zu wollen
(II) wozu sonst sollte man mit ihnen sprechen?.

außer acht bleibt zum beispiel die tatsache, dass ich diesen satz "ich war vorgestern schuhe kaufen" rein zu persönlichen zwecken in mein tagebuch notieren kann. in diesem falle habe ich den satz nicht für andere aufgestellt. auch wenn ich einen bestimmten zweck verfolgt haben mag.

Zitat:

Und wenn immer das wahr IST, was ein bestimmter Personenkreis sagt, können die anderen immer nur gehorsam abnicken.


einspruch! wahr ist nicht automatisch das, was personen sagen - auch wenn sie beteuern es sei wahr (c.f. obiges beispiel "quito ist die hauptstadt von ecuador).

Zitat:

Zu Dissens über die Wahrheit von Behauptungen [...]


wir sollten besser von "dissens der überzeugungen" sprechen, um keine verwirrung zwischen sätzen, die wahr sind, e.g. "ich war vorgestern schuhe kaufen", und sätzen die beanspruchen wahr zu sein, e.g. "meine freundin ist der überzeugung, dass ich vorgestern schuhe kaufen war. (in wirklichkeit habe ich schon ihr weihnachtsgeschenk gekauft)".
wahrheit ist unabhängig von den überzeugungen.

überhaupt scheint in dieser diskussion nicht ausreichend differenziert zu werden zwischen wahrheit und überzeugungen.

Zitat:

Genau an dieses hat die Aufklärung appelliert - gegen das autoritäre Dogma, gegen das Vorurteil. Und es gehörte eben zur aufklärerischen Vorreiterrolle der Wissenschaften, dass sie keine Wahrheiten mehr VERKÜNDETEN, sondern VON JEDERMANN NACHPRÜFBARE (d. h. beurteilbare) Behauptungen aufstellten.  
Dass dieser aufklärerische Hintergrund sich heute weitgehend aus den Naturwissenschaften verflüchtigt hat, dass naturwissenschaftliche Behauptungen (sic!) kursieren wie ehedem Glaubenssätze, dass "Wahrheit" verdinglicht wird zu einer Eigenschaft von Sätzen usw. - das mag wohl so sein. Aber dazu sind wir ja "Philosophen", so etwas nicht einfach durchgehen zu lassen.

diesen absatz verstehe ich nicht.
ich kenne keine "naturwissenschaftlichen behauptungen" die wie "glaubenssätze kursieren".
was ist eine "verdinglichte wahrheit" ?
sätze sind wahr oder falsch. aber weshalb wird wahrheit deshalb "verdinglicht" ?

- mfg thomas

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- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 14:53 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

wahrheit ist unabhängig von den überzeugungen.


Ich denke, es kommt auf die Qualität der Überzeugungen an.

Bin ich davon überzeugt, dass man Ausländern nicht trauen kann, und meide ich aufgrund dieser Überzeugung den Umgang mit ihnen, so beraube ich mich selbst der Chance, eines Besseren belehrt zu werden.
Eine solche Überzeugung nennt man auch "Vorurteil". Und es zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht gut BEGRÜNDET ist. Denn es entbehrt genau der Erfahrungsgrundlage, die es begründen könnte.

Eine Überzeugung dagegen, die ich aufgrund eigener Einsicht, eigener Wahrnehmung, eigenen URTEILS oder eigenen Vollzugs habe, ist eben gut begründet. Das hindert nicht, dass weitere Erfahrungen oder Einsichten mich zu ihrer Korrektur veranlassen. Im Gegenteil: Da meine Überzeugung sich auf Erfahrung und Einsicht stützt (d. h. WEGEN dieser Einsicht gilt), bin ich implizit bereit, mich auch auf neue Erfahrungen und Einsichten einzulassen. Ich habe mit einer solchen BEGRÜNDETEN Überzeugung nicht die Bücher ein für alle Mal geschlossen und dekretiert: "So ist es bis in alle Ewigkeit."

Es kommt noch etwas Wichtiges hinzu:

Die GRÜNDE für meine Überzeugung, auf die ich verweise oder die ich andern zugänglich mache, setzen andere in den Stand, SELBST ZU URTEILEN. d. h. diese Gründe stützen sich auf Erfahrungen und Einsichten, die andere NACHVOLLZIEHEN  können. Oder anders gesagt: DIESE Art von Gründen liegen nicht in den Eigenheiten und Eigenwilligkeiten MEINER Persönlichkeit. Sie lassen sich von meinen Eigenheiten ablösen - also eben von anderen Individuen, die ganz andere Eigenheiten haben, nachvollziehen.

Dieser Umstand schließt nicht aus, dass ich von einer Behauptung, die für andere nachvollziehbar ist, weiterhin PERSÖNLICH ÜBERZEUGT bin. Im Gegenteil, ich werde wohl noch überzeugter von ihr sein. In diesem Fall aber - MIT RECHT.



Nach diesen Differenzierungen stimmt Deine Behauptung "Wahrheit ist unabhängig von Überzeugungen" durchaus. Aber nun ist auch geklärt, worin diese Unabhängigkeit der Wahrheit von INDIVIDUELLEN Überzeugungen besteht: Wahre Behauptungen sind so begründet, dass sie auch andere Individuen überzeugen können.



Gruß
H.

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- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 22:53 Uhr

Werter Gast!

Ich wette, Du kennst die folgende kleine Geschichte von Franz Kafka noch nicht. Darum will ich mir die Zeit nehmen und sie mir zum Vergnügen und Dir zur Bestätigung abschreiben. Es geht in dieser Geschichte auch ums Gewinnen und Verlieren...

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Franz Kafka: Von den Gleichnissen

Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: "Gehe hinüber", so meint er nicht, dass man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.

Darauf sagte einer: "Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei."
Ein anderer sagte: "Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist."
Der erste sagte: "Du hast gewonnen."
Der zweite sagte: "Aber leider nur im Gleichnis."
Der erste sagte: "Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren."

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 16. Nov. 2004, 18:09 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

noch mal zu der Frage, warum ein als 'wahr' behaupteter Satz einen personunabhängigen und zeitunabhängigen Geltungsanspruch beinhaltet.

Der Grund hierfür liegt meines Erachtens darin, dass eine Behauptung wie: "Der zweite Weltkrieg forderte mehr als 20 Millionen Tote" keinerlei Geltungsbeschränkungen enthält. Diese Behauptung kann unabhängig davon überprüft werden, welche Person zu welchem Zeitpunkt diese Behauptung gegenüber wem geäußert hat.

Grundsätzlich kann selbst ein Mensch, der erst noch geboren wird, diesem Satz  widersprechen und sagen: "Das stimmt nicht", wenn er diesen Satz in einem Buch liest.

Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er für jeden und jederzeit wahr. Wenn ein Satz also als "wahr" behauptet wird (und nicht Teil einer Comedy-Show ist), dann ist mit ihm ein unbeschränkter Geltungsanspruch verbunden.

Zum Beispiel ist die Behauptung "Die Zerstörung des Welthandelszentrums wurde vom us-amerikanischen Geheimdienst durchgeführt" mit einem person- und zeitunabhängigen Geltungsanspruch verbunden, ohne dass bekannt sein muss, wer solchen Schwachsinn gegenüber wem jemals geäußert hat.

(Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass zukünftige Sprachen auch Möglichkeiten zur Formulierung personell und zeitlich begrenzter Geltungsansprüche in Bezug auf Aussagen über die Wirklichkeit entwickelt, ähnlich wie im Recht, wo Rechtssätze erst ab einem bestimmten Zeitpunkt "in Kraft treten" bzw. "gelten". Aber das ist vorerst noch Science-fiction …)

Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang sinnvoll, noch einmal zu reflektieren, warum die Menschen den Begriff "wahr" überhaupt erfunden haben und warum man ihn neu erfinden müsste, wenn es ihn nicht gäbe.

Meiner Ansicht wird der Begriff der Wahrheit immer dort benötigt, wo gemeinsam gehandelt werden muss. Damit gehört der Begriff der Wahrheit zum Kern dessen, was eine Gesellschaft zusammenhält.

Gemeinsames Handeln setzt gemeinsame Entscheidungen voraus. Wie man sich entscheidet, hängt nicht zuletzt von den Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ab. In meinem Beispiel vom kaputten MP3-Stick kann eine gemeinsame Rechtsordnung nur dann praktiziert werden, wenn man sich einig ist, wer das gute Stück kaputt gemacht hat. Und über wirtschaftspolitische Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit kann man sich nur einigen, wenn man die gleiche Ansicht über die grundlegenden Ursachen der Arbeitslosigkeit hat.

Es grüßt Dich und alle andern, die das harte Brot des methodischen Denkens essen, Eberhard.

- III
- Eberhard am 16. Nov. 2004, 18:39 Uhr

Hallo Thomas,

zum person- und zeitunabhängigen Geltungsanspruch.

Mir reicht es, wenn Du akzeptierst, dass eine wahrer Satz für jedermann und jederzeit wahr ist.

Der Satz "Heute hat es hier geregnet" ist meiner Ansicht nach kein Gegenbeispiel, weil dieser Satz je nach Ort und Zeitpunkt etwas anderes bedeutet und andere Aussagen enthält.

Worte wie "ich", "jetzt", "hier" etc. sind Variable, die verschiedene Bedeutungen annehmen je nach der Situation in der sie geäußert werden. Wenn ich aber die Bedeutung des Satzes "Ich schreibe jetzt einen Beitrag für Philtalk" ohne Variable formuliere als "Eberhard schreibt am 16.11.2004 um 18:27 Uhr einen Beitrag für Philtalk" dann ist das Problem beseitigt.

Die Frage "War saruman der weiße gegenspieler von gandalf dem grauem in tolkiens herrn der ringe?" ist meiner Ansicht nach eine Frage nach dem Inhalt eines existierenden Buches, in dem die fiktiven Personen Saruman und Gandalf fiktive Handlungen begehen.

Diese Fiktion Tolkiens gibt es tatsächlich, sie ist Teil der Wirklichkeit. Die Frage ist also durch Zitate aus dem Buch belegbar und damit möglicher Gegenstand einer empirischen Literaturforschung.

Es grüßt Dich Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am 16. Nov. 2004, 18:51 Uhr

Hallo Thomas!

on 11/15/04 um 13:07:16, jacopo_belbo wrote:

wir haben es dann aber nicht mehr mit einer rein epistemischen/deskriptiven funktion von sätzen zu tun, sondern mit einem konglommerat aus epistemischer funktion und persuasiver. wenn ich behaupte, ein satz sei wahr, so versuche ich meine(n) diskussionspartner davon zu überzeugen, dass dem so ist, wie ich sage. dafür ist es nicht notwendig, dass das, wovon ich meine gesprächspartner überzeugen will, auch wahr ist.


Worauf Deine Argumentation hinausläuft: Die Wahrheit von Sätzen steht schon fest bzw. muss schon feststehen, bevor sie ausgesprochen werden. Aber das hätte absurde Konsequenzen.

Da ja weiterhin gesprochen würde, bräuchte man dann doch noch ein zusätzliches Verfahren, durch das sich unter den gesprochenen Sätzen die wahren von den unwahren unterscheiden ließen. Denn selbstverständlich könnte auch dann jedermann noch behaupten, ER spreche die lautere Wahrheit, ER wisse doch, dass er gestern Schuhe kaufen war usw.  

Oder sollte man denen, die schon im voraus der Lüge verdächtig sind, Redeverbot erteilen?

Könnte es dann überhaupt so etwas wie eine GETEILTE, ÖFFENTLICHE Wahrheit geben? Würde dann nicht Wahrheit zu einer Privatsache? Hätte dann nicht jeder nur noch seine eigene Wahrheit, und zwar streng geknüpft an seine eigenen Erfahrungen und Handlungen? Aber dann bräuchten wir zugleich eine vorsprachliche Technik, durch die wir Selbsttäuschungen sicher ausschließen könnten. Denn stell Dir vor, Du hättest nur geträumt, dass Du Schuhe kaufen warst, seist aber mit dieser Gewissheit aufgewacht! Diese Möglichkeit müsstest Du schon ausschließen können, ehe Du sagtest/behauptest, Du seist WIKRLICH im Schuhgeschäft gewesen... Und wenn es so eine Technik gäbe - müsste sie nicht bei allen GLEICH funktionieren? Aber wie könnte man das sicherstellen?

usw.

Ich denke, das Unterfangen, Wahrheit von den faktischen Aussagen faktischer Sprecher loszulösen, wäre gleichbedeutend mit einer Aufhebung des Wahrheitsbegriffs.
Der Begriff der Wahrheit kann sich nur beziehen auf die FAKTISCHEN Aussagen (=Behauptungen) von Sprechern, die einer GEMEINSAMEN WIRKLICHKEIT angehören. Und der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs dient eben dem Zweck, begründete von unbegründeten "Überredungen" zu unterscheiden, wobei die begründeten dann "wahr", die anderen "unwahr" heißen. Der Versuch, diese Unterscheidung schon VOR den faktischen Äußerungen zu treffen, würde das Gegenteil dessen erreichen, was er anstrebt. Die babylonische Sprachverwirrung wäre dagegen ein Kinderspiel...

Gruß
H.


- III
- Hermeneuticus am 16. Nov. 2004, 21:42 Uhr

Hallo Eberhard!

Die Ersetzung der Variable durch "unabhängige", "absolute" Orts- und Zeitangaben ist nicht ganz so einfach, wie Du sie in Deiner Anwort an Thomas darstellst:


on 11/16/04 um 18:39:20, Eberhard wrote:

Mir reicht es, wenn Du akzeptierst, dass ein wahrer Satz für jedermann und jederzeit wahr ist. (...)

Wenn ich aber die Bedeutung des Satzes "Ich schreibe jetzt einen Beitrag für Philtalk" ohne Variable formuliere als "Eberhard schreibt am 16.11.2004 um 18:27 Uhr einen Beitrag für Philtalk" dann ist das Problem beseitigt.


Hier setzt Du voraus, dass "jedermann" in der Lage sei, die Angabe "16.1.2004 um 18:27 Uhr" nicht als Vairable, sondern als "absoluten" Wert zu verstehen.

Kann man das aber so ohne weiteres voraussetzen? Wie schwierig es ist, ein "absolutes" Bezugssystem zu finden, innerhalb dessen die verschiedenen Ortszeiten miteinander zu vergleichen sind, hat die moderne Physik uns gelehrt. Schon terrestrisch war es keine Kleinigkeit, ein solches Bezugssystem zu etablieren. Das setzte nämlich eine hochentwickelte Technik voraus, die wirklich annähernd gleich gehende Uhren herstellen konnte. Damit hat man aber nur die TERRESTRISCHEN Ortszeiten (annähernd) vergleichbar gemacht, und die umfassen nun nicht ALLE Ortszeiten, wie der Begriff "jederzeit" unterstellt.

Natürlich genügt eine terrestrische Uhrengleichheit FÜR UNSERE ZWECKE HIER. Aber festzuhalten bleibt, dass sich dieses "Genügen" auf UNSERE ZWECKE und nicht auf eine "absolute Wirklichkeit" bezieht. Es handelt sich um ein von Menschen HERGESTELLTES, TECHNISCHES Bezugssystem und bleibt damit "relativ".

Das Problem der Zeitmessung ist verzwickt, und ich bin kein Physiker. Aber auch bei weitem nicht alle Physiker scheinen da vollends durchzublicken, da "Zeit" meist zirkulär definiert wird. Einsteins Satz: "Zeit ist das, was Uhren messen" weist zwar in die richtige Richtung, setzt freilich die Existenz von (gleich gehenden!) Uhren schon voraus. Aus der Literatur - besonders den Arbeiten von P.Janich zur Chronometrie - habe ich so viel verstanden, dass Zeitmessung eine konventionelle SETZUNG, eine NORMIERUNG ist, die ohne die geeigneten technischen Mittel  - also gleich gehende Uhren - nicht zu realisieren ist.

Zeitmessung setzt jedenfalls stabile periodische Vorgänge voraus, die sich in eine Skala unterteilen lassen. Wenn man eine "natürliche Uhr" als Bezugspunkt wählen will - etwa die  Sonnenumrundung der Erde - benötigt man aber bereits Uhren, um festzustellen, ob diese Bewegung wirklich streng periodisch verläuft. - Man kann, wenn man einmal eine Uhr hat, durch Vergleiche weitere Uhren finden, die präziser gehen. Bis dato ist die präziseste die Atomuhr. Aber man kann schlecht behaupten, sie messe die "absolute Zeit"....

Wie auch immer: Der Begriff "jederzeit" ist eine von Menschen hervorgebrachte Idee, eine zweckgebundene Setzung, die PRAKTISCH nur näherungsweise erreicht werden kann. Und als Setzung gilt sie nicht absolut.

Mehr wollte ich nicht zeigen.


Gruß
H.

*****************************************+

- III
- Hermeneuticus am 16. Nov. 2004, 23:10 Uhr

Hallo Eberhard!



on 11/16/04 um 18:09:53, Eberhard

wrote
:

Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er für jeden und jederzeit wahr.


Für jeden, DER IHN VERSTEHT. So weit waren wir in unserer Diskussion schon einmal.

Ein Satz kann überhaupt nur etwas bedeuten innerhalb einer Sprache, d. h. eines Bezugssystems, das es (einer stets begrenzten Anzahl) Menschen erlaubt, ihre Äußerungen auf einander zu beziehen. Und die Geltung eines Satzes wird - in letzter Instanz - diesen Bezugsrahmen nicht überschreiten können. Die Geltung! GeltungsANSPRÜCHE mögen unbegrenzt sein. Aber für Ansprüche allein bekommt man nichts. Mit einem Anspruch auf 100 € kannst Du Dir nichts kaufen, sondern nur mit einem irgendwie EINGELÖSTEN Anspruch. Ein unbeschränkter Geltungsanspruch ist wie ein Scheck, von dem man nicht weiß, ob er gedeckt ist.



Zitat:

Meiner Ansicht nach wird der Begriff der Wahrheit immer dort benötigt, wo gemeinsam gehandelt werden muss. Damit gehört der Begriff der Wahrheit zum Kern dessen, was eine Gesellschaft zusammenhält.


Damit bin ich durchaus einverstanden.

Nun ist zu bedenken, dass man zwar "global denken" kann, aber immer nur an einem ganz bestimmten Ort auf dieser Welt HANDELT. Und ihre Handlungen müssen Menschen nur so weit unter einander koordinieren, wie sie einander ins Gehege kommen können.
Dieser Bereich, in dem Menschen einander durch ihr Handeln in Gehege kommen, ist jeweils ihre "gemeinsame Wirklichkeit".

Gewiss, es gibt heute Menschen, deren Handeln andere Menschen weltweit tangiert. Sogar ein "privater" Börsenspekulant wie z. B. Soros kann mit ein paar Telefonaten ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen. (Um von noch Schlimmerem zu schweigen...)
Wo solche Interdependenzen existieren, bedürfen die darin Verwickelten auch einer gemeinsamen Sprache und damit gemeinsamer Normen. Und die werden sich auch - unweigerlich - herausbilden. Das will ich nicht bestreiten.

Ich wehre mich nur dagegen, das Pferd erkenntnistheoretisch vom Schwanz her aufzuzäumen. Es ist die gemeinsame PRAXIS, die gemeinsame Bezugssysteme hervorbringt. Es ist nicht so, dass gemeinsame Bezugssysteme entstehen, weil es in den KÖPFEN der Menschen Idealisierungen wie "unbeschränkte Geltungsansprüche" gibt.

ALS Idealisierungen existieren derartige Begriffe unbestreitbar. Wir "arbeiten" mit ihnen auf Schritt und Tritt. Jedes Prädikat beansprucht ja schon Allgemeinheit. Aber die  BEDEUTUNG dieser Begriffe liegt in ihrem GEBRAUCH. Dieser ist die EINLÖSUNG des Anspruchs. Und der ist eben immer nur begrenzt.



Zitat:

Gemeinsames Handeln setzt gemeinsame Entscheidungen voraus. Wie man sich entscheidet, hängt nicht zuletzt von den Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ab.


Du sagst m.E. ganz richtig: ANNAHMEN. Und ich würde ergänzen: Man braucht vor allem auch bereits gemeinsame ERFAHRUNGEN, also schon das Verwickelt-Sein in eine gemeinsame Praxis. Diese ist die PRIMÄRE WIRKLICHKEIT, die - erfahrungsgemäß - dann auch gemeinsame Bezugs- und Deutungssysteme hervorbringt, also z. B. Theorien und Hypothesen über die für alle Betroffenen RELEVANTE Wirklichkeit.

Denkt man aber daran, welchen REICHTUM an von einander unabhängigen oder koexistierenden Praxen, Gruppierungen, Systemen usw. es nur schon innerhalb einer Gesellschaft gibt, so erscheint es schlicht als eine realistische Forderung, die praktischen EINSCHRÄNKUNGEN allgemeiner Geltungsansprüche fest im Blick zu behalten. Mir erscheint diese ENTLASTUNG von ausgreifenden Geltungsansprüchen, wo immer sie möglich ist, eine notwendige Voraussetzung von GELEBTER Freiheit zu sein.  

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 08:10 Uhr

hallo hermeneuticus,

aber so, wie ich es sage, wird es doch auch in der praxis gehandhabt, oder irre ich mich? die wahrheit von aussagen liegt außerhalb dessen, was jemand als "wahr" deklariert.
wenn jemand behauptet, es sei wahr, dass im irak "weapons of massdestruction" zu finden seien, so wird man eben den irak kurz mal hops nehmen und nachschauen, ob dem so ist. und wenn man keine gefunden hat, so hat derjenige gelogen, der eine solche behauptung aufgestellt hat. wenn derjenige, der gelogen hat, allerdings rhetorisch geschickt ist und gerne verschwörungsszenarien konstruiert, wird er dazu übergehen zu sagen, es seien wahrlich WMDs vorhanden gewesen - nur seien sie jetzt eben gut versteckt und würden solange rumgekarrt, bis diejenigen verschwunden sind, die kontrollieren.


Zitat:

Die Wahrheit von Sätzen steht schon fest bzw. muss schon feststehen, bevor sie ausgesprochen werden. Aber das hätte absurde Konsequenzen.



ich wüßte nicht, weshalb daraus absurde konsequenzen erwachsen sollten. die konsequenzen wären die, dass man entweder dejenigen glaubt, der einem etwas einredet, oder aber, dass man demjenigen nicht glaubt, und versucht auf irgendeine art und weise zu falsifizieren, was gesagt worden ist. wenn jemand behauptet, gestern schuhe gekauft zu haben, ich ihm aber einige videobänder vorlege, die zeigen, dass er zur angegebenen zeit sich an einem anderen ort aufgehalten hat, so wäre der gegenbeweis erbracht, dass die person unmöglich zu diesem zeitpunkt am angegebenen ort gewesen sein kann. wenn ich darüberhinaus noch den verkäufer im schuhladen vorweisen kann, der ebenfalls nicht bestätigen kann, dass die person den laden am fraglichen tag betreten hat, und evtl. auch noch zeugen habe, die die betreffende person an anderem ort gesehen haben, so hat die betreffende person schlechte karten. und das funktioniert im richtigen leben ebenso wie in jeder amerikanischen krimi-serie.

was die sache mit dem traum anbelangt,

Zitat:

Denn stell Dir vor, Du hättest nur geträumt, dass Du Schuhe kaufen warst, seist aber mit dieser Gewissheit aufgewacht!


da sprichst du eine art cartesischen zweifel an. ich denke es wäre ein leichtes, mich zu vergewissern, ob ich gestern geträumt habe, schuhe gekauft zu haben, oder ob das nur ein traum gewesen ist. zunächsteinmal müßte ich irgendwo die schuhe, die ich gekauft habe, irgendwo im schuh-schrank oder sonstwo deponiert haben. schuhe haben eine ausdehnung, folglich nehmen sie irgendwo einen platz ein. sollte ich immer noch zweifel haben, werde ich nach dem beleg suchen, den ich erhalten habe, als ich die schuhe gekauft habe. falls mich schwere zweifel plagen, weil ich weder schuhe noch beleg finden kann, ich mir aber gewiss bin, schuhe gekauft zu haben, sollte ich im betreffenden schuh-laden anrufen, und dort nachfragen, ob ich gestern dort schuhe gekauft habe. falls meine selbstzweifel immer noch nicht beseitigt sind, sollte ich mir gedanken über meine psychische gesundheit machen, und evtl. erwägen, mir hilfe zu holen.
sicher. im prinzip gebe ich dir recht, dass in gewisser weise bezweifelt werden kann, was ich an irgendeinem tag getan habe. aber da handlungen nie isoliert und in einem robinson-szenario vollzogen werden, kann ich mich auf "indizien", "belege" und "zeugen" stützen. ganz so, wie in einem krimi :)

wenn ich paranoid bin, werde ich mich sicherlich mit keinem indiz, keinem beleg und keinem zeugen zufrieden geben. allerdings ist das ein fall psychischer aberration, den man gesondert betrachten sollte.

Zitat:

Ich denke, das Unterfangen, Wahrheit von den faktischen Aussagen faktischer Sprecher loszulösen, wäre gleichbedeutend mit einer Aufhebung des Wahrheitsbegriffs.

au contraire: gerade so unterscheiden wir doch zwischen wahrheit und bloßer meinung. wenn mir jemand sagt, um die ecke stehe ein riesengroßer drache, werde ich nachsehen. und wenn dort kein riesengroßer drache steht, werde ich ihn darüber informieren, dass dem nicht so ist, wie er es behauptet hat. wahrheit - verstanden als aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit - ist sprecherunabhängig.

- mfg thomas

- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 08:44 Uhr

anmerkungen:

Zitat:

Aber festzuhalten bleibt, dass sich dieses "Genügen" auf UNSERE ZWECKE und nicht auf eine "absolute Wirklichkeit"


was sollte auch eine absolute wirklichkeit sein. absolut im bezug auf was? wir haben es mit einer wirklichkeit zu tun.

Zitat:

eberhard:Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er für jeden und jederzeit wahr.
hermeneuticus:Für jeden, DER IHN VERSTEHT. So weit waren wir in unserer Diskussion schon einmal.

"snow is white", ist wahr, wenn schnee weiß ist. somit denke ich, wäre dieser punkt geklärt.

Zitat:

Ein Satz kann überhaupt nur etwas bedeuten innerhalb einer Sprache, d. h. eines Bezugssystems, das es (einer stets begrenzten Anzahl) Menschen erlaubt, ihre Äußerungen auf einander zu beziehen.


zunächsteinmal können sätze über mehrere sprachen hinweg wahr sein - wie obiges beispiel deutlich zeigen sollte. wir sollten uns auf sätze über die beschaffenheit der wirklichkeit beschränken. dass kindstötung nicht erlaubt ist, hätten die spartaner – zugegebenermaßen - anders gesehen.
wir sollten bei der rede von bezugssystemen nicht vergessen, dass wir ein gemeinsames bezugssystem haben: die wirklichkeit des planeten terra.
wie ich wolfgang horn schoneinmal darauf hingewiesen habe, sollte man bei der rede von unterschiedlichen bezugssystemen, privaten wahrheiten etc. nicht vergessen, dass der großteil unserer ansichten eigentlich eben einem allen menschen und kulturen gemeinsamen bezugssystem entstammt. dass sprachliche praxis einer lebensform korreliert, ist einerseits zwar eine binsenweisheit, stellt aber andererseits kein hindernis dar, andere absolut nicht zu verstehen.
selbst außerirdische, wenn es sie denn gäbe, besäßen eine art von metabolismus, der - sei er noch so verschieden von unserem - sie in irgendeiner weise dazu nötigt, energie aufzunehmen. und das werden wir als "essen" oder dergl. verstehen.

Zitat:

Ich wehre mich nur dagegen, das Pferd erkenntnistheoretisch vom Schwanz her aufzuzäumen. Es ist die gemeinsame PRAXIS, die gemeinsame Bezugssysteme hervorbringt.

es fragt sich nur, wer hier was von hinten aufzäumt.
ich würde mich wundern, wenn du die these vertrittst, die welt in der wir leben, wäre von uns hervorgebracht.

dass ich gleich mein frühstück zu mir nehme, also hunger habe, ist mitnichten ein kulturelles produkt. es ist eine eigenschaft einer mir vorgängigen welt. zunächst und hauptsächlich gehorcht mein körper gewissen biologischen und physikalischen gegebenheiten. erst anschließend ist es uns menschen möglich, eine kultur aufzubauen. auch wenn sich inuit anstrengen, so wird es ihnen kaum gelingen, e.g. in grönland wein anzubauen. dementsprechend werden sie auch nie aus sich heraus die kulturellen errungenschaften des weinbaus hervorbringen. andererseits dürfte ein ägypter sichtliche probleme haben in ägypten so ohne weiteres ein iglu zu bauen und sich als walfänger zu etablieren.

Zitat:

Diese ist die PRIMÄRE WIRKLICHKEIT, die - erfahrungsgemäß - dann auch gemeinsame Bezugs- und Deutungssysteme hervorbringt, also z. B. Theorien und Hypothesen über die für alle Betroffenen RELEVANTE Wirklichkeit.

wir sollten nicht vergessen, dass die rede von einer primären/sekundären wirklichkeit lediglich heuristischen zwecken dient, und ontologisch keinerlei fundierung besitzt. wir befinden uns alle derzeit auf dem planeten erde - astronauten einmal ausgenommen. dementsprechend ist die irdische wirklichkeit die wirklichkeit in der wir leben. es gelten die physikalischen gesetze wie z. B. das gravitationsgesetz. dass wir anhand dessen, was es gibt (also der wirklichkeit), verschiedene kulturen haben ist unzweifelhaft der fall. aber daraus den Schluss zu ziehen, wir hätten es mit verschiedenen wirklichkeiten zu tun, heißt, den begriff der wirklichkeit überzustrapazieren. wie gesagt, zu heuristischen zwecken ist es sinnvoll, zu unterscheiden zwischen "der welt der alten inkas" und der "postindustriellen westlich geprägten welt". das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich diese welten alle in einer wirklichkeit befinden.

- mfg thomas


- III
- Hermeneuticus am 17. Nov. 2004, 10:11 Uhr

Hallo Thomas!

Zitat:

die wahrheit von aussagen liegt außerhalb dessen, was jemand als "wahr" deklariert.


Nicht die Wahrheit, sondern die GRÜNDE, die als BELEG für die Wahrheit der Aussagen GELTEN, verweisen auf etwas, das außerhalb der Aussagen liegt. Und diese Gründe GELTEN jeweils deshalb, weil es Adressaten gibt, die sie gelten LASSEN, d. h. sie ALS Gründe für die Wahrheit von Aussagen AKZEPTIEREN.

Wenn wir die Wahrheit von Aussagen außerhalb der Aussagen verorteten, fielen wir nicht nicht nur aus dem vereinbarten Diskussionsrahmen, der den Begriff der Wahrheit auf das Zutreffen von Aussagen begrenzt. Sondern damit wäre dann "Wahrheit" dasselbe wie "Wirklichkeit", und "wahre Wirklichkeit" ist eben der Boden, den die vorkantische Metaphysik bestellt hat.

Ich denke, in die Argumentationsschleifen von "Wahrheit II" müssen wir nicht erneut eintreten. Wir kommen an dem Punkt immer wieder nur zu unterschiedlichen Fazits, die dort bereits nachzulesen sind.

Dein Beispiel mit den Massenvernichtungswaffen im Irak zeigt doch, dass ein gewisser Personenkreis das "Beweisverfahren" (die Besetzung des Irak) nicht ALS hinreichenden Beleg GELTEN lassen will. Das ist zwar in diesem Fall zynisch und von schwer überbietbarer Unverschämtheit. Aber wir müssen zugeben, dass wir, die so urteilen, uns dabei auch nur auf  das Urteil von Menschen verlassen (also ihre Begründungen GELTEN LASSEN), denen wir, wenn wir ehrlich sind, auch schon VOR dem "Beweisverfahren" glauben schenkten...

Zu beweisen, dass etwas nicht da ist (z. B. dem Finanzamt, dass man KEINE weiteren Einkünfte als die deklarierten hat), ist unmöglich. Darum trägt die Beweislast derjenige, der die Existenz von etwas behauptet. Allerdings müssen sich die Beteiligten schon vorher einig darüber sein, was sie als einen hinreichenden Beleg GELTEN lassen. Denn sonst könnte, wie im Beispiel tatsächlich geschehend, immer gesagt werden: DAS ist aber noch kein WIRKLICHER Beweis, wir brauchen noch bessere Belege, also suchen wir weiter.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 17. Nov. 2004, 11:21 Uhr

Hallo allerseits,

obwohl es den gegenteiligen Anschein macht, sind wir doch in unseren Positionen nicht so weit auseinander, was den Gebrauch des Wortes "wahr" in Bezug auf Aussagen über die Wirklichkeit betrifft.

(Die mögliche Unterscheidung zwischen "Satz" und "Aussage" spare ich hier aus.)

Die Frage, ob eine Aussage wahr ist, kann nur beantwortet werden, wenn diese Aussage eine bestimmte Bedeutung hat, also in einer bekannten Terminologie oder "Sprache" formuliert ist und insofern verständlich ist. Da sind wir uns wohl einig.

Eine Aussage ist dann wahr, wenn es so ist, wie die Aussage besagt. Z. B. ist die Aussage: "Es gibt Säugetiere, die fliegen können" dann wahr, wenn es Säugetiere gibt, die fliegen können. Auch da gibt es wohl keine Probleme.

Diese Definition klingt allerdings trivial - und wäre es wohl auch - wenn sich darin die Bedeutung des Wortes "wahr" erschöpfen würde.

Da die Kennzeichnung der Aussage als "wahr" keinerlei zusätzliche Information enthält, wäre es scheinbar sinnvoll, auf das Wort "wahr" zu verzichten. Statt zu sagen: "Es ist wahr, dass das liegende Säugetiere gibt" könnte man ohne Informationsverlust einfach sagen: "Es gibt fliegende Säugetiere."

Dass man trotzdem das Wort "wahr" verwendet, lässt vermuten, dass das Wort noch andere Bedeutungen enthält oder noch andere Funktionen erfüllt.

Meiner Ansicht nach hat das Wort "wahr" auch einen normativen Gehalt. Es dient dazu, Aussagen ausdrücklich zur Übernahme in die eigenen Überzeugungen zu empfehlen. Umgekehrt dient die Kennzeichnung einer Aussage als "falsch" dazu, ihre Aussonderung aus dem eigenen Weltbild zu empfehlen.

Dies erklärt auch, warum der Begriff "Wahrheit" in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen so heiß umkämpft ist.

Diese normative Bedeutungskomponente enthält ein rein empirisches Prädikat wie z. B. "kurz" nicht. Die Aussage "Der Satz 'Peter schläft' ist kurz" lässt sich durch Untersuchung des Satzes "Peter schläft" auf die Anzahl der darin enthaltenen Wörter überprüfen.

Wie Hermeneuticus bereits betont hat, lässt sich die Aussage: "Der Satz 'Peter schläft' ist wahr" nicht durch die Untersuchung des Satzes "Peter schläft" überprüfen, sondern erfordert den Bezug auf das, was der Satz besagt.  

Wenn ich also mit der Aussage: "Der Satz 'Peter schläft' ist wahr" mehr ausdrücken will, als über meine Meinung zu informieren, dann muss ich Gründe für dessen Wahrheit angeben.

Eine Aufforderung zur Übernahme einer Aussage ohne Begründung wäre ein reiner Glaubensappell.

Könnten wir uns darauf verständigen? fragt Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 12:31 Uhr

hallo eberhard,

ich stimme mit dir überein, dass sich die verwendung des wortes "wahr" nicht nur rein deskriptiv auf das bestehen oder nichtbestehen von sachverhalten beschränkt, sondern darüber hinaus existiert auch eine performative bedeutung (" x ist wahr" = "ich weiß, dass x der fall ist, und stimme zu." ) bzw. eine persuasive bedeutung (" x ist wahr, davon kann ich jeden überzeugen." ).

allerdings halte ich es für problematisch auf den redundanzcharakter von wahren aussagen zu verweisen
Zitat:

Da die Kennzeichnung der Aussage als "wahr" keinerlei zusätzliche Information enthält, wäre es scheinbar sinnvoll, auf das Wort "wahr" zu verzichten

diese sichtweise greift meiner ansicht nach zu kurz.
sätze wie "alle aussagen des papstes sind wahr" wären problematisch. - wie sollten sie umgeformt werden ohne eine synonyme konstruktion? oder wie steht es mit der übersetzung von "'snow is white' ist wahr, genau dann, wenn schnee weiß ist" ?
auch wenn das wort "wahr" seine ecken und kanten besitzt, ist es nichtsdestoweniger unverzichtbar.


- mfg thomas

p.s.: @hermeneuticus

einverstanden! ich muss mich korrigieren.
aussagen sind wahr oder falsch, insofern sie die tatsachen widerspiegeln. wahr bzw. falsch ist eine aussage dann, wenn sie zutrifft, oder nicht zutrifft. das worauf sie sich beziehen liegt jenseits der sprache. "wahr" und "falsch" sind prädikate einer meta-sprache. "schnee ist weiß" ist wahr, genau dann, wenn schnee weiß ist.

p.p.s.:
Zitat:

Wie Hermeneuticus bereits betont hat, lässt sich die Aussage: "Der Satz 'Peter schläft' ist wahr" nicht durch die Untersuchung des Satzes "Peter schläft" überprüfen, sondern erfordert den Bezug auf das, was der Satz besagt.

"der satz 'peter schläft' ist wahr" ist genau dann wahr, wenn der satz "peter schläft" wahr ist; der satz "peter schläft" ist wahr, wenn peter schläft.
wo ist das problem?

- III
- Dyade am 17. Nov. 2004, 12:32 Uhr

Hallo ihr Lieben, "" snow is white", ist wahr, wenn schnee weiß ist. somit denke ich, wäre dieser punkt geklärt. "" welcher Schnee?" fragt der Eskimo und fährt fort zu behaupten dass da überhaupt kein Schnee ist. Dann wird er fragen:" welches Weiß? Ich sehe kein Weiß, lediglich eine sehr große Vielfalt an unterschiedlichen Farben, die jede für sich und zusammen mit den unterschiedlichen Oberflächen, den unterschiedlichen Konsistenzen unterschiedene "Dinge" ergeben die mit unterschiedlichen Namen benannt sind".

Der Ureinwohner Papua-Neuguineas, dem man ein Foto von New York vorhält und den man fragt was er darauf erkennen könne, "sieht" nicht die Wolkenkratzer im Hintergrund, die für ihn nur seltsame "Berge" oder Felsen sind, aber die Hühner im Vordergrund des Bildes erkennt er sofort.

Wenn also die Erfahrung, die Empirie, die ich an der Wirklichkeit (Wirk-lichkeit) mache, an den Rändern des Logos immer weiter unscharf wird, weil andere Namen vergeben sind, weil andere Namen aufgrund differenzierterer -oder schlicht anderer-Erfahrungen vergeben werden, dann bleibt eben letzlich keine Wahrheit übrig die ich als Übereinstimmung von Denken und Sein postulieren könnte. Das gleiche gilt aber nicht nur für die Ränder des Spieles das wir tagtäglich spielen wenn wir Namen benutzen oder neu vergeben. Das gleiche gilt auf mitten im Spielfeld. Dann reden "die Anderen" plötzlich über Dinge die mit bestimmten Namen belegt sind, die ich auch kenne und die ich gelernt habe, aber ich spüre das irgendetwas nicht stimmt mit der Art und Weise wie mit den Namen und dem was sie bezeichnen sollen, umgegangen wird. Da scheint es Differenzen zu geben und das Spiegelbild ist gebrochen. Das ist die Komplexion des Alltags und seine Unabgeschlossenheit. Könnte ich mit Sprache über Sprache reden, ja dann...

Man stelle sich eine Welt vor in der von Heute auf Morgen alle Uhren. nach Jahrhunderten des gebrauchs, verschwunden sind. Wir warten einen Monat und schauen uns dann an was aus den Verabredungen, Terminen und Dates der Menschen geworden ist. Ich schätze wir werden feststellen, das die Zeit, in ihrer Dauer, das was Franzosen "Duree" nennen, das was Heidegger die Zeitigung der Zeit nennt, ihre Dehnungen und ihre Stauchungen (um ungerechtfertigt einmal Raumbegriffe zu verwenden), das die subjektive Zeitlichkeit die "Gesellschaftsordnung" dieser Welt vollkommen auf den Kopf zu stellen beginnen würde. Letzlich eine anderen Wirklichkeit, eine andere Vermittlung, eine andere Wahrheit.

Conclusio: "Schnee ist weiß, wenn er weiß ist". Dieser Satz ist wahr aber so wahr das ich auch sagen könnte er ist "nicht weiß". Diese Tautologien und Gleichungen, diese "Grundgesetze des Denkens" sind von so hoher (höchster) Allgemeinheit, das ihr Gegenteil eben auch stimmt, bzw. das Gegenteil sogar das Einzige ist was zu einer näheren Bestimmung des Ersten herangezogen werden kann. Damit kommen wir aber der Gewissheit ob wir im Gespräch über ein und die selbe Wirk-lichkeit reden keinen Schritt näher. Und das wäre doch dann erst die "wirkliche Wahrheit" oder? :-)

Grüße
DY

- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 13:09 Uhr

hallo dyade,

ich denke, dass wir uns wenig gedanken um verständigungsprobleme machen sollten.
ich denke, dass man aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit ausreichend analysieren kann, und sie entsprechend in andere sprachen übersetzen kann. schwieriger wird es bei wortspielen etc.
wenn wir also dem inuit ausreichend verständlich machen, was wir mit schnee so alles meinen, und was wir unter "weiß" verstehen, so dürfte der verständigung kein hindernis mehr im weg stehen.


Zitat:

Der Ureinwohner Papua-Neuguineas, dem man ein Foto von New York vorhält und den man fragt was er darauf erkennen könne, "sieht" nicht die Wolkenkratzer im Hintergrund, die für ihn nur seltsame "Berge" oder Felsen sind, aber die Hühner im Vordergrund des Bildes erkennt er sofort.



sofern der papua ureinwohner keine augenprobleme hat, wird auch er die hochhäuser -wir setzen einmal ein scharfes foto voraus- sehen. wo du allerdings in new york hühner sehen kannst, wirst du mir sicher in einem der folgebeiträge erklären :D
dass er die hochäuser nicht als "hochäuser" versteht ist lediglich ein sprachliches, kein ontologisches problem. es würde mich erstaunen, wenn ich den papua nach frankfurt einlade und er mir erstaunt von der "freien fläche" und der "weiten sicht" erzählt. ich glaube nicht, dass er durch unsere hochhäuser wird hindurch sehen können.


Zitat:

Wenn also die Erfahrung, die Empirie, die ich an der Wirklichkeit (Wirk-lichkeit) mache, an den Rändern des Logos immer weiter unscharf wird, weil andere Namen vergeben sind, weil andere Namen aufgrund differenzierterer -oder schlicht anderer-Erfahrungen vergeben werden, dann bleibt eben letzlich keine Wahrheit übrig die ich als Übereinstimmung von Denken und Sein postulieren könnte.


was um alles in der welt soll das denn heißen?
vorallem: wo wird wirklichkeit unscharf?
ich glaube du verwechselst worte mit sachverhalten.
wir können sicherlich streiten, ob licht mit der wellenlänge von 564 nanometern noch grün oder schon gelb ist. aber nicht, ob dort licht von 564 nanometern ist, oder nicht. es gibt keinen rational angebbaren grund, warum man licht dieser wellenlänge so oder anders bezeichnen sollte, aber, dass dort licht dieser wellenlänge vorliegt ist nachweisbar.


Zitat:

Dann reden "die Anderen" plötzlich über Dinge die mit bestimmten Namen belegt sind, die ich auch kenne und die ich gelernt habe, aber ich spüre das irgendetwas nicht stimmt mit der Art und Weise wie mit den Namen und dem was er bezeichnen soll, umgegangen wird. Da scheint es Differenzen zu geben und das Spiegelbild ist gebrochen.


wie poetisch ....


Zitat:

Conclusio: "Schnee ist weiß, wenn er weiß ist". Dieser Satz ist wahr aber so wahr das ich auch sagen könnte er ist "nicht weiß"


wie kommst du denn dazu? vorallem, aus was folgt denn deine "conclusio" ?
nur als kleine anmerkung: es heißt "'schnee ist weiß' genau dann, wenn der schnee weiß ist" und das ist mit nichten eine tautologie. wir haben es hier mit zwei verschiedenen sätzen zu tun. ein satz der durch seinen namen repräsentiert wird 'schnee ist weiß' und einen satz der die bedingung angibt, unter welcher dieser satz wahr ist.

Zitat:

Und das wäre doch dann erst die "wirkliche Wahrheit" oder?


was ist eine "wirkliche wahrheit" ? im vergleich wozu ist sie wirklich? eine aussage über die beschaffenheit der wirklichkeit ist wahr oder falsch. das attribut "wirklich" ist hier fehl am platze.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 17. Nov. 2004, 17:06 Uhr

Hallo Thomas!

Wie es scheint, müssen wir die "Wirklichkeitsdiskussion" doch noch einmal aufnehmen. Aber vielleicht ist inzwischen ein neuer Gesichtspunkt aufgetaucht...


on 11/17/04 um 08:44:26, jacopo_belbo wrote:

wir sollten bei der rede von bezugssystemen nicht vergessen, dass wir ein gemeinsames bezugssystem haben: die wirklichkeit des planeten terra.


Dass wir von diesem Bezugssystem WISSEN, d. h. die und die begründeten Aussagen darüber machen können - verdanken wir wem? Der Erde? Dem Gravitationsgesetz? Dem Metabolismus? Nein, sondern unseren menschlichen Erkenntnisleistungen. Und dass wir diese menschlichen Erkenntnisleistungen klar trennen können von ihren "natürlichen" Voraussetzungen, ist ebenfalls eine Erkenntnis.

DASS es eine Wirklichkeit geben muss, damit wir überhaupt etwas erkennen können, ist unbestritten. Aber WAS immer wir über diese Wirklichkeit herausfinden und begründetermaßen SAGEN können, beruht auf unserer Erkenntnis.

Wir führen hier eine erkenntnistheoretische Diskussion. d. h. wir fragen danach, was Erkenntnis leistet und wie sie normiert sein muss, damit wir am Ende (wahre) Aussagen über die Wirklichkeit herausbekommen und nicht Aussagen über unsere Denk- oder Begründungsfehler oder über gestörte Messinstrumente.
Wir fragen also: Wie müssen wir HANDELN, damit wir Aussagen über den Teil der Wirklichkeit gewinnen, der NICHT unser Handeln ist und auch nicht von ihm abhängt?

Beispiel: Wie muss ich eine Uhr ablesen, damit ich sagen kann, wie lange ein bestimmter Vorgang dauert? - Geht die verwendete Uhr falsch oder lese ich eine korrekt gehende Uhr falsch ab, wird die Aussage, die ich AUFGRUND dieser fehlerhaften Messung mache, eben keine Aussage über die Dauer des beobachteten Vorgangs sein. Sondern es wird implizit eine Aussage über gewisse Besonderheiten MEINES Handelns sein, die wir auch "Fehler" nennen.

Die Pointe ist aber: Die Beurteilung meiner Erkenntnisleistung (des Messens) als "fehlerhaft" stützt sich offensichtlich nicht auf die wirkliche Dauer des beobachteten Vorgangs. Denn die soll ja erst noch gemessen werden, kann also nicht ihrerseits Maßstab für mein Handeln sein. Sondern die Beurteilung meiner Messung orientiert sich an NORMEN, denen die HANDLUNG des Messens unterliegt.

Analog orientieren sich Regeln für das Begründen auch nicht an der Struktur einer gegebenen Wirklichkeit, sondern es sind (zweckmäßige) Vorschriften für die Handlung des Begründens. Eine fehlerhafte Begründung - z. B. ein logischer Widerspruch -vereitelt nämlich schon im Ansatz, dass die Begründung überhaupt irgendetwas über die Wirklichkeit aussagt. Natürlich ist eine Handlung ihrerseits auch wirklich, selbst eine fehlerhaft vollzogene. Aber wenn das Handlungsresultat nicht nur Auskunft über diese Handlung geben soll, muss diese auf eine bestimmte Weise - nämlich vorschriftsmäßig - durchgeführt werden.

Allgemein gesagt: Was immer wir begründetermaßen (und DARUM gewiss) von jener Wirklichkeit WISSEN, die von unserem Handeln unabhängig "da ist", wissen wir nur, WEIL wir eine bstimmte Art des Handelns durchgeführt haben (das "Erkennen" ), und zwar: RICHTIG durchgeführt.

Dass Du immer wieder auf jene "gegebene", "vorhandene", "einfach faktisch daseiende"... Wirklichkeit als DIE Voraussetzung und DEN Maßstab unsrer Erkenntnis verweisen KANNST, verdankt sich bereits erfolgreichen Erkenntnisleistungen.

Da wir nun aber ERKENNTNISTHEORIE treiben, ist es aus METHODISCHEN GRÜNDEN unzulässig, Resultate von (gelungenen) Erkenntnisleistungen als Voraussetzung oder gar Maßstab dieser Leistungen einzuführen. Das wäre nur dann zulässig, wenn Du zeigen könntest, dass Dein Wissen von dieser Wirklichkeit "da draußen" nicht auf Erkenntnisse zurückgeht (sondern etwa auf einen "privilegierten Zugang", Eingebung" "Erleuchtung" usw.).

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 17:56 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich muss gestehen, ich habe keinen blassen schimmer, was du mir sagen willst.

ohne jemanden, der etwas über die welt sagt, gibts keine diskussion über die welt. es ist stark anzunehmen, dass es die welt schon ein wenig länger gibt, als menschen auf ihr.
als es noch keinen menschen gab, gab es noch keine diskussion über die welt.
mit dem menschen und seiner sprache kam eben auch das sprechen über die sachverhalte in der welt. eine interessante stelle in der bibel (genesis 2,19 ff.) zeigt uns sinnbildlich dieses vorgehen; die stelle an der der liebe gott den adam erschafft, und adam die tiere "bei ihrem namen nennt. bis heute gibt es eine heftige diskussion darüber -und in gewisser weise ist unsere diskussion ein ast an diesem baum- ob nun adam den dingen ihren, also den dingen, eigenen namen gab, oder ob adam die dinge benannte, also ihnen ihren namen gab.
wie dem auch immer sei, gab und gibt es eine dem menschen vorgängige welt. dort regnet es, schneit es, hagelt es, gibt es vulkanausbrüche, dort haben menschen hunger, durst, etc.
ich denke es wäre purer obskurantismus die gemeinsamkeiten unter den tisch fallen zu lassen, und auf idiosynkratischen unterschieden zu beharren.

mit dieser welt stehen wir in ständigem kontakt. wenn es regnet, werden wir naß - wir erkälten uns, bekommen fieber, husten, schnupfen, heiserkeit etc.
wir verspüren von zeit zu zeit das bedürfnis zu schlafen, zu essen, zu trinken etc.
sicherlich, unser gehirn hat einiges an leistung zu vollbringen, bis wir die welt quasi sehen, wie wir sie sehen. insofern ist es gerechtfertigt, von "erkenntnisleistung" zu sprechen.

dort, in der wahrnehmung der welt, ist der dreh- und angelpunkt jeder ernstzunehmenden erkenntnistheorie.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 17. Nov. 2004, 20:51 Uhr

Hallo Thomas!



Zitat:

dort, in der wahrnehmung der welt, ist der dreh- und angelpunkt jeder ernstzunehmenden erkenntnistheorie.


So im Groben gesagt, ist das ganz richtig. Nur haben Wahrnehmungen und mit ihnen alle weiteren menschlichen Erkenntnisleistungen die bedauerliche Eigenschaft, fehlbar zu sein.
Das ist bereits in unserer unmittelbaren Umgebung so. Aber wenn es darum geht, von den uns zur Verfügung stehenden Wahrnehmungen auf das Alter des Universums zu schließen, potenzieren sich die möglichen Fehler- und Irrtumsquellen. Darum ist es keine triviale Frage, wie zutreffende Aussagen über die Wirklichkeit zustandekommen und wovon ihr Zutreffen abhängt.

Dabei ist aber auch von vornherein klar: Die Gründe für das Gelingen oder Scheitern von menschlichen Erkenntnissen können nicht in der von uns unabhängigen Wirklichkeit zu suchen sein. Sie sind vielmehr in den menschlichen Handlungen selbst zu suchen, die Wissen hervorbringen.

Wenn wir danach fragen, wie gelingende Erkenntnis der Wirklichkeit MÖGLICH ist, ist es aus methodischen Gründen ausgeschlossen, sich bei dieser Frage auf bereits vorhandenes Wissen über die Wirklichkeit zu stützen. Dieses Wissen wird ja gerade durch die Fragestellung problematisiert. Dass wir faktisch selbstverständich ein Wissen von der Wirklichkeit haben, und sogar ein praktisch bewährtes, ist klar. Nur hilft es uns nicht bei der Frage, wieso derartiges Wissen ÜBERHAUPT wahr oder falsch sein KANN.

Die Frage nach der Möglichkeit von wahren/unwahren Aussagen ist eine Frage danach, was wir TUN, wenn wir solche Aussagen machen und welche Regeln es für dieses Tun gibt.


Gruß
H.

- III
- Eberhard am 17. Nov. 2004, 21:20 Uhr

Hallo Dayde,

wenn ich Dich recht verstehe, betonst Du die Probleme der Verständigung zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Sprachen und sozialer Ordnungen, die es unmöglich machen, von einem für jedermann wahren Satz zu sprechen. Ich bin der Meinung, dass Ethnologen und Sprachforscher dies Problem wenn nicht völlig beseitigen aber erträglich machen können.

Dein Satz "Schnee ist weiß, wenn er weiß ist" ist in der Tat eine Tautologie. Aber aus der Definition von Wahrheit folgt der Satz: "Der Satz 'Schnee ist weiß' ist wahr, wenn Schnee weiß ist."

Dies ist keine Tautologie, er verweist auf die Wirklichkeit. Wie kann ich feststellen, ob Schnee (immer) weiß ist?

Wenn der Sinn der Worte "Schnee" und "weiß" geklärt ist, wird man versuchen, Schnee zu finden und dessen Farbe festzustellen.

In diesem einfachen Fall sehe ich keine Probleme und ich sehe auch keine Probleme, dem Angehörigen jeder beliebigen Kultur die Bedeutungen zu vermitteln, die ich mit dem Wort "Schnee" und dem Wort "weiß" verbinde.

Es grüßt Dich Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 21:29 Uhr

hi hermeneuticus,


Zitat:

Nur haben Wahrnehmungen und mit ihnen alle weiteren menschlichen Erkenntnisleistungen die bedauerliche Eigenschaft, fehlbar zu sein.


dem stimme ich voll und ganz zu.
wir sollten aber nicht vergessen, dass falsche wahrnehmungen die ausnahme, nicht die regel sind.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 18. Nov. 2004, 03:27 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

dass er die hochäuser nicht als "hochhäuser" versteht ist lediglich ein sprachliches, kein ontologisches problem.


So recht verstehe ich nicht, was Du mit dem Unterschied zwischen einem sprachlichen und einem ontologischen Problem meinst.

Jedenfalls wird der Papua nicht nur deshalb kein Hochhaus sehen, weil ihm das entsprchende Wort dafür fehlt, sondern weil er nicht weiß, was für eine Art Dinge diese Gebilde sind: woraus sie bestehen, welchen Zwecken sie dienen usw.

Ähnlich wird ein Außerirdischer nicht wissen, was er sieht, wenn er zwei Schachspielern zuschaut und dabei nicht weiß, was "spielen" bedeutet und welche die Regeln dieses Spiels sind.

Deine Antwort auf meine Frage steht noch aus: ob das Schachspiel ALS Schachspiel Teil Deiner Ontologie ist oder ob man es erst zerlegen muss, um auf die Elemente zu stoßen, aus denen es "wirklich" besteht.

- - - - - - - - - - - -


Zitat:

wir sollten aber nicht vergessen, dass falsche wahrnehmungen die ausnahme, nicht die regel sind.

 
Dem würde ich zustimmen, wenn Du die Kriterien für falsches/richtiges Wahrnehmen unter den menschlichen Normen fändest, weil Du Wahrnehmen als ein erlerntes menschliches Handeln begriffest. Aber ich befürchte, dass Du Wahrnehmung als einen Naturvorgang verstehst, und die Kriterien für dessen Richtigkeit in der "Beschaffenheit der Wirklichkeit" lokalisierst.

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 18. Nov. 2004, 11:48 Uhr

Hallo Eberhard!



on 11/17/04 um 11:21:19, Eberhard wrote:

Die Frage, ob eine Aussage wahr ist, kann nur beantwortet werden, wenn diese Aussage eine bestimmte Bedeutung hat, also in einer bekannten Terminologie oder "Sprache" formuliert ist und insofern verständlich ist. Da sind wir uns wohl einig.


Ja. Wobei ich schon hier zur Verdeutlichung anfügen würde, dass eine Sprache eine PRAXIS ist und die Bedeutung von Wörtern ihr (mehr oder weniger geregelter) Gebrauch.



Zitat:

Eine Aussage ist dann wahr, wenn es so ist, wie die Aussage besagt. Z. B. ist die Aussage: "Es gibt Säugetiere, die fliegen können" dann wahr, wenn es Säugetiere gibt, die fliegen können. Auch da gibt es wohl keine Probleme.
Diese Definition klingt allerdings trivial - und wäre es wohl auch - wenn sich darin die Bedeutung des Wortes "wahr" erschöpfen würde.

Da die Kennzeichnung der Aussage als "wahr" keinerlei zusätzliche Information enthält, wäre es scheinbar sinnvoll, auf das Wort "wahr" zu verzichten. Statt zu sagen: "Es ist wahr, dass das liegende Säugetiere gibt" könnte man ohne Informationsverlust einfach sagen: "Es gibt fliegende Säugetiere."


Dass der Gebrauch des Wortes "wahr" keine "zusätzliche Information" enthält, sollte präzisiert werden: Er enthält keine zusätzliche Information über den Sachverhalt, dessen Vorliegen die Aussage behauptet. Aber es verweist (oder lässt schließen) auf das Vorhandensein von Kriterien/Regeln für den richtigen Gebrauch der Begriffe, aus denen die Aussage besteht.



Zitat:

Meiner Ansicht nach hat das Wort "wahr" auch einen normativen Gehalt. Es dient dazu, Aussagen ausdrücklich zur Übernahme in die eigenen Überzeugungen zu empfehlen. Umgekehrt dient die Kennzeichnung einer Aussage als "falsch" dazu, ihre Aussonderung aus dem eigenen Weltbild zu empfehlen.


Einverstanden. - Allerdings ist "eigene Überzeugung" mit gewissen Differenzierungen zu verstehen, auf die ich Thomas oben im Beitrag Nr.19 hingewiesen habe.

Der Zusammenhang zwischen "Weltanschauung" /" Weltbild" und der Normativität des Wortes "wahr" scheint mir so plausibel, dass ich gleich wieder den Begriff der "(Interpretations-)Welten" (im Plural) aus der Kiste ziehe...
[surprise]

Man könnte nämlich eine "Weltanschauung" als die Summe der wahren Sätze bezeichnen, die die Sprecher einer Sprache über die Welt äußern können.



Zitat:

Wenn ich mit der Aussage: "Der Satz 'Peter schläft' ist wahr" mehr ausdrücken will, als über meine Meinung zu informieren, dann muss ich Gründe für dessen Wahrheit angeben.
Eine Aufforderung zur Übernahme einer Aussage ohne Begründung wäre ein reiner Glaubensappell.


Einverstanden.


Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 18. Nov. 2004, 15:27 Uhr

hallo hermeneuticus,

ich denke am schnellsten klar wird das, was ich meine, wenn wir uns mit den farbnamen beschäftigen.
wir haben einerseits ein kontinuum von elektromagnetischen wellen und andererseits eine diskrete benennung durch farbnamen. man ist leicht versucht farben als entitäten anzusehen. rot, gelb, grün, blau, lila. etc. existieren als sprachliche, aber nicht als ontologische entitäten. und das ist der wesentliche unterschied. es existiert kein "rot" als solches. und es ist auch nicht einzusehen, weshalb die farbe rot nicht noch weiter zu differenzieren sei; so dass wir nicht nur ein "rot" sondern auch ein "kaminrot", ein "rotbraun" etc. haben. wir haben ein kontinuum an elektromagnetischer strahlung (das bezeichne ich mit ontologisch) und eine reihe von quasiwillkürlichen unterteilungen (eine semiotische differenzierung).

das semiotische universum eines papua sieht mit sicherheit anders aus, als unser universum. er wird das, was wir mit "hochhaus" bezeichnen nicht als hochaus erkennen - was aber nicht heißt, dass er dasjenige, was wir mit "hochhaus" bezeichnen nicht sieht. er identifiziert es nicht als hochhaus.

was die frage nach der richtigen wahrnehmung anbelangt, so kannst du dir die frage leicht selbst beantworten. frage dich, was du den ganzen tag über so tust. du stehst morgens aus dem bett auf, schlägst deine decke zurück, findest deine latschen, schlüpfst mit den füßen hinein, gehst in die küche, bereitest dir  dein frühstück, stellst milch auf den tisch, nimmst teller aus dem schrank, gehst zum kühlschrank, nimmst wurst heraus etc.
den ganzen tag wird die information deiner sinne genutzt um deine motorik korrekt zu steuern. fehler sind da eher die ausnahme.  stell dir nur einmal vor, dass 10% aller motorischen vorgänge fehlerhaft seien. das chaos wäre perfekt.


Zitat:

Aber ich befürchte, dass Du Wahrnehmung als einen Naturvorgang verstehst, und die Kriterien für dessen Richtigkeit in der "Beschaffenheit der Wirklichkeit" lokalisierst.



wie du richtig gesagt hast, ist für mich wahrnehmung ein naturvorgang. eine interaktion zwischen mensch und umwelt - beide elemente der natur. und entsprechend ist die "richtigkeit" eben in dieser interaktion zu finden: ich greife im normalfall da hin, wo auch meine tasse steht; nur ausnahmen lassen mich danebengreifen.

- mfg thomas

p.s.: dein schachspiel als schachspiel ist kein teil der wirklichkeit. es ist ein koordinierter ablauf von bewegungen oder gewisser verhaltensweisen, die derjenige, der sie versteht "schachspiel" nennt, und die von andern vielleicht "langweiliges rumsitzen" genannt wird.

- Hallo Re: Wahrheit III
- Hermeneuticus am 18. Nov. 2004, 16:43 Uhr

Hallo Thomas!

Ja, dann habe ich Dich doch von Anfang "richtig" verstanden, nämlich als einen Vertreter der "naturalistischen" Erkenntnistheorie und der Abbildtheorie der Wahrheit... :-)


on 11/18/04 um 15:27:42, jacopo_belbo wrote:

wir haben einerseits ein kontinuum von elektromagnetischen wellen und andererseits eine diskrete benennung durch farbnamen.


Dass "wir" ein Kontinuum von elektromagnetischen Wellen "haben", ist eine empirische, also erfahrungswissenschaftliche Behauptung. Es ist keine unbegründete Behauptung, aber eben doch eine erfahrungswissenschaftliche. Nun können erfahrungswissenschaftliche Sätze wahr oder falsch sein. d. h. sie sind BEISPIELE für die Verwendung des Wahrheitsbegriffs.

Wenn wir hier ALLGEMEIN klären wollen, welche Bedeutung die Verwendung des Wahrheitsbegriffs hat, bedeutet das nicht, dass Beispiele nichts zu einer solchen Klärung beitragen können. Aber eben immer nur als Beispiele, nicht als ausschlaggebende Instanzen, deren Ergebnisse wir einfach übernehmen müssten.

Oder anders gesagt: Wenn wir klären wollen, wie wahre Sätze über die Wirklichkeit möglich sind - d. h. welchen grundlegenden Regeln sie folgen -, dann klären wir damit zugleich auch, wie solche Sätze in jenen Erfahrungswissenschaften möglich sind, die z. B. vom "Kontinuum der elektromagnetischen Wellen" handeln. Daraus folgt logisch, dass unsere Klärung nicht von einzelnen empirischen Behauptungen abhängen kann. Denn wir klären ja gerade erst deren prinzipiellen Geltungsbedingungen.

Oder nochmals anders gesagt: Die Urheber erfahrungswissenschaftlicher Sätze nehmen den etablierten Gebrauch des Wahrheitsbegriffs bereits in Anspruch. Wir klären hier, worin dieser etablierte Gebrauch allgemein besteht.

Erfahrungswissenschaftliche Sätze können also keine Vorschriften enthalten, nach denen sich der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs ALLGEMEIN richtet.




Zitat:

rot, gelb, grün, blau, lila. etc. existieren als sprachliche, aber nicht als ontologische entitäten.


Hier nimmst Du bereits eine spezialisierte, nämlich erfahrungswissenschaftliche Ontologie in Anspruch.

Zum Inhalt Deiner Behauptung: Die Farben "existieren" wohl kaum als "sprachliche", sondern als die diskreten Wahrnehmungen unseres Sehvermögens. Ob sie als solche "Entitäten" im Sinne von "Dingen" sind, lassen wir mal dahingestellt. Aber da wir Menschen existieren, existiert irgendwie auch, was wir tun oder was in uns vorgeht. Die Wahrnehmung einer roten Rose ist zumindest ALS VORGANG etwas anderes als die Äußerung des Satzes "Die Rose ist rot". Insofern besteht zwischen dem Wort "rot" und der roten Wahrnehmung ein "ontologischer" Unterschied.

Nun ist es ohne weiteres möglich, den geregelten Zusammenhang zwischen Aussagen und Wahrnehmungen zu erläutern, ohne dabei darauf zurückzugreifen, was diese Wahrnehmungen jeweils physikalisch auslöst (hier: elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz). Für die Klärung dieses Zusammenhangs ist die Beschaffenheit des Wahnehmungsauslösers sogar belanglos. Beweis dafür ist die Fähigkeit von ca. 6 Milliarden menschlichen Individuen, rote Rosen richtig wahrzunehmen und als "rot" zu identifzieren, ohne von der Beschaffenheit elektromagnetischer Wellen etwas zu wissen. (Dass es rote Rosen, elektromagnetische Wellen und was nicht sonst noch alles...  in der Wirklichkeit geben muss, damit Menschen sie wahrnehmen und identifizieren können, ist klar. Aber wir wollen hier wissen, was die Menschen tun, wenn sie Wahrnehmungen - gleich welcher Art - zutreffend identifizieren.)



Zitat:

wir haben ein kontinuum an elektromagnetischer strahlung (das bezeichne ich mit ontologisch) und eine reihe von quasiwillkürlichen unterteilungen (eine semiotische differenzierung).


Nein, wir "haben" hier ZUNÄCHST einmal Wahrnehmungen unserer Sinne und semiotische Differenzierungen. Das genügt vollauf zur Klärung unserer Frage.

Nun sind unsere Augen bereits physiologisch so beschaffen, dass sie aus dem "Kontinuum" der elektromagnetischen Wellen nur einen kleinen Bereich AUSWÄHLEN. Den Bereich, der wir - und ganz zutreffend - "Licht" nennen. Mehr "haben" unsere Augen also auch nicht. Dass Wissenschaftler mit aufwendiger Technik über diese Auswahl ihrer Augen hinausgreifen und dabei feststellen können, dass das von den Augen Wahrgenommene bloß eine Auswahl aus einem Kontinuum ist, sei unbestritten, ist aber für die Klärung des Wahrheitsbegriffs völlig irrelevant.

Abgesehen davon: Womit lesen diese Wissenschaftler wohl die Zifferblätter ihrer Instrumente ab? Womit schauen sie auf Monitore und Fotografien? Richtig: Mit ihren Augen.
Allein daraus erhellt schon zwingend, dass der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs zunächst einmal für das Zusammenspiel von Sprache und Augen-Wahrnehmungen GEKLÄRT SEIN MUSS, ehe wir auf das elektrotmagnetische Kontinuum zu sprechen kommen können.

To be continuued. Ich muss jetzt aber abbrechen.


Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 18. Nov. 2004, 18:40 Uhr

zwischenbemerkung:

ich bin ja mal gespannt, wie das weitergeht.
allerdings habe ich den eindruck, dass du dir selbst das wasser abgräbst, indem du verkennst, was ich versuche zu verdeutlichen.

sicherlich ist die identifikation dessen, was wir "farben" nennen, zunächsteinmal unabhängig von der kenntnis elektromagnetischer wellen. dagegen wird sich kaum etwas einwenden lassen. die physik, insbesondere die optik, arbeitete ja zunächst auch ohne den begriff der elektromagnetischen strahlung -der erst mit maxwell einzug in die physik erhalten hat.

und ich gebe dir recht, dass die menschen zunächsteinmal, aufgrund ihrer biologischen beschaffenheit, das sich ihnen darbietende phänomenale feld segmentiert haben. die sprachlichen niederschläge dessen sind die farbnamen.

was ich versucht habe deutlich zu machen, im rückgriff auf die elektromagnetische strahlung, sprich die wellenlänge des lichts, wie es möglich ist, aufgrund gleicher biologischer/physikalischer voraussetzungen (auge/wellenspektrum des lichts) unterschiedliche segmentierungen zu schaffen. es gibt keinen rational angebbaren grund, wieso man licht gewisser wellenlänge als "rot" bezeichnet. was für den einen "rot" ist, ist für den anderen schon "rotbraun" o.ä.
wichtig war mir, zu zeigen, dass es sich bei farben(=farbnamen) nicht um physikalische entitäten handelt -im gegensatz zu elektromagnetischen wellen-  sondern um eine arbtiträre segmentierung eines kontinuums handelt. ebenso die benennung von gegenständen. dass wir etwas als "hochhaus" klassifizieren, was andere z. B. als "fels" oder "höhle" klassifizieren. dieser unterschied ist kein unterschied in der sache, sondern in der benennung.
gesichert ist allerdings, dass es sich im falle eines "hochhauses" um ein etwas handelt, das klassifiziert werden kann. und dieses etwas ist als ein etwas, das (da) ist, gegenstand der ontologie.
eine farbe(=farbname) ist nicht etwas, das als etwas (da) ist. es existiert kein "rot" als solches. man segmentiert das farbspektrum, und ein segment benennt man mit "rot" und entsprechend benennt man die gegenstände, die licht dieses typs reflektieren mit "rot".

und diese position müßte dir doch sehr entgegenkommen, weil sie gerade die bedeutung der kulturellen umstände versucht miteinzubinden.

- mfg thomas

- III
- Dyade am 18. Nov. 2004, 21:15 Uhr

Hallo hallo ihr Wahrsinnigen,

es kann sein das ich mit diesem Posting schon wieder -leicht oder heftig- neben der Spur eures Gespräches liege. Sorry im Voraus.

Auf die Gegenreden von Thomas und Eberhard möchte ich etwas später eingehen. Zunächst: "Man könnte nämlich eine "Weltanschauung" als die Summe der wahren Sätze bezeichnen, die die Sprecher einer Sprache über die Welt äußern können." (Herm.)

Was ist los wenn der Satz lautet:
Eine Weltanschauung ist die Summe der Strukturelemente(1)  einer Sprache die mir erlaubt wahre Sätze zu bilden.
(1) oder Strukturgesetze zB. jene der aristotelischen Logik.

Die Frage ist auch von Ethnologen nach meinem Wissenstand nicht geklärt ob es sich bei den Gesetzen der Logik, die wir ja anwenden wenn wir zB. über "unseren" Schnee reden, um wirklich lückenlose "Weltgesetze des Denkens" handelt. Um das wiederum "zu beweisen" müsste es ja schon noch höher gültige Axiome geben. Und eben das ist durch diese Axiomatik selber ausgeschlossen, oder?

Grüße
DY

ps.
Von Niklas Luhmann stammt der Satz: "Es genügt, dass wir uns das Erstaunen darüber bewahren, dass man überhaupt etwas >>draußen<< sehen kann, obwohl man nur >>drinnen<< sehen kann." (in, "Die Kunst der Gesellschaft", S.14)

- III
- Dyade am 18. Nov. 2004, 23:23 Uhr

Über den Satz vom Schnee
oder,
die Identität.
oder,
Vom Blödsinn des Versuchs sich zu verstehn
oder,
Die Turmbauer von Babel in einer UBahn:

ein Praktiker und ein Naiver, schon lange im Gespräch

Praktiker: "Schnee ist weiß."
Naiver: Schnee ist doch Schnee und nicht weiß.
Praktiker: Ok, Schnee hat neben anderen Eigenschaften auch diejenige weiß zu sein.
Naiver: Dann ist der Satz "Schnee ist weiß" also falsch?
Praktiker: Nein, nur dann wenn ich sage es wäre seine einzige Eigenschaft.
Naiver: Was denn jetzt? Schnee ist doch Schnee und er kann nicht gleichzeitig etwas anderes sein, ob weiß oder blau oder sonstwas, er ist doch er selbst, oder?.
Praktiker: Kann es sein, das wir unter "IST" nicht das Gleiche verstehn?
Naiver: Du meinst nicht das Selbe?
Praktiker: Wie das Selbe? Das ist doch gleich?
Naiver: Das Selbe ist genausowenig das Gleiche wie umgekehrt und ebensowenig wie der Schnee etwas anderes ist als Schnee.
Praktiker: Hm, du sagtest "als", also "Schnee als Schnee", so ähnlich wie Ich als Prinz im Karneval? Also ist Schnee1 als Schnee2 in seiner eigenen Verkleidung unterwegs?
Naiver: Nein er ist doch er Selbst.
Praktiker: Also ich steige hier aus.
Naiver: Oje, ich langweile dich.
Praktiker: Nein, hier ist meine Station, hier muss ich aus der UBahn aussteigen
Naiver: Achso.

Schaffner tritt auf. Er hat das Gespräch belauscht und traut sich kaum nach den Fahrkarten zu fragen.

Schaffner: Kann es sein meine Herren, das einer von ihnen nicht zwischen syntaktischer und semantischer Wahrheit unterscheiden kann?
Alle ab
Schweigen....


- III
- Eberhard am 18. Nov. 2004, 23:40 Uhr

Hallo allerseits, hallo Dyade,

noch eine Nachbemerkung zur Allgemeinverständlichkeit von Aussagen und zu den Grenzen der Übersetzung von einer Sprache in eine andere.

Wörter haben nicht nur eine Bedeutung, die man erläutern oder durch ausdrückliche Definition  präzisieren kann.

Für ein Individuum haben die Wörter seiner Sprache zugleich auch eine Geschichte: an jedem Wort hängen die Assoziationen an die Situationen, in denen es das betreffende Wort selber benutzt oder gehört hat. An einem Wort, z. B. dem Namen des Ortes, an dem man einen herrlichen Urlaub verlebt hat, hängen die Stimmungen von damals.

Dies gilt auch für ganze Sprachgemeinschaften. Ob man z. B. unsere Sonne weiblich als DIE Sonne bezeichnet oder ob man wie die Franzosen von einer männlichen Sonne, also le soleil spricht, macht für die Präzision der Sprache beim Bezeichnen von Objekten keinen Unterschied.

Trotzdem schwingt bei der männlichen Sonne, LE soleil, die Erfahrung einer gnadenlos vom Himmel brennenden Sonne im Hintergrund mit, die für den Süden typisch ist.

Diese an den Wörtern hängenden Assoziationen werden von den Definitionen und Bedeutungsfestlegungen nicht erfasst. Dies ist auch der Grund, weshalb lyrische Gedichte nach der Übersetzung keine Lyrik mehr sind. Nachdichtungen entfernen sich andererseits notwendigerweise vom Original.

Daraus folgt, dass im Bemühen um dauerhafte und allgemein gültige Aussagen über die Beschaffenheit unserer Welt  vieles, was die Sprache an Ausdrucksmöglichkeiten bietet, diesem Ziel geopfert werden muss. Deshalb ist die an der Erkenntnis der Wirklichkeit ausgerichtete Sprache auch nicht die ganze Sprache. Die Lyrik, der Rhythmus und Klang der Sprache, der persönliche Sprachstil behalten ihre eigene Berechtigung.

Es grüßt Euch Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 18. Nov. 2004, 23:53 Uhr

hallo eberhard,

ich will nicht drängeln, aber ich wollte dich bei dieser gelegenheit nocheinmal an


Zitat:

Was wir noch diskutieren sollten, ist zum einen das Kriterium der Wahrheit von Aussagen über die Wirklichkeit und zum andern die Besonderheiten, die Aussagen über Psychisches, also z. B. introspektive Aussagen haben.



erinnern ;)

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 19. Nov. 2004, 08:21 Uhr

Hallo Thomas!

Meine Zeit reicht nur für eine kurze Antwort.

Meine Argumentation im letzten Beitrag sollte begründen, wieso es in einer Diskussion des Wahrheitsbegriffs aus methodischen Gründen nicht statthaft ist, auf empirische Sätze über die Wirklichkeit zurückzugreifen, um aus ihnen allgemein verbindliche Wahrheitskriterien zu gewinnen.

Eine so und so beschaffene Wirklichkeit kann also nicht als "Maßstab" oder "Wahrmacher" von Sätzen behauptet werden.
Beispiel: "Der Satz 'Wasser ist H2O' ist wahr, weil Wasser H2O ist."

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 19. Nov. 2004, 11:47 Uhr

hi hermeneuticus,

zunächsteinmal "'wasser ist H2O' genau dann wahr, wenn wasser H2O ist" ; nicht "[...]weil". das wäre in dem falle keine wahrheitsbehauptung.


Zitat:

Eine so und so beschaffene Wirklichkeit kann also nicht als "Maßstab" oder "Wahrmacher" von Sätzen behauptet werden.


warum?


Zitat:

Meine Argumentation im letzten Beitrag sollte begründen, wieso es in einer Diskussion des Wahrheitsbegriffs aus methodischen Gründen nicht statthaft ist, auf empirische Sätze über die Wirklichkeit zurückzugreifen, um aus ihnen allgemein verbindliche Wahrheitskriterien zu gewinnen.


wieso sollten wir sätze die wahr sind, ignorieren?
wenn wir uns darüber unterhalten, ob in einer gewissen entfernung von uns ein baum steht, so reicht es nicht aus, dass wir uns beide darüber einig sind, was wir mit "entfernung" und "baum" meinen, und ich dir zustimme, dass dort ein baum steht. solange dort kein baum steht, werden wir ihn auch nicht erklettern können, oder keine seiner früchte essen können.
kohärenz und konsistenz reichen als wahrheitskriterien nicht aus. märchen können sowohl kohärent wie auch konsistent sein, und trotzdem falsch.

- mfg thomas

- III
- Eberhard am 19. Nov. 2004, 19:13 Uhr

Hallo allerseits,

Ich will noch einmal festhalten: die Beantwortung der Frage: "Ist die Aussage x wahr?" hat für den Einzelnen insofern praktische Bedeutung, als sein Leben solange frei von Enttäuschungen verläuft, als er seinem Denken und Handeln wahre Aussagen zu Grunde legt, solange also sein Weltbild realistisch ist, frei von Illusionen, Irrtümern oder "weißen Flecken" der Unwissenheit.

Entsprechendes gilt für das Handeln eines sozialen Subjekts, das aus mehreren Individuen besteht, wie z. B. ein Verein oder ein Staat. Auch ein soziales Subjekts benötigt für ein enttäuschungsfreies Handeln wahre Aussagen als Antworten auf die gestellten Fragen.

Darüber hinaus steht jedes soziale Subjekt vor dem Problem der möglichen Uneinigkeit seiner "Glieder", der einzelnen Individuen. Vor diesem praktischen Hintergrund ist meines Erachtens die Frage nach der Bedeutung des Wortes "wahr" zu klären.

(Damit ist vielleicht auch der Dissens zwischen Hermeneuticus und mir etwas entschärft: "Wahrheit" beinhaltet zwar einen uneingeschränkten Geltungsanspruch, aber praktische Bedeutung hat dieser Geltungsanspruch nur für Individuen oder soziale Subjekte, die miteinander in einer Beziehung stehen.)

Mit der Auszeichnung einer bestimmten Aussage als "wahr" spricht man dieser Aussage soziale Geltung zu, mit der Auszeichnung als "falsch" spricht man einer Aussage die soziale Geltung ab.

Wenn es eine von ihren Anhängern anerkannte Autorität gibt, die nach eigenen Selbstverständnis entscheidet, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, (wie z. B. der Papst, wenn er ex cathedra spricht, oder der Erste Sekretär des Zentralkomitees einer stalinistischen Partei), haben wir es mit Dogmen zu tun, deren soziale Geltung auf Vertrauen in die jeweilige Autorität beruht.

Wenn man im Falle dogmatischer Wahrheit ein Individuum fragt, warum der Satz p wahr ist, so erhält man als Begründung: "weil A (die zuständige Autorität)  dies so sagt". Wenn man weiter fragt, woher denn die betreffende Autorität weiß, was wahr ist, stößt man auf ein gedankliches Gebäude gemischt aus logisch aufgebauten Rechtfertigungen, versteckten Fehlschlüssen und Strategien zur Abschirmung möglicher Kritik.

Eine derartige autoritäre Bestimmung von Wahrheit kann zwar eine gewisse Vereinheitlichung der individuellen Weltbilder bewirken und damit die soziale Integration der Individuen fördern, sie ist jedoch mit dem Konstruktionsfehler der mangelnden Lernfähigkeit behaftet: das autoritätsgebundene Weltbild ist starr und unbeweglich. In einer Gesellschaft, die durch immer neue Entdeckungen und Erfahrungen geprägt ist, ist mangelnde Lernfähigkeit ein schwerwiegender Mangel.

In einer Gesellschaft, in der es für die Entscheidung über die Wahrheit einer Aussage keine anerkannte Autorität gibt, sondern in der Meinungsfreiheit herrscht, ist die Situation anders. Wenn Individuum A erklärt, die Aussage p sei wahr, dann spricht es der Aussage p (intersubjektive) Geltung zu. Die andern Individuen müssen dies jedoch nicht akzeptieren. Individuum B widerspricht und spricht der Aussage die Geltung ab. Damit stellt sich die Frage nach einem Kriterium für die Wahrheit von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit.

Hier will ich erstmal unterbrechen. Grüße an alle von Eberhard.

- III
- Dyade am 19. Nov. 2004, 22:12 Uhr

Nabend zusammen, " Ich will noch einmal festhalten: die Beantwortung der Frage: "Ist die Aussage x wahr?" hat für den Einzelnen insofern praktische Bedeutung, als sein Leben solange frei von Enttäuschungen verläuft, als er seinem Denken und Handeln wahre Aussagen zu Grunde legt, solange also sein Weltbild realistisch ist, frei von Illusionen, Irrtümern oder "weißen Flecken" der Unwissenheit." (Eberhard)

Dieses Eis ist dünn, weil die Aussentemperatur sehr warm geworden ist! (Beweis: Messung der Eisdicke)
Was bringt denn nun die Sicherheit lieber Eberhard, der wahre Satz oder die Messung?

verwirrt wie immer
Dyade

- III
- Hermeneuticus am 19. Nov. 2004, 22:27 Uhr

Hallo Eberhard!


on 11/18/04 um 23:40:39, Eberhard wrote:

Für ein Individuum haben die Wörter seiner Sprache zugleich auch eine Geschichte: an jedem Wort hängen die Assoziationen an die Situationen, in denen es das betreffende Wort selber benutzt oder gehört hat. An einem Wort, z. B. dem Namen des Ortes, an dem man einen herrlichen Urlaub verlebt hat, hängen die Stimmungen von damals.

Dies gilt auch für ganze Sprachgemeinschaften. Ob man z. B. unsere Sonne weiblich als DIE Sonne bezeichnet oder ob man wie die Franzosen von einer männlichen Sonne, also le soleil spricht, macht für die Präzision der Sprache beim Bezeichnen von Objekten keinen Unterschied.


Ich denke, man greift zu kurz, wenn man die Gebrauchsgeschichte von Begriffen, Redewendungen oder ganz allgemein Zeichen als bloße "Assoziation" begreift. Dadurch wird sie von vornherein in den Bereich des "bloß Subjektiven" verlegt, also in den Bereich der Eigenheiten, die für die präzisierte "Bezeichnung von Objekten" keine Rolle spielen und auch nicht spielen sollen.


Wir sind uns darin einig, dass im Prozess des Begründens sich wohl nur solche Überzeugungen intersubjektiv teilen und mitteilen lassen, die von den individuellen Eigenheiten der Sprecher ablösbar sind.

Aber erstens glaube ich nicht, dass man mögliche Argumente a priori in intersubjektiv teilbare und idiosynkratische aufteilen kann; denn das setzte ja voraus, dass man die jeweils argumentierenden Sprecher und Adressaten ohne Ansehung kennt. Wie soll man aber im voraus wissen, welches Argument einen bestimmten Gesprächspartner (oder womöglich alle) überzeugt?

Und zweitens liegt der Sinn von Begründungen darin, dass sich die Adressaten EIN EIGENES URTEIL bilden können. Die Nachvollziehbarkeit von Gründen ist keine Formalie, sondern eine kommunikative, ethische Verpflichtung. Diese würde man unterlaufen, wenn man dem EIGENEN URTEIL der Adressaten vorgriffe. Etwa, indem man sagte: "So, ich habe der Form genügt, wenn ihr das nicht nachvollziehen könnt, ist das euer Problem. Beschlossen und verkündet!" Dadurch würde sich der gute Sinn von Begründungen ins Gegenteil verkehren.
(Ein unschönes Beispiel: Müntefering angesichts der Proteste gegen Hartz IV. Er sagte sinngemäß: "Ja, wir hätten den Menschen dieses Gesetz besser erklären sollen." Das klang wie: Wir hätten ihnen mehr Hilfestellung beim Gehorchen geben müssen.)

Kurz: Es kann keine allgemeinen und formalen Kriterien dafür geben, welche Art von Begründungen in einer konkreten Sprachgemeinschaft "konsensfähig" sind und welche nicht. Die Bildung des Konsenses muss man schon den Beteiligten selbst überlassen.

Aus demselben Grund ist auch die Gebrauchsgeschichte von Begriffen nicht zwingend eine "bloß subjektive" Äußerlichkeit, die bei der wahrheitsfähigen Präzisierung abgeschliffen wird. Ich sage bewusst "Gebrauchsgeschichte", weil die gemeinsame Sprache die Sprechergemeinschaft und IHRE GEMEINSAME WIRKLICHKEIT mitkonstituiert. In der gesprochenen Sprache sind auch geteilte Überzeugungen sedimentiert, die sich durch den dauerhaften Gebrauch "bewährt" haben.

Damit will ich nicht behaupten, es sei keine berechtigte Kritik am lebensweltlichen Sprachgebrauch möglich. Ich meine nur, dass es nicht angehen kann, die Grenze zwischen dem "substatiellen, wahrheitsfähigen Bestand" und dem "bloß Assozativen" a priori - und vor allem: aus einer Beobachterperspektive!! vorzunehmen. Diese Grenzziehung fällt in die - nicht hintergehbare - Urteilskompetenz der an Begründungsprozessen jeweils Beteiligten.



Zitat:

Diese an den Wörtern hängenden Assoziationen werden von den Definitionen und Bedeutungsfestlegungen nicht erfasst.


Diese Formulierung illustriert sehr gut, was ich kritisiere: Assoziationen bleiben äußerlich, sind nicht wahrheitsfähig. Dagegen halte ich: Im geteilten Sprachgebrauch sedimentieren sich auch geteilte Überzeugungen, die durch gemeinsame Praxen bewährt sind.


Zitat:

Daraus folgt, dass im Bemühen um dauerhafte und allgemein gültige Aussagen über die Beschaffenheit unserer Welt  vieles, was die Sprache an Ausdrucksmöglichkeiten bietet, diesem Ziel geopfert werden muss.


Dass Du von einem "Opfer" sprichst, unterstreicht die ethische Dimension des Begründens. Und daraus ergibt sich, dass es sich hier nicht um ein Opfer handeln sollte, das den Betroffenen von außen ZUGEMUTET wird, sondern das nur sie selbst bringen können, und zwar aus eigener Einsicht. "Einsicht" ist nun einmal nichts, was man Menschen verordnen kann wie eine bittere Medizin.

Entweder wir nehmen den aufklärerischen Anspruch ernst und sinnen ALLEN Subjekten die Fähigkeit zur Einsicht und zum verantwortlichen Urteil an (dann dürfen wir keine gschickten Vorkehrungen treffen, diese Kompetenz wieder zu unterlaufen) oder wir verzichten gleich darauf und wechseln nur kirchliche und politische Autoritäten gegen die Autorität von Wahrheits-Experten aus.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 20. Nov. 2004, 10:15 Uhr

Hallo Dyade,

ich hatte geschrieben, dass derjenige, der seinem Denken und Handeln wahre Aussagen zu Grunde legt, keine Enttäuschungen erlebt.

Nun stellst Du dazu die Frage, ob wahre Aussagen Sicherheit bringen. Entäuschungsfreiheit und Sicherheit sind aber verschiedene Dinge.

Auf Dein Beispiel bezogen: Wenn ich aufgrund von Messungen zu der wahren Aussage gelange, dass das Eis nur 4 cm dick ist und ich aufgrund anderer Kenntnisse schließen kann, dass das Eis mich nicht trägt, dann bedeutet es für mich keine Enttäuschung, wenn ich trotzdem aufs Eis gehe und einbreche. Ich wusste ja vorher: Wenn ich aufs Eis gehe, werde ich "mit Sicherheit" einbrechen.

Was Ist daran verwirrend? fragt Dich Eberhard.

- III
- Dyade am 20. Nov. 2004, 13:38 Uhr

Hallo Eberhard,

also ein bisschen spitzfindig ist deine Unterscheidung von "Enttäuschung" und "Sicherheit" schon. Denn, wenn du die Frage stellst nach den Kriterien über die "Wahrheit" von Aussagen über die Wirklichkeit, dann steckt doch dort ein ganz praktisches Problem drin. A sagt das Eis ist zu dünn um es zu betreten. B sagt nein, das Eis trägt. Ob jetzt A oder B recht hat ist ja keine Frage der Symetrie mehr. Hat A unrecht, ist er vielleicht wirklich überrascht ( ent-täuscht) wenn das Eis dennoch trägt. Hat B unrecht ist er nicht nur überrascht und entäuscht, sondern auch noch ertrunken.

Ich bin verwirrt, besser wäre es zu sagen: ich staune immer wieder über die Tatsache, dass unsere Theorien über die Beschaffenheit der Realität tatsächlich stimmen können, obwohl von Kant bis Luhmann der systemische Ansatz sagt, wir sehen nur "innen".

Nie war ein Mensch auf dem Mars und dennoch benutzen wir Mathematik um eine Sonde punktgenau, wenn wir RICHTIG rechnen, ins Ziel zu bringen. Das heißt, die Ordnungsanstrengungen unseres Verstandes in Bezug auf die Sinnesdaten,  scheinen ja wohl irgendwie in der Lage zu sein die Realität passgenau (=richtig=wahr) nachzubilden. Eine kleine Hilfestellung von Hermeneuticus wäre mir hier sehr lieb. Vielleicht lichtet sich meine "Verwirrung" ohne das ich aufhören muss zu staunen. :-)

liebe Grüße

- III
- Hermeneuticus am 20. Nov. 2004, 14:35 Uhr

Persönliches PS zu meinem letzten Beitrag:

Eins der ersten "richtig philosophischen" Bücher, das ich gelesen habe, war "Wissenshaft und Technik als Ideologie" von Jürgen Habermas. Ich ging noch zur Schule, aber ein guter Freund studierte bereits Philosophie und hatte dieses Buch zur gemeinsamen Lektüre vorgeschlagen. (Etwa gleichzeitig versuchten wir uns an "Sein und Zeit", das wir nach den ersten 20 Seiten verwirrt wieder weglegten...)

Ich erinnere mich kaum an den Text von Habermas' Aufsatzsammlung (ein dunkelblaues Bändchen aus der "edition suhrkamp" ). Aber unsere Diskussionen damals scheinen für mich doch richtungsweisend gewesen zu sein. Das stelle ich mit einem gewissen (freudigen) Staunen gelegentlich fest, wenn ich mir bei den Diskussionen hier im Forum über die Schulter sehe.
:-)

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 20. Nov. 2004, 15:37 Uhr

Hallo Dyade!

Ich eile, Dir die "kleine Hilfestellung" zu geben, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich das kann... :-)


on 11/20/04 um 13:38:20, Dyade wrote:

Denn, wenn du die Frage stellst nach den Kriterien über die "Wahrheit" von Aussagen über die Wirklichkeit, dann steckt doch dort ein ganz praktisches Problem drin. A sagt das Eis ist zu dünn um es zu betreten. B sagt nein, das Eis trägt. Ob jetzt A oder B recht hat ist ja keine Frage der Symetrie mehr. Hat A unrecht, ist er vielleicht wirklich überrascht ( ent-täuscht) wenn das Eis dennoch trägt. Hat B unrecht ist er nicht nur überrascht und entäuscht, sondern auch noch ertrunken.


Ich bin nicht sicher, ob Du damit Eberhards Intention grundsätzlich widersprichst.

Aus meiner Sicht wäre an dem Beispiel etwa dies zu bemerken: "Messung". - Hmm, erstens ist es nicht so einfach, die Dicke einer geschlosseenen Eisdecke zu messen. Dazu müsste man - wenn man nicht modernste Technik zur Verfügung hat - erst ein Loch hineinschlagen - was sich aber nicht empfiehlt, weil dadurch ihre Oberflächenspannung, also Tragfähigkeit vermindert würde. Außerdem macht eine Zentimeterangabe nur Sinn, wenn man weiß: 1. ab welcher Dicke Eis gewöhnlich welches Gewicht trägt, 2. wie schwer man selbst ist, 3. auf eine wie große/kleine Druckfläche sich das fragliche Gewicht verteilen darf. Vielleicht trägt das Eis ja einen Schuhträger von 80 kg, aber keinen Schlittschuhläufer von 70 kg? Außerdem können unregelmäßige Strukturen im Eis (zugefrorene Bruchkanten etc.) die Prüfung seiner schieren Dicke relativieren...

Aus diesen Gründen wohl sieht man niemals Leute das Eis "messen", ehe sie es betreten. Die Erprobungspraxis sieht anders aus. Wie?  
Es handelt sich um eine bewährte Praxis, die optische, taktile und akustische Symptome mit Erfahrungswerten, die in einer Art "Körpergefühl" gespeichert sind, kombiniert. Sie ist sehr viel effektiver als eine Messung mit technischen Geräten. Könnte man die Eisdicke INSGESAMT vermessen, wäre eine Messung wohl zuverlässiger - wenn man weiß, welche Schlüsse aus den Zahlen für die "user" zu ziehen sind...
Aber ein Restrisiko bleibt bei jeder Art von Test.

Was ich andeuten will: Das "Zugrundelegen" von "wahren Aussagen über die Wirklichkeit" ist eine recht gestelzte Umschreibung dessen, was wir in der Praxis tun. Wenn wir die Dicke des Eises testen, wenden wir keine "Theorie" an, vielleicht sprechen wir nicht einmal dabei.

Mag sein, dass die eingespielte Praxis des Testens sich als ein "Zugrundelegen von wahren Aussagen" REKONSTRUIEREN ließe; d. h. dass unsere eingespielte Praxis dieselben methodischen Schritte impliziert, die eine erkenntnistheoretische Analyse dann expliziert. Das wäre zu prüfen.
Aber lebensweltlich empfiehlt es sich selten, nach solchen expliziten Rekonstruktionen zu verfahren. Das wäre denn doch allermeist "von hinten durch die Brust ins Auge geschossen".



Zitat:

Ich bin verwirrt, besser wäre es zu sagen: ich staune immer wieder über die Tatsache, dass unsere Theorien über die Beschaffenheit der Realität tatsächlich stimmen können, obwohl von Kant bis Luhmann der systemische Ansatz sagt, wir sehen nur "innen".


Kants "transzendentale" Analyse versteht sich als eine solche (oben angedeutete) methodische Rekonstruktion dessen, was geschieht, wenn wir etwas "erfahren". Sein Ansatz bei dieser Rekonstruktion hat eine gewisse Verfremdung zur Folge: Alles, was sonst in unserer eingespielten Praxis des Erkennens als wirkliches Kontinuum zwischen Subjekt und den Objekten PRAKTISCH BEWÄHRT ist, steht nun in Frage. Es ist problematisiert, um die einzelnen methodischen Schritte thematisieren zu können, die notwendig sind, damit diese Praxen gelingen können. - Kant fragt. "Wie ist Erfahrung MÖGLICH?" Wobei er natürlich davon ausgeht, dass sie dauernd gelingt...

Bei Luhmann tritt das Problem auf, dass er diese bei Kant nur analytisch verstandene Sichtweise naturalisiert. Die ganze Welt BESTEHT bei ihm aus problematischen "Systemen", denen eine IM PRINZIP UNBEKANNTE "Umwelt" gegenübersteht. Dieser Ansatz ist im hohen Maße, was man "kontraintuitiv" nennt. d. h. er stellt unsere lebensweltliche Erfahrung und Wirklichkeit auf den Kopf. Wir finden uns in dieser Theorie mit unserem Lebensgefühl nicht wieder.


Zitat:

Das heißt, die Ordnungsanstrengungen unseres Verstandes in Bezug auf die Sinnesdaten,  scheinen ja wohl irgendwie in der Lage zu sein die Realität passgenau (=richtig=wahr) nachzubilden.


Hier übernimmst Du die analytische, rekonstruktive, also "verfremdende" Sicht. Das, was "immer schon" gelingt (und auch gelingen MUSS, wenn wir nur überhaupt so weit kommen wollen, ein philosophisches Buch aufzuschlagen), ist aus methodischen Gründen verrätselt.

Für mich ergibt sich aber aus dieser Überlegung, dass die Analyse oder Rekonstruktion WEIT GENUG getireben werden muss - so weit nämlich, dass in ihr auch die gelingende Praxis der Lebenswelt einen Platz findet. Denn, wie gesagt, diese gelingende Praxis, die gar nicht rätselhaft ist, ist auch die selbstverständliche VORAUSSETZUNG für jede Art von Reflexion.

War das hilfreich? :-)

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 20. Nov. 2004, 19:33 Uhr

Hallo allerseits, hallo Hermeneuticus,

wenn ich genau hinsehe, dann widersprichst Du meinen Thesen nicht, sondern willst sie erweitert sehen (" greift zu kurz" ), oder Du ziehst selber daraus Konsequenzen, die Du für nicht akzeptabel hältst (" Wahrheits-Experten" ).

Wahrscheinlich können wir unsere beiderseitigen Ansichten am besten klären anhand des Kriteriums für die Wahrheit von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit:
   
      Wie können wir entscheiden, ob es so ist, wie die Aussage besagt?

Da es unterschiedliche Arten von positiven Aussagen gibt, schlage ich vor, dass wir mit den einfachsten Aussagen beginnen. Dazu zähle ich Aussagen wie: "Vor mir ist (jetzt) ein Haus". Es handelt sich dabei um eine Aussage über das Vorhandensein eines zeitlich und räumlich gegenwärtigen Gegenstandes.

Als Sprecher dieses Satzes mache ich bereits verschiedene stillschweigende Voraussetzungen: z. B. dass es mich selbst gibt (" mir" ), dass ich den Sinn räumlicher Bestimmungen und Richtungsangaben (" vor mir" ) sowie die Bedeutung der Wörter "Haus" und "ist" in deutscher Sprache verstehe.

Besondere Beachtung verdient das Wörtchen "ist". Grammatisch handelt es sich um die Gegenwartsform des Verbs "sein" in der 3. Person Singular Neutrum (" es ist" ). Das Wort "sein" ist mehrdeutig, aber aus den Zusammenhang wird deutlich, dass das Wort "sein" hier in der Bedeutung von "vorhanden sein, gegeben sein, da sein bzw. existieren" gebraucht wird.

Darüber entwickelt sich folgendes Gespräch zwischen mir und meinem Freund Skeptikus.

Skeptikus: "Woher weißt Du, dass vor Dir ein Haus steht?"

Ich: "Ich weiß das, weil ich es vor mir sehe."

Skepticus: "Es könnte sich ja um die Attrappe eines Hauses handeln, wie sie bei Filmaufnahmen verwendet wird."

Ich: "Das kann ich nicht ausschließen. Ich werde deshalb um das Objekt herumgehen und mich vergewissern, dass es sich um ein Haus handelt und nicht um eine bemalte Pappwand."

Skeptikus: "Du bist Dir jetzt sicher, dass Du ein Haus vor Dir siehst. Aber es könnte ja eine Halluzination sein, die Dir das Haus vorgaukelt."

Ich: "Ich leide eigentlich nicht unter Halluzinationen, aber zur Sicherheit will ich klären, ob ich einer optischen Illusion unterliege. Ich mache jetzt meine Augen zu … und ich stelle fest, ich sehe nichts mehr. Ich mache meine Augen wieder auf … und ich sehe das Haus unverändert an derselben Stelle vor mir, wie zu erwarten war."

Skepticus: "Vielleicht ist aber das Ganze eine optische Halluzination."

Ich: "Na gut. Dann werde ich versuchen, das Haus anzufassen. … Ich fühle massiven Stein, wie zu erwarten war. Eine optische Halluzination scheidet somit für mich aus."

Skeptikus: "Aber vielleicht träumst Du das Ganze nur, auch Dein Sehen und Tasten ist vielleicht nur geträumt, und in Wirklichkeit liegst Du zu Hause in Deinem Bett."

Ich: "Das kann ich so ziemlich ausschließen. Ich kenne meine Träume. Da geht es nicht so geordnet zu. Aber zur Sicherheit kneife ich mich noch mal kräftig … Au. … Ich stelle fest, ich bin davon nicht aufgewacht. … Außerdem erinnere ich mich gut daran, wie ich die Fahrt hierher geplant habe und wie ich heute mit dem Auto hierher zu diesem Haus gefahren bin. Es ist alles stimmig, auch was den Zeitablauf betrifft, denn auf meiner Uhr ist es jetzt 14.30 Uhr, so wie geplant. So stimmig sind meine Träume nicht."

Mein begründetes (?) Fazit aus diesem Dialog: Der Satz "Vor mir ist ein Haus" ist eine wahre Aussage über die Wirklichkeit. Ich nehme mit meinen Augen und Fingern all das wahr, was zu erwarten ist, wenn der Satz wahr ist.

Es grüßt Euch Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 03:33 Uhr

Hallo Eberhard!

An der inhaltlichen Darlegung Deines Beispiels - dem Dialog mit dem Skeptiker - finde ich so weit nichts auszusetzen. Wohl aber an seiner Auswahl und den damit getroffenen Vorentscheidungen.

Die Situation ist recht künstlich, eigens erdacht zur Widerlegung eines - ebenfalls künstlichen - Skeptikers. Solche Dialoge und Begründungen mag es in philosophischen Foren geben, aber nicht im Alltag. Es handelt sich eben um die Illustration von (bekannten) Argumenten, eine dialogisierte Reflexion.

Es scheint mir wichtig, sich dies klar zu machen. Denn es ist eines, in einem Haus zu leben, es zu heizen, zu warten, zu verschönern usw. Und es ist etwas anderes, ein Haus als einen - ziemlich beliebigen - Gegenstand unter Gegenständen vor sich zu haben - als bloßen Anlass zur Reflexion.

Die Art und Weise, wie Häuser im Alltag "gegeben" sind, unterscheidet sich sehr von dieser reflektierten Betrachtung. Hier, im Beispiel, haben wir zwei "Subjekte" und, ihnen gegenüber, also klar von ihnen gesondert, ein "Objekt" ; und bei ihrer Art der Betrachtung und Diskussion über seine Realität könnte das Objekt ohne Verlust durch einen Baum, ein Auto, ein Aktmodell oder spielende Kinder ausgetauscht werden. Die "Wirklichkeit" von Häusern, in denen sich der größte Teil unseres Lebens vollzieht, zu denen wir also eine ausgezeichnete Beziehung haben, spielt im Beispiel gar keine Rolle.

Häuser, in denen wir leben, sind für uns Kulturwesen ohne Fell weitaus mehr als "Gegenstände" einer desinteressierten Betrachtung. Sie sind in gewissem Sinn ein TEIL von uns, die von Natur aus auf technisch hergestellten Schutz gegen Witterung und Umweltgefahren angewiesen sind. Es sind Angelpunkte unseres Lebens, wofür es unzählige Indizien gibt, von den vielen Redewendungen (Gorbatschows "Haus Europa" ) bis hin zur heiß umkämpften "Eigenheimzulage"... Insofern ist es ziemlich unsinnig, das Vorhandensein eines Hauses anzuzweifeln wie es Dein Skeptiker tut. Die unmittelbare Gebrauchswirklichkeit von Häusern ist dafür viel zu gewiss.

Aber das gilt natürlich für so ziemlich alles, das Teil unserer Lebenswelt ist und EBEN DESHALB kein abgetrennter "Gegenstand" einer rein "theoretischen" Betrachtung. Um ein Haus in der Weise Deiner Diskussionspartner zu Gesicht zu bekommen - also als beliebiges Ding unter Dingen -, muss man durch Reflexion eine andere Einstellung zu ihnen einnehmen. Und der Wechsel dieser Einstellung ist folgenreich dafür, ALS WAS der fragliche  Gegenstand jeweils wahrgenommen wird.

Natürlich habe ich bei diesen Überlegungen auch wieder den Unterschied zwischen einer Wirklichkeit aus Gegenständen und einer Wirklichkeit des (irreflexiven) Vollzugs im Hinterkopf. Ebenso denke ich an die "erkenntnistheoretische" Verfremdung, die sich an unserer Lebenswirklichkeit vollzieht, wenn wir aus ihr heraustreten, um zu refkletieren. (Siehe dazu auch meinen letzten Beitrag an Dyade.) Und mir scheint es für die Behandlung des Wahrheitsbegriffs - hier der Wahrheitskriterien - von elementarer Bedeutung zu sein, dass man sich über den angedeuteten Wechsel der "Einstellung" Rechenschaft gibt.
Denn die Weise, in der uns Dinge gegenständlich sind, wenn wir über sie reflektieren, ist eine abgeleitete, sekundäre Weise. Darum sollte sie in einer methodischen Untersuchung des Wahrheitsbegriffs auch ALS abgeleiteter Modus begriffen sein, nicht als gewissermaßen "natürliche" Ausgangsbasis.

Um es etwas konkreter zu sagen: Du schneidest - auch schon durch Deine Beispiele - die Wahrheitsfrage so zu, dass sie wie ein Sonderfall von Wissenschaftstheorie erscheint. Mir liegt durchgängig daran, den Abstand zwischen unserer lebensweltlichen Einstellung und ihrer wissenschaftlichen "Verfremdung" zu verdeutlichen.


Gruß
H.


- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 12:07 Uhr

Hallo miteinander!

Ich möchte kurz erläutern, was ich mit der angesprochenen "erkenntnistheoretischen Verfremdung" genauer meine und wie sie sich auf unsere Einstellung zu Dingen unseres täglichen Lebens auswirkt.


Zitat:

(Kants "transzendentaler" ) Ansatz bei (der erkenntnistheoretischen) Rekonstruktion hat eine gewisse Verfremdung zur Folge: Alles, was sonst in unserer eingespielten Praxis des Erkennens als wirkliches Kontinuum zwischen Subjekt und den Objekten PRAKTISCH BEWÄHRT ist, steht nun in Frage. (Hermeneuticus in Beitrag Nr. 60)

Um ein Haus in der Weise Deiner Diskussionspartner zu Gesicht zu bekommen - also als beliebiges Ding unter Dingen -, muss man durch Reflexion eine andere Einstellung zu ihnen einnehmen. Und der Wechsel dieser Einstellung ist folgenreich dafür, ALS WAS der fragliche  Gegenstand jeweils wahrgenommen wird. (Hermeneuticus in Beitrag Nr. 62)

 


Wenn wir P.Janichs Unterscheidung der verschiedenen Sprachebenen zugrunde legen (siehe den Eröffnungs- "Wahrheit III" ), dann werden Wahrheitskriterien erst auf der dritten Ebene eines Wahrheitsdiskurses thematisch.

- Angefangen hat der Diskurs mit einer positiven, objektsprachlichen Aussage und ihrer Anzweiflung.
- Die Anzweiflung macht diese Aussage zum Gegenstand des Gesprächs, genauer: das Verhältnis von Behauptung und Sachverhalt, dessen Vorliegen in Frage steht. Es folgt ein Austausch von Argumenten für und wider die Behauptung.
- Wird dabei keine Einigkeit erzielt, kommt in den Blick, dass die Diskutanten vielleicht unterschiedliche Kriterien für das Vorliegen des fraglichen Sachverhalts gebrauchen. Hier, könnte man sagen, verschärft sich der Dissens über eine einzelne Aussage zu einem grundsätzlichen Dissens über Regeln, die für ALLE Aussagen dieser Art gelten.

Vielleicht einigen sich die Gesprächspartner auf gemeinsame Kriterien, anhand derer sie den fraglichen Sachverhalt (und implizit natürlich auch alle künftigen Sachverhalte gleicher Art) überprüfen und daraufhin als gegeben gelten lassen wollen. Was hätte das für den Sachverhalt zur Folge? Bei seiner ÜBERPRÜFUNG käme er nur so weit in Betracht, als es für die gemeinsamen Kriterien, die den Streit schlichten sollen, nötig wäre. Er unterläge also einer verschärft SELEKTIVEN Betrachtung. Denn die anderen, nun nicht weiter berücksichtigten Eigenschaften des Sachverhalts wurden von den Sprechern offenbar so verschieden gesehen, dass sie darauf keine gemeinsame Ansicht gründen konnten.
Durch ihre Beschränkung auf bestimmte, unstrittige Züge des Sachverhalts umgehen sie die Kontroverse. Was aber nicht bedeuten muss, dass sie künftig den fraglichen Sachverhalt immer nur in dieser Beschränkung betrachten werden. Jeder von ihnen wird den Sachverhalt auch künftig noch auf seine individuelle Weise sehen.

Nehmen wir an, die streitende Runde bestehe nicht nur aus zwei, sondern vielen Teilnehmern mit verschiedenen, individuellen Sichtweisen. Wollten die sich nun auf gemeinsame Prüfungskriterien einigen, müssten sie sich höchstwahrscheinlich auf NOCH ABSTRAKTERE Züge des Sachverhalts zurückziehen. Vielleicht würde es sich dabei nur noch um messbare Qualitäten handeln (Masse, Ausdehnung, Geschwindigkeit usw.).

Nun fragt sich: Werden diese Diskutanten künftig behaupten, dass der fragliche Sachverhalt – sei er meinetwegen ein Haus – IM WESENTLICHEN ein so und so zu messendes Ding mit der und der Masse, Ausdehnung, Geschwindigkeit... SEI? Wohl kaum. FÜR PRÜFUNGSZWECKE, also den Fall, dass anders KEINE EINIGKEIT unter ihnen zu erzielen ist, werden sie immer wieder auf diese Kriterien zurückgreifen. Nicht aber, wenn sie im Alltag mit Häusern umgehen. Sie werden nicht denken: Ein Haus ist IM WESENTLICHEN ein Ding mit Masse, Ausdehnung, Geschwindigkeit...

Nun noch ein wesentlicher Punkt. Dass eine größere Gruppe von Diskutanten sich so uneinig über ein Haus sein könnte, ist höchst unwahrscheinlich. Stammen sie alle aus derselben Stadt, werden ihnen Häuser aus ihrem täglichen Leben wohlbekannt sein. Allgemeiner gesagt: Da, wo eine bewährte gemeinsame Lebenswirklichkeit (Praxis) vorausgesetzt werden kann, gibt es auch schon geteilte Überzeugungen und geteilte Kriterien für Dinge ihrer Wirklichkeit. Es besteht also für sie kein Grund, nur Prüfungskriterien zu vereinbaren, die so abstrakt sind, dass sie notfalls auch für Kontroversen mit Papuas oder Besucher von Alpha Centauri tauglich wären – also für bloß ausgedachte Gesprächspartner, mit denen sie keinerlei Praxis teilen.

Das illustriert, was ich mit der "erkenntnistheoretischen Verfremdung" meine. Betrachtet man an Dingen nur DAS als ihre "wesentlichen Eigenschaften", was für JEDEN MÖGLICHEN SKEPTIKER überprüfbar wäre, reduziert sich die Wirklichkeit der täglichen Umgebung, die durch dauernden Umgang VERTRAUT ist, auf ein lebloses, kaum wiedererkennbares Skelett.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 21. Nov. 2004, 13:15 Uhr

hallo hermeneuticus,

auf eine art hast du vollkommen recht, wenn du sagst, dass
Zitat:

Betrachtet man an Dingen nur DAS als ihre "wesentlichen Eigenschaften", was für JEDEN MÖGLICHEN SKEPTIKER überprüfbar wäre, reduziert sich die Wirklichkeit der täglichen Umgebung, [...]auf ein lebloses, kaum wiedererkennbares Skelett.

.
eben ein solches skelett ist die ontologie, die lehre dessen, was da ist. aber beim skeptizismus dreht es sich meiner ansicht nach um genau diesen punkt. der skeptiker leugnet, dass da etwas ist. denken wir an gorgias:

· nichts existiert
· selbst, wenn etwas existiert, ist es doch nicht erkennbar
· selbst, wenn etwas erkennbar ist, ist es doch nicht mitteilbar

oder nehmen wir das moderne gedankenexperiment h. putnams (" brain in a vat" ).

die philosophische position des skeptizismus reduziert sich auf dieses skelett, dessen existenz er bestreitet. besonders in putnams version des skeptizismus wird deutlich, dass a) wie du, hermeneuticus, richtig formuliert hast, der skeptiker quasi den boden der lebensweltlichen tatsachen verläßt, und b) in wieweit diese tatsachen relevant sein können (ein gehirn im tank kann keine sinnvolle aussage darüber machen, dass es ein gehirn im tank sei.).

- mfg thomas

p.s.: noch einige bemerkungen an dyade


Zitat:

Ich bin verwirrt, besser wäre es zu sagen: ich staune immer wieder über die Tatsache, dass unsere Theorien über die Beschaffenheit der Realität tatsächlich stimmen können, obwohl von Kant bis Luhmann der systemische Ansatz sagt, wir sehen nur "innen".



Zitat:

Das heißt, die Ordnungsanstrengungen unseres Verstandes in Bezug auf die Sinnesdaten,  scheinen ja wohl irgendwie in der Lage zu sein die Realität passgenau (=richtig=wahr) nachzubilden.



ich denke, wir sollten uns -si licet dicendi- nicht philosophisch dümmeranstellen, als wir sind.
ich weiß nicht, weshalb es so verführerisch ist, so zu tun, als seien wir menschen im grunde eine art weltfremde spezies, die mit einem *plopp* in einer welt aufwachen, zu der sie a) nie kontakt hatten, und die sie b) irgendwie aus dem bewußtsein rekonstruieren müßten. eine solche sichtweise muss uns letztlich über die enormen leistungen eines solchen bewußtseins staunen lassen. aber ich denke das die wirklichkeit ein wenig einfacher ist.
wir sollten nicht vergessen, dass wir als menschen schon seit jeher in diese welt miteingebunden sind, dass wir von der geburt bis zum tod -ob darüberhinaus, diese frage überlasse ich den religionen- den gesetzen unseres körpers und somit auch den gesetzen dieser welt unterliegen. wir haben verhalten, dass schon seit je her an diese umgebung angepaßt ist. das zeigt auch die untersuchung der reflexe, die der arzt an neugeborenen vollzieht. ohne komplexe reflexion saugt ein kind an der mutterbrust.
wir dürfen bei aller rede vom bewußtsein nicht vergessen, dass unser bewußtsein ein körperliches ist (ich lasse diese formulierung bewußt unscharf).
wir sind von je her "zur welt" (eine abwandlung des heideggerschen "in-der-welt-seins" angeregt durch maurice merleau ponty). nicht bloß in die welt hineingekommen.

- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 14:22 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

eben ein solches skelett ist die ontologie, die lehre dessen, was da ist.


Ontologie muss sich nicht zwingend in einer Ontologie von DINGEN erschöpfen. Sie kann sich auch zunächst einmal um die Seinsweise derjenigen kümmern, denen Dinge so und so "gegeben" sind. Sprich: Sie kann auch ansetzen beim menschlichen In-der-Welt-Sein. Aber diese menschliche Seinsweise ist eben in den Kategorien der traditionellen Ding-Ontologie nicht zutreffend zu beschreiben.


Zitat:

wir dürfen bei aller rede vom bewußtsein nicht vergessen, dass unser bewußtsein ein körperliches ist (ich lasse diese formulierung bewußt unscharf).


Naja, hier versuchst Du, "Bewusstsein" (das ja auch ein "Sein" zu sein scheint...) mit dem Sein von "Körpern" (also Dingen) in einen - bewussst unscharfen - Zusammenhang zu bringen. Mich interessiert natürlich, wie Du Dir diesen Zusammenhang genauer vorstellst. Aber das ist ein anderes Thema. Ich möchte nur im voraus davor warnen, aus Angst vor dem radikalen Skeptiker und bösen Relativisten das Bewusstsein unter die körperlichen Sachverhalte subsumieren, es dort gewissermaßen in Sicherheit bringen zu wollen... :-)

Wenn man in den Kategorien der traditionellen Ding-Ontologie denkt, kann man das Bewusstsein-Körper-Problem nicht lösen. Die methodischen Vorentscheidungen der Ding-Ontologie lassen keinen Platz für Bewusstseinsvollzüge. Man muss schon, davon bin ich überzeugt, statt von Dingen von PRAXIS als der elementaren "Wirklichkeit" ausgehen. Und man darf Praxen nicht wieder zerlegen wollen in einen "wirklichen" Teil (= bewegte Dinge) und einen "bewussten" Teil, von dem man dann nicht genau weiß, wie er zwischen den Dingen unterzubringen ist...

Praxis muss übrigens auch der radikalste Skeptiker anerkennen. Denn auch ein Skeptiker denkt, spricht, behauptet und bestreitet. Es besteht also kein Grund, den Skeptiker allein dadurch zu widerlegen, dass man ihn mit der Nase auf die massiven DINGE, die "hard facts" stößt. Es genügt, ihn an das zu erinnnern, was er TUT, wenn er die Wirklichkeit von allem bestreitet.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 21. Nov. 2004, 18:14 Uhr

hallo hermeneuticus,

nur drei kleine anmerkungen zu deinem letzten beitrag:

I)
Zitat:

Ontologie muss sich nicht zwingend in einer Ontologie von DINGEN erschöpfen.


ich schließe aus deinem statement, dass du nicht ganz verstanden hast, wovon ich sprach.
ontologie ist die lehre von dem, was da ist. und ich denke im prinzip sind wir uns nicht uneins in diesem punkt. ich habe nicht gesagt, dass ontologie die lehre ist, von den dingen die da sind. das hieße sich von vornherein auf eine bestimmte ontologie festlegen.

II)
Zitat:

das Bewusstsein unter die körperlichen Sachverhalte subsumieren, es dort gewissermaßen in Sicherheit bringen zu wollen


zu diesem punkt gibt es verschiedene philosophische sichtweisen. ob wir uns auf ein "inkarniertes bewußtsein" im sinne maurice merleau-pontys berufen, oder ob wir uns auf den von dir sogenannten "naturalistischen" weg begeben, und das bewußtsein als identität von geist und gehirn begreifen, ist dabei offen. ich denke, dass zumindest unter den heutigen philosophen einigkeit besteht, dass das von descartes aufgeworfene leib-seele-problem verworfen worden ist. ein materialer dualismus von leib und seele ist so nicht haltbar. wir haben es nicht mit einer occasionalen verbindung zu tun. das wird weithin akzeptiert.


III)
Zitat:

Praxis muss übrigens auch der radikalste Skeptiker anerkennen.



ich denke, dass auch niemand, der sich ernsthaft auf eine skeptische position beruft, bezweifelt, dass menschliche praxis in dem sinne stattfindet. eine ernstzunehmende skeptische position wird allerdings den ontologischen status der wirklichkeit infrage stellen. wenn wir uns zum beispiel putnams "brain in a vat" -problematik widemen, so denke ich, ist es unzweifelhaft, dass dem gehirn im tank suggeriert wird, dass praxis stattfindet. das gehirn registriert "eine welt" und reagiert auf "diese welt". was aber fraglich ist, ist der status dieser welt.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 20:01 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

ontologie ist die lehre von dem, was da ist. und ich denke im prinzip sind wir uns nicht uneins in diesem punkt. ich habe nicht gesagt, dass ontologie die lehre ist, von den dingen die da sind. das hieße sich von vornherein auf eine bestimmte ontologie festlegen.


Halte mich für spitzfindig, aber die Formulierung "WAS da ist", legt nahe, dass es sich um nicht-persönliche Entitäten handelt. Nach Personen, sich selbst eingeschlossen, fragt man nicht mit "was?" (außer vielleicht in dem einst populären Ratespiel "Was bin ich?", aber das war eben ein heiteres BERUFE-Raten...) :-)

Es macht jedenfalls einen Unterschied, ob man EINE riesige Klasse von Entitäten annimmt, von der es dann auch eine Untermenge "Personen" mit dem Element "Ich" gibt. Oder ob man die Ontologie beginnen lässt bei dem Sein, das man selbst (und seinesgleichen) ist. Hier jedenfalls schaut man nicht aus einer Beobachterperspektive zu, was das Seiende wohl so macht, wie es sich verhält usw. Sondern hier hat man den großen Vorzug, Beteiligter zu sein. So ist man ein Sein, das seine Seinsweise mitbestimmt, nämlich handelnd gestaltet und reflektierend erkundet.
Ja, das scheint mir ein großer Vorzug zu sein: selbst handelnd Einfluss auf das eigene Sein nehmen zu können. Alles andere Seiende (= Dinge) muss man nämlich zuerst einmal so hinnehmen, wie es ist (auch dann, wenn man es technisch umgestalten will). Allein dieser Umstand hebt das eigene Sein aus der Masse der Seienden heraus.

Wir können das gern vertiefen, allerdings führt das möglicherweise zu weit vom Thema ab?

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 22. Nov. 2004, 01:48 Uhr

ob dein einwand nun spitzfindig ist, oder nicht, sei einmal dahingestellt, ich frage mich nur, ob er der sache nützt.

- III
- Dyade am 22. Nov. 2004, 09:35 Uhr

Liebe Gehirnbesitzer,

kann es vom Standpunkt eines radikalen Konstruktivisten aus überhaupt eine Frage nach der Wahrheit geben? Mit dem konstruktiven Statment zusammen ist doch ebenso ein "erkenntnistheoretischer Solipsismus" (Glasersfeld) gegeben, von dem ich sagen würde er führt auch in Sachen Wahhrheit dazu behaupten zu müssen sie sei lediglich eine besondere Form der Eigenproduktion des Systems.

Die besondere Leistung die aus der systemtheoretischen Sicht lebenden Systemen zukommt ist es, dass sie den Objektbezug zu einem "Quasi-Aussen" intern wiederholen und so erst überhaupt ein Umwelt/System-Verhältnis KONSTRUIEREN, wobei Umwelt(=Wirklichkeit) lediglich die Innenseite eines Spiegels bleibt. WAHRHEIT = Katastrophe

Ähnlich wie bei Kants transzendentaler Analyse bleibt bei dieser naturalisierten Wendung (thanks Hermeneuticus) das "Ding an sich" oder "Die Realität" außen vor. Sie ist vielleicht nur noch ein Taktgeber (jedoch ohne erkennbaren Takt), der via Katastrophe der Wirklichkeit des Systems die Flötentöne beibringt.

Ich muss gestehn, hier wird für mich die Frage nach Wahrheit, wenn ich damit tatsächlich die Adäquation von Denken und Sein meine, vollkommen undeutlich.

Um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen möchte ich noch einen weiteren Begriff einführen. Das ist der Begriff der "Evidenz", also das 'fraglose-für-wahr-halten' eines Sachverhaltes (Vorschlag). Das was Hermeneuticus mit dem Hinweis auf Heideggers Fundamentalontologie des menschlichen In-der-Welt-seins und der Da-seins Analyse angedeutet hat, geht in meinen Augen von dieser ersten unmittelbaren Evidenz aus. Ist das dann auch die erste Wahrheit?

Grüße
Dy

- III
- Hermeneuticus am 22. Nov. 2004, 14:04 Uhr

Hallo Dy!


on 11/22/04 um 09:35:24, Dyade wrote:

Liebe Gehirnbesitzer...


Ich denke gerade über den rechtlichen Status dieses meines "Besitzes" (" Eigentums" ???) nach. Ich hab es nicht bei Karstadt gekauft, nicht geleast, nicht geerbt, nicht eigentlich geschenkt bekommen, auch nicht zufällig auf einer Parkbank gefunden und eingesteckt... Hab ich überhaupt mehr als ein bloßes Gewohnheitsrecht auf mein Gehirn?
[???]


Zitat:

Kann es vom Standpunkt eines radikalen Konstruktivisten aus überhaupt eine Frage nach der Wahrheit geben? Mit dem konstruktiven Statment zusammen ist doch ebenso ein "erkenntnistheoretischer Solipsismus" (Glasersfeld) gegeben, von dem ich sagen würde er führt auch in Sachen Wahhrheit dazu behaupten zu müssen sie sei lediglich eine besondere Form der Eigenproduktion des Systems.


Ich weiß nicht, ob von Glasersfeld und die Seinen ihre Theorie nur für einen zufälligen Schuss ins Blaue halten - mal kucken, was draus wird... - oder für eine wissenschaftliche Theorie, die Anspruch auf Wahrheit erhebt.
Tut sie dies nicht, brauchen wir uns damit nicht weiter zu befassen.
Tut sie es doch, müssen die Theoretiker zugeben, dass ihre Theorie nur gilt, wenn man die jeweils Anwesenden vom Gegenstandsbereich ausnimmt, weil diese nämlich den Begriff der Wahrheit wie bisher beanspruchen. Zur Klärung genau dieses Anspruchs kann aber ihre Theorie erklärtermaßen nichts beitragen.

Solipsisten sind, sobald sie nur den Mund auftun und zu ARGUMENTIEREN anfangen, nicht mehr ALS Solipsisten ernst zu nehmen.
Mit Absurditäten befasse ich mich nur, wenn sie MIR Vergnügen machen. Aber mir ist es einfach zu blöde, wenn jemand  eine absurde Position vertritt, nur um zu testen, ob es jemandem gelingt, sie mit ernsthaften Argumenten zu widerlegen. Wenn ich "Denksport" betreiben will, spiele ich Schach.



Zitat:

Ähnlich wie bei Kants transzendentaler Analyse...


Kant hatte eine sehr klare Vorstellung davon, dass der Anspruch auf Wahrheit mit Begründung und BERECHTIGUNG zu tun hat, also eine "quaestio iuris" ist. Wahr kann nicht eine Wahrnehmung als solche sein (etwa weil sie irgendwie einer "Außenwelt" ähnelt oder "mit den Fakten übereinstimmt" ), sondern nur ein URTEIL, also eine (nachvollziehbare) BEHAUPTUNG.
Aber für Solipsisten können Urteile, Ansprüche, Behauptungen, Rechte, Normen... keine Bedeutung haben. Ein Solipsist kommuniziert nicht. Oder nur, wenn er seinem Standpunkt untreu wird.


Zitat:

Ich muss gestehn, hier wird für mich die Frage nach Wahrheit, wenn ich damit tatsächlich die Adäquation von Denken und Sein meine, vollkommen undeutlich.


Mit dieser Undeutlichkeit hast Du auch ganz Recht. Denn wenn es die Ähnlichkeit zwischen Wirklichkeit und Abbild ist, die eine Aussage "wahr macht", muss man, um diese Wahrheit zu überprüfen, BEIDES KENNEN und vergleichen können. Das geht aber schlecht, wenn es zu den Voraussetzungen einer solchen "Erkentnistheorie" gehört, dass wir die "Außenwelt" EBEN NICHT KENNEN.


Zitat:

Um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen möchte ich noch einen weiteren Begriff einführen. Das ist der Begriff der "Evidenz", also das 'fraglose-für-wahr-halten' eines Sachverhaltes (Vorschlag).


Da machst Du ein großes Fass auf...


Zitat:

Das was Hermeneuticus mit dem Hinweis auf Heideggers Fundamentalontologie des menschlichen In-der-Welt-seins und der Da-seins Analyse angedeutet hat, geht in meinen Augen von dieser ersten unmittelbaren Evidenz aus. Ist das dann auch die erste Wahrheit?


Wenn ich Heidegger in "Sein und Zeit" einigermaßen verstehe, dann unternimmt er dort den Versuch, auf dem Weg einer PHÄNOMENOLOGIE zu "erhellen", was "Dasein" bedeutet. Und weil er dieses Unternehmen für eine FUNDAMENTALE Aufgabe hält, erhebt er damit wohl einen "transzendentalen" Anspruch.

Aber "Evidenz" ? Kann ich mir nicht denken. Das würde seinen Absichten wohl eher entgegenlaufen. Der Begriff der Evidenz ist historisch verknüpft mit der "reinen Schau" eines Bewusstseins, und diese Selbstgenügsamkeit und reine Selbstpräsenz des Geistes ist gerade der Zielpunkt von Heideggers Kritik.

Gruß
H.

 

- III
- Eberhard am 22. Nov. 2004, 18:12 Uhr

Hallo allerseits, hallo Hermeneuticus,

Du betonst, dass das reflektierende fragende Verhältnis zur Welt eine besondere Einstellung darstellt, die auf gelingenden Lebensvollzügen aufbaut. Da habe ich keine Probleme mit. Aber was ändert das an den Fragen, die gestellt werden und an den Kriterien für deren richtige Beantwortung?

die Auswahl meines Beispiels (unmittelbare raum-zeitliche Gegenwart eines mit mehreren  Sinnesorganen unmittelbar wahrnehmbaren ortsfesten und dauerhaften Gegenstandes) hatte seinen Grund darin, dass  Aussagen dieser Art noch am leichtesten auf ihre Wahrheit überprüft werden können.

Das beinhaltet jedoch keinerlei Vorentscheidung und hindert uns nicht, andere und kompliziertere Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu diskutieren wie z. B.:

Aussagen über nicht wahrnehmbare Objekte (" Dieser Stein ist schwach radioaktiv" ),

Aussagen über vergangene Sachverhalte (" Napoleon Bonaparte wurde auf Korsika geboren" ),

Aussagen über weit entfernte Objekte (" In Neuseeland gibt es wild lebende Koala-Bären" ),

Aussagen über empirische Zusammenhänge (" Raucher sterben x-mal häufiger an Krebs der Atemwege als Nichtraucher" ),

Aussagen über zukünftige Ereignisse (" Bei der nächsten Bundestagswahl werden die Nationalisten in den Bundestag einziehen" ),

Aussagen über empirische Regelmäßigkeiten (" Politiker, die in Ihrer Machtausübung von niemandem kontrolliert werden, verfolgen ihre privaten Eigeninteressen" ),

Aussagen über eigenpsychisches (" Ich habe starke Kopfschmerzen" ),

Aussagen über Fremdpsychisches (" Das eigentliche Motiv der Bush-Administration für den militärischen Angriff gegen den Irak war, die Kontrolle über die irakischen Ölvorkommen zu bekommen" ),

Aussagen über übersinnliche Wesen (" Es gibt Menschen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben" ),

Aussagen über übersinnliche Sachverhalte (" Jeder Mensch hat eine unsterbliche Seele" ).

Man muss kein Wahrheits-Experte sein, um zu diskutieren, wie man jeweils für bzw. gegen Behauptungen dieser Art argumentieren kann.

Um meine Position hier zu verdeutlichen: Um die Wahrheit einer Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu prüfen, muss ich fragen, ob ich all die Wahrnehmungen mache, die sich logisch ergeben, wenn diese Aussage gilt und keine Wahrnehmungen mache, die mit der Geltung von p logisch nicht vereinbar sind.

Anders ausgedrückt: Ich habe guten Grund, bis auf weiteres die Aussage p für wahr zu halten, wenn ich all die – und nur die - Wahrnehmungen mache, die bei Annahme von p zu erwarten sind.

Entscheidendes Wahrheitskriterium für Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ist also die Wahrnehmung.

Mit dieser bewusst zugespitzten Formulierung grüßt Euch Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am 22. Nov. 2004, 19:55 Uhr

Hallo Eberhard!

Mit Deinen Ausführungen im letzten Beitrag habe ich meinerseits ebenfalls keine Probleme. Ich kann auch Deinem Fazit zustimmen:


Zitat:

Entscheidendes Wahrheitskriterium für Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ist also die Wahrnehmung.



Nun fragt sich nur, ob wir mit "Wahrnehmung" dasselbe meinen.

Meine Fragen wären etwa:

Ist Wahrnehmung eine Organfunktion, die immer auf fast dieselbe Weise abläuft und daher als Naturvorgang beschreibbar wäre? Wäre das jeweils Wahrgenommene daher "von Natur aus" eine nahezu untrügliche Informationsquelle, die nur durch organische Störungen beeinträchtigt wird?

Oder ist das Wahrnehmen eine Handlung, die erlernt werden muss? Die, da man Handlungen auf verschiedene Weisen lernen kann, auch in verschiedenen Kontexten verschieden ausgeführt wird? Wäre daher Wahrnehmen auch ein Akt der Interpretation, durch den die nahezu gleichen Sinnesreize von verschiedenen Individuen jeweils anders "synthetisiert" werden können?

Gibt die Wahrnehmung immer dasselbe wieder - ganz gleich, in welchen praktischen Zusammenhängen sie vollzogen wird? Oder folgt sie grundsätzlich dem (interpretativen) Schema, nach dem stets "etwas ALS etwas" wahrgenommen wird?


Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 22. Nov. 2004, 23:59 Uhr

hallo,

vielleicht wäre es hilfreich zumindest aus heuristischen gründen bei der wahrnehmung zu differenzieren zwischen (i)dem rein physiologischen, (ii) dem psychophysischen und (iii) dem kognitiven vorgang.
(i) entspräche dann dem rein biologischen vorgang; (ii) dann dem, der gegenüberstellung von objektiven reiz und dem psychischen aspekt der wahrnehmung (da sich nicht jeder reiz zwangsläufig in einer reaktion des wahrnehmenden niederschlägt; stichwort: "schwellen" ) und letztlich dem kognitiven vorgang (iii) in dem etwas als etwas identifiziert wird. besonders bei (iii) spielt z. B. das vorwissen eine nicht unerhebliche rolle.

wenn wir diese drei ebenen akzeptieren, und gleichfalls akzeptieren, dass (ii) auf (i) aufbaut und (iii) auf (ii) also letztlich (iii) auf (i) aufbaut, denke ich, kommen wir einen großen schritt weiter.
vorallem werden unsere fragen zielgerichteter verlaufen.


Zitat:

Ist Wahrnehmung eine Organfunktion, die immer auf fast dieselbe Weise abläuft und daher als Naturvorgang beschreibbar wäre?


diese frage müßte dann auf allen 3 ebenen gesondert behandelt werden. betrachten wir die unterste ebene (i), so können wir diese frage uneingeschränkt bejahen. wahrnehmung ist prinzipiell eine organische funktion des menschlichen körpers. und als solche ist sie auch beschreibbar. wir können ein neuronales netzwerk als modell für das gehirn nutzen, um uns zu veranschaulichen, inwieweit das gehirn die (um)welt repräsentiert -dabei ist zu beachten, dass das gehirn aus vielen autonomen sub-netzwerken besteht, die (a) weitgehend autonom agieren und (b) auf verschiedenen ebenen schon "repräsentatives verhalten" zeigen; also das, was wir "repräsentation" nennen ist ein ganzer komplex und nicht ein einzelnes ganzes. wir können auf die erkenntnisse der phyiologie unserer sinne beziehen.
betrachten wir das geschehen beispielsweise auf der höchsten ebene (iii) wird die beantwortung schwieriger und weitaus komplexer. wie gesagt spielt unter anderem das, was man gemeinhin erfahrung nennt, eine nicht geringe rolle.


Zitat:

Wäre das jeweils Wahrgenommene daher "von Natur aus" eine nahezu untrügliche Informationsquelle, die nur durch organische Störungen beeinträchtigt wird?


auch hier läßt sich im rückgriff auf die drei betrachtungsebenen antworten. zunächsteinmal ist das jeweils wahrgenommene nicht nur eine nahezu untrügliche informationsquelle, sie ist untrüglich. entweder ein reiz ist gegeben oder nicht.
betrachtet man hingegen schon die zweite ebene, kann man nicht in dem sinne mehr von untrüglich, im sinne einer 1:1 umsetzung sprechen, da nicht jeder objektiv gegebene reiz auch in einer bewußten wahrnehmung repräsentiert wird. denken wir z. B. an das sehen oder hören, wo wir nur einen ausschnitt der reize verarbeiten. das heißt zwar nicht, dass das, was wir wahrnehmen falsch oder trügerisch ist, sondern schlicht und ergreifend begrenzt.
auf der dritten ebene schließlich kann auch sinnvoll von "trug" und "falsch" gesprochen werden. auf dieser ebene findet eine einordung unter schon bekanntes statt, bekanntes ergänzt die gegebene information etc. dort ist es möglich, dass z. B. erinnerung die wahrnehmung so beeinflußt, dass unsere interpretation verfälscht oder schlichtweg falsch wird.


Zitat:

Oder ist das Wahrnehmen eine Handlung, die erlernt werden muss? Die, da man Handlungen auf verschiedene Weisen lernen kann, auch in verschiedenen Kontexten verschieden ausgeführt wird? Wäre daher Wahrnehmen auch ein Akt der Interpretation, durch den die nahezu gleichen Sinnesreize von verschiedenen Individuen jeweils anders "synthetisiert" werden können?



auf der ebene (i) sieht die antwort so aus, dass wahrnehmung als eine körperfunktion weder erlernt werden kann, noch lassen sich die sinnesreize anders synthetisieren. ebene (ii) liefert schon eine ganz andere sicht. natürlich können wir in begrenztem rahmen auch unsere sinne und damit unsere wahrnehmung trainieren. man kann zwar nicht soweit gehen zu sagen, dass reize anders synthetisiert werden, eher sollte man sagen, die darbebotenen reize werden anders differenziert - also analysiert.
schließlich und endlich auf der dritten ebene ist es durchaus möglich, dass sinnesreize in gewisser weise anders interpretiert werden. denken wir an ein geräusch unbekannter quelle. je nach vorwissen können aussagen über eine mögliche quelle und ursache des geräuschs abgegeben werden, und so wird das geräusch verschieden interpretiert.
ich denke demonstriert zu haben wie leistungsfähig diese heuristische unterteilung der "wahrnehmung" ist.
selbstverständlich ist die wahrnehmung noch weitaus komplexer. es kommen bei den jeweiligen wahrnehmungen die eigenzustände des wahrnehmenden hinzu; ebenfalls habe ich anomalien jeglicher art beiseite gelassen, weil es mir zweckdienlich erscheint, dass wir uns auf ein paar wenige, grundlegene mechanismen einigen sollten.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 23. Nov. 2004, 08:31 Uhr

Hallo Thomas!

Zu Deinem Beitrag wäre viel zu sagen. Im Moment muss ich mich auf zwei Punkte beschränken:


Zitat:

also das, was wir "repräsentation" nennen ist ein ganzer komplex und nicht ein einzelnes ganzes. wir können uns auf die erkenntnisse der phyiologie unserer sinne beziehen.


1. Der Begriff der "Repräsentation" ist unbedingt klärungsbedürftig.
2. Bei der Frage, als was wir "Wahrnehmung" im Zusammenhang einer erkenntnistheoretischen Diskussion verstehen wollen, können wir erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach übernehmen. Empirische Theorein arbeiten ja stets mit kategorialen Voraussetzungen, die die Geltung ihrer Aussagen beschränken.
Der Begriff der Repräsentation ist eine solche Voraussetzung.

Denkt man sich bei einer physiologischen Untersuchung der Sinnesorgane ihre Funktion nach dem Muster der "Repräsentation", erhält man auch entsprechende Resultate. Diese Resultate können dann aber in einer erkentnistheoretischen Untersuchung nicht als "empirischer Beleg" dafür stehen, dass Erkennen im Wesentlichen Repräsentation SEI.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 23. Nov. 2004, 10:15 Uhr

repräsentation:

der begriff der repräsentation läßt sich unter zuhilfenahme der informationsverarbeitung definieren.
ein system A verhält sich repräsentativ wenn es informationen aus der interaktion mit X behandelt als wären es informationen aus Y. es behandelt X als repräsentation von Y.

http://www.awi-bremerhaven.de/GEO/Publ/PhDs/CPorthun/img196.gif
Prinzipdarstellung eines Neuronalen Netz (nach Malmgren und Tolderlund, 1997)

· in der eingangsschicht haben wir die rohinformation, beim eintritt ins neuronale netz.
· die aktivität der sogenannten versteckten schicht (weil nicht mit externen stellen verbunden) resultiert aus der aktivität der eingangsschicht in verbindung mit der gewichtung zwischen eingangs- und versteckter schicht.
· das verhalten der ausgangsschicht hängt von dem verhalten der versteckten schicht und der gewichtiung zwischen ausgangs- und versteckter schicht ab

die neuronen der sog. versteckte schicht sind in der lage ihre eigenen repräsentationen zu bilden. die gewichtung zwischen eingangs- und versteckter schicht bestimmt, wann jedes neuron der versteckten schicht aktiv wird und in dem es diese gewichtung verändern kann, ist es in der lage eigene repräsentationen zu bilden.


Zitat:

2. Bei der Frage, als was wir "Wahrnehmung" im Zusammenhang einer erkenntnistheoretischen Diskussion verstehen wollen, können wir erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach übernehmen.


erneut die frage: warum?


Zitat:

Der Begriff der Repräsentation ist eine solche Voraussetzung.


und dieser begriff ist als solcher geklärt.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 23. Nov. 2004, 17:24 Uhr

Hallo Thomas!

Du fragst, warum erfahrungswissenshaftliche Sätze nicht unbefragt in eine grundlegende Klärung des Wahrheitsbegriffs übernommen oder gar schlicht vorausgesetzt werden könnten. Ich hatte die Gründe dafür zwar schon angedeutet, will aber versuchen, sie noch klarer zu machen.

Unsere Diskussion hat ergeben, dass Sätze über die Wirklichkeit zunächst einmal VERSTANDEN sein müssen, ehe  in einem weiteren Schritt ihr Zutreffen anhand von Kriterien überprüft werden kann. Erfüllt ein Sätz diese Kriterien, kann er von denen, die ihn verstehen, als "wahr" bezeichnet werden.
Daraus ist ersichtlich, dass empirische Aussagen grundsätzlich nur BEDINGT wahr sein können. Ihre Geltung ist nicht nur abhängig davon, ob sie die für sie einschlägigen Kriterien erfüllen, sondern auch von den VORAUSSTZUNGEN, die in der Bedeutung der in ihnen verwendeten Begriffe liegen.
Aus der Wahrheit einer bestimmten Behauptung "xp" folgt also nicht, dass "xq", "xr", "xs" usw. falsch sein müssen. Angewandt auf den vorliegenden Sachverhalt: Dass sich die physiologische Funktionen von Sinnesorganen zutreffend als ein Fall von "Repräsentation" interpretieren lassen, schließt nicht aus, dass diese Funktion nicht auch zutreffend als ein Fall von "Konstruktion" zu interpretieren wäre.

Außerdem: Beide Behauptungen sind Beispiele für die Verwendung des Wahrheitsbegriffs. Als solche können sie nicht als Gründe in einer ALLGEMEINEN Klärung des Wahrheitsbegriffs verwendet werden. Denn ihre Geltung als "wahre" Behauptungen setzt bereits den unabhängig von ihnen zu klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs voraus.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 23. Nov. 2004, 19:15 Uhr

hi hermeneuticus,

ich habe nicht den blassesten schimmer, inwieweit du mit deinem beitrag meine(n) vorangegangene(n) kritisierst, widerlegst etc.

du schreibst:
Zitat:

1. Der Begriff der "Repräsentation" ist unbedingt klärungsbedürftig.



daraufhin gebe ich dir eine definition. und du antwortest mit
Zitat:

Dass sich die physiologische Funktionen von Sinnesorganen zutreffend als ein Fall von "Repräsentation" interpretieren lassen, schließt nicht aus, dass diese Funktion nicht auch zutreffend als ein Fall von "Konstruktion" zu interpretieren wäre.



was hat das mit dem vorgebrachten zu tun? vielleicht erläuterst du mir den zusammenhang ein wenig.

Zitat:

Denn ihre Geltung als "wahre" Behauptungen setzt bereits den unabhängig von ihnen zu klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs voraus.


ich denke nicht, dass der informationstheoretische begriff der repräsentation, den "klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs" voraussetzt. das wort "wahrheit" kommt in dieser definition nicht vor. wir haben eingangsdaten, eine verarbeitung im neuronalen netz und eine ausgabe. was hat das mit "wahrheit" zu tun?
ich weiß beim besten willen nicht, worauf du hinauswillst. sorry.

- mfg thomas

- III
- Eberhard am 23. Nov. 2004, 19:46 Uhr

Hallo allerseits,

zu der Kontroverse über die Repräsentation in der Wahrnehmung folgendes:

Unser Oberthema ist die Klärung des Wahrheitsbegriffs in Bezug auf Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit: Was meint man, wenn man einen Satz oder eine Theorie (als Menge logisch aufeinander bezogener Sätze) als "wahr" auszeichnet? Was impliziert der Begriff "wahr" ? Was sind die Regeln für den Gebrauch des Wortes "wahr" ?

Wir fragten zuletzt nach dem Kriterium der Wahrheit: Wie stellt man fest, ob eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu Recht als "wahr" bezeichnet wird? Was ist hierfür der Prüfstein?

Hier waren wir uns einig, dass man eine Aussage p nur dann als "wahr" auszeichnen soll, wenn die Wahrnehmungen, die man macht, so sind, wie es bei Geltung der Aussage zu erwarten wäre,

Gegenwärtig versuchen wir zu klären, was in diesem Zusammenhang unter dem Begriff "Wahrnehmung" zu verstehen ist.

Da die Wahrnehmungen mit Aussagen konfrontiert werden, müssen die Wahrnehmungen ebenfalls sprachlich wiedergegeben werden können. Von dorther kommen nur bewusste Wahrnehmungen für unsere Zwecke in Betracht, also nach der von Thomas dargelegten Einteilung interessiert nur die Ebene der kognitiven Wahrnehmung. (Ich habe mir von Psychologen sagen lassen, dass der Mensch in der Sekunde 10 Millionen Bits an Informationen aufnimmt, aber davon weniger als 50 das Bewusstsein ausmachen.)

Wir sollten die Forschungsergebnisse der Physiologen und Psychologen zur Kenntnis nehmen und bei Bedarf darauf zurückgreifen.

Wichtig für uns scheint mir die Klärung der von Hermeneuticus aufgeworfenen Frage zu
sein, inwieweit in die wahrgenommenen Sinneseindrücke Interpretationen eingehen.

Nehmen wir ein Bild auf einem Monitor, das aus Millionen von Punkten unterschiedlicher Farbe und Helligkeit besteht, die sich pro Sekunde mehr 50 mal ändern. Was wir bewusst davon wahrnehmen ist ein Text aus schwarzen Buchstaben auf weißem Hintergrund. Ist das eine Interpretation der Rohdaten des Sinneseindrucks? Wirft dies für unser Thema Probleme auf?

Wie kulturspezifisch ist die Wahrnehmung? In mancher Hinsicht offenbar gar nicht. Wenn ich mit unserm Hund spazieren gehe und ich bemerke, dass er angespannt in eine bestimmte Richtung blickt, dann entdecke ich gewöhnlich in dieser Richtung auch ein für den Hund interessantes Objekt, z, B. in Form eines anderen Hundes.

Die von Thomas angesprochenen Fehlermöglichkeiten bei der Interpretation von Sinneseindrücken und beim Erkennen von Objekten scheinen mir für uns von Bedeutung zu sein. Gleiches gilt für das Verhältnis von zufälliger Wahrnehmung und gezielter Beobachtung.

Es grüßt Euch Eberhard.

- III
- Dyade am 23. Nov. 2004, 21:17 Uhr

Hallo ihr Drei,

Eberhard schreibt: "(Ich habe mir von Psychologen sagen lassen, dass der Mensch in der Sekunde 10 Millionen Bits an Informationen aufnimmt, aber davon weniger als 50 das Bewusstsein ausmachen.)"

bei meinem folgenden Kommentar ist mir überhaupt nicht spitzfindig zu Mute. Hat der befragte Psychologe vergessen das er ein rein "hermeneutisches" Fach der Wissenschaft betreibt? Hat er vergessen, das er ausschließlich auf Aussagen angewiesen ist, bei seinen Untersuchungen, die ihm SPRACHLICH mitgeteilt werden müssen mit allen Reflexionsprozessen die eben so vor sich gehn wenn einer darüber nachdenkt was er "wahrnimmt" um es dem Forscher dann zu erzählen. Wie will er wissen wieviele Bits das Bewusstsein ausmachen und wieviele unter der Oberfläche bleiben (den Begriff Bewusstsein in dieser Frage einmal völlig unkritisch gelesen) und ob überhaupt eine Einheit zur Bestimmung einer Quantität (Bit) ausreicht um etwas über die Qualität (Wahrnehmung) auszusagen.. Es kann doch bei solchen Untersuchungen nicht zugehn wie beim Erbsen zählen, soviel gehn rein in die Dose, soviele kommen raus? Der Probant ist doch kein Relais an das ich Strom lege oder nicht und der dann mit 1 oder 0 antwortet. Wieviele Bits sind es denn wenn ich Bachs H-Moll Messe höre und wieviele sind es wenn ich ein Bild male oder an diesem Text hier schreibe?

Für micht gilt vorerst, dass die philosophische QUALITÄT solcher Aussagen deshalb nicht relevant ist, weil sie ihre Ausgangsposition, ihren Geltungsrahmen erkenntnistheoretisch nicht ausreichend im Ergebnis berücksichtigt bzw. kennzeichnet. Man kann vielleicht messen wieviele Neuronen angeregt werden, welche Areale im Gehirn aktiv sind und usw. usf. aber damit hat man in meinen Augen keinen Schritt in Richtung Wahrnehmungsinhalt getan.

grüße
DY, heute wiedermal als Cato unterwegs :-) :-)  

ps. an Thomas
Ich frage mich was denn die Unterschiede der verschiedenen von dir Thomas vorgetragenen Wahrnehmungsebenen- oder Schichten (oder Weisen) ist. Was unterscheidet zB. psychisch/physische Wahrnehmung von kognitiver Wahrnehmung?

pps. an alle
Hermeneuticus will wohl sagen, so verstehe ich ihn, das man das Explicans nicht durch das Explicandum erklären kann und umgekehrt. Anders, man sollte das was man überhaupt erst erklären will nicht als Voraussetzung in die Erklärung vorher eingebaut haben. Was natürlich bei Fragen nach Bewusstsein oder Wahrnehmung ua. dann schon sehr sehr problematisch wird.

- III
- Hermeneuticus am 23. Nov. 2004, 22:52 Uhr

Hallo Thomas!

Durch Deine Darstellung ist der Begriff der Repräsentation kein bisschen klarer geworden.

Du schreibst:


Zitat:

die neuronen der sog. versteckte schicht sind in der lage ihre eigenen repräsentationen zu bilden. die gewichtung zwischen eingangs- und versteckter schicht bestimmt, wann jedes neuron der versteckten schicht aktiv wird und in dem es diese gewichtung verändern kann, ist es in der lage eigene repräsentationen zu bilden.


Unter "Repräsentation" versteht man gemeinhin so etwas wie Stellvertretung oder Wiedergabe. Etwas, das selbst nicht anwesend (präsent) ist, wird durch etwas anderes, jedoch Anwesendes "wiedergegeben" oder "vertreten", So repräsentiert der englische Botschafter in Deutschland die englische Regierung. Oder ein Honeckerporträt in der Amtsstube repräsentiert den Staatsratsvorsitzenden und Genossen Generalsekretär der SED...

Traditionellerweise - d. h. seit Platon - stellte man sich die Repräsentation so vor, dass etwas "Wirkliches" durch ein bloßes Zeichen, ein "Bild" vertreten werde, das selbst - im Vergleich zum Vorbild - nicht von derselben "Wirklichkeit" sei. d. h. man gewichtete das Bild durch einen Vergleich mit dem, was es zeigt, ohne es selbst zu sein.
Was dabei völlig unterging, war die "Wirklichkeit", die die HANDLUNG der Darstellung und ihr PRODUKT (das fertige Bild) ist. Ein Bild kommt eben nicht durch das in die Welt, was es zeigt, sondern durch jemanden, der es herstellt. Und er stellt es her, um damit etwas zu zeigen, und zwar auf eine bestimmte Weise zu zeigen. Diese Herstellungsleistung ist eine Wirklichkeit sui generis, und SIE bestimmt, was das Bild überhaupt zeigt, welchen Sinn oder Zweck es haben soll.
So gesehen, wird auch klar, dass eine Darstellung immer eine gezielte AUSWAHL aus einem Ausgangsmaterial ist und daher MIT der Darstellung IMMER ZUGLEICH eine INTERPRETATION des Dargestellten (und keine bloße Vergegenwärtigung desselben). Es zeigt sich, dass der Begriff der Repräsentation eigentlich irreführend ist, weil er die WIRKLICHKEIT DES BILDES als einer eigenständigen Informationsverarbeitung - einer Interpetationsleistung also - verschleiert.  


Mit dieser Problemskizze im Hinterkopf fällt an der graphischen Darstellung in Deinem Beitrag auf, dass sie ebenfalls diesen Aspekt der eigenen LEISTUNG verschleiert. Es entsteht der Eindruck, als verlaufe die Reizweitergabe linear von links nach rechts wie eine Kausalkette, bei der eine Schicht auf die nächste einwirkt. Das Endprodukt erscheint wie die bloße Verdichtung einer vorher gestreuten "Information" : es geht eine (sozusagen redundante) Mehrzahl gleicher "Partikel" ein, am Ende steht ein einziger "Partikel", der diese eingehende Mehrzahl "vertritt". Und es scheint, als werde dasselbe (eine "Information" ) nur über verschiedene Schichten "weitergereicht".

Dass es sich aber nicht um eine bloße Weiterleitung desselben handeln kann, sondern zumindest um eine UMWANDLUNG von etwas in etwas anderes, wird allein durch das recht klein formatierte Wort "Wichtung" angedeutet, das die Verbindungslinien zwischen "Eingangsschicht" und "versteckter Schicht" charakterisiert. Was soll das bedeuten?

Eine "Wichtung" KANN eigentlich nur eine Interpretationsleistung sein, und zwar eine SELEKTIVE: es wird Wichtiges von Unwichtigem UNTERSCHIEDEN, Wichtiges aus Unwichtigem AUSGEWÄHLT. Dies ist eine selbständige Leistung. Denn es fragt sich: IM HINBLICK WORAUF wird hier "gewichtet" ? Und da kann die einzig sinnvolle Antwort nur lauten: Wichtig für den EMPFÄNGER der "Information".
Und das entspricht auch unserer alltäglichen Erfahrung, die aus der unabsehbaren Flut von Reizen nur das berücksichtigt, was jeweils für uns wichtig ist. Das Unwichtige wird, wenn überhaupt wahrgenommen, aus dem Bewusstsein verdrängt. Ohne eine solche Auswahl wären wir nicht lebensfähig.

Klar ist aber, dass es stets UNSERE Auswahl ist, die da getroffen wird, und dass es sich um eine "spontane", also von uns ausgehende LEISTUNG handeln muss, nicht um ein von Außenreizen "kausal" bedingtes Geschehen. Denn den eingehenden Reizen ist es gleichgültig, wie wir sie "wichten", d. h. was wir daraus MACHEN, welche BEDEUTUNG wir ihnen FÜR UNS beilegen.

Die geläufige Vorstellung von "Repräsentation" oder "Wiedergabe" bzw. Weiterleitung einer "Information" ist also auch hier höchst irreführend.


Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 24. Nov. 2004, 01:06 Uhr

Hallo Thomas!


Zitat:

ich denke nicht, dass der informationstheoretische begriff der repräsentation, den "klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs" voraussetzt. das wort "wahrheit" kommt in dieser definition nicht vor. wir haben eingangsdaten, eine verarbeitung im neuronalen netz und eine ausgabe. was hat das mit "wahrheit" zu tun?  
ich weiß beim besten willen nicht, worauf du hinauswillst. sorry.


Natürlich kommt in einer empirischen Aussage, z. B. über die Physiologie der Sinne, nicht der Begriff der Wahrheit vor. Aber als Aussage über die Wirklichkeit wird sie ja doch wohl den Anspruch darauf erheben, eine WAHRE Aussage zu sein - ganz besonders, wenn es sich um eine wissenschaftliche Aussage handelt.

Als eine Aussage mit Anspruch auf Wahrheit ist sie in dieser Diskussion hier nur ein (beliebiges) BEISPIEL. Denn wir diskutieren hier darüber, welchen Normen JEDE Aussage genügen muss, um mit Recht "wahr" genannt werden zu dürfen. d. h. wir suchen nach Kriterien, nach denen Aussagen BEURTEILT werden sollen.
Und es ist doch (logisch) klar, dass wir Urteilskriterien, die für Aussagen IM ALLGEMEINEN gelten sollen, schlecht von EINZELNEN AUSSAGEN ableiten können. Man kann beispielsweise schlecht behaupten, dass Aussagen nur dann mit Recht "wahr" genannt dürfen, wenn sie mit dem Satz des Pythagoras vereinbar sind. Umgekehrt: Wir fragen danach, von welchen allgemeinen Bedingungen z. B. die Wahrheit von Pythagoras' Satz abhängt.

Insofern ist es logisch zwingend, dass wir allgemeine Wahrheitsbedingungen unabhängig von irgendwelchen Anwendungsfällen klären müssen. Nun sind aber Sätze über die Physiologie der Sinne solche Anwendungsfälle. Folglich können sie IM KERN nichts zu unserer Fragestellung beitragen. (Zur Illustration können sie durchaus herangezogen werden.)

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 24. Nov. 2004, 07:36 Uhr

PS zum Beitrag über "Repräsentation" :

Sinnvoll kann in diesem Zusammenhang von einer "Information" erst gesprochen werden, NACHDEM Außenreize "gewichtet" sind. Erst dann sind sie für den Empfänger eine "Botschaft", die sein Handeln oder Verhalten orientieren kann. Die Vorstellung, dass ein externer "Sender" diese Information ausschickt, z. B. um vor etwas zu warnen, ist absurd. Die Licht- und Schallwellen, die ein 20 m vor uns brüllender Löwe "aussendet", verfolgen nicht die Absicht, uns die Gefahr zu signalisieren. Denn ein Elefant z. B., der dieselben Licht- und Schallwellen empfängt, wird dabei völlig cool bleiben, weil ein Löwe für ihn keine Gefahr ist.

Es ist zwar in den Naturwissenschaften ein inzwischen geläufiger Sprachgebrauch, Naturphänomene, selbst dann, wenn gar keine Menschen darin verwickelt sind, als Speicherung oder Weiterleitung von "Informationen" zu bezeichnen. Das ist allerdings ein Anthropomorphismus, der im Prinzip nicht wissenschaftlicher ist als es einst der Animismus war. In beiden Fällen wird nämlich Bedeutung, die Phänomene nur durch Interpretation erhalten, naturalisiert oder verdinglicht - also zu einer faktischen "Eigenschaft" eines Trägers (eines sog. "Senders" ) erklärt.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am 24. Nov. 2004, 09:09 Uhr

Hallo Dyade,

zu meiner Randbemerkung über die riesige Informationsmenge, die ein Mensch über seine reizaufnehmenden Sinneszellen empfängt, und die relativ winzige Menge, die davon für die Bildung seines Bewusstseinsinhaltes verwendet wird.

Dies ist wohl ein Resultat neurophysiologischer Forschung, die für empirisch arbeitende Psychologen allerdings von großer Bedeutung ist. Eine Diskussion über empirische versus hermeneutische Psychologie würde wohl den Rahmen dieser Runde sprengen.

Es grüßt Dich Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 24. Nov. 2004, 09:23 Uhr

hallo hermeneutikus,

das für unsere diskussion relevante steht eigentlich im ersten absatz meines vorletzten artikels:
Zitat:

der begriff der repräsentation läßt sich unter zuhilfenahme der informationsverarbeitung definieren.  
ein system A verhält sich repräsentativ wenn es informationen aus der interaktion mit X behandelt als wären es informationen aus Y. es behandelt X als repräsentation von Y.


repräsentiert wird y durch interaktion des systems mit x - also unser gehirn arbeitet insofern repräsentativ, als es aus seinem eigenzustand und dessen veränderung die welt repräsentiert. und eine quelle für diese eigenveränderung ist eben information die über die sinne weitergegeben wird.
information ist in diesem falle kein qualitativer (ampel rot=gefahr) sondern ein quantitativer begriff.
er ist nach claude e. shannon definiert als entropiewahrscheinlichkeit  
http://en.wikipedia.org/math/699cd747a643eeea29e408ea9af35931.png
wobei Pi die wahrscheinlichkeit von i ist; wenn man die basis 2 für den logarithmus wählt, erhält man die anzahl der bits. beispiel: um ein zeichen des ASCII(=american standard code for information interchange) zu kodieren benötigt man 8 bit(00000000 bis 11111111). damit hat man alle möglichkeiten der kombinationen von 0 und 1 auf 8 stellen berücksichtigt. es ist die in der informatik übliche einheit byte; 2 bytes bilden ein wort, 4bytes ein doppelwort etc. ein doppelwort kann einerseits genutzt werden, um 4 buchstaben zu kodieren, oder aber eine  zahl zwischen 0 und 4294967295, bzw. -2147483648 bis +2147483647 oder um 32 bit bildinformation darzustellen.
ob es sich bei der information nun um zahlen, buchstaben oder um bildpunkte etc. handelt ist vernachlässigbar. der begriff der information ist neutral.

Zitat:

Sinnvoll kann in diesem Zusammenhang von einer "Information" erst gesprochen werden, NACHDEM Außenreize "gewichtet" sind.


im prinzip nein. in jedem falle kann von information gesprochen werden. was du aber meinst ist, dass sinnvoll von repräsentation erst gesprochen werden kann, nachdem das system "gelernt" hat, was es repräsentieren soll. da stimme ich dir zu. das habe ich bei meiner darstellung außen vor gelassen.
ich möchte mich auf das für die diskussion notwendige beschränken.
einen überblick gibt es z. B. unter http://wwwmath.uni-muenster.de/SoftComputing/lehre/material/wwwnnscript/startseite.html
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noch einige anmerkungen:

@dyade

Zitat:

Hat er vergessen, das er ausschließlich auf Aussagen angewiesen ist, bei seinen Untersuchungen, die ihm SPRACHLICH mitgeteilt werden müssen mit allen Reflexionsprozessen die eben so vor sich gehn wenn einer darüber nachdenkt was er "wahrnimmt" um es dem Forscher dann zu erzählen.


das ist eine triviale feststellung und vernachlässigbar

Zitat:

Der Probant ist doch kein Relais an das ich Strom lege oder nicht und der dann mit 1 oder 0 antwortet.


was spricht denn gegen die digitalisierbarkeit analoger information? prinzipiell ist jede analoge information digitalisierbar. (->abtasttheorem von nyquist/shannon).

Zitat:

Wieviele Bits sind es denn wenn ich Bachs H-Moll Messe höre


das läßt sich abschätzen: durchschnittlich reichen 192 Kbits/s also ca. 1,4 MB die minute. gehen wir von knapp 140 minuten aus, macht das 140x1,4=196 MB oder 1605632 bits, also ca. 1.6 mio.
noch fragen?

Zitat:

aber damit hat man in meinen Augen keinen Schritt in Richtung Wahrnehmungsinhalt getan.


ja. aber ist der relevant?

Zitat:

Was unterscheidet zB. psychisch/physische Wahrnehmung von kognitiver Wahrnehmung?


wie ich anfangs sagte, dient diese unterscheidung rein heuristischen zwecken. während auf der physiologischen ebene z. B. davon gesprochen werden kann, dass ein reiz vorliegt, muss es noch keinen psycho/physischen niederschlag haben (z. B. hochfrequente töne) erst ab gewissen schwellen nehmen wir etwas wahr. dass es sich bei dem wahrgenommenen z. B. um das rappeln der waschmaschine handelt, ist erst auf der kognitiven ebene interessant.

@hermeneuticus

Zitat:

Unter "Repräsentation" versteht man gemeinhin...


das ist in diesem zusammenhang uninteressant, was man gemeinhin darunter versteht. interessant ist, wann sich ein system repräsentativ bzw. repräsentierend verhält. und das habe ich angegeben.

Zitat:

Ein Bild kommt eben nicht durch das in die Welt, was es zeigt, sondern durch jemanden, der es herstellt.


und wer hat die welt hergestellt? auch das ist vernachlässigbar.

Zitat:

So gesehen, wird auch klar, dass eine Darstellung immer eine gezielte AUSWAHL aus einem Ausgangsmaterial ist...


ja. deshalb verarbeitet unser menschliches gehirn auch nicht sämtliche information, die es angeboten bekommt. das entspricht dem, was ich als übergang von der rein physiologischen zur psycho/physischen ebene bezeichne. erst ab einer bestimmten schwelle wird die information eingang in das system finden.

Zitat:

Mit dieser Problemskizze im Hinterkopf fällt an der graphischen Darstellung in Deinem Beitrag auf, dass sie ebenfalls diesen Aspekt der eigenen LEISTUNG verschleiert.


es wird nichts verschleiert. ich habe es schlicht ausgelassen, um die diskussion nicht zu überfrachten.
zudem handelt es sich bei dem beispiel, eben nur um ein beispiel eines einfachen neuronalen netzwerks; und ist somit nur begrenzt leistungsfähig. es ist für unsere diskussion ausreichend.

Zitat:

Die geläufige Vorstellung von "Repräsentation" oder "Wiedergabe" bzw. Weiterleitung einer "Information" ist also auch hier höchst irreführend.


die repräsentation besteht im gesamtzustand des systems. sie ist inhärent und nicht explizit (" explizit" hieße:e.g. der buchstabe "A" liegt als solcher an einer bestimmten stelle des systems versteckt).

@eberhard

Zitat:

Die von Thomas angesprochenen Fehlermöglichkeiten bei der Interpretation von Sinneseindrücken und beim Erkennen von Objekten scheinen mir für uns von Bedeutung zu sein. Gleiches gilt für das Verhältnis von zufälliger Wahrnehmung und gezielter Beobachtung.


ich denke, wir sollten an dieser stelle unsere diskussion fortführen.

- mfg thomas

- III
- Eberhard am 24. Nov. 2004, 10:57 Uhr

Hallo allerseits,

wir sind bei einem methodisch wichtigen Punkt angelangt, der einer gründlichen Klärung bedarf. Ich meine den von Hermeneuticus gegen Thomas vorgetragenen Einwand des Zirkelschlusses in der Argumentation, wenn er Ergebnisse der empirischen Wahrnehmungsforschung als Argument einbringen will.

Hermeneuticus schreibt: " … Wir diskutieren hier darüber, welchen Normen JEDE Aussage genügen muss, um mit Recht 'wahr' genannt werden zu dürfen. d. h. wir suchen nach Kriterien, nach denen Aussagen BEURTEILT werden sollen.
Und es ist doch (logisch) klar, dass wir Urteilskriterien, die für Aussagen IM ALLGEMEINEN gelten sollen, schlecht von EINZELNEN AUSSAGEN ableiten können. Man kann beispielsweise schlecht behaupten, dass Aussagen nur dann mit Recht 'wahr' genannt dürfen, wenn sie mit dem Satz des Pythagoras vereinbar sind. Umgekehrt: Wir fragen danach, von welchen allgemeinen Bedingungen z. B. die Wahrheit von Pythagoras' Satz abhängt."


Ein Zirkelschluss innerhalb einer logisch deduktiv aufgebauten Theorie wäre natürlich fatal.
Die Frage, die ich mir stelle und über deren Beantwortung ich mir gegenwärtig nicht klar bin, ist die, ob das, was wir suchen, wirklich eine deduktive Ableitung des Wahrheitsbegriffs darstellt und wenn ja, was die Ausgangsprämissen dieser Ableitung sind.

Wenn man z. B. einen bestimmten Begriff von Wahrheit als den am besten geeigneten begründen will, ohne ihn dabei zugleich irgendwie in Anspruch zu nehmen, dann müsste man schweigen, denn um überhaupt etwas begründen zu können, muss man ja die Wahrheit irgendeines Arguments voraussetzen.

Um es an einem Beispiel zu erläutern: Wenn wir Wahrheit am Prüfstein der Wahrnehmung festmachen, dann wird möglicherweise eingewendet: "Die Sinne können uns täuschen und haben uns schon getäuscht. Deshalb kann die Wahrheit einer Aussage nicht davon abhängig gemacht werden."

Dies ist ein ernstzunehmender Einwand, obwohl er empirischer Natur ist und selber bereits für sich Wahrheit in Anspruch nimmt.

Ebenso ernsthaft sind jedoch die Gegenargumente, dass wir aufgrund von Alltagserfahrungen und empirischer Forschung wissen, unter welchen Bedingungen verlässliche und unter welchen Bedingungen zweifelhafte Wahrnehmungen zustandekommen.

Wir wissen z. B., dass wir nicht nur "Sterne sehen", wenn wir nachts zum wolkenfreien Himmel sehen, sondern auch dann, wenn wir einen Schlag aufs Auge bekommen. Denn die Sinneszellen des Auges erzeugen im Bewusstsein nicht nur Bilder, wenn sie durch eintreffende Lichtstrahlen gereizt werden, sondern auch, wenn sie elektrisch oder mechanisch gereizt werden.

Ich glaube nicht, dass wir mit der Diskussion der Wahrnehmung als Kriterium der Wahrheit weiterkommen, wenn wir auf derartige Erkenntnisse nicht zurückgreifen dürfen.

Vielleicht ist unser Unternehmen eher eine Art "Rekonstruktion" des von uns fortwährend in Anspruch genommenen Begriffs von Wahrheit, wobei wir, um ein Bild (ich glaube von Paul Lorenzen) zu verwenden, die einzelnen Planken unseres Bootes rekonstruieren und notfalls reparieren, während wir damit auf hoher See sind (wobei nasse Füße noch das geringere Übel darstellen).

Wir dürften also empirische Aussagen vorläufig in Anspruch nehmen, sofern sich am Ende eine in sich widerspruchsfreie und zirkelfreie kohärente Theorie ergibt, die den von uns gestellten Anforderungen genügt.

Das heißt, wir müssten überprüfen, ob sich der am Ende ergebenden Wahrheitsbegriff auf die unterwegs in Anspruch genommenen empirischen Sätze anwenden lässt und ob diese Sätze auch dann noch diesem Wahrheitsbegriff genügen.

Womit wir nach dem Konsensprinzip (wahre Aussagen erfordern als allgemeingültige ihre allgemeine Einsichtigkeit), dem Korrespondenzprinzip (aus wahren Aussagen müssen sich logisch Wahrnehmungen ableiten lassen, die den gemachten Wahrnehmungen entsprechen) auch noch das Kohärenzprinzip in unsere Wahrheitstheorie mit aufgenommen hätten.

Mit dem Ratschlag, auf schwankendem Boden und schwierigem Gelände umsichtig und nur Schritt für Schritt voranzugehen, grüßt Euch Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 24. Nov. 2004, 14:18 Uhr

hallo liebe talker,

ich denke, dass wir unterscheiden sollten zwischen einem begriff von "wahrheit" der einer sog. "armchair" -definition entspringt und dem begriff von wahrheit, so wie wir ihn alltäglich verwenden. und ich denke, ich kann hermeneuticus den ball, die lebenswelt zu verlassen, in diesem punkt gerne zurückspielen.


Zitat:

Denn ihre Geltung als "wahre" Behauptungen setzt bereits den unabhängig von ihnen zu klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs voraus.



Zitat:

Aber als Aussage über die Wirklichkeit wird sie ja doch wohl den Anspruch darauf erheben, eine WAHRE Aussage zu sein - ganz besonders, wenn es sich um eine wissenschaftliche Aussage handelt.



Zitat:

Insofern ist es logisch zwingend, dass wir allgemeine Wahrheitsbedingungen unabhängig von irgendwelchen Anwendungsfällen klären müssen.


ich denke es ist ganz hilfreich, wenn wir uns die anwendungsfälle ansehen, in welchen wir von der wahrheit von aussagen sprechen.

wenn wir uns darüber untherhalten, ob und wie unsere sinne uns täuschen, dann sollten wir auch bereit sein, uns zumindest prinzipiell damit auseinanderzusetzen, wie die arbeits- und funktionsweise unserer sinne ist; und entsprechend lokalisieren, wo mögliche fehlerquellen vorliegen können. ein wichtiger punkt ist dabei die arbeitsweise des gehirns, das, wie ich versucht habe darzustellen, als neuronales netz aufgefaßt werden kann, welches mit einer repräsentation der welt arbeitet.  auf der ebene der reinen informationsverarbeitung taucht der begriff der "wahrheit" nicht auf. es werden informationen verarbeitet - unabhängig von ihrem gehalt. und ich denke, dass das ein wichtiger punkt ist, den wir festhalten sollten.

wenn wir im diskussionsverlauf zurückgehen, so haben wir, wie eberhard schon aufgelistet hat, es bisher mit 3 typen von wahrheitstheorien zu tun:

· konsenstheorie
· korrespondenztheorie
· kohärenztheorie
(einen vierten -semantischen-sbegriff habe ich implizit auch miteingebracht: "'X' ist genau dann wahr, wenn P" )

ich vertrete eine position, die sich als eine verbindung von semantischer wahrheits- und korrespondenztheorie ergibt. wir werden sagen, dass der satz "dort steht ein haus" dann wahr ist, wenn dort ein haus steht.
gegen die kohärenz, sowie die konsenstheorie läßt sich der gleiche einwand vorbringen, nämlich, dass sich die sprecher durchaus einig über einen sachverhalt sein können, und dieser sachverhalt kann sich auch kohärent in das weltbild der sprechergemeinschaft einfügen, ohne jedoch wahr sein zu müssen. e.g. "quito ist die hauptstadt von ecudador". dieser satz ist wahr, wenn quito hauptstadt ist. es ist aber denkbar, dass gestern nacht guayaquil zur hauptstadt ernannt worden ist. dennoch wird mein weltbild in diesem punkt, wo quito noch hauptstadt ist, kohärent sein. und wenn ich mich mit freunden unterhalte, die von dem staatsstreich nichts mitbekommen haben, werden wir auch einer meinung darüber sein.
obwohl es falsch ist.

- mfg thomas

- III
- Dyade am 24. Nov. 2004, 18:20 Uhr

... dann wenn dort ein Haus steht, dann ist der Satz: "dort steht ein Haus" wahr. Wenn man sich darauf einigen kann ist das doch dann Wahrheit, oder?

In einer Welt wie der unseren, die sich von unserer nur in einem Punkt unterscheidet, nämlich das man keine Ahnung von der Relativitätstheorie (RT) hat, betrachtet man den Sternenhimmel und einigt sich darauf das Rigel eben JETZT in der Position ist wo ihn alle sehen. Man muss sich nicht lange einigen, er ist ja für jeden sichtbar von einem gemeinsamen Standort zu einer bestimmten Zeit.

Mit dem Wissen der RT, wissen wir, das uns die Sinne täuschen über diese oben beschriebene Position von Riegel. Wir können nicht mehr sagen "JETZT ist er dort wo wir ihn sehen". (obwohl das sehr wahrscheinlich für unseren Alltag vernachlässigbar ist)

Jetzt müssen wir uns doch erst über die "Wahrheit" der RT einigen, oder? Für den Cusanus war das kein Problem. Alle relative Wahrheit konvergiert irgendwo (bzw. in Gott) ohnehin zur absoluten Wahrheit. Aber wir sind ja keine Metaphysiker mehr.

- III
- Hermeneuticus am 24. Nov. 2004, 21:15 Uhr

Hallo Thomas, hallo Eberhard!



on 11/24/04 um 14:18:29, jacopo_belbo wrote:

und ich denke, ich kann hermeneuticus den ball, die lebenswelt zu verlassen, in diesem punkt gerne zurückspielen. (...) ich denke es ist ganz hilfreich, wenn wir uns die anwendungsfälle ansehen, in welchen wir von der wahrheit von aussagen sprechen.


Diese Kritik muss ich wohl einstecken. Mir selbst liegt nichts an einer "deduktiven" Wahrheitstheorie, sondern sinnvoll kann m.E. nur eine "Rekonstruktion" von bereits etablierten Praxen sein, in denen der Begriff der Wahrheit gebraucht wird.

Allerdings wäre dann zu präzisieren, wie wir uns die Beziehungen zwischen solchen verschiedenen Praxen vorstellen. Verstehen wir sie nur als "Anwendungsfälle" ein und desselben, universellen Wahrheitsbegriffs, haben wir es, wenn nicht mit einer deduktiven, dann doch einer reduktionistischen Wahrheitstheorie zu tun. Dann würde nämlich ein bestimmter Gebrauch des Wahrheitsbegriffs privilegiert und als externe Norm auf andere Verwendungsweisen angewendet. Demgegenüber wäre eine "Familie von Fällen" à la Wittgenstein vorzuziehen.

Wie könnten die "Familienähnlichkeiten" zwischen den verschiedenen Fällen aussehen?

Eine Theorie vom Typ der "Rekonstruktion" geht aus von einer gelingenden Praxis. Sie beschreibt diese Praxis nicht bloß, sondern analysiert ihre konstitutiven Bestandteile und zeigt deren innere Ordnung. Sie macht diese Praxis also nachvollziehbar oder – was dasselbe ist – sie zeigt ihre Rationalität. Dazu gehört selbstverständlich, dass auch die GRENZEN der Nachvollziehbarkeit erkennbar werden.

Auf diese Weise wird die rekonstruierte Praxis allerdings auch VERGLEICHBAR mit anderen Praxen. Es könnte sich etwa zeigen, dass verschiedene Praxen ähnliche Ziel verfolgen, oder umgekehrt, dass dasselbe Ziel mit verschiedenen, äquivalenten Praxen zu erreichen wäre. Die Rekonstruktion unterscheidet sich also von der Beschreibung insofern, als sie die Praxis kritisierbar macht.

Aber dies ist eine "immanente Kritik", d. h. sie gewinnt ihre Maßstäbe aus der Analyse der Praxis und trägt sie nicht von außen an sie heran. Der Sinn der kritischen Rekonstruktion liegt also in einer Stützung und Verbesserung der untersuchten Praxis, nicht in ihrer Reduktion auf eine andere.


- - - - - - - - -



Zitat:

wenn wir uns darüber untherhalten, ob und wie unsere sinne uns täuschen, dann sollten wir auch bereit sein, uns zumindest prinzipiell damit auseinanderzusetzen, wie die arbeits- und funktionsweise unserer sinne ist; und entsprechend lokalisieren, wo mögliche fehlerquellen vorliegen können. ein wichtiger punkt ist dabei die arbeitsweise des gehirns...


In diesem Punkt ist meine Meinung unverändert: Naturwissenschaftliche BESCHREIBUNGEN von Organfunktionen unterliegen begrenzten Geltungsbedingungen und können nicht als ein unhinterfragbares "sachliches" oder "ontologisches" Fundament zugrundegelegt werden.

Wir müssen uns schon darauf einigen, was wir tun, wenn wir über "Wahrheit" diskutieren: Rekonstruieren wir Handlungsschemata (Praxen) und ihre Normen oder beschreiben wir Naturvorgänge? Da liegt die entscheidende Differenz. Kann man menschliche Handlungen und ihre Normen auf determiniertes Verhalten zurückführen?

Ist "Erkenntnis" ein Naturprozess, dann muss man konsequenterweise beide: wahre und unwahre Sätze als kausal bedingte Phänomene hinnehmen. Aber ganz offenbar würde man damit jeder wissenschaftlichen Bemühung um Wahrheit den Boden entziehen. Wenn wir Unwahrheit aber dem Scheitern von Begründungen zurechnen, darin also kritisierbare menschliche Fehlleistungen sehen, muss auch Wahrheit das anrechenbare Gelingen einer HANDLUNG sein.

Letztlich ist der für unsere Diskussion relevante Unterschied in puncto Wahrnehmung die Grenze zwischen unterlassbaren, geregelten Handlungen und nicht-unterlassbarem Verhalten. Organische Störungen können zwar korrekte Wahrnehmungen verhindern, aber sie sind kein Anwendungsfall für Wahrheitsnormen. Und um diese allein geht es uns.


Ich breche hier ab.

Die Diskussion um "Repräsentation" und "Information" können wir zurückstellen. Aber ich finde sie so wichtig, dass man sie zum Gegenstand einer neuen Diskussionsrunde machen könnte.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 24. Nov. 2004, 22:07 Uhr

hallo hermeneuticus,

gern können wir -zu einem späteren zeitpunkt- einen eigenen thread zum thema der information und repräsentation aufmachen. und ich würde mich über eine ähnlich rege beteiligung freuen wie in den threads zum thema wahrheit; das ja nun doch schon in die dritte runde gegangen ist.

zu deinem beitrag habe ich aber noch folgende fragen:
·
Zitat:

Verstehen wir sie nur als "Anwendungsfälle" ein und desselben, universellen Wahrheitsbegriffs, haben wir es, wenn nicht mit einer deduktiven, dann doch einer reduktionistischen Wahrheitstheorie zu tun.


was verstehst du hier unter reduktionismus?

·
Zitat:

Naturwissenschaftliche BESCHREIBUNGEN von Organfunktionen unterliegen begrenzten Geltungsbedingungen und können nicht als ein unhinterfragbares "sachliches" oder "ontologisches" Fundament zugrundegelegt werden.


worin bestehen denn deiner meinung nach die "begrenzten geltungsbedingungen" - besonders im hinblick auf a) die beschreibung der gehirnaktivität unter berücksichtigung der informationstheorie und b) die physiologischen grundlagen der wahrnehmung?

·
Zitat:

Kann man menschliche Handlungen und ihre Normen auf determiniertes Verhalten zurückführen?


in wieweit ist diese frage relevant bezüglich unserer diskussion?

·
Zitat:

Ist "Erkenntnis" ein Naturprozess, dann muss man konsequenterweise beide: wahre und unwahre Sätze als kausal bedingte Phänomene hinnehmen. Aber ganz offenbar würde man damit jeder wissenschaftlichen Bemühung um Wahrheit den Boden entziehen.


was heißt in diesem zusammenhang kausal bedingt? und inwieweit würde einer wissenschaftlichen bemühung um wahrheit der boden entzogen?

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 01:09 Uhr

Hallo Thomas!

Zu Deinen Fragen:

1. Unter "Reduktionismus" verstehe ich ein theoretsiches Programm, das vorfindliche Praxen, Theorien, Sprachen auf  eine allein verbindliche Praxis, Theorie oder Sprache "zurückführen" will. Beispiele: Wittgensteins Kritik der Umgangssprache im Tractatus, sein "logischer Atomismus" und die daran anschließenden Bemühungen des Wiener Kreises.

2. Die Beschreibung von Körperfunktionen liefert keine normativen Kriterien für Handlungen. Sprechen ist aber eine Handlung. Ebenso das Begründen und Kritisieren von Sätzen.

Elementar ist hier, wie gesagt, die Unterscheidung von VERHALTEN und HANDELN. Wenn es in Deiner Welt diesen Unterschied nicht gibt, kannst Du auch keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem störungsfreien Funktionieren eines Organs und einer wahren Behauptung sehen.

Das führt nahtlos zur nächsten Frage:

3. In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor. Organfunktionen haben natürliche Ursachen, ihre Regelmäßigkeiten sind also keine Normen für ein Handeln, das so oder auch anders sein, das gelingen oder scheitern kann, sondern diese Regelmäßigkeiten "determinieren" das Verhalten der Organe.

Wenn ich beschließe, heute nicht zu frühstücken, ist das kein Verstoß gegen irgend eine Regel. Wenn aber mein Magen die Nahrung nicht verdaut, ist seine Funktion gestört, wir nennen ihn "krank".
Ich finde es offensichtlich, dass der Unterschied zwischen wahren und unwahren Sätzen nicht gleichgesetzt werden kann mit der Gesundheit oder Krankheit der an der Hervorbringung solcher Sätze beteiligten Organe.
Und das Aussprechen unlogischer Sätze lässt nicht auf eine gestörte Hirntätigkeit schließen.

So wenig ich auch von der Hirnforschung im einzelnen weiß: Selbst die Hirnforscher gestehen dem Gehirn LERNFÄHIGKEIT zu, und zwar in sehr großem Umfang. Und sie werden kaum die Fehler, die ein Mensch bei einer erlernten Handlungsweise wie dem Sprechen der deutschen Sprache macht, mit einer gestörten Hirnfunktion gleichsetzen.

Ich denke, das sollte die Relevanz des Unterschieds zwischen (" determiniertem" ) Verhalten und Handlungen (die gelingen oder scheitern können), hinreichend erläutern. Und es sollte auch zeigen, dass sich der Gebrauch von Wahrheitsregeln auf (erlernte) Handlungen und nichts anderes bezieht.


4. Wenn Erkenntnis ein Naturvorgang wäre, dann wäre auch wissenschaftliche Erkenntnis ein Naturvorgang. Dann wäre also auch die Physiologie und die Hirnforschung ein Naturvorgang. Dann wären auch die Theorien dieser Wissenschaften "Naturprodukte", die sich nur im Komplexitätsgrad z. B. von Hühnereiern unterschieden. Hast Du aber schon einmal ein Huhn "wahre" und "unwahre" Eier legen sehen?



Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 10:06 Uhr

hi,


Zitat:

1. Unter "Reduktionismus" verstehe ich ein theoretsiches Programm, das vorfindliche Praxen, Theorien, Sprachen auf  eine allein verbindliche Praxis, Theorie oder Sprache "zurückführen" will. Beispiele: Wittgensteins Kritik der Umgangssprache im Tractatus, sein "logischer Atomismus" und die daran anschließenden Bemühungen des Wiener Kreises.


d'accord.

aber ehrlichgesagt, weiß ich mit dem rest deiner antwort nichts anzufangen.

gefragt war unteranderem nach den begrenzten geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher sätze. ich kann noch nicht ausmachen, wo du diese frage abhandelst. vieleicht hier:
Zitat:

Hast Du aber schon einmal ein Huhn "wahre" und "unwahre" Eier legen sehen?


[???]

Zitat:

Wenn Erkenntnis ein Naturvorgang wäre, dann wäre auch wissenschaftliche Erkenntnis ein Naturvorgang. Dann wäre also auch die Physiologie und die Hirnforschung ein Naturvorgang. Dann wären auch die Theorien dieser Wissenschaften "Naturprodukte", die sich nur im Komplexitätsgrad z. B. von Hühnereiern unterschieden.


erkenntnis ist ein naturvorgang, insoweit er in der natur stattfindet und von einem organismus vollzogen wird. insofern ist auch die hirnforschung ein "naturvorgang". allerdings unterscheiden diese naturvorgänge sich nicht nur allein durch den "komplexitätsgrad", sondern auch durch die völlige andersartigkeit - sie beruhen auf emergenten eigenschaften, die bei einem hühnerei nicht vorzufinden sind.


Zitat:

grundlegenden Unterschied zwischen dem störungsfreien Funktionieren eines Organs und einer wahren Behauptung sehen.


was hat das eine mit dem anderen zu tun? ich sehe da keinen zusammenhang. trotz funktionierender augen kann ich z. B. einer optischen täuschung erliegen.


Zitat:

In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor.


nein. warum auch? es geht doch um die funktion von organen, oder?

Zitat:

Ich finde es offensichtlich, dass der Unterschied zwischen wahren und unwahren Sätzen nicht gleichgesetzt werden kann mit der Gesundheit oder Krankheit der an der Hervorbringung solcher Sätze beteiligten Organe.


das hat auch niemand behauptet. ich weiß auch nicht, wie du darauf kommst.

also nocheinmal meine fragen:

1) worin bestehen genau die deiner meinung nach begrenzten geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher beschreibungen? was leisten sie nicht, was sie deiner meinung nach leisten sollen?
konkret: was leistet z. B. eine beschreibung des aufbaus und der funktion des auges nicht?

2) inwieweit ist es relevant, zu wissen ob man, oder ob man nicht handlungen auf determiniertes verhalten zurückführen kann? vorallem, was heißt hier determiniert?

3) inwieweit sind wahre und unwahre sätze kausal bedingt - unter der prämisse, erkenntnis sei ein naturvorgang? was heißt hier kausal?
sind nicht optische täuschungen in gewisser weise kausal bedingt(ich bevorzuge in diesem zusammenhang den ausdruck "motiviert" )? liegt die ursache nicht in der ambiguität der dargebotenen information?

ich wäre für eine kurze beantwortung dieser drei punkte dankbar.

- mfg thomas

- III
- Dyade am 25. Nov. 2004, 11:09 Uhr

Hallo zusammen,
hallo Hermeneuticus,

wenn du an Thomas schreibst: "In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor...."

Ist es nicht so, dass vor jeder Handlung eine "Entscheidung" liegt. Könnte es nicht sein, dass vor einer Handlung WISSEN erzeugt wird und das dieses Wissen als volitiver Prozess zweifach gegliedert werden kann in:

· a) einen Akt der Auswahl aus einem unstrukturierten Zusammenhang (Umgebung) und

· b) einem kognitiven Prozeß, der aus dem durch die Auswahl bestimmten Zusammenhang durch Modellierungsfunktionen Informationen gewinnt und repräsentiert.


Und das "in" diesem volitiven Prozess a + b simultan ablaufen.  

Grüße
Dyade

ps.
bitte wieder nur als heuristische Nebenbemerkung verstehn. Sollte ich völlig neben eurem Thema liegen mit meinen Einwürfen, bitte ich mir dies zu schreiben. Ich denke leider sehr langsam und meist seit ihr schon wieder 20 Schritte weiter ehe ich meinen Punkt für mich geklärt habe. Komme mir vor wie die personifizierte Phasenverschiebung in eurem Tread. :-)

- III
- Eberhard am 25. Nov. 2004, 11:57 Uhr

Hallo allerseits,

Die Formulierung: "kritische Rekonstruktion der Regeln für die Verwendung des Wortes ''wahr' in Bezug auf Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit" erscheint mir als Bestimmung unserer Aufgabenstellung als akzeptabel.

Es drängt sich jedoch sofort die Frage auf, was der Maßstab der Kritik dabei sein soll, von welchem Gesichtspunkt oder Kriterium aus also kritisiert werden soll.

Um diese Frage zu beantworten erscheint es mir sinnvoll, sich nochmals darüber klar zu werden, weshalb wir uns überhaupt mit der Frage: ist diese Aussage wahr oder nicht? beschäftigen.

Hinter der Frage: Ist diese Aussage wahr? Steht die Frage: Welche Aussage soll ich meinem Denken und Handeln zugrunde legen?

(Im Folgenden sehe ich vom Aspekt der intersubjektiven Geltung vorläufig ab, um das Ganze nicht zu kompliziert werden zu lassen.)

Wenn man den Begriff der Geltung einführt und definiert: Diejenigen Aussagen, die ein Subjekt seinem Denken und Handeln zugrunde legt, werden als "die für das Subjekt geltenden Aussagen" bezeichnet, so lautet die grundlegende Frage: Welche Aussage soll (für mich) gelten?

Welche Gesichtspunkte sind für diese Entscheidung relevant?

Insofern wir Subjekte mit Wünschen, Zielen, Bedürfnissen etc. sind, insofern wir also wollende Wesen sind, ist die Verwirklichung unseres Willens der entscheidende Gesichtspunkt für die Auswahl der Aussage.

Aussagen beinhalten eine bestimmte Beschaffenheit der Wirklichkeit, der wiederum bestimmte Wahrnehmungen entsprechen. Die Aussage: "Hinter der Mauer ist eine Wiese" beinhaltet unter anderem, dass ich grünes Gras sehe, wenn ich hinter die Mauer blicke. Welche Wahrnehmungen eine Aussage beinhaltet, ergibt sich aus ihrer Bedeutung. In diesem Fall bedeutet "Wiese" eine größere, dicht mit Gräsern bewachsene Fläche.

Wenn die Aussage "Hinter der Mauer ist eine Wiese" für mich gilt, wenn ich also meinem Denken und Handeln diese Aussage zugrunde lege, dann kann ich z. B. damit rechnen, dass mein Pferd hinter der Mauer Gras zum Fressen findet.

Wenn ich jedoch über die Mauer blicke und dahinter nur Sand und Steine sehe, dann ist mein zielgerichtetes Handeln durchkreuzt worden. Ich werde mit unerwarteten Wahrnehmungen konfrontiert.

Die Vermeidung dieser Situation ist Gesichtspunkt für die Auswahl einer Aussage als Grundlage des eigenen Handelns.

Um den Widerspruch zwischen erwarteter Wahrnehmung und aktueller Wahrnehmung aufzulösen und wieder ein zielgerichtetes Handeln zu ermöglichen, bestehen folgende Möglichkeiten:

1. Ich überprüfe, ob ich die Aussage richtig verstanden habe. Gibt es Möglichkeiten eines Missverständnisses, z. B. darüber, was mit dem Wort "Mauer" gemeint war? Möglicherweise kommt man durch eine veränderte Interpretation der Aussage (" gemeint war die Backsteinmauer und nicht die aufgeschichteten Feldsteine" ) wieder zu einer Übereinstimmung zwischen erwarteter und aktueller Wahrnehmung. Dann handelte es sich um einen Irrtum hinsichtlich der Bedeutung der Aussage.

2. Ich zweifle meine aktuelle Wahrnehmung an (" ist nur eine Halluzination", "ich hatte meine Brille nicht auf", "kann eine Täuschung sein, weil es schon dunkel ist" ). Möglicherweise komme ich zu einer veränderten Wahrnehmung, wenn ich Bedingungen ausschalte, die zu Täuschungen meiner Wahrnehmung führen können, indem ich z. B. mehr Licht schaffe, meine Brille aufsetze oder näher herangehe. Dann handelte es sich um einen Irrtum in der Interpretation meiner Wahrnehmung.

3. Ich beende die Geltung der Aussage und suche eine andere Aussage als Grundlage meines Denkens und Handelns, die nicht zu einem Widerspruch zwischen zu erwartenden und gemachten Wahrnehmungen führt, die also nicht korrekturbedürftig ist. Diese Aussage gilt dann zeitlich unbefristet bis zum Auftreten einer damit unvereinbaren Wahrnehmung. In diesem Fall war die bisherige Ausssage falsch.

Am besten wäre natürlich eine Aussage, die niemals zum Widerspruch zwischen zu erwartenden und aktuellen Wahrnehmungen führt, also zeitlose Geltung verdient.

Nur eine solche Aussage "ist" wahr in dem Sinne, dass die Wirklichkeit so beschaffen "ist", wie die Aussage besagt.

Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (= berechtigte Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns gemacht werden, die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen stehen.

Aussagen, für die es keinen Grund zum Bezweifeln gibt, "halten" wir begründeter Weise für wahr.  

Unsere kritische Rekonstruktion der Regeln für den Gebrauch des Wortes "wahr" (in Bezug auf Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit) wäre also daran zu messen, ob sie dem Ziel eines enttäuschungsfreien Handelns dienlich ist.

Mit dieser etwas mühseligen Vergewisserung der Grundlagen unseres Tuns sage ich Tschüs, Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 12:34 Uhr

hallo eberhard,

da hast du uns aber einen beutel mit vielen bunten sachen mitgebracht. und wenn man näher hinsieht entpuppt sich einiges als starker tobak. so zum beispiel:

Zitat:

Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (= berechtigte Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns gemacht werden, die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen stehen.


diesen satz halte ich für problematisch.
zum einen drückt er eine triviale weisheit aus, zum anderen ist er falsch.
wenn wir äußerungen über die beschaffenheit der wirklichkeit treffen, e.g. "Hinter der Mauer ist eine Wiese", so ist dies temporär wahr - morgen könnte sie schon untergepflügt werden, und zum feld werden; so haben wir hier in der tat sätze, die zu einem zeitpunkt wahr, zum anderen falsch sein können. dass es solche sätze gibt, ist wohl einzusehen. warum aber alle sätze dieser art sein sollen, ist nicht einzusehen.
wenn ich aber sage: "thomas ist ein mensch", so ist das ein satz, der nicht temporärer natur ist. dieser satz ist wahr, wenn thomas ein mensch ist.
oder ein anderes beispiel: "tullius ist cicero". dieser satz ist wahr, obwohl die betreffende person nicht mehr unter uns weilt.
oder nehmen wir eine wissenschaftliche aussage wie "licht ist eine elektromagnetische welle".

ich denke, dass identitätsaussagen a) ein paradebeispiel für aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit sind und b) in jedem falle geltung besitzen.

- mfg thomas

- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 12:42 Uhr

hi dyade,


Zitat:

ps.
bitte wieder nur als heuristische Nebenbemerkung verstehn. Sollte ich völlig neben eurem Thema liegen mit meinen Einwürfen, bitte ich mir dies zu schreiben. Ich denke leider sehr langsam und meist seit ihr schon wieder 20 Schritte weiter ehe ich meinen Punkt für mich geklärt habe. Komme mir vor wie die personifizierte Phasenverschiebung in eurem Tread.



wir marschieren hier wahrlich mit siebenmeilenstiefeln durch ein weites feld. wenn du fragen hast bezüglich unserer "20 schritte" (du gibst uns aber viel vorsprung  [grin]), dann frag einfach nach. ich denke, jeder wird dir gerne rede und antwort stehen  [smiley=smily005.gif]

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 15:17 Uhr

Hallo Thomas!



on 11/25/04 um 10:06:19, jacopo_belbo wrote:

gefragt war unteranderem nach den begrenzten geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher sätze. ich kann noch nicht ausmachen, wo du diese frage abhandelst.


Der erste Satz zu Punkt 2. meiner Antwort lautete: "Die Beschreibung von Körperfunktionen liefert keine normativen Kriterien für Handlungen."
Dies ist doch eine deutliche Begrenzung. Und woraus resultiert sie? "In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor."
Offenbar liegt das daran, dass Naturwissenschaftler nicht Fragen nach menschlichen Handlungen stellen, sondern nach Prozessen und Gesetzmäßigkeiten, auf die Menschen keinen Einfluss nehmen (können). Daher sind auch naturwissenschaftliche Begriffe und Erklärungsmodelle entsprechend spezifiziert.

Nun ist es ein unstrittiges Resultat unserer Diskussion, dass die Wahrheit von Aussagen auch von der Definition der darin verwendeten Begriffe abhängt (also davon begrenzt ist). Also liegt EINE Grenze für die Geltung wissenschaftlicher Sätze in der Definition der Begriffe bzw. der durch sie konstituierten Sachverhalte, auf die sich die Aussagen jeweils beziehen.

Daher ist es ganz klar: Eine Wissenschaft, die z. B. die physiologischen Funktionen von Gehirnen untersucht, untersucht GENAU DARUM z. B. keine Normen für erlerntes und unterlassbares Handeln. Sie wird darum z. B. keine wissenschaftlich begründeten Aussagen darüber machen können, ob es so etwas wie "Willensfreiheit" gibt, weil das kein Gegenstand ist, über den sie physiologisch begründete Aussagen macht. Wenn ein Hirnforscher über Willensfreiheit spricht, spricht er nicht ALS Hirnforscher, sondern als ein philosophierender oder spekulierender Zeitgenosse, der im Hauptberuf Hirnforscher ist.

Wenn man bestimmte Gegenstandsbereiche VON VORNHEREIN von der eigenen Forschung ausschließt - allein schon durch die verwendeten Begriffe und Modelle -, bekommt man folglich auch keine Aussagen über diese ausgeschlossenen Gegenstände heraus. Eine recht simple Einsicht, die aber von vielen Wissenschaftlern immer wieder vergessen wird.



Zitat:

1) worin bestehen genau die deiner meinung nach begrenzten geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher beschreibungen? was leisten sie nicht, was sie deiner meinung nach leisten sollen?
konkret: was leistet z. B. eine beschreibung des aufbaus und der funktion des auges nicht?


Das habe ich oben schon beantwortet.

Trotzdem: Man kann von der natürlichen Ausstattung eines (gesunden) Auges einen enorm diversifizierten Gebrauch machen. Man kann damit ebenso jagen wie lesen, man kann sich damit beim Gang durch eine Stadt orientieren oder Messgeräte ablesen... Und keine von diesen Gebrauchsweisen resultiert aus der Physiologie des Auges, sondern jede ist eine kulturell erlernte Fähigkeit mit Normen für ihre jeweils richtige Ausführung. Man kann mit gesunden Augen auch Uhren falsch ablesen. Und ebenso kann man mit einer gesunden Hand grottenfalsche Sätze schreiben oder mit gesunden Sprechwerkzeugen unwahre Behauptungen aufstellen.

Die Regeln für den richtigen Gebrauch des Wahrheitsbegriffs sind aber offensichtlich Regeln für erlernte Handlungsschemata. Sie haben mit den physiologischen Voraussetzungen der von ihnen betroffenen Handlungsschemata nichts zu tun. Einem kranken Auge kann man keine Vorschriften machen, sondern man muss es heilen. WIE man es heilen muss, dafür gibt es wiederum Normen, und DIESE Normen werden sich auch weitgehend an der natürlichen Funktion des Auges orientieren, die man ja wiederherstellen möchte.



Zitat:

2) inwieweit ist es relevant, zu wissen ob man, oder ob man nicht handlungen auf determiniertes verhalten zurückführen kann? vorallem, was heißt hier determiniert?


Es ist für meine Zwecke nicht nötig, den Begriff der "Determination" allzu genau zu definieren. Es genügt, ihn mit dem VERHALTEN zu assoziieren, das sich von HANDLUNGEN dadurch unterscheidet, dass es nicht unterlassen werden kann. "Determiniert" bedeutet darum so viel wie: unverfügbar, nicht steuerbar, "von sich aus" geschehend u.ä.

Für die Klärung des Wahrheitsbegriffs ist es nötig zu wissen, worauf sich die mit seinem Gebrauch verknüpften Regeln beziehen: nämlich auf unterlassbare (insofern nicht natürlich determinierte) Handlungen - das Äußern von Sätzen. Normen für Naturvorgänge aufzustellen, wäre ganz einfach sinnlos.


Zitat:

3) inwieweit sind wahre und unwahre sätze kausal bedingt - unter der prämisse, erkenntnis sei ein naturvorgang? was heißt hier kausal?


Das muss uns in unserem Zusammenhang gar nicht weiter interessieren, wenn klar ist, dass "Wahrheit" ein normativer Ausdruck ist, der sich auf Handlungen bezieht.
Die Prämisse, Erkenntnis sei ein Naturvorgang, ist unverträglich mit dem Gebrauch des Wahrheitsbegriffs. Mir kam es nur darauf an, genau das plausibel zu machen.


Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 16:17 Uhr

hi hermeneuticus,

dann könnten wir uns ja darauf einigen:

· wissenschaftliche theorien, wie zum beispiel die phyiologie des auges, haben einen gewissen aussagenbereich. wenn wir das beispiel des auges nehmen, klärt uns die physiologie des auges darüber auf, dass das menschliche auge so und so aufgebaut ist, so und so funktioniert etc. d. h. die von ihr (der physiologie) gestellte frage nach dem aufbau und der funktion des auges kann von ihr beantwortet werden.
das heißt auch, dass diese theorie keine beschreibung der verwendungsweisen des auges enthält.
sie erfüllt die ihr gestellte aufgabe. fragen, die nicht in diesen aussagenbereich fallen, brauch sie auch nicht zu beantworten.


Zitat:

Offenbar liegt das daran, dass Naturwissenschaftler nicht Fragen nach menschlichen Handlungen stellen, sondern nach Prozessen und Gesetzmäßigkeiten, auf die Menschen keinen Einfluss nehmen (können). Daher sind auch naturwissenschaftliche Begriffe und Erklärungsmodelle entsprechend spezifiziert


das ist ja auch nicht ihre aufgabe.

Zitat:

Sie wird darum z. B. keine wissenschaftlich begründeten Aussagen darüber machen können, ob es so etwas wie "Willensfreiheit" gibt, weil das kein Gegenstand ist, über den sie physiologisch begründete Aussagen macht. Wenn ein Hirnforscher über Willensfreiheit spricht, spricht er nicht ALS Hirnforscher, sondern als ein philosophierender oder spekulierender Zeitgenosse, der im Hauptberuf Hirnforscher ist.


das ist ein schwieriger punkt.
sowohl der hirnforscher als auch der philosoph müssen sich in der diskussion darauf einigen, was ein "freier wille" überhaupt ist. wenn man nicht weiß, was etwas ist, kann man auch keine frage danach beantworten, ob es dieses etwas gibt oder nicht.
und wenn beide nicht nur aus ihrem sessel heraus schwadronieren wollen, müssen sie sich schon auf etwas beziehen. der hirnforscher wird sich wohl auf seine forschungsarbeit stützen. und das nicht zu unrecht. allerdings stellt sich gerade bei diesem thema der willensfreiheit die frage, ob seine forschung das hergibt, was er daraus ableiten will. und das würde ich -obwohl kein neurologe- derzeit bezweifeln. ich denke, dass man die frage derzeit aus neurologischer sicht weder bejahen noch verneinen kann. - offen ist, ob es sich bei dieser frage, um eine frage handelt.


Zitat:

Wenn man bestimmte Gegenstandsbereiche VON VORNHEREIN von der eigenen Forschung ausschließt - allein schon durch die verwendeten Begriffe und Modelle -, bekommt man folglich auch keine Aussagen über diese ausgeschlossenen Gegenstände heraus. Eine recht simple Einsicht, die aber von vielen Wissenschaftlern immer wieder vergessen wird.


ja, nur allzu wahr. deshalb sollte ein redlicher wissenschaftler auch darauf achten, was er sagt - wie jeder redliche mensch.


Zitat:

Es ist für meine Zwecke nicht nötig, den Begriff der "Determination" allzu genau zu definieren. Es genügt, ihn mit dem VERHALTEN zu assoziieren, das sich von HANDLUNGEN dadurch unterscheidet, dass es nicht unterlassen werden kann. "Determiniert" bedeutet darum so viel wie: unverfügbar, nicht steuerbar, "von sich aus" geschehend u.ä.


es geht nicht um deine zwecke. man macht ja keine aussagen für den "hausgebrauch".
ich würde sagen, dass "determinismus" irrelevant für unsere diskussion ist.

Zitat:

Das muss uns in unserem Zusammenhang gar nicht weiter interessieren, wenn klar ist, dass "Wahrheit" ein normativer Ausdruck ist, der sich auf Handlungen bezieht.


seit wann sind "handlungen" wahr? der punkt ist mir in unserer diskussion bisher entgangen. ich dachte bisher, dass aussagen wahr bzw. falsch sein könnten.

Zitat:

Die Prämisse, Erkenntnis sei ein Naturvorgang, ist unverträglich mit dem Gebrauch des Wahrheitsbegriffs.


ich wüßte nicht warum nicht?
wir sehen z. B. mit unseren augen. diese information wird von unserem gehirn weiterverarbeitet; und wenn das kein naturvorgang ist, dann weiß ich auch nicht weiter.

- mfg thomas

- III
- Eberhard am 25. Nov. 2004, 16:41 Uhr

Hallo Thomas,

offenbar habe ich den Beispielsatz "Hinter der Mauer ist eine Wiese" nicht ganz glücklich gewählt, weil die Aussage keine Orts- und Zeitangabe enthält, was im Alltag auch meist nicht nötig ist.

Ich ergänze deshalb das Beispiel dahingehend, dass der Satz von jemandem gesprochen wird, der am 01. Oktober 2004 um 15 Uhr in A-Stadt vor dem Grundstück B-Straße 10 steht.

Der in diesem Zusammenhang gesprochene Satz: "Hinter der Mauer ist eine Wiese" bedeutet dann (ausführlich gesprochen): "Hinter der Mauer auf dem Grundstück B-Straße 10 in A-Dorf ist am 01. Oktober 2004 um 15 Uhr eine Wiese."

Dieser Satz bleibt wahr, auch wenn am 02. Oktober 2004 ein Bulldozer die Fläche hinter der Mauer in eine einzige Sandwüste verwandelt.

Sicher lassen sich auch noch andere und besser geeignete Beispielsätze finden.

Bei den von Dir vorgeschlagenen Identitätsaussagen wie "Licht ist eine elektromagnetische Welle" muss man deutlich machen, dass es sich nicht um Definitionen handelt nach der Art: "Elektromagnetische Wellen, deren Frequenz zwischen liegt, bezeichnen wir als 'Licht'" oder um Aussagen über des "Wesen" des Lichts.

Meine These: "Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (= berechtigte Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns gemacht werden, die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen stehen" halte ich weiterhin aufrecht. Dass Du sie für trivial hältst, kann ich noch schlucken, aber dass sie falsch sein soll, hätte ich gerne begründet.

Es  grüßt Dich Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 16:42 Uhr

Hallo Dyade!


Zitat:

Ist es nicht so, dass vor jeder Handlung eine "Entscheidung" liegt. Könnte es nicht sein, dass vor einer Handlung WISSEN erzeugt wird und das dieses Wissen als volitiver Prozess zweifach gegliedert werden kann in:
a) einen Akt der Auswahl aus einem unstrukturierten Zusammenhang (Umgebung) und
b) einem kognitiven Prozeß, der aus dem durch die Auswahl bestimmten Zusammenhang durch Modellierungsfunktionen Informationen gewinnt und repräsentiert.

Und das "in" diesem volitiven Prozess a + b simultan ablaufen.


Zunächst eine Gegenfrage: Wie würde man prüfen können, ob "es so ist", wie Du beschreibst? Könnte man für diese Thesen empirische Belege finden? Oder müssten wir uns auf intuitives Wissen oder phänomenologische Beobachtungen beschränken?

Mir scheint nämlich, dass Du in Deiner These Begriffe aus verschiedenen Bereichen verwendest, ohne darauf zu achten, ob sie sich mit einander vertragen.

Nehmen wir etwa den Begriff des "volitiven Prozesses". Dass Du das Fremdwort "volitiv" gebrauchst, statt einfach vom "Willen" zu reden, verwandelt den lebensweltlich unproblematischen Sachverhalt des "Wollens" nicht automatisch in eine naturwissenschaftliche Kategorie, die sich z. B. auf die messbaren Aktivitäten gewisser neuronaler Netzwerke bezieht. Es müsste hier doch erst einmal geklärt werden, ob der lebensweltliche Ausdruck "Wille" DASSELBE meint, was etwa an neuronalen Aktivitäen einer bestimmten Hirnregion zu beobachten wäre.

Die Rede vom "Willen" macht nur Sinn, wenn wir dabei an Handlungen denken, die wir unterlassen können. Wenn man nun aus dem "Willen" einen "volitiven Prozess" macht, also ein GESCHEHEN, das so und so beschaffen und so und so gesteuert in menschlichen Hirnen VON NATUR AUS abläuft, beraubt man den Begriff der "Willens" seines Sinns. Denn naturwissenschaftliche Modelle - z. B. kybernetische Regelkreise - setzen bereits voraus, dass man es dabei mit gesetzmäßig verlaufenden Prozessen zu tun hat, auf die ein handelnder Mensch keinen Einfluss hat.

Und in der Tat: Ich kann die neuronalen Prozesse in meinem Gehirn ebenso wenig steuern wie die Funktion meiner Nieren oder meines Dünndarms. Damit ist aber nicht der Beweis erbracht, dass die Vorstellung eines Willens und einer absichtlichen Steuerung Illusionen seien. Denn es gibt genug Handlungen, die ich steuern kann und die zu steuern sich auch aus verschiedenen Gründen dringend empfiehlt; denken wir nur an das Lenken eines Autos im Straßenverkehr.

Was ich sagen will: Wenn wir den Begriff des Willens aus der Lebenswelt, wo er unverzichtbar ist, in die Sprache einer Naturwissenschaft "übersetzen", wechseln wir das "Paradigma". "Wille" kommt in den Naturwissenschaften schlechterdings nicht vor. (Jedenfalls nicht als Gegenstand; als Kompetenz der Wissenschaftler ist er unverzichtbar.) Was für den Willen die "Entscheidungsfreiheit" (die gezielte Wahl zwischen Alternativen) ist, kann in der Sprache der Naturwissenschaft allenfalls unter "Zufall" oder "Kontingenz" erscheinen - also als etwas INDETERMINIERTES.
Nun ist aber unser Wille nicht indeterminiert, sondern gerade ein AKT der Determination, den wir selbst vollziehen, wenn wir aus verschiedenen Möglichkeiten EINE BESTIMMTE wählen.

Also noch einmal: Die Bedeutung von "Wille" und die eines naturwissenschaftlichen Begriffs der "Volition" (der sich z. B. auf beobachtbare neuronale Prozesse in menschlichen, vielleicht auch tierischen Gehirnen bezieht), sind so verschieden, dass sie sich nicht in einander übersetzen lassen. Darum wäre es methodisch unzulässig, von der Beobachtung neuronaler Prozesse auf die "Natur" des Willens zu schließen.  
Dieser Fehler erfreut sich aber offenbar großer Popularität. Und er wird nahegelegt durch die irreführende Bezeichnung "volitiver Prozess", die geradezu zu diesem schwerwiegenden Kategorienfehler anstiftet. Ja, von gewisser Seite ist dieser Fehler höchst erwünscht. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um einen Fehler handelt.

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 16:53 Uhr

Hallo Thomas!

Wir sind hier wieder an einem Punkt, wo wir endlos weiter an einander vorbeireden könnten.

Darum beantworte doch einfach klipp und klar die Frage, ob für Dich der Unterschied zwischen VERHALTEN und HANDLUNGEN ein relevanter Unterschied ist.

Deine Antwort auf diese Frage ist zur Klärung unserer Standpunkte unerlässlich. Denn mir scheint: Wo immer ich von "Handlungen" und ihren Normen spreche, subsumierst Du das stillschweigend unter dem, was ich "Verhalten" nenne.

Übrigens bitte ich Dich, etwas genauer zu lesen. Ich habe nicht gesagt, dass WAHRHEIT eine Handlung sei, sondern ein NORMATIVER BEGRIFF, der sich AUF Handlungen BEZIEHT. Wobei ich eben voraussetze, dass das Äußern von Sätzen eine erlernte und geregelte Handlung ist (und kein Naturgeschehen).


Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 16:58 Uhr

hi eberhard,

genau auf diese these bezieht sich mein beispiel:


Zitat:

Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (= berechtigte Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns gemacht werden, die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen stehen


wir haben aussagen, denen wir temporäre gültigkeit zuschreiben. ein beispiel ist, das beispiel der wiese.
heute kann die aussage wahr sein -wir gucken hin, ob dem so ist; morgen kann sie schon falsch sein -wir machen eine wahrnehmung, die im widerspruch zu der gestern getroffenen aussage steht. soweit so gut. bis zu diesem punkt gebe ich dir ja recht,

wenn ich zum beispiel eine aussage treffe wie "der tisch hier vor mir besteht aus holz", so ist diese aussage wahr, wenn dieser tisch hier vor mir aus holz besteht. wenn diese aussage wahr ist, so uneingeschränkt und dauerhaft wahr. und keine neue wahrnehmung wird die wahrheit dieser aussage beeinflussen können.
diese aussage ist zeitlich unbeschränkt wahr.

- mfg thomas

p.s.: ich verstehe deine these so, dass es keine aussagen gibt, die uneingeschränkt und überzeitlich wahr sind, also die uneingeschränkt gelten.
worauf du hinaus willst, ist wahrscheinlich die fallibilität menschlichen wissens. das ist in diesem zusammenhang aber etwas ganz anderes.

- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 17:03 Uhr


on 11/25/04 um 16:53:37, Hermeneuticus wrote:

Hallo Thomas!

Wir sind hier wieder an einem Punkt, wo wir endlos weiter an einander vorbeireden könnten.

Darum beantworte doch einfach klipp und klar die Frage, ob für Dich der Unterschied zwischen VERHALTEN und HANDLUNGEN ein relevanter Unterschied ist.

Deine Antwort auf diese Frage ist zur Klärung unserer Standpunkte unerlässlich. Denn mir scheint: Wo immer ich von "Handlungen" und ihren Normen spreche, subsumierst Du das stillschweigend unter dem, was ich "Verhalten" nenne.

Übrigens bitte ich Dich, etwas genauer zu lesen. Ich habe nicht gesagt, dass WAHRHEIT eine Handlung sei, sondern ein NORMATIVER BEGRIFF, der sich AUF Handlungen BEZIEHT. Wobei ich eben voraussetze, dass das Äußern von Sätzen eine erlernte und geregelte Handlung ist (und kein Naturgeschehen).


Gruß
H.




hi,

kurz und schmerzlos:
· handeln ist ein synonym zu verhalten. wenn ich sage "A handelt so und so" ist das synonym zu "A verhält sich so und so". es besteht für mich kein unterschied,

·
Zitat:

wenn klar ist, dass "Wahrheit" ein normativer Ausdruck ist, der sich auf Handlungen bezieht.


wahr bezieht sich nicht auf handlungen, sondern auf aussagen.

Zitat:

jacopo:seit wann sind "handlungen" wahr? der punkt ist mir in unserer diskussion bisher entgangen. ich dachte bisher, dass aussagen wahr bzw. falsch sein könnten.



Zitat:

hermeneuticus:dass WAHRHEIT eine Handlung sei


das habe ich ja auch nicht gesagt ^^

- mfg thomas

- III
- Dyade am 26. Nov. 2004, 00:16 Uhr

Hallo Hermeneuticus,
hallo an alle,

mal sehen ob ich dir etwas tragfähiges entgegen setzen kann.


on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:

Zunächst eine Gegenfrage: Wie würde man prüfen können, ob "es so ist", wie Du beschreibst? Könnte man für diese Thesen empirische Belege finden? Oder müssten wir uns auf intuitives Wissen oder phänomenologische Beobachtungen beschränken?



Mir würde zunächst reichen wenn mit dieser Hypothese ein Element für eine Theorie gefunden wäre, die eine Mehrzahl der Phänomene schlüssig beschreibt, die wir beobachten bei Lebewesen die eine Entscheidung treffen. Für die Ausgangssituation stelle ich mir den berühmten Esel Buridians vor, der zwischen zwei Heuhaufen steht die in jeder Beziehung gleich sind, und der sich dennoch entscheidet von einem der beiden zu fressen. Zugegeben, das ist eine Hilfkonstruktion die als Exempel herhalten muss, aber dennoch eine denkbare.  


on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:

Nehmen wir etwa den Begriff des "volitiven Prozesses". Dass Du das Fremdwort "volitiv" gebrauchst, statt einfach vom "Willen" zu reden, verwandelt den lebensweltlich unproblematischen Sachverhalt des "Wollens" nicht automatisch in eine naturwissenschaftliche Kategorie, die sich z. B. auf die messbaren Aktivitäten gewisser neuronaler Netzwerke bezieht. Es müsste hier doch erst einmal geklärt werden, ob der lebensweltliche Ausdruck "Wille" DASSELBE meint, was etwa an neuronalen Aktivitäen einer bestimmten Hirnregion zu beobachten wäre.



Ich sehe nicht ganz ein, warum du hier den Alltagsgebrauch des Wortes "Wille" als etwas betrachtest, das nicht für den Versuch geeignet ist es formal beschreiben zu wollen. Eine naturwissenschaftliche würde für mich notwendig eine formale Beschreibung sein. Es ginge also darum das, was wir beobachten wenn wir sagen "X wollte dies oder jenes", zu problematisieren.

Darf ich dich darauf hinweisen, das der Begriff "neuronale Netzwerke" auch nichts weiter ist als die Bezeichnung für eine Modellvorstellung die versucht die Funktionsweise eines Dinges zu beschreiben das wir Gehirn nennen. Gemessen wird dabei nicht das neuronale Netz, das ist ja nur eine Konstruktion die wir benutzen um die Quantitäten, die wir als Eingangs- und Ausgangsspannungen messen, in einen sinnvollen Kontext zu stellen. Vielleciht wird weiter unten klarer was ich meine.

Zugegeben, Wille ist kein Ding unter Dingen, sondern bezeichnet etwas das wir intuitiv einem anderen Menschen unterstellen und das wir uns selber als Menschen zugestehen. Zugegeben auch, dass mit "Mensch" (und dem was ich darunter verstehe) etwas gesetzt wird, welches selbst das eigentliche Problem das gelöst werden soll quasi enthält.


on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:

Die Rede vom "Willen" macht nur Sinn, wenn wir dabei an Handlungen denken, die wir unterlassen können....



Einverstanden. Warum du das nur negativ formulierst ist mir allerdings nicht ganz klar, obwohl ich vermute dass darin für dich des Pudels Kern liegt. Mal sehen ob ich das noch verstehe. Halb sank er hin, halb zog es ihn. Ich kann natürlich von meinem Esel sagen: "Er verschmähte den einen Haufen", aber in jedem Fall verlagere ich doch nur den Ort der Entscheidung. Und wenn Wille prozessiert wird, dann doch dort. Das Unterlassen einer Handlung könnte also ein Signal sein dafür, dass der Handelnde eine gewisse Unabhängigkeit besitzt gegenüber seiner Umgebung die ihn bedrängt zu handeln. Das unterscheidet und konstituiert überhaupt erst den Begriffsinhalt des Willens und setzt ihn ab vom determinierten Lauf der Dinge. (OK, wir diskutieren jetzt nicht auch noch über Freiheit&#61514;)  


on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:

Wenn man nun aus dem "Willen" einen "volitiven Prozess" macht, also ein GESCHEHEN, das so und so beschaffen und so und so gesteuert in menschlichen Hirnen VON NATUR AUS abläuft, beraubt man den Begriff der "Willens" seines Sinns. Denn naturwissenschaftliche Modelle - z. B. kybernetische Regelkreise - setzen bereits voraus, dass man es dabei mit gesetzmäßig verlaufenden Prozessen zu tun hat, auf die ein handelnder Mensch keinen Einfluss hat.



Hm, das ist ein starkes Argument und ich zaudere sofort darauf zu antworten. Irgendwie kommt mir das ganze bekannt vor. War das nicht ein Streit unter Scholastikern, ob Gott die Welt aus seinem Willen heraus erschuf als einen ursprünglichen Akt der Entscheidung "tiefer als jede Vernunft" oder ob er sie aus seinem "tiefen Ratschluss" als Akt der Vernunft erschuf (Thomisten gegen Scotisten oder vielleicht sogar Kant vs. Hegel)? Letztendlich eine Entgegensetzung von Vernunft und Wille, wenn man letzteren als den "Beweger an sich" verstanden haben will. Du scheinst unter "wollen" genau das zu verstehen, souveräne Entscheidung, oder?

Um das alles noch einmal mit anderen Worten zu sagen: Meine These ist, das weder das eine (determinierte Naturabläufe) noch das andere (Entscheidung/Wille) zwei zu unterscheidende Phänomene sind, sondern zwei Seiten ein und desselben Phänomens unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet.


on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:

Was ich sagen will: Wenn wir den Begriff des Willens aus der Lebenswelt, wo er unverzichtbar ist, in die Sprache einer Naturwissenschaft "übersetzen", wechseln wir das "Paradigma". "Wille" kommt in den Naturwissenschaften schlechterdings nicht vor. (Jedenfalls nicht als Gegenstand; als Kompetenz der Wissenschaftler ist er unverzichtbar.) Was für den Willen die "Entscheidungsfreiheit" (die gezielte Wahl zwischen Alternativen) ist, kann in der Sprache der Naturwissenschaft allenfalls unter "Zufall" oder "Kontingenz" erscheinen - also als etwas INDETERMINIERTES.



Klar, so gesehen treffen sich hier zwei vollkommen unvereinbare Paradigmen. Die sind aber vielleicht überhaupt erst entstanden, weil man nur durch die Trennung des einen vom anderen beide für sich konsistent halten konnte. Naturwissenschaft schließt, wie ich ja bereits schrieb, selbstverständlich Subjektivität und damit den Willen, den wir NUR einem Subjekt unterstellen, radikal aus. Umgekehrt reklamiert das andere Paradigma die Freiheit für sich.


on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:

Nun ist aber unser Wille nicht indeterminiert, sondern gerade ein AKT der Determination, den wir selbst vollziehen, wenn wir aus verschiedenen Möglichkeiten EINE BESTIMMTE wählen.



Dies sind Sätze, lieber Hermeneuticus, an denen mein Gehirn heißläuft. :-) Es müsste doch klar sein, das du das Problem nur verschiebst. Wenn du von einem "Akt" sprichst, dann liegt doch die Entscheidung ganz klar dort. Determiniert zu sein (nicht indeterminiert) oder einen Akt der Determination vollziehen ist doch zu unterscheiden.


on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:

Also noch einmal: Die Bedeutung von "Wille" und die eines naturwissenschaftlichen Begriffs der "Volition" (der sich z. B. auf beobachtbare neuronale Prozesse in menschlichen, vielleicht auch tierischen Gehirnen bezieht), sind so verschieden, dass sie sich nicht in einander übersetzen lassen. Darum wäre es methodisch unzulässig, von der Beobachtung neuronaler Prozesse auf die "Natur" des Willens zu schließen.  
Dieser Fehler erfreut sich aber offenbar großer Popularität. Und er wird nahegelegt durch die irreführende Bezeichnung "volitiver Prozess", die geradezu zu diesem schwerwiegenden Kategorienfehler anstiftet. Ja, von gewisser Seite ist dieser Fehler höchst erwünscht. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um einen Fehler handelt.



Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann dürfte es nach deinen Thesen, überhaupt keinen Begriff des Willens oder der Volition in den Naturwissenschaften geben. Ich weiß nicht genau was du unter Lebenswelt verstehst. Ich weiß was zB. Husserl darunter verstand. Ich unterstelle jeden Tag mir und anderen Menschen einen Willen. Und wenn wir davon reden und dieses Wort in irgendeiner Weise sinnvoll gebrauchen, dann muss das was wir darunter zu verstehen glauben auch formal beschreibbar sein. Gerade dieser Versuch, wenn er gelänge, wirkt gegen den "erwünschten Fehler" von dem du sprichst. Diese Trennung von Lebenswelt und Welt der Naturwissenschaft führt doch gerade zu ständigen "big impacts" von Nachrichten aus der einen Sphäre in die andere. Führt man nicht gerade genau darüber heftigste Diskussionen unter dem Schlagwort: Keine Willensfreiheit! (siehe Roth u.a.) Das liegt in meinen Augen daran, das es sich Philosophen hinter dieser angenehmen Trennung der Methodologien bequem gemacht haben. &#61514;

Herzlich
DY

- III
- jacopo_belbo am 26. Nov. 2004, 06:20 Uhr

eine kleine zwischenfrage:

ist das thema "willensakt" für die diskussion relevant?
wenn ja, wäre es nett, mich einzuweihen :)

- mfg thomas

- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 06:42 Uhr

Hallo Dyade,

es freut mich, dass Du Deine Position etwas mehr ausführst. Dadurch wird es auch leichter, darauf einzugehen. Ich sehe bei Deinem letzten Beitrag zum Begriff des Willens allerdings die Gefahr, dass unsere "Thread" sich zu sehr zerfasert.

Die Fragestellung dieser Runde (Was meinen wir, wenn wir von einer Aussage über die Wirklichkeit sagen, sie sei "wahr" ? Welche Regeln sollen für die Verwendung des Wortes "wahr" gelten? Was rechtfertigt die Auszeichnung eines Satzes als "wahr" ?) ist derart schwierig, dass wir nur dann einer Beantwortung näher kommen, wenn jeder diese Fragen im Auge behält und seine Beiträge daraufhin befragt, inwiefern sie zur Beantwortung der Fragestellung beitragen können.

Es kommt also für  jeden von uns darauf an, letztlich "die Kurve zu kriegen" zur eigentlichen Fragestellung, so sehr es uns auch reizen mag, an anderen Punkten weiter zu diskutieren. Aber dafür ist Philtalk ja offen.

An einer in alle Richtungen ausufernden philosophischen Diskussion hätte ich nur geringes Interesse.  

Es grüßt Dich herzlich Eberhard.

- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 07:10 Uhr

Hallo Thomas, hallo allerseits,

es geht mir in der Tat darum, dass wir im Prinzip von keiner Aussage sagen können, dass wir sie für alle Zeiten unserm Denken und Handeln zugrunde legen sollten. Neue Wahrnehmungen können die Ersetzung dieser Aussage durch eine andere erfordern, die diesen neuen Wahrnehmungen besser entspricht.

Ich sage bewusst "im Prinzip", weil es Aussagen über singuläre Sachverhalte oder Ereignisse gibt, von denen man sich kaum vorstellen kann, dass sie durch neue Wahrnehmungen korrekturbedürftig werden.

Auch Dein Beispiel: "Der Tisch hier vor mir besteht aus Holz" wird wahrscheinlich niemals korrekturbedürftig werden.

Aber nehmen wir einmal an, Du willst den Tisch niedriger machen und willst deshalb von jedem Tischbein 5 cm absägen. Du holst eine Säge und setzt sie am ersten Bein an. Aber die Säge dringt einfach nicht in das "Holz" ein. Der einzige Effekt, den Du erzielst ist der, dass Dein Sägeblatt heiß und stumpf wird. Als Du es mit einem neuen Sägeblatt probierst, bricht dies ab, ohne auch nur einen Millimeter in das "Holz" einzudringen.

Du murmelst etwas von "seltsam" und "mysteriös" und kannst Dir die ganze Angelegenheit nicht erklären. Das heißt: Du hast damit nicht gerechnet, weil bei Geltung Deines bisherigen Weltbildes der Vorgang unmöglich wäre. Für Dich galten bisher die Aussagen: "Der Tisch vor mir ist aus Holz", "Holz ist weicher als Stahl", "Das Sägeblatt ist aus Stahl". Daraus leitete sich für Dich die Erwartung ab, dass sich das gezähnte Sägeblatt  in das Tischbein hinein frisst, wenn es mit Druck auf dem Tischbein hin und her bewegt wird. Du erwartest aufgrund der bisher geltenden Aussagen die Wahrnehmung eines Schnitts in das Tischbein, siehst aber nur ein unbeschädigtes Tischbein.

Wenn Du weder an Deiner Wahrnehmung und ihrer Interpretation zweifeln kannst (z. B. weil Du auch durch Tasten mit den Fingerspitzen keinen Einschnitt fühlen kannst), noch daran, dass Holz weicher ist als Stahl und auch nicht daran, dass das Sägeblatt aus Stahl ist, so müsstest Du wohl die Aussage "Dieser Tisch ist aus Holz" korrigieren, d. h., Du würdest diese Aussage nicht mehr länger für wahr halten und durch eine andere Aussage ersetzen.

Das Beispiel zeigt, dass das Verhältnis zwischen Aussage und Wahrnehmung komplizierter ist als es Tarskis Wahrheitsdefinition "Der Satz p ist wahr, wenn p" vermuten lässt.

Noch eine Anmerkung: Den Satz: "Die Sonne scheint" würde ich nicht als temporär wahre Aussage bezeichnen somdern als eine unvollständige Aussage, weil ohne Zeit- und Ortsangabe.

Grüße an alle Interessierten von Eberhard.

- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 08:48 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Dir ist wichtig, dass Erkennen (die richtige Beantwortung von Fragen durch wahre Sätze) ein Regeln folgendes absichtsvolles Handeln erfordert. Die Frage ist, ob Thomas das überhaupt bestreitet.

Unstrittig ist wohl, dass Erkenntnis immer Entscheidungen erfordert (stelle ich meine aktuelle Wahrnehmung in Frage oder ändere ich mein Weltbild).

Es grüßt Dich Eberhard.

- III
- Dyade am 26. Nov. 2004, 09:33 Uhr

Hallo Thomas, hallo Eberhard,

ihr habt beide recht, es ist tatsächlich etwas weit in eine andere Richtung gegangen. Ich habe das schon bemerkt als ich die Antwort an Hermneuticus schrieb und dachte kurz einen anderen Tread damit zu eröffnen.

Das für das Thema "Wahrheit" letzlich nicht nur zu klären wäre was 'nehmen-wir-wahr' sondern auch ob und wie 'Wahrheit' bei der Entscheidung zu handeln eine Rolle spielt (wo denn sonst noch??) liegt für mich auf der Hand. Aber das liegt tatsächlich zunächst in einer anderen Richtung.

Ich will also versuchen bis zur nächsten Kurve wieder auf der Höhe eurer Diskussion zu sein.

Grüße
Dyade

- III
- jacopo_belbo am 26. Nov. 2004, 10:11 Uhr

hallo eberhard,

ich verstehe aber nicht, wo du ein problem mit der aussage siehst, dass der von dir angesprochene tisch aus holz ist. entweder die aussage ist falsch und der tisch ist in wirklichkeit nicht aus holz, sondern nur aus einem immitat mit -wie steht in den modernen katalogen so schön- "holzoptik" ; oder der tisch ist aus holz - allerdings aus einer sehr widerstandsfähigen variante.
wie es aussieht lag ich mit meiner vermutung, dass du auf die fallibilität menschlichen wissens hinaus willst, anscheinend doch nicht so falsch ;)
ich sehe in diesem falle keine gefährdung des eigentlichen tarski-schemas. entweder es ist so, wie der satz sagt, oder es ist nicht so. wenn es sich nicht so verhält, müssen wir den satz entsprechend korrigieren. wir müssen unsere sätze den gegebenheiten anpassen, wenn wir objektive aussagen treffen wollen.


Zitat:

Noch eine Anmerkung: Den Satz: "Die Sonne scheint" würde ich nicht als temporär wahre Aussage bezeichnen somdern als eine unvollständige Aussage, weil ohne Zeit- und Ortsangabe.


dazu gibt es bei wittgenstein eine interessante passage. es ist eine passage, die in den PU vor der einführung der "familienähnlichkeiten" beginnt.und ich denke, hermeneuticus wird sich freuen, wenn ich seiner auffasung damit ein stück weit näher rücke:

Zitat:

60. wenn ich nun sage: »mein besen steht in der ecke«, - ist dies eigentlich eine aussage über den besenstiel und die bürste des besens? jedenfalls könnte man doch die aussage ersetzen durch eine, die die lage des stils und die lage der bürste angibt. und diese aussage ist doch nun wie eine weiter analysierte form der ersten. - warum aber nenne ich sie »weiter analysiert«? [...] wenn wir jemanden fragten, ob er das meint [der stiel sei dort und die bürste, und der stiel stecke in der bürste], würde er wohl sagen, dass er garnicht an den besenstiel besonders, oder an die bürste besonders, gedacht habe. und das wäre die richtige antwort, denn er wollte weder vom besenstiel, noch von der bürste besonders reden. denke, du sagtest jemandem statt »bring mir den besen!« - »bring mir den besenstil und die bürste, die an ihm steckt!« - ist die antwort darauf nicht: »willst du den besen haben? und warum drückst du das so sonderbar aus?« [...]
63. [...] wir denken etwa: wer nur die unanalysierte form besitzt, dem geht die analyse ab; wer aber die analysierte form kennt, der besitze damit alles[...]


später dann:

Zitat:

69. wie gesagt, wir können -für einen besonderen zweck- ein grenze ziehen. machen wir dadurch den begriff erst brauchbar? durchaus nicht! es sei denn, für diesen besonderen zweck. so wenig wie der das längenmaß >1 schritt< brauchbar machte, der die definition gab: 1 schritt = 75 cm. und wenn du sagen willst »aber vorher war es doch kein exaktes längenmaß«, so antworte ich: gut, dann war es ein unexaktes. - obgleich du mir noch die definition der exaktheit schuldig bist.



ich könnte die spur noch ein wenig weiter verfolgen, aber das würde hier zu weit führen. worauf ich dabei hinaus will ist folgendes:
unter logikern und sprachphilosophen scheint es eine unart zu geben, die darin besteht, "unanalysierte" sätze zu analysieren, bzw. analysierbar zu machen - wittgenstein ist, glaube ich, in seinem tractaus einer ähnlichen idee verfallen. wir sollten uns aber -mit dem wittgenstein der PU- fragen, inwieweit man einen analysierten satz besser versteht; bzw. ob der analysierte satz eher wahr ist, als der unanalysierte. ich denke, der kontext in welchem eine aussage getroffen wird, ist nicht unerheblich.
wenn wir uns unterhalten, und du sagst: »die sonne scheint«, so ist diese aussage wahr, wenn die sonne scheint - also genau dann, wenn es zutrifft, dass die sonne scheint (mit tarksi). ich kann also aus dem fenster sehen und deine aussage entweder bestätigen, oder dich auf deinen fehler hinweisen »schau! der himmel ist bedeckt.« das ist für diese zwecke vollkommen ausreichend. und zu recht würde ich die augen verdrehen, wenn du statt »die sonne scheint« - »die sonne scheint am 26.11.2004 post christum natum um 10:01« sagtest. auch wenn das "exakter" oder "vollständiger" wäre.
präzision fungiert hier nur als ein surrogat.

sicher, wir können unserer aussage, dass die sonne scheint, die aura des ewig unabänderlichen geben, indem wir eine "exakte" zeitangabe machen. so wird diese aussage über die zeit hinweg wahr sein.

- mfg thomas

- III
- Dyade am 26. Nov. 2004, 11:35 Uhr

Hallo,

ich habe jetzt schon mehrmals gelesen, das der eine über den Text des anderen urteilte: "Das ist ja trivial" !

Aber genau darum geht es doch, oder? Diese Ganzen Beispiele die wir anführen (Tisch, Haus, Sonne) und die Aussagen über diese Dinge sind doch Trivialitäten die ihre Komplexion durch ihre unmittelbare Nähe verdecken (Siehe Wittgensteins Besen).

Natürlich scheint die Sonne auch wenn es bewölkt ist. Nur kann ich es nicht sehen. Es sei denn ich steige in Frankfurt ins Flugzeug und fliege 10.000 Fuß hoch. Wären Handys im Flugzeug erlaubt könnte Eberhard dir Thomas sagen: "Die Sonne scheint" du wärst nur nicht in der Lage es zu prüfen wenn du nicht auch in dem Flugzeug sitzt. Es müsste also die Bedingung erfüllt sein, dass die Gesprächspartner bei dem Versuch die Wahrheit eines Satzes zu prüfen, in der "gleichen Situation" sind.

Aus diesem Grund will ich nocheinmal meine Frage von weiter oben präzisieren: Muss ich um die "Wahrheit" eines Satzes bestätigen zu können ständig das in ihm ausgedrückte Urteil über die Wirklichkeit prüfen können? Oder ist ein Verweis auf ein theoretisches Wissen ausreichend?

fragend
Dy

- III
- jacopo_belbo am 26. Nov. 2004, 12:12 Uhr

hallo dyade,


Zitat:

Aus diesem Grund will ich nocheinmal meine Frage von weiter oben präzisieren: Muss ich um die "Wahrheit" eines Satzes bestätigen zu können ständig das in ihm ausgedrückte Urteil über die Wirklichkeit prüfen können? Oder ist ein Verweis auf ein theoretisches Wissen ausreichend?



wir nähern uns langsam einem punkt, den ich schon beim abfassen meines letzten beitrages im sinn hatte, den ich aber zuersteinmal zurückgestellt habe. es scheint, als bestünde eine asymmetrie zwischen der wahrheit eines satzes und dem wissen um diese wahrheit. ich kann wissen, dass quito die hauptstadt von ecuador ist. es kann sich allerdings auch herausstellen, dass, als ich sagte, quito sei die hauptstadt von ecuador, ich mich in diesem punkt getäuscht habe.
wahr ist der satz "quito ist die hauptstadt" von ecuador nur dann, wenn quito die hauptstadt von ecuador ist.
auch wenn ich mich auf die aktuellste ausgabe des brockhauses -als beispiel für ein verläßliches medium- verlasse, also mich auf -wie du es nennst- "theoretisches wissen" stütze, kann es sein, dass ich mich täusche. das ist auch das, worauf eberhard (wahrscheinlich) hinauswill, wenn er sagt, dass es prinzipiell keine aussage mit universeller geltung gibt - ich nenne das fallibilismus.

aber -so mein einwand- sind das zwei verschiedene paar schuhe, ob etwas wahr ist, oder ich es nur für wahr halte. das ändert aber nichts am prinzip der wahrheit. wahr sind sätze in übereinstimmung mit den tatsachen. stellt es sich später anders heraus, war der satz nicht wahr: ich muss meine ansicht revidieren.

ich bin nicht bereit, den Schluss von "es ist möglich, dass wir uns prinzipiell irren können" auf "wir irren uns beständig" mitzumachen. wir sollten den begriff der wahrheit (als korrespondenz) nicht so ohne weiteres opfern, auch wenn es schwer wird ihn zu definieren, bzw. ihn zu verteidigen.

meine einwände bezüglich konsenstheorie, kohärenztheorie, redundanztheorie habe ich schon einmal formuliert. zum einen können sätze übereinstimmend für wahr gehalten werden, die auch keiner erfahrung widersprechen und dennoch falsch sein. zum anderen ist das wort "wahr" sprachlich nicht unverzichtbar - auch wenn es so ist, wie die deflationstheorie der wahrheit sagt, dass wahrheit ausdrückt, dass eine sache so oder so zutrifft.

in summa: es reicht nicht aus, sich auf ein wie auch immer geartetes wissen zu stützen; darüberhinaus muss man sich auch mit den fakten auseinandersetzen.

- mfg thomas

- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 18:34 Uhr

Hallo Thomas, hallo Dyade,

Ich habe geschrieben, dass Sätze wie: "Hinter dieser Mauer ist eine Wiese" oder "Die Sonne scheint" oder "Ich bin über 1,80 m groß" unvollständig formuliert sind. Ihre vollständige Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang, in dem diese Sätze geäußert werden. Das heißt aber auch, dass je nach dem Zusammenhang, in dem solche Sätze geäußert werden, ihre Bedeutung wechselt.

Thomas formuliert: "wir haben aussagen, denen wir temporäre gültigkeit zuschreiben. ein beispiel ist das beispiel der wiese. heute kann die aussage wahr sein - wir gucken hin, ob dem so ist; morgen kann sie schon falsch sein - wir machen eine wahrnehmung, die im widerspruch zu der gestern getroffenen aussage steht."

Hier von Sätzen mit temporärer Gültigkeit zu sprechen, die heute wahr sind und morgen falsch (weil inzwischen ein Bulldozer das Gras beseitigt hat), halte ich nicht für sinnvoll.

Wenn ein und derselbe Satz heute wahr sein kann und morgen falsch, dann müssten wir logisch widersprüchliche Sätze wie "Hinter der Mauer ist eine Wiese" und "Hinter der Mauer ist keine Wiese" nebeneinander gelten lassen, denn der erste Satz war am 1. Oktober 2004 wahr und der zweite Satz war am 2. Oktober 2004 wahr, nachdem die Planierraupe gewirkt hat.

Wenn man jedoch Widersprüche zulässt, hat man einen Sprengsatz in die eigene Theorie eingebaut, der keinen Stein auf dem andern lässt.

Es scheint deshalb sinnvoll, zwischen dem Satz als einer grammatisch geordneten Folge bestimmter Wörter und den Bedeutungen dieses Satzes zu unterscheiden. Nur diese Bedeutungen können genau genommen wahr oder falsch sein.

Es erscheint also nicht sinnvoll zu sagen: "Der Satz 'Ich bin größer als 1,90 m' " ist manchmal wahr und manchmal falsch, je nachdem, ob z. B. der zierliche Lukas oder der lange Mirko den Satz äußern.

Stattdessen empfiehlt es sich zu sagen: "Die Satz 'Ich bin größer als 1,80 m' hat verschiedene Bedeutungen: Wenn Lukas sagt: "Ich bin größer als 1,80 m' bedeutet der Satz: "Lukas ist größer als 1,80" (und diese Aussage ist falsch).

Und wenn Mirko sagt: "Ich bin größer als 1,80 m" bedeutet der Satz: "Mirko ist größer als 1,80 m" (und diese Aussage ist wahr).

Somit bleibt unser Denken widerspruchsfrei. Es gibt keine Aussage, die wahr und falsch ist.

Der Aspekt der intertemporalen, die Zeit überdauernden Geltung wahrer Aussagen erscheint mir ein zentraler Bedeutungskern des Wortes "wahr" zu sein (denken wir nur an das Worte wie "bewahren" oder "während" ).

Deshalb sollten wir Sätze wie "Die Sonne scheint" entweder als verkürzte, unvollständige Sätze ansehen, die erst aus dem Zusammenhang eine Bedeutung erhalten. Oder aber wir betrachten Sätze als solche gar nicht mehr als wahr oder falsch, sondern beziehen die Prädikate "wahr" und "falsch" nur noch auf die Satzbedeutungen bzw. Satzinhalte, also die Aussagen, die mit Sätzen gemacht werden,

meint Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am 26. Nov. 2004, 23:52 Uhr

Hallo Eberhard!

So wie Du den Begriff der Geltung gebrauchst, erscheint er mir wie eine Hilfskonstruktion, die Du nur benötigst, um den für Dich unverzichtbaren Bedeutungskern "Intertemporalität" des Wortes "wahr" zu retten.

Auf der einen Seite bestreitest Du, dass Aussagen nur temporär "wahr" sein könnten. Auf der anderen Seite räumst Du ein, dass eine Behauptung, die heute als unbeschränkt wahr gilt, morgen revidiert werden müsste, wenn neue Wahrnehmungsbefunde dieser Behauptung den Boden (die Berechtigung) entzögen.
Ich frage mich, wozu hier die Einführung der "Geltung" gut sein soll, was man sich, salopp gesagt, für eine solche "unbeschränkte Geltung" kaufen kann, wenn man doch weiß, dass veränderte Umstände diese Geltung jederzeit beenden können.

So gefasst, scheint der Begriff der Geltung nur ein Synonym von "Fürwahrhalten" zu sein, ein entpersonalisiertes allerdings. Denn etwas für wahr halten können nur Subjekte/Personen/Individuen, während "Geltung" Sätzen auch losgelöst von ihren Sprechern zukommen zu können scheint.

Nun ist es ganz plausibel: Wenn ich etwas für wahr halte, dann ist das ein Ausdruck von Gewissheit. Ich zweifle nicht immerzu daran und komme nicht heute zu diesem und morgen wieder zu einem anderen Urteil über den Sachverhalt. Für mein Handeln ist solche Gewissheit auch nützlich, weil ich mich dann entscheiden kann, ohne lange zu fackeln. Trotzdem – und das räumst Du ja ganz ausdrücklich ein – kann morgen etwas geschehen, das dieser Gewissheit den Boden entzieht. Ich kann plötzlich entdecken, dass die Wirklichkeit anders ist, als ich mit Gewissheit voraussetzte. Und dabei stelle ich fest, dass die "Wahrheit" von gestern nur ein persönliches Fürwahrhalten war. Die Behauptung über die Wirklichkeit, die ich gestern machte, ist nun keine Aussage über die Wirklichkeit mehr, sondern fällt auf mich zurück: sie spricht nun davon, was ICH für wahr hielt.

Mir scheint, dass das, was Du im Beitrag Nr.95 als "Geltung" einführst, ohne Bedeutungsverlust durch "Gewissheit" oder "gewisses Fürwahrhalten" ersetzt werden könnte.

Im Grunde motivierst Du die Intertemporalität der "Geltung" aus praktischen Bedürfnissen. Wenn ich handle, möchte ich nicht enttäuscht werden. Ich kann darum Aussagen über die Wirklichkeit, die nicht nur jetzt, sondern auch morgen und übermorgen... ad infinitum gelten, gut gebrauchen. Aber so motiviert, ist die Unbeschränktheit der Geltung nicht mehr als der Ausdruck eines Wunsches. (" Denn Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit", dichtete Nietzsche.) Insbesondere dann, wenn ich doch – ebenfalls mit Gewissheit - weiß, dass Enttäuschungen niemals auszuschließen sind. So wird auch der Unterschied zwischen "Geltung" und bloßem "Geltungsanspruch" (= Anspruch auf unbeschränkte Geltung) verwischt.


Ich denke, dass der Ausdruck "Geltung" nur sinnvoll ist, wenn er "faktische intersubjektive Anerkennung" bedeutet. Diese Anerkennung kann auf (implizit) geteilten Überzeugungen beruhen, die durch eine gelingende gemeinsame Praxis bewährt sind. Oder diese Anerkennung kann aus expliziten Urteilen bestehen, etwa wenn sie aus einem Wahrheitsdiskurs hervorging, in dem eine kontroverse Behauptung durch geeignete Begründungen für alle Beteiligten nachvollziehbar gemacht wurde.
Damit ist auch klar, dass "Geltung" immer beschränkt bleibt auf ein empirisches Kollektiv von Subjekten. "Geltungsansprüche" mögen dagegen über die faktische Geltung hinausgreifen und mit der Idee von Unbegrenztheit und Ewigkeit verknüpft sein. Indessen leben wir nicht mehr in der Zeit, "da das Wünschen noch geholfen hat". Und mir ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wieso wir diese Idee mit dem Begriff der "Wahrheit" verbinden müssen, wenn wir ihn nicht seines Sinns berauben wollen.

Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 27. Nov. 2004, 00:21 Uhr

Hallo Thomas!

Du schreibst:


Zitat:

" wahr" bezieht sich nicht auf handlungen, sondern auf aussagen.



Das stimmt, nur fallen Aussagen nicht vom Himmel, sondern es sind kommunikative Handlungen (" Sprechakte" ), durch die Sprecher sich an Adressaten wenden, um etwas zu behaupten.

Obwohl Du ausführlich Wittgensteins PU zitierst – was an sich sehr löblich ist... :-)  -, neigst Du doch dazu, losgelöste, irgendwie vorhandene Sätze nur im Verhältnis zu den "Fakten" zu betrachten. So wird dann die Wahrheit zu einer Eigenschaft von Sätzen, die darin besteht, dass diese Sätze mit den "Fakten" übereinstimmen.

Demgegenüber scheint es mir fruchtbarer zu sein, das pragmatische "Fundament" von Behauptungen und Wahrheitsdiskursen zwischen empirischen, handelnden Subjekten immer fest im Blick zu behalten.

Deine Hinweise auf Wittgenstein und den "Kontext" deuten auch eigentlich in diese pragmatische Richtung. Nur dass eben das Handeln und Kommunizieren von Subjekten nicht bloß ein "Kontext" für irgendwie schon vorhandene Aussagen ist. Sondern das gemeinsame Handeln und das Kommunizieren ist die Wirklichkeit, aus der Sätze überhaupt hervorgehen und auf die diese Sätze auch stets bezogen bleiben.

Oder anders gesagt: Die Praxis des Sprechens, diese "Lebensformen", die Wittgenstein mit den "Sprachspielen" meinte, sind nicht das, was man notgedrungen mit zu Rate ziehen muss, wenn man die Bedeutung von Sätzen nicht in ihrer isolierten Gegebenheit - durch syntaktische und semantische Analysen - klären kann. Nur verstanden als Bestandteile kommunikativen Handelns HABEN Sätze überhaupt eine Bedeutung und eine Form. Und das gilt nicht nur "lebensweltlich", sondern ohne Abstriche für jene gelingenden Praxen, die wir "Wissenschaften" zu nennen gewohnt sind.

Gruß
H.

- III
- gershwin am 27. Nov. 2004, 01:11 Uhr

Hi Leute
Sorry, dass ich mich so ansatzlos einmische, aber ein Teilnehmer dieser Diskussion hat mich dazu aufgefordert.
Was ist Wahrheit? Leider kann ich in diesem Thread nirgends nahtlos anknüpfen, aber meine Ansichten habe ich in einem ähnlichen Thread schon ausgeführt.

Was ist Wahrheit? Ein Wort. Was ist ein Wort? Ein Signal an einen Artgenossen. Nehmen wir ein anderes Signal: flüchtige Jasmonate aus einem angebissenen Blatt, welche Nachbarblätter oder Blätter einer Nachbarpflanze veranlassen, Bitterstoffe zu synthetisieren. Eine solche Signalkette ist natürlich wegen des hohen Zeitbedarfs nicht sonderlich modulierbar, überdies sind wären die Reaktionsmöglichkeiten der Empfänger ohnehin sehr beschränkt.
Unsere Sprache ist in meinen Augen jedoch nichts prinzipiell anderes. Nur, dass Luftdruckschwankungen eben ausreichend modulierbar sind und ein komplexes Gehirn plus eine daran angeschlossene (auch Sprach-) Motorik eine extrem breite Reaktionspalette bieten. Daraus ergibt sich eine (an der ET orientierte) pragmatische Bedeutungstheorie. "Jasmonate" sind eine Aufforderung an Artgenossen, Bitterstoffe zu synthetisieren, das Wort "Wahrheit" ist eine Meta-Aufforderung an Artgenossen, ein anderes Signal (also die Aussage, auf die sich das Wort Wahrheit bezieht) ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln. Das Signal "Wahrheit" (bzw. "Nicht-Wahrheit" also "Unwahrheit", eigentlich das viel wichtigere Wort) ist im Kampf ums Überleben sowohl eine Waffe gegen Irrtum als auch Betrug. (Wären Pflanzen soziale Wesen mit komplexem Verhalten, könnten sie Argenossen mit einem analogen Signalmolekül beispielsweise vor irrtümlicher oder gar betrügerischer Jasmonataussendung warnen.)

Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen: Die Komplexität unserer Sprache erkläre ich mir aus dem innerartlichen Evolutionsdruck. Signale aussenden und damit das Verhalten von Argenossen zu beeinflussen ist eine extrem wichtige Fähigkeit im Kampf um Ressourcen und um Geschlechtspartner. Mathe und Physik sind wichtig für Architektur, Waffenkonstruktion usw., nicht minder wichtig ist Rhethorik. Und genau das haben schon die alten Griechen erkannt, das ist ziemlich beeindruckend. Die Angelegenheit ist meiner Ansicht nach deshalb so schwer durchschaubar, weil hier biologische und kulturelle Evolution ineinandergreifen und wir noch viel zu wenig über die Wechselwirkung dieser beiden Prozesse wissen.
Freundliche Grüße
Thomas

- III
- Hermeneuticus am 27. Nov. 2004, 09:42 Uhr

Hallo Thomas/gershwin!


Zitat:

Signale aussenden und damit das Verhalten von Argenossen zu beeinflussen ist eine extrem wichtige Fähigkeit im Kampf um Ressourcen und um Geschlechtspartner. Mathe und Physik sind wichtig für Architektur, Waffenkonstruktion usw., nicht minder wichtig ist Rhethorik. Und genau das haben schon die alten Griechen erkannt, das ist ziemlich beeindruckend.


Ich denke angestrengt nach, welche Ressourcen und wie viele Geschlechtspartnerinnen mir beispielsweise diese Diskussion, die es nun in ihrer zweiten Fortsetzung schon wieder auf über hundert Beiträge gebracht hat (eine Menge Signale, das!!), mir erschlossen hat... Und komme auf eine runde 0.
[cry]

Überlebenstechnisch muss es sich um eine besonders ineffektive Strategie der Signalaussendung handeln. Das wussten übrigens auch die alten Griechen schon. Denken wir an Diogenes, dem, von Alexander dem Großen nach einem Wunsch gefragt, den er ihm erfüllen solle, nichts Bessereres einfiel als: "Geh mir ein wenig aus der Sonne!" Oder denken wir an Sokrates, der Philosophie für eine Kunst hielt, leicht zu sterben. Denken wir daran, welchen Ärger seine ewige Diskutiererei auf dem Marktplatz und bei Saufgelagen ihm mit seiner Ehefrau eingetragen hat. Denken wir daran, wie unermüdlich Platon jene klugen Köpfe verfolgte, die es verstanden, mit ihrer Weisheit wirklich etwas zu verdienen (die Sophisten und Rhetoren). Und denken wir daran, wie abfällig Aristoteles über die "Gelderwerbskunst" sprach und wie hoch er dagegen die brotlose Beschäftigung mit der Theorie veranschlagte...

In was für eine Galerie von überlebensunfähigen Mutanten reihen wir uns da ein??


Gruß
H.

- III
- Hermeneuticus am 27. Nov. 2004, 13:23 Uhr

Hallo Eberhard, hallo Thomas/jacopo!

Noch eine Ergänzung zu meinem vorletzten Beitrag. Dort schrieb ich:


Zitat:

Deine Hinweise auf Wittgenstein und den "Kontext" deuten auch eigentlich in diese pragmatische Richtung. Nur dass eben das Handeln und Kommunizieren von Subjekten nicht bloß ein "Kontext" für irgendwie schon vorhandene Aussagen ist. Sondern das gemeinsame Handeln und das Kommunizieren ist die Wirklichkeit, aus der Sätze überhaupt hervorgehen und auf die diese Sätze auch stets bezogen bleiben.


Der Ausdruck "Kontext" deutet schon an, dass man sich in einer Untersuchung befindet, die von vorhandenen Sätzen ausgeht. Diese sind "gegeben", gleichgültig woher. Auch wenn sie vom Himmel gefallen wären - man kann ihre syntaktische und semantische Struktur untersuchen und prüfen, ob oder unter welchen Bedingungen sie wahr sind.
Das ist der traditionelle Ansatz der "analytischen" Sprachphilosophie.

Sie täuscht eine gewisse Selbstgenügsamkeit vor. (Die Logik, sagte Thomas schon einmal in diesem Forum, habe keine pragmatische Dimension.)

Nun gibt es Sätze, die mehrdeutig bleiben, wenn man sie losgelöst von der Situation betrachtet, in der sie geäußert werden (wie etwa "Die Sonne scheint." oder "Ich bin 1,80 m groß." ). Je nach Situation oder je nach dem Sprecher, der da "ich" sagt, können sie wahr oder falsch sein. Darum heißen sie "unvollständige" Sätze. Sie können eben nicht isoliert dastehen. Und so muss man, etwas widerwillig, den "Text" hinzuziehen, in dem man diese Sätze vorgefunden hat - also den "Kontext", der seinerseits wieder nur aus Sätzen zu bestehen scheint.

Die Rede von "unvollständigen Sätzen" ist m.E. ein Indiz dafür, dass die Untersuchung die "vollständigen", die selbstgenügsamen Sätze favorisiert. Zugleich ist damit auch angedeutet, dass "Wahrheit" jene (formalen) Eigenschaften von Sätzen meint, die sie von ihren empirischen Sprechern unabhängig machen. Bei einem "vollständigen" wahren Satz spielt es - so die Konsequenz - keine Rolle mehr, welches empirische Subjekt ihn geäußert hat und was dieses Subjekt damit zu wem sagen wollte bzw. was es damit TUN wollte, INDEM es den Satz sagte.

Ein "vollständiger" wahrer Satz ist eine reine Form. Seine Geltung ist "absolut". Und ihm korrespondiert die "Wirklichkeit, wie sie war, ist und sein wird..."

Immer wieder entdecke ich an Euren Analysen den Hang zu diesem onto-logischen Formalismus. Das muss mit Eurer Art des "analytischen" Vorgehens zu tun haben.

Dabei bestreite ich gar nicht, dass wahre Sätze deshalb wahr sind, weil sie NACHVOLLZOGEN werden können und insofern nicht von den individuellen Ansichten und Eigenschaften ihrer Sprecher abhängen. Aber während bei Euch immer die Tendenz bemerkbar ist, Wahrheit (oder "Geltung" ) als eine FORMALE Eigenschaft von Sätzen zu betrachten, betone ich immerzu das Handeln, das sich im Äußern oder Verstehen von Sätzen vollzieht. Wie es scheint, hat diese unterschiedliche Gewichtung eines Sachverhalts, der - isoliert betrachtet - zwischen uns unstrittig ist, doch weitreichende Konsequenzen.

Gruß
H.

- III
- Dyade am 27. Nov. 2004, 14:33 Uhr

Hallo,

ein unvollständiger Satz wäre also "Die Sonne scheint".
In einer Gesprächssituation kann dieser Satz von allen Teilnehmer als wahr aktzeptiert werden oder als falsch abgelehnt werden.

ein wahrer Satz der immer und überall gilt wäre: "Schrödingers Katze lebt oder ist tot". Ein solcher Satz ist eine reine Formalie bzw. er wird in eine Hohlform gesetzt, die ihn als "immer wahr" materialisiert. Er sagt etwas über Schrödingers Katze, von der man auch sagen könnte sie ist dick und getigert und gefräßig. Sie ist aber immer entweder getigert oder nicht getigert, lebt oder ist tot. Damit haben wir einen wahren Satz, mit dem ich aber praktisch überhaupt nichts anfangen kann. Denn wenn mich einer fragt "Hast du meine Katze gesehen ich suche sie", und ich frage "wie sieht sie aus" und er sagt "sie ist getigert oder nicht" dann weis ich genau soviel wie vorher. (Stichwort: "trivial" )

Und das scheint der Knackpunkt zu sein, denn hier wird eine Form gewählt, wie die Nebelkammer in einem Teilchenbeschleuniger, die immer wahre Aussagen generiert und zwar "... nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle." (Kant, KdRV). Diese Hohlform, die völlig indifferent gegenüber den wechselnden Argumenten ist mit denen man sie füllt ist "das All des Denk- und Vorstellbaren, das bei geeigneter Einsetzung aus offenen Aussageformen wahre Urteile werden läßt." (Frege, weis nicht wo :-))

Wahrheit wäre also bloß eine Trivialität?

keinen Schritt weiter, Dyade

[cool]

- III
- gershwin am 27. Nov. 2004, 17:09 Uhr

Hi Hermeneutikus
Mir ist schon bewußt, dass der an der ET-orientierte Zugang eine ungeheure Provokation kopernikanischen Ausmaßes darstellt. DAS soll schon alles gewesen sein, was Sprache ist? Wenn man den Rahmen wechselt, gelangt man natürlich zu erweiterten Begründungsmustern. Dann hat Sprache natürlich unendlich viele Funktionen.
Ebenso wie selbstverständlich die Nicht-Sprach-Motorik unendlich viele Funktionen haben kann: Auch für das Gehen, Laufen, überhaupt für alle motorischen Bewegungen gilt: wir haben diese Fähigkeiten entwickelt, weil sie der Fortpflanzung förderlich waren, also dem Zugang zu Ressourcen und Geschlechtspartnern. Trotzdem kannst Du stundenlang mit gleich drei hübschen Frauen in einem Zimmer rumgehen oder sogar rumlaufen, ohne zum Zuge zu kommen. Deine Polemik im ersten Absatz zieht hier also nicht.

Zum zweiten Absatz mit Aristoteles, Platon und Co: Ich kann meine Überlebensfähigkeiten auch dazu nutzen, nachts Schnecken über die Straße zu tragen, ....damit sie dann auf der anderen Seite Geschlechtspartner finden, deren Nachwuchs mir dann meine Salatbeete ruinieren. Das ist deshalb kein Problem, weil Nahrung kein limitierender Faktor mehr für uns ist. Dann geh ich halt in den Supermarkt. Bei fehlendem äußeren Selektionsdruck dominiert die innerartliche Selektion. Wenn beispielsweise Geweihtiere lange Zeit auf einer Insel der Glückseligen leben (ohne Freßfeinde, gutes Nahrunsangebot usw.), dann kann sich unter Umständen der einstmals sinnvolle Trend fortsetzen, dass Weibchen weiterhin stets den Hirsch mit dem größten Geweih bevorzugen. Bis die Armen eines Tages ihr Ding kaum noch tragen können. Aristoteles und Co. lebten unter vergleichsweise günstigen Umständen. Sie hätten auch von Morgens bis Abends nur Schnecken unterstützen können. Sie konnten nur deshalb so ausgiebig der musse frönen, weil andere für sie geschuftet haben.

Was wir Männer und Frauen schätzen und was nicht, ergibt sich aus der Struktur unseres emotionalen Systems. Dinge oder Situationen oder Verhaltensweisen von Artgenossen, kurz: Wahrnehmungen lösen bei uns Emotionen (Verhaltensdispositionen im weitesten Sinne) aus, wobei mindestens folgende Faktoren zu berücksichtigen sind: die stammesgeschichtliche sowie die individuelle Erfahrung, plus das, was man gemeinhin kognitive (bewußte und unbewußte) Prozesse nennt. Ich hatte schon erwähnt: das Ineinandergreifen kultureller und biologischer Evolution ist extrem komplex, daher der Analyse schwer zugänglich. Kurzes Beispiel: Was ein erfolgreiches Mem (z. B. die Geschichte mit der Sonne) wird, hängt auch von den Genen ab, aber auch von sozialen und nicht selten sogar von individuellen Faktoren. Denn wenn der erste der Multiplikatoren keine Lust hat oder vergeßlich ist oder vorzeitig stirbt, kann auch das Mem für immer aus dem kulturellen Bestand verschwinden.
Kurz noch mal die Pointe meiner Gedanken: Sprache ist nichts Prinzipiell anderes als andere Muskelbewegungen auch. (daher funktioniert ja auch Gebärdensprache so gut). Das ist natürlich schwer verdaulich für Metyphysik-Fans. Aber das Leben und Denken ist darum trotzdem kein bißchen weniger interessant.
Freundliche Grüße
Thomas

- III
- Eberhard am 27. Nov. 2004, 23:13 Uhr

Hallo Dyade,

ich hatte schon mal das Beispiel gebracht "Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist", um zu zeigen, dass Wahrheit als solche keinen Wert besitzt, wenn die wahren Sätze keine Informationen enthalten, also auch keine Frage beantworten können.

Meine Frage an dich: Hältst du einen Sprachgebrauch für sinnvoll, bei dem es möglich ist, dass eine Behauptung, die gestern wahr gewesen ist, heute falsch ist? Wenn ja: Was machst du mit den logischen Widersprüchen, die dadurch entstehen können?

Damit keine Missverständnisse aufkommen: ich halte es ohne weiteres für möglich, dass ich gestern eine Aussage für wahr gehalten habe, die ich heute für falsch halte. (Aber dann war sie von meinem heutigen Standpunkt aus auch schon gestern falsch, als ich sie noch für wahr gehalten habe.)

Meine Frage an dich und alle anderen, die Sätzen wie "Die Sonne scheint" Wahrheitswerte zuschreiben wollen: Was geschieht mit den daraus entstehenden logischen Widersprüchen?

Grüße an alle von Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 00:38 Uhr

Hallo Thomas/g!

Meine erste Antwort war nicht als Argumentation gemeint.

Also, ich bin kein "Metaphysik-Fan". Im Gegenteil, wenn Du in der Diskussion mal zurückblätterst, wirst Du sehen, dass mir eher daran liegt, auf unreflektierte, als solche nicht durchschaute "metaphysische" Elemente bei meinen Kontrahenten hinzuweisen.

Was meine ich mit "Metaphysik" ? Im Anschluss an Kant verstehe ich darunter ein "überschwängliches" Denken, das mehr zu wissen meint, als es, nach den eigenen Voraussetzungen, wissen kann. Kant dachte bei seiner Erkenntniskritik nicht nur an seine philosophierenden Vorgänger, sondern auch an die Grenzen des naturwissenschaftlichen Wissens. Und mir scheint, dass diese zweite Richtung der Erkenntniskritik heute sehr viel dringlicher geworden ist als die Zurückweisung des theologischen "Schweifens in intelligiblen Welten". Denn die heutigen Popularisierungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verfallen oft in ganz ähnliche Fehler: Verlassen der empirischen Basis, unscharfe Begrifflichkeit, Verdinglichung von analytischen Begriffen, Inkonsistenzen...



Ein Beispiel für unscharfe Begrifflichkeit lieferst Du selbst mit dem "ziemlich komplexen" Ineinandergreifen von "biologischer und kultureller Evolution". Ich bin kein Biologe (so wie Biologen keine Kulturwissenschaftler sind...), aber so weit ich sehe, scheint das Prinzip der "natürlichen Selektion" unverzichtbar für die ET zu sein. Nun ist die biologische Konstitution der Gattung Mensch durch eine fehlende Spezialisierung gekennzeichnet, weshalb Menschen sozusagen von Natur aus auf Technik angewiesen sind. Ihre technischen Errungenschaften sind es also, die Menschen das Überleben ermöglichen - was aber bedeutet, dass Menschen imstande sind, das Prinzip der natürlichen Selektion für sich aufzuheben. Aus diesem Grund ist die Geschichte des Menschen als Kulturwesen nicht einfach der ET zu subsumieren. Von "biologischer und kultureller Evolution" in einem Atemzug zu sprechen, ist ein begrifflicher Pfusch, ja geradezu ein Täuschungsmanöver, weil hier zwei PRINZIPIELL verschiedene Arten von Entwicklung als Anwendungsfälle der ET ausgegeben werden.



Was an der ET allerdings IN DIESEM THREAD besonders interessiert, ist ihre Anwendung auf Erkenntnis und den Wahrheitsbegriff.  
Mein Standardargument - Du bist nämlich nicht der erste in diesem Thread - lautet hier:

Die ET versteht sich als eine erfahrungswissenschaftliche Theorie, die den Anspruch erhebt, WAHR zu sein. Aber ist die Wahrheit, die sie als Theorie für sich beansprucht, von derselben Art wie die "Wahrheit", die sie biologisch erklärt? Ist die ET ein ANWENDUNGSFALL ihrer selbst?
Dann wäre die ET nur eine Aussendung von Signalen mithilfe reflexhafter Körperbewegungen zu den und den biologischen Zwecken... Und statt den BEGRÜNDUNGSVERFAHREN, die diese Signale in den Rang einer wahren Theorie erheben, allzu viel Beachtung zu schenken, warten wir einfach mal ab, ob sich ihre Vertreter im Kampf ums Dasein bewähren. Überleben sie, muss an der Theorie was dran gewesen sein; sterben sie aus, war sie Schrott...

Aber so argumentiert natürlich kein Biologe. Nein, er nimmt seine Methoden und Begründungsverfahren äußerst ernst. Er nimmt also den BISHER GELÄUFIGEN Begriff von WISSENSCHAFTLICHER Wahrheit mit großer Selbstverständlichkeit weiter in Anspruch. Einen Wahrheitsbegriff allerdings, zu dessen Klärung bloß seine ET nicht viel beitragen kann.

Kurz: Die evolutionsbiologische "Erkenntnistheorie" gilt nur, wenn ihre Vertreter von ihr ausgenommen bleiben.


Gruß
H.


- III
- Eberhard am Vorgestern, 09:40 Uhr

Hallo Thomas (G),

Du schreibst: "Das Wort  'Wahrheit' ist eine Meta-Aufforderung an Artgenossen, ein anderes Signal (also die Aussage, auf die sich das Wort Wahrheit bezieht) ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln."

Damit hast Du aber nur einen Aspekt des Wortes "wahr" erfasst (die Aufforderung, die als "wahr" bezeichnete Aussage dem eigenen Denken und Handeln zugrunde zu legen, was ich als "Geltungsanspruch" bezeichne). Gegen diesen Geltungsanspruch kann der Angesprochene einwenden: "Ist das wirkliche wahr? Begründe mir das!"

Damit stellt sich die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit von Aussagen. Das heißt, es wird nach der Begründung der Behauptung verlangt.

Was sagt die an der Evolutionstheorie orientierte pragmatische Bedeutungstheorie zur Frage nach dem Kriterium für "wahr" und "falsch" ?

Es grüßt dich Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 12:33 Uhr

Hallo Eberhard!


Zitat:

Meine Frage an dich und alle anderen, die Sätzen wie "Die Sonne scheint" Wahrheitswerte zuschreiben wollen: Was geschieht mit den daraus entstehenden logischen Widersprüchen?


Zu logischen Widersprüchen kann es bei solchen Sätzen nur kommen, wenn man sie isoliert, nämlich nur hinsichtlich ihrer Syntax und Semantik, untersucht. Die kommunikativen Situationen, in denen Menschen feststellen oder darauf hinweisen, dass die Sonne scheint, sichern ihre einwandfreie Verständlichkeit. (Zur Sprachkompetenz gehört auch das Wissen, welche Sätze zu welchen Situationen passen.)

Bei Sätzen, die man gestern für wahr hielt, die aber heute revidiert werden müssen, tritt auch kein logischer Widerspruch auf. Empirische, also auf Erfahrung gestützte Sätze können immer wahr oder falsch sein, wobei es eben die Erfahrung ist, die über ihr Zutreffen entscheidet. Wenn ein solcher Satz gestern wahr war, weil er durch entsprechende Erfahrungen entschieden bzw. gestützt wurde, dann war er GENAU DARUM wahr. Entfällt diese Erfahrung, muss der Satz GENAU DARUM unwahr sein.
Es ist charakteristisch für empirische Aussagen, dass sie zu ihrer BEGRÜNDUNG auf aktuelle Erfahrungen verweisen. Die Erfahrung (oder Wahrnehmung) GILT, anders gesagt, als ihr Begründung. Damit Wahrnehmungen Sätze begründen können, ist es freilich notwendig, dass man sie (im voraus) spezifiziert. Es muss unter den Beteiligten ausgemacht sein, WAS FÜR EINE Wahrnehmung ALS Begründung des Satzes GELTEN SOLL.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am Vorgestern, 15:46 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Ich hatte gefragt:

Soll das Wort 'wahr' so verwendet werden können, dass ein und derselbe Satz zum einen Zeitpunkt wahr sein kann und zum andern Zeitpunkt falsch?

Ist Deine Antwort nun ja oder nein?

Ich bin mir nach Deinen Ausführungen nicht sicher.

Wenn 'ja': Gilt dies nur für mehrdeutige Sätze oder gilt dies auch für eindeutige Sätze?

Es grüßt Dich Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 19:19 Uhr

Hallo Eberhard!


on 11/28/04 um 15:46:17, Eberhard wrote:

Soll das Wort 'wahr' so verwendet werden können, dass ein und derselbe Satz zum einen Zeitpunkt wahr sein kann und zum andern Zeitpunkt falsch?


Der Satz "Die Sonne scheint." ist NICHT ein und derselbe Satz, wenn verschiedene Personen ihn zu verschiedenen Zeitpunkten äußern!

Offenbar sind die Kriterien für die Identität von Sätzen nicht unabhängig davon, was man unter "Satz" versteht. Versteht man ihn als FORM, ist "Die Sonne scheint" in der Tat jedesmal derselbe Satz, gleichgültig, wer ihn wann zu welchen Zwecken ausspricht. Versteht man einen Satz dagegen als eine HANDLUNG, einen GEBRAUCH von Worten, als einen Sprechakt, als die Behauptung eines Sprechers an einen Adressaten, als Zug in einem Sprachspiel... dann hat man es mit verschiedenen Sätzen zu tun, je nachdem, wer ihn auspricht.
Man kann mit (formal) identischen Worten eben sehr Verschiedenes TUN.



Zitat:

Ist Deine Antwort nun ja oder nein?


Mit der m.E. unerlässlichen Differenzierung oben: Nein.

Gruß
H.

- III
- Eberhard am Vorgestern, 20:59 Uhr

Hallo Hermeneuticus,

Mit der Festlegung, dass ein und derselbe Satz nicht zum einen Zeitpunkt wahr sein kann und zum andern falsch, bin ich einverstanden.

Wenn der Satz "Die Sonne scheint" in unterschiedlichen Situationen  geäußert wird, "ist er nicht derselbe". Für mich ist entscheidend, dass der Satz je nach Situation eine unterschiedliche Bedeutung bekommt und etwas anderes über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aussagt. Wenn ich ihn um 8 Uhr äußere, sagt er etwas anderes aus, als wenn ich ihn um 10 Uhr äußere.

Leider gibt es kein Wort, das einen Satz mit einer dazugehörigen Bedeutung bezeichnet, so wie das Wort "Begriff", das ein Wort samt zugehöriger Bedeutung bezeichnet. Bei ein und demselben Wort hat man es bei Mehrdeutigkeit mit verschiedenen Begriffen zu tun.

Man könnte vielleicht entsprechend sagen: Bei ein und demselben Satz hat man es bei Mehrdeutigkeit mit verschiedenen "Aussagen" (englisch "statement" ) zu tun. Dann wären nicht Sätze wahr oder falsch, sondern Aussagen, also Sätze mit ihrer bestimmten Bedeutung. Das wäre ein Vorschlag zur Terminologie.

Du sagst, dass es sich bei der Wortfolge "Die Sonne scheint" je nach Situation der Äußerung um verschiedene Sätze handelt, und begründest es damit, dass die Äußerung dieser Wortfolge eine Handlung darstellt und dass es sich um zwei verschiedene Handlungen handele.

Das Problem ist jedoch, dass Du dann Handlungen Wahrheitswerte zuschreiben müsstest.

Das zeigt mal wieder, wie Recht Du mit Deinem Wittgenstein-Motto hast, dass unser Hauptproblem darin besteht, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen.

Es grüßt Dich Eberhard.

- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 22:08 Uhr

Hallo Eberhard!


on 11/28/04 um 20:59:15, Eberhard wrote:

Mit der Festlegung, dass ein und derselbe Satz nicht zum einen Zeitpunkt wahr sein kann und zum andern falsch, bin ich einverstanden.


Wenn A zu B an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit sagt: "Die Sonne scheint.", dann verbindet er damit nicht die Vorstellung einer zeitunabhängigen Geltung. Er denkt nicht: "Wow, diese Worte werden nun bis in alle Ewigkeit wahr sein!"

Das PROBLEM der intertemporalen Geltung von Behauptungen stellt sich wohl nur in Begründungsdiksursen, und nur dann, wenn mit solchen Behauptungen auch tatsächlich intertemporale Geltungs-ANSRPÜCHE verknüpft sind. Das ist etwa bei Prognosen so.

Mir scheint es daher überflüssig zu sein, das Wort "wahr" IN JEDEM FALL mit einer intertemporaler Geltung zu verknüpfen. Aber darauf willst Du eben hinaus. Das war der Hintersinn Deiner Frage.

Mir geht es um die Anerkennung, dass es Geltungsansprüche von verschiedener Allgemeinheit gibt.
Sagt A zu B: "Die Sonne scheint!" Und B antwortet etwa: "Ja, das ist wahr. Endlich!", so ist mit diesem Wortgebrauch kein Geltungsanspruch verknüpft, wie ihn etwa eine wissenschaftliche Behauptung erhebt oder eine Zeugenaussage vor Gericht. Und das hat damit zu tun, dass Aussagen je nach Situation ein anderes "Gewicht" haben, d. h. dass unterschiedliche Folgen damit verknüpft sein können. Je weiter diese Folgen reichen, desto strenger werden die Maßstäbe, desto heikler wird der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs.

Der Gebrauch des Wortes "wahr" ist eben "eine Familie von Fällen". Es besteht kein Grund, die ganze Familie auf ein und denselben Gebrauch zu verpflichten.



Zitat:

Man könnte vielleicht entsprechend sagen: Bei ein und demselben Satz hat man es bei Mehrdeutigkeit mit verschiedenen "Aussagen" (englisch "statement" ) zu tun. Dann wären nicht Sätze wahr oder falsch, sondern Aussagen, also Sätze mit ihrer bestimmten Bedeutung. Das wäre ein Vorschlag zur Terminologie.


Mir scheint es noch deutlicher zu sein, wenn man hier von "Behauptungen" spricht.

Man kann nämlich auch Satzbedeutungen formalistisch isolieren - wie das etwa die Rede von "propositionalen Gehalten" tut. Bei "Behauptungen" dagegen bleibt bewusst, dass es PERSONEN sind, die etwas tun, indem sie etwas sagen.



Zitat:

Du sagst, dass es sich bei der Wortfolge "Die Sonne scheint" je nach Situation der Äußerung um verschiedene Sätze handelt, und begründest es damit, dass die Äußerung dieser Wortfolge eine Handlung darstellt und dass es sich um zwei verschiedene Handlungen handele.
Das Problem ist jedoch, dass Du dann Handlungen Wahrheitswerte zuschreiben müsstest.


Nun ja, nicht x-beliebigen Handlungen. Sondern nur Sprechhandlungen, und zwar solchen Sprechhandlungen, in denen etwas (über die Wirklichkeit) behauptet wird.

Wie unsere Diskussion zeigt, lässt es sich nicht an den isolierten sprachlichen Formen festmachen, was jeweils damit behauptet wird.

Gruß
H.

 

- III
- gershwin am Gestern, 06:40 Uhr

Hi Hermeneuticus
Einiges kann ich nicht so recht nachvollziehen, vielleicht kriegen wir raus, weshalb. Zunächst mal der Vorwurf der unscharfen Begrifflichkeit. Jeder Begriff ist unscharf, das gilt selbst für so harmlose Wörter wie "Tisch". Du kannst per Computeranimation beispielsweise einen Tisch (allgemeiner Konsens) kontinuierlich in einen Nicht-Tisch (allgemeiner Konsens) verwandeln. Dabei entstehen Zwischenfiguren, über die man streiten könnte, ob Tisch oder nicht. Da keine partikularen Interessen dahinterstehen, also das gemeinsame Interesse weit überwiegt, sich konfliktlos über Tische verständigen zu können, wird es hier keine Diskussionen geben. Bei vielen Wörten kommen eben solche partikularen (finanzielle, ideologische, politische, religiöse usw.) Interessen ins Spiel, und da gibt es dann im Bereich der Unschärfen unter Umständen heftige Streitereien über Begrifflichkeiten. Ich nenne die Gruppe, die sich letztlich durchsetzt, also  bestimmte Sprachspielregelnuancen festlegt, gerne "Definitionsmacht".

Biologische und kulturelle Evolution sind für mein Gefühl allerdings vergleichsweise trennscharfe Begriffe, sowohl was die zeitliche Dimension (seeeehr langsam, recht rasch) als auch die materielle Basis der beiden Phänomene (Erbmaterial; Nervenzellgruppen). Ich denke mal, wie im Falle des Tisches weiß jeder hinreichend genau, was gemeint ist.

Du hast natürlich recht, biologisch hat sich in den letzten Jahrtausenden nur sehr wenig getan, wohingegen die kulturelle Evolution sich in diese Zeit ziemlich rasant vollzog. Dennoch hat sich der Mensch (bisher jedenfalls; ich bestreite aber nicht, dass das möglich wäre) von der biologischen Evolution keineswegs abgekoppelt. Wir gehen aufrecht, haben aber immer noch Probleme, weil die Wirbelsäule noch nicht optimal angepaßt ist. Wir haben immer noch Angst, wir verlieben uns, werden eifersüchtig und trauern usw. Diese Emotionen sind ein Produkt der biologischen Evolution und haben maßgeblichen Einfluß auf unser Handeln. Darum können Kulturen auch nicht beliebige Verhaltensweisen etablieren. Bei aller Verschiedenheit haben alle menschlichen Gesellschaften doch erstaunlich viele Gemeinsamkeiten. Ein Anthropologe, mir fällt der Name grad nicht ein, hat mal eine Liste der kulturellen Universalien erstellt. Ich weiß nicht, was Du mit "subsumieren" meinst, aber ich denke, es kann kein Zweifel geben, dass ein Mensch Produkt der biologischen Evolution sowie Kultur ist, in die er hineingeboren wurde. Das meinte ich mit Ineinandergreifen. Und wenn man, um nur ein Beispiel zu nennen, liest, wieviele Menschen alleine in Deutschland jährlich an einer schweren Depression erkranken, erscheint es schon sehr nützlich, biologische und kulturelle Ursachen dieser Erkrankheit dingfest zu machen und ihr Ineinandergreifen zu verstehen. Wo ist da der Pfusch?

Zurück zur Wahrheitsdiskussion. Hier meine ich, wirst Du reichlich schwammig, jedenfalls verstehe ich kaum etwas von der zweiten Hälfte Deines Beitrages. Der Reihe nach:


Zitat:

Die ET versteht sich als eine erfahrungswissenschaftliche Theorie, die den Anspruch erhebt, WAHR zu sein



Eine solche Formulierung impliziert doch bereits jene merkwürdigen (meiner Meinung nach aus vordarwinistischen philosophischen Traditionen stammenden: bei Platon beispielsweise "gab" es irgendwo distinkte Ideen, die wir hier auf der Erde wiedererkennen können.) "überschwänglichen" :-) Voraussetzungen, die auch der sonderbaren Frage: Was ist Wahrheit? zugrundeliegen. Es gibt keine Idee der Tischheit, die einem Objekt zukommt oder nicht und es gibt auch keine Entität wie Wahrheit, die einer Aussage kontextlos zukommt oder nicht. Dieser Stock ist 2 m lang. Wahr oder nicht? Nachmessen ergibt 2m, also wahr. Genaueres Nachmessen ergibt 1,998 m, also unwahr. Analoges gilt für fast alle Aussagen. Manche naturwissenschaftlichen Aussagen machen den verführerischen Eindruck, immer und unter allen Umständen wahr zu sein. Kannst gerne mal eine anführen, die gucken wir dann mal genauer an. (Die meisten davon sind meiner Ansicht nach  vom Typ: Ich glaube, diesen Pilz solltest Du nicht essen, weil alle, die ihn bisher gegessen haben, gestorben sind.)

Zitat:

Die ET versteht sich als eine erfahrungswissenschaftliche Theorie, die den Anspruch erhebt, WAHR zu sein.



Eine Theorie kann natürlich keine Ansprüche erheben. Etwas für wahr halten, ist vielmehr ein phänomenaler Akt, gegen den man sich gar nicht wehren kann. Bei diesem Akt spielen neben formalen, "logischen" Ableitungen noch andere, individuelle und soziale Faktoren eine Rolle, wie man schön an jenen Leuten erkennt, die immer noch (z. T. trotz Biologiestudiums) für WAHR halten, dass der Mensch vor 6000 Jahren in einem einmaligen Schöpfungsakt erzeugt wurde. Dabei ist die ET äußerst trivial, sobald mal die Prinzipien der Genetik (die ja theoretisch unabhängig von der ET erforschbar wären) und die Zusammenhänge zwischen Genotyp und Phänotyp sowie die möglichen Auswirkungen von Mutationen und Rekombinationen so halbwegs erkannt sind: Gene, die häufiger vererbt werden als andere, finden sich eben in der nächsten Generation häufiger. Da ist fast schon der Begriff Theorie etwas hoch gegriffen. Die Ausarbeitung der Stammbäume ist dann noch eine reine Fleißarbeit.

Wissenschaft ist in meinen Augen im Prinzip nichts anderes als Detektivarbeit, und das ist im Grund auch nichts großartig anderes als das, was beispielsweise eine Kindergartenschwester oder ein Richter leisten muss, wenn ihnen ein Streit in verschiedenen Versionen dargelegt wird: Verheddert  sich jemand in Widersprüche? Wie glaubwürdig ist jemand? Läßt sich dieses Detail überprüfen? usw. Nur arbeiten an dem Fall Wissenschaft viele Detektive gemeinsam und um möglichst wenig Zeit mit der Verfolgung von falschen Spuren zu verschwenden, hat man sich ab dem 16. Jh. auf gewisse Regeln geeinigt. Ohne diese Regeln, verblendet durch Autoritätshörigkeit (obwohl Aristoteles das wohl gar nicht gewollt hätte) und behindert durch religiöse Dogmen, hat man trotz jahrtausendelanger Haustierzucht- und Pflanzenzucht nicht erkennen können, was uns heute so trivial erscheint. d. h. die ET erhebt nicht den Anspruch WAHR zu sein, sondern sie erscheint vielen von uns einfach wahr, ohne dass wir uns dagegen wehren könnten. Weil sie eine Unmenge von Daten zu einem kohärenten Gesamtbild integriert und alle Alternativtheorien diesbezüglich vergleichsweise schwere Mängel aufweisen.


Zitat:

Aber ist die Wahrheit, die sie als Theorie für sich beansprucht, von derselben Art wie die "Wahrheit", die sie biologisch erklärt? Ist die ET ein ANWENDUNGSFALL ihrer selbst?



Das alte Problem: Der Skeptiker kann alles in Frage stellen, aber seine Skepsis nicht. Wieso eigentlich nicht? Auch meine Skepsis kann sich doch als falsch herausstellen?

Ansonsten verstehe ich diese Frage nicht. Die ET erklärt doch nicht biologisch die "Wahrheit". Denn in ihr kommt erstmal gar keine Entität Wahrheit vor. Wahr ist nur ein auf eine Aussage bezogenes Zeichen, das signalisiert, dass man sich auf diese Aussage (und die Folgerungen aus ihr) verlassen kann. Die Substantivierung von "wahr" zu "Wahrheit" ist eine kleine Verhexung des Verstandes durch die Grammatik. Wahrheit gibt es wie beispielsweise Grün nicht isoliert.
Oder etwas anders ausgedrückt: Wir sind uns wohl alle hier einig, dass der späte Wittgenstein seinen Tractatus mit Recht verworfen hat. Wahrheiten gibt es viele, und es wird wohl schwer sein, etwas zu finden, was ihnen allen gemeinsam zukommt. Drum befindet sich der im Fliegenglas, der sich allzutief in die Frage nach "der Wahrheit" verbohrt.

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie, wenn ich es richtig verstanden habe, geht lediglich davon aus, dass unsere geistigen Fähigkeiten ebenso das Produkt von Mutation und Selektion sind wie unsere körperlichen. Demnach wäre es geradezu erstaunlich, wenn wir zu endgültig wahren Aussagen gelangen könnten. Es reicht völlig aus, wenn die Verarbeitung von Input so erfolgt, dass der Output es ermöglicht Kinder großzuziehen. Philosophie wäre somit eine Anwendung von Fähigkeiten auf Probleme, zu deren Lösung diese nicht geschaffen wurden. Ich spiele z. B. öfters Tischtennis als dass ich mir über (allgemeine, abstrakte) WAHRHEIT den Kopf zerbreche, obwohl sich die menschliche Hand sicherlich nicht entwickelt hat, um einen kleinen Zelluloidball hin und her zu schlagen. :-)



Zitat:

Dann wäre die ET nur eine Aussendung von Signalen mithilfe reflexhafter Körperbewegungen zu den und den biologischen Zwecken... Und statt den BEGRÜNDUNGSVERFAHREN, die diese Signale in den Rang einer wahren Theorie erheben, allzu viel Beachtung zu schenken, warten wir einfach mal ab, ob sich ihre Vertreter im Kampf ums Dasein bewähren. Überleben sie, muss an der Theorie was dran gewesen sein; sterben sie aus, war sie Schrott...  
Aber so argumentiert natürlich kein Biologe.



Je nachdem wie der erste Satz gemeint ist, argumentiert so vielleicht doch ein Biologe. Der Teil nach den Pünktchen ist natürlich Unsinn, da sind wir uns einig, denn Überleben und Aussterben sind ja keine monokausalen Ereignisse. Ich meine halt nach wie vor, dass Sprache auch nichts prinzipiell anderes ist als die restliche Motorik. Auch die hat Theorien, wenn man so will: Für eine intendierte Bewegung werden die Inputs auf bestimmte (z. T. ererbte, z. T. erlernte) Weise zu einem Output verrechnet. Ist die Theorie falsch bzw. für eine bestimmte Situation unvollständig, fällt der Affe vom Baum und hat keine Nachkommen. Dennoch kann es passieren, dass die besten Kletterer aussterben und die Stümper überleben, vielleicht weil sie am Boden bleiben. Wenn ich bedenke, was eine Katze alles NICHT kann und welche Zusammenhänge sie alle NICHT kapiert! Dennoch haben Katzen bis heute überlebt und die Neanderthaler mit den nach wissenschaftlichen Kriterien sicherlich besseren Theorien sind weg.



Zitat:

Kurz: Die evolutionsbiologische "Erkenntnistheorie" gilt nur, wenn ihre Vertreter von ihr ausgenommen bleiben.  



Das verstehe ich nicht. Könntest Du das noch mal etwas ausführlicher begründen?

Freundliche Grüße
Thomas

- III
- Eberhard am Gestern, 06:47 Uhr

Hallo allerseits,

ich glaube, wir sind uns einig darüber, dass Sätze als nach grammatischen Regeln geordnete Folge von Wörtern verschiedene Bedeutungen haben können, und dass sie in der einen Bedeutung wahr sein können und in der anderen falsch.

Wenn derselbe Satz jedoch zugleich wahr und falsch ist, kann er keine Frage mehr beantworten. Wenn der Satz "Heute hat es geregnet" zugleich wahr ist (In Stuttgart hat es heute geregnet) und falsch (in Leipzig hat es heute nicht geregnet) lautet die Antwort auf die  Frage: "Hat es heute geregnet?" "Ja und nein".  

Wir sollten deshalb nicht den Sätzen im engeren Sinne (den Folgen von Wörtern) Wahrheitswerte zuschreiben, sondern Sätzen verbunden mit bestimmten Bedeutungen. Hermeneuticus hat hierfür als Bezeichnung "Behauptung" vorgeschlagen.

In dieser Terminologie hieße unser Thema jetzt: "Was meinen wir, wenn wir eine Behauptung als 'wahr' bezeichnen?" Dabei beschränken wir uns auf solche Behauptungen, die aussagen, wie die Welt (als Gesamtheit alles Wirklichen) beschaffen ist.

Einverstanden?

fragt Euch Eberhard.

- III
- gershwin am Gestern, 06:50 Uhr

Hi Eberhard

Du hast Recht, aber das hatte ich in meinem ersten Beitrag doch angeschnitten. Die Zuschreibung "wahr" ist NUR DESHALB nötig, weil wir als soziale Wesen mit Irrtum oder Betrug rechnen müssen. Mir erscheint auch die Frage: "Was ist Unwahrheit?" viel sinnvoller als die nach der Wahrheit, aber damit verliert sie natürlich ein wenig an Suggestivkraft und Erhabenheit (die Frage meine ich).

Du fragst nach einem Kriterium für den Geltungsanspruch. Meinst Du damit eine Art Algorithmus? Oder befriedigt Dich folgende Antwort: Die Aussage: "Schnee ist weiß" ist dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist.  :-)

Es sieht nicht so aus, als ob man sich jemals auf allgemein anerkannte Kriterien einigen könnte. Einer der Gründe: Weil es in diesem Fall wohl niemals eine Definitionsmacht geben wird, die ihre Ansprüche durchsetzen kann. Mir beispielsweise erscheinen so ziemlich alle Aussagen im Zusammenhang mit Offenbarungsreligionen schwachsinnig, anderen sind sie umgekehrt die tiefste Wahrheit. Da erscheint eine Verständigung unmöglich.
Wissenschaftler unter sich haben es da leichter, weil sie sich auf Verfahren geeinigt haben, die Wahr-Zuschreibung zu vergeben. Und bei der Wahl dieser Verfahren ging man rein pragmatisch vor. (Gäbe es einen Hellseher, dessen Vorhersagen immer eintreffen, würde man irgendwann einmal auch seinen Aussagen das Attribut wahr zuschreiben.) Aber obwohl Wissenschaftler ja in erster Linie ein gemeinsames Ziel verfolgen, wirken auch hier mehr oder weniger mächtig Partikularinteressen. Interessant sind z. B. die z. T. stark divergierenden Ratschläge von ausgewiesenen Ernährungsfachleuten bei gleichem Zugang zu mittlerweile riesigen Datenmengen.
Drum könnte man es auch so sagen: Wer eine Aussage als wahr bezeichnet, hat entweder konkrete Gründe dafür (die vielschichtiger Natur sein können) oder schlicht keine interessante Alternative, die ihn veranlassen könnte, die Aussage in Frage zu stellen.

Freundliche Grüße
Thomas

- III
- jacopo_belbo am Gestern, 08:19 Uhr

hallo alle zusammen :)

es hat sich ja doch einiges getan in letzter zeit.
ich hoffe, ich kann das noch aufarbeiten *g*

ich fange zunächsteinmal, weils mir am einfachsten erscheint, hinten an.

@gershwin
du schreibst
Zitat:

Die Zuschreibung "wahr" ist NUR DESHALB nötig, weil wir als soziale Wesen mit Irrtum oder Betrug rechnen müssen. Mir erscheint auch die Frage: "Was ist Unwahrheit?" viel sinnvoller als die nach der Wahrheit, aber damit verliert sie natürlich ein wenig an Suggestivkraft und Erhabenheit (die Frage meine ich).


damit sprichst du in meinen augen nur einen begrenzeten bereich für die verwendung von des wortes "wahr" an. es ist die, wie ich schon einige beiträge vorher erläutert habe, persuasive verwendung. indem ich etwas als wahr deklariere, bezwecke ich, mein gegenüber zu einer gewissen handlung zu veranlassen. in dem fall fällt die behandlung der frage, was wahrheit ist, unter die ideologiekritik. wahr ist, was jemand für wahr hält, und wovon er andere zu überzeugen versucht.

Zitat:

Die Aussage: "Schnee ist weiß" ist dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist.

das ist eine zuverlässige definition für wahrheit. und ich denke, dass wir uns in jedem falle auf sie berufen können.

Zitat:

Wer eine Aussage als wahr bezeichnet, hat entweder konkrete Gründe dafür (die vielschichtiger Natur sein können) oder schlicht keine interessante Alternative, die ihn veranlassen könnte, die Aussage in Frage zu stellen.

aus rhetorischer sicht stimme ich dem zu.

an anderer stelle schreibst du
Zitat:

Wir sind uns wohl alle hier einig, dass der späte Wittgenstein seinen Tractatus mit Recht verworfen hat. Wahrheiten gibt es viele, und es wird wohl schwer sein, etwas zu finden, was ihnen allen gemeinsam zukommt. Drum befindet sich der im Fliegenglas, der sich allzutief in die Frage nach "der Wahrheit" verbohrt.


ob der späte wittgenstein seinen "tractatus" verworfen hat, ist gegenstand von fachdiskussionen - und ich glaube nicht eindeutig zu beantworten. ein wirkliches problem habe ich mit deiner formulierung "wahrheiten gibt es viele". wenn du damit meinst, dass es viele arten von wahren sätzen gibt, so stimme ich dem zu. aber wieso sollte es viele wahrheiten geben. wenn ich sage, "ich habe mir neue schuhe gekauft", so denke ich ist das -im falle, dass ich nicht gelogen habe- ein wahrer satz. und dieser satz ist auch entscheidbar wahr oder falsch. und ich wüßte nicht, inwiefern ich mich auf mehrere wahrheiten beziehe, als auf die eine, nämlich, dass ich schuhe gekauft habe. wahre sätze gibt es viele. und meinungen, die leute für wahr halten sind zahllos - dagegen gibts nur einmal.

Zitat:

Demnach wäre es geradezu erstaunlich, wenn wir zu endgültig wahren Aussagen gelangen könnten.


ich denke, da machst du es dir ein wenig zu einfach.
wir sollten unterscheiden zwischen der wahrheit und der meinung über einen sachverhalt, er sei wahr. wenn wir davon ausgehen, dass sich e.g. naturwissenschaftliche theorien als falsch erweisen -dass sie fallibel sind- läßt das keinen Schluss darauf zu, sie seien niemals wahr. schlimmstenfalls sind sie wahr, und wir wissen es nicht :)

@eberhard

Zitat:

Wenn derselbe Satz jedoch zugleich wahr und falsch ist, kann er keine Frage mehr beantworten. Wenn der Satz "Heute hat es geregnet" zugleich wahr ist (In Stuttgart hat es heute geregnet) und falsch (in Leipzig hat es heute nicht geregnet) lautet die Antwort auf die  Frage: "Hat es heute geregnet?" "Ja und nein".  


ich denke nicht, dass es so ist, wie du es darstellst.
wenn mich jemand fragt, "hat es heute geregnet?", so werde ich entweder mit ja oder nein antworten - gehen wir einmal vom affirmativen fall aus. wann wird dieser satz wahr? nur dann, wenn es heute geregnet hat. unabhängig davon, ob es in stuttgart geregnet hat, und in kairo nicht. das was der satz aussagt trifft zu.
der satz ist -auch in seiner allgemeinheit- entscheidbar.
fragt mich jemand, ob es heute hier geregnet hat, so kann auch dieser satz eindeutig entschieden werden. denn entweder es hat heute hier geregnet, oder nicht.
wenn wir den satz außerhalb jeglichen kontextes betrachten kommen wir dazu, dass der satz "heute hat es geregnet" an einem tag affirmativ beantwortet wird - und deshalb wahr ist, oder dass er negativ beantwortet wird, und deshalb falsch ist. ich sehe keine probleme in der behandlung dieser sätze.
zur terminologie:
im allgemeinen bezieht man sich auf "aussagesätze", "satzaussagen" bzw. "propositionen". ich bin stillschwiegend davon ausgegangen, dass wir uns bei "sätzen" per synekdoche auf aussagesätze beziehen.

@hermeneuticus

Zitat:

Das PROBLEM der intertemporalen Geltung von Behauptungen stellt sich wohl nur in Begründungsdiksursen, und nur dann, wenn mit solchen Behauptungen auch tatsächlich intertemporale Geltungs-ANSRPÜCHE verknüpft sind. Das ist etwa bei Prognosen so.


meine rede :]
wenn ich davon rede, dass die sonne scheint, rede ich davon das die sonne scheint. wenn ich davon rede, dass die sonne heute scheint rede ich davon, dass die sonne heute scheint. und ich meine stets das, was ich sage, und nichts anderes.

Zitat:

Der Gebrauch des Wortes "wahr" ist eben "eine Familie von Fällen". Es besteht kein Grund, die ganze Familie auf ein und denselben Gebrauch zu verpflichten.


sic!

- mfg thomas

- III
- Eberhard am Gestern, 10:17 Uhr

Hallo allerseits,

warum stelle ich die Frage, ob eine Behauptung über die Welt wahr ist?

Nehmen wir ein Beispiel. Ich will nach A-Dorf wandern. Auf dem Weg dahin komme ich an eine Wegegabelung. (Der Wegweiser ist von unangenehmen Zeitgenossen zerstört worden.) Soll ich nun den linken Weg gehen oder den rechten Weg? Wenn ich bloß wüsste, welcher Weg (direkt) nach A-Dorf führt.

Ich frage einen vorbeikommenden Wanderer und bekomme zur Antwort: "Der linke Weg führt nach A-Dorf". Zur Sicherheit frage ich noch einen zweiten Wanderer. Der sagt: "Der rechte Weg führt nach A-Dorf." Welche der beiden Behauptungen ist nun wahr?

(Wenn ein dritter Wanderer auf meine Frage antworten würde: "Der linke Weg führt nach A-Dorf oder auch nicht", dann wäre diese Behauptung zwar wahr, würde aber meine Frage nicht beantworten können, da sie keinerlei Informationen über die Welt enthält und mit jeder beliebigen Beschaffenheit der Welt vereinbar wäre. Wir suchen also nicht wahre Behauptungen als solche, sondern wahre Behauptungen als richtige Antworten auf die Fragen, die uns wichtig sind.)

Wenn ich weiß, welche der beiden Behauptungen über den Weg nach A-Dorf wahr ist, dann kann ich mein Ziel A-Dorf bis zum Hereinbrechen der Dunkelheit erreichen und kann vermeiden, nach langen Umwegen spät in der Nacht dort anzukommen.

Allgemein formuliert: Wenn ich meinem Denken und Handeln wahre Behauptungen zugrunde lege, kann ich eher das verwirklichen, was ich will und das vermeiden, was ich nicht will.

Wenn ich weiß, welche Behauptung wahr ist, dann kenne ich die Folgen meiner Handlungen und Unterlassungen, ich weiß, "was mich erwartet", ich werde von den eintretenden Ereignissen nicht überrascht. Wenn ich meinem Handeln und Unterlassen wahre Behauptungen zugrunde lege, dann kann ich mich auf diese insofern verlassen, als es keinen Grund gibt, sie durch andere Behauptungen zu ersetzen, sie "bewähren" sich, sie sind über die Zeit (intertemporal) stabil.

Es lohnt sich also, wahre von falschen Behauptungen unterscheiden zu können. Die Frage nach dem Kriterium für die Wahrheit von Behauptungen über die Welt ist kein philosophisches Glasperlenspiel.

Als allerletztes noch ein Beispiel zum Verhältnis von Wahrheit und Handeln. Ein Physiker sieht über der Haustür seines Kollegen ein angenageltes Hufeisen. Er fragt erstaunt: "Ja glaubst Du denn an den Aberglauben, dass ein Hufeisen Glück bringt?" Der Kollege antwortet: "Wenn es wahr ist, dass ein Hufeisen Glück bringt, dann ist es doch in Ordnung, wenn es  nicht wahr ist, dann schadet es auch nichts."

Es grüßt Euch Eberhard.

- III
- jacopo_belbo am Gestern, 11:53 Uhr

hallo,


Zitat:

Es lohnt sich also, wahre von falschen Behauptungen unterscheiden zu können. Die Frage nach dem Kriterium für die Wahrheit von Behauptungen über die Welt ist kein philosophisches Glasperlenspiel.



umgekehrt stellt sich die frage, ob a) skeptizismus ein philosophisches glasperlenspiel ist bzw. b) ob "wahrheitspluralismus" nicht am eigentlichen thema vorbeigeht.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am Gestern, 12:57 Uhr

Hallo Thomas/g!

Deine Antwort auf den Vorwurf der unscharfen Trennung von "biologischer" und "kultureller" Evolution geht auf mein Argument nicht ein.

Ich verwies darauf, dass Menschen das Prinzip der natürlichen Selektion mithilfe technischer Errungenschaften für sich außer Kraft setzen. Technik setzt sie in den Stand,  Umwelteinflüsse zu entschärfen oder zu beherrschen, die unbeherrscht zu ihrem Aussterben führen würden. Diese Naturbeherrschung geht inzwischen so weit, dass wir an vielen Orten der Welt in einer "künstlichen" Umwelt leben, in der Lebensgefahr fast nur noch von Menschen und menschlicher Technik ausgeht.
Eine Evolution aber, in der das Prinzip der natürlichen Selektion nicht wirkt, kann schlecht als eine - leicht modifizierte - Verlängerung der biologischen Evolution betrachtet werden.
Denn die beiden tragenden Prinzipien der biologischen Evolution sind (zufällige, also nicht zielgerichtete) Mutation und Selektion. Nun ist Technik einerseits kein Produkt von ziellosen Regungen (wie es Mutationen sind), sondern von zweckmäßiger, zielgerichteter Konstruktion. Und zugleich ist die Beherrschung von schädlichen - also "natürlich selektiven" - Umwelteinflüssen ein wichtiger, von Menschen gesetzter Zweck von Technik.

Mir ist schwer begreiflich, wie man dieses, der biologischen Evolution geradezu entgegengesetzte Prinzip der Technik (oder Kultur) quasi als einen Sonderfall von biologischer Evolution glaubt angemessen verstehen zu können. Dazu bedarf es entweder erheblicher Begriffsverbiegungen oder eines willkürlich-selektiven Blicks auf die Fakten (um es freundlich zu sagen...).



Zitat:

Eine solche Formulierung impliziert doch...


Nein, sie impliziert ganz einfach, dass wissenschaftliche Aussagen nicht darauf verzichten können, zwischen "wahr" und "unwahr" zu unterscheiden und diesen Unterschied nachvollziehbar zu begründen.

Gibt es zwischen den folgenden Behauptungen einen relevanten Unterschied, der keine Frage des persönlichen Geschmacks, der emotionalen Gestimmtheit oder anders motivierten Beliebens ist? Kann man verbindlich feststellen und begründen, welche von diesen beiden Aussagen Teil eines biologischen Lehrbuchs sein könnte und welche nicht?

a) Darwins Abstammungslehre bestätigte empirisch den biblischen Schöpfungsbericht.

b) Darwins Abstammungslehre erwies empirisch, dass der biblische Schöpfungsbericht nur ein Mythos ist.

Wenn Du meinst, es gebe keine verbindlichen, das heißt: NACHVOLLZIEHABREN Kriterien für eine Bantwortung der Frage, dann lohnt sich unsere weitere Diskussion nicht.

Aber ich denke doch, dass Du, als Anhänger der ET, Aussage a) als eindeutig falsch zurückweisen wirst. Und wenn Du Dich darauf besinnst, welcher Art die Kriterien und Gründe Deines Urteils sind, dann hast Du auch einen (Vor-)Begriff von "wissenschaftlicher Wahrheit".

Und dann frage Dich, ob DIESER Wahrheitsbegriff derselbe ist, den Du in Deinem Eröffnungsbeitrag vorgestellt hast.

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am Gestern, 13:52 Uhr

hi,

über den punkt, dass menschliche sprache im verhältnis zu anderen kommunikationssystemen in der natur, ein überaus elaborierter code ist, brauchen wir, denke ich, nicht zu diskutieren. und das "wahrheit" ein wort unter vielen anderen ist, dürfte auch klar sein. allerdings unterhalten wir uns über die semantik bzw. die pragmatik.

bevor wir fortfahren uns mit der evolutionstheorie und
Zitat:

eine (an der ET orientierte) pragmatische Bedeutungstheorie.

auseinanderzusetzen, sollten wir die thematik ein wenig zuspitzen:

was sagt uns konkret eine an der ET ausgerichtete erkenntnistheorie über wahrheit? was ist für den evolotionstheoretiker wahrheit? ist es das für das überleben nützliche? und wenn ja, woran erkennt man, dass etwas in der gegenwart für das überleben nützlich ist?

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am Gestern, 14:48 Uhr

Hallo Eberhard!

Auf die Gefahr hin, als Querulant zu erscheinen, möchte ich doch einen Einwand gegen Deine Formulierung des Themas erheben... :-)


Zitat:

In dieser Terminologie hieße unser Thema jetzt: "Was meinen wir, wenn wir eine Behauptung als 'wahr' bezeichnen?" Dabei beschränken wir uns auf solche Behauptungen, die aussagen, wie die Welt (als Gesamtheit alles Wirklichen) beschaffen ist.


Was mich hier stört - und was mich eigentlich seit meinem Eintritt in diese Diskussion (am 25.9.) gestört hat - ist der Umstand, dass Du "die Welt" oder "die Beschaffenheit der Welt" immer schon in der Formulierung der Wahrheitsfrage voraussetzt. Genauer: Behauptungen/Aussagen sind in Deiner Formulierung schon vorsortiert; es muss schon gewusst werden, von welcher Art Behauptungen sind, die sich auf "die Welt" oder "die Wirklichkeit" und ihre Beschaffenheit beziehen und welche nicht.
Mir scheint es aber eine nicht-triviale Frage zu sein, woher man das ALLGEMEIN wissen kann.

Was macht, dass eine bestimmte Behauptung sich auf die Wirklichkeit bezieht  - statt nur von Wortbedeutungen oder persönlichen Wünschen oder Ansichten oder Vorlieben zu sprechen?
Ist es nicht vielmehr so, dass es von der Wahrheit einer Behauptung - d. h. von der Erfüllung irgendwie bestimmbarer Kriterien ABHÄNGT, ob sie sich auf "die Welt" bezieht oder nur auf die individuellen Ansichten ihres Sprechers?

Denken wir an den Fall, dass jemand eine bestimmte Behauptung über die Wirklichkeit als "wahr" voraussetzt. Nun stößt ihm eine Erfahrung zu, die diese "Übereinstimmung der Behauptung mit der Wirklichkeit" widerlegt. Klar, es stellt sich heraus, seine Annahme war falsch. Aber das bedeutet ja, dass es gar keine Aussage über die Wirklichkeit war. Die Konfrontation dieser Behauptung mit einer neuen Erfahrung biegt diese Behauptung gewissermaßen zurück: Es handelte sich nur um die Äußerung einer persönlichen Ansicht. Obwohl also die Aussage auf die Wirklichkeit "zielte", verweist die Konfrontation mit der neuen Erfahrung diese Aussage an den Sprecher zurück.  

Lässt es sich also im voraus entscheiden, was eine Aussage über die Wirklichkeit ist? Oder lässt sich im voraus nur entscheiden, wann eine Aussage auf die Wirklichkeit "zielt" - wobei noch offen bleibt, ob sie ihr Ziel auch erreicht? Und: Hängt es nicht von der Erfüllung bestimmter Kriterien ab - der Wahrheitskriterien nämlich -, ob eine auf die Wirklichkeit zielende Behauptung dieses Ziel auch erreicht?

Wenn es sich aber so verhielte, dann wäre "die Gesamtheit alles Wirklichen" ein PROBLEMATISCHER Begriff, dessen Referenten man nicht als bekannt oder gegeben voraussetzen kann. Vielmehr müsste man sagen, dass "die Gesamtheit alles Wirklichen" jener Wissensbestand sei, der den (bzw. einer bestimmten Art von) Wahrheitskriterien standgehalten hat.



Zur Frage, ob man einer Behauptung IM VORAUS ansehen kann, ob sie eine Behauptung über die Wirklichkeit ist, dieses Beispiel, das ich früher schon einmal angeführt habe: "Wasser kocht bei 100 Grad C."

Ist das eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit?



Gruß
H.

- III
- gershwin am Gestern, 15:28 Uhr

Hi der Thomas

Du sagst: "Ich habe mir neue Schuhe gekauft. Und das ist die Wahrheit."

Sprache ist ja nur als soziales Phänomen zu verstehen. Allein für Dich selbst würde der Zusatz ja gar keinen Sinn machen. Sprache ist ein Medium, mit dessen Hilfe wir uns gegenseitig Erfahrungen mitteilen können, so dass wir evt. tödliche Fehler von Artgenossen vermeiden können, etwa einen giftigen Pilz essen. Nun müssen wir uns in der Evolution

1. nicht nur gemeinsam als Art gegen eine feindliche Umwelt behaupten. Hier ist Sprache quasi eine Waffe für uns alle: etwa wenn mir ein Artgenosse mitteilt: B meinte grad folgendes, aber das ist ein Irrtum (also die Unwahrheit) weil... Wir können so also, nach einem berühmten Popper-Wort, unsere Hypothesen sterben lassen, statt uns selbst.

2. sondern auch im Kampf gegen Artgenossen. Hier kommt die Lüge ins Spiel ...und ein verbündeter Artgenosse, der mir mitteilt: B meinte grad folgendes, aber er lügt (sagt die Unwahrheit), paß auf...

Also: Du als Sprecher weißt natürlich, dass es die Wahrheit ist, dass Du Dir neue Schuhe gekauft hast (völlig abgedrehte Einwände mit einem Dämon, der Dich täuscht, der Möglichkeit, dass Du das geträumt hast oder so was lassen wir mal außen vor). Aber ich kann das nicht wissen. Vielleicht hast Du sie geklaut (nichts für ungut. :-)) Da kann es schon nützlich für mich sein, wenn mich ein Dritter warnt mit der Bemerkung: Paß auf, er lügt (spricht die Unwahrheit).

Ich bin jetzt mal ne Woche weg, versuche aber, von nem anderen PC aus auf die anderen Beiträge einzugehen.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas

- III
- Hermeneuticus am Gestern, 15:56 Uhr

Hallo Thomas/j!

Vor allem die letzte dieser Fragen ist eine "gute Frage" :


Zitat:

was ist für den evolutionstheoretiker wahrheit? ist es das für das überleben nützliche? und wenn ja, woran erkennt man, dass etwas in der gegenwart für das überleben nützlich ist?


Denn beim Suchen nach einer Antwort darauf wird deutlich, dass über die Wahrheit von wissenschaftlichen Theorien nicht so ohne weiteres anhand dieses Kriteriums entschieden werden kann. Man wird, da wir die Zukunft nur in Hypothesen antizipieren können, einstweilen andere Kriterien brauchen, um über die Wahrheit von Behauptungen HIER UND JETZT entscheiden zu können.

Außerdem: Es gibt heute noch Kulturen, die über kein Wissen verfügen, das nur entfernt wissenschaftlichen Standards genügte. Nehmen wir etwa die "Buschmänner" der Kalahari oder gewisse Dschungelkulturen in Afrika und Südamerika. Ihr Wissen muss zum Überleben durch Jahrzehntausende vollauf genügt haben, sonst gäbe es sie gar nicht mehr. Und da fragt es sich, ob wissenschaftliches Wissen im Sinne der europäischen Neuzeit, evolutionsbiologisch gesehen, nicht ein reiner Luxus ist.

Aus dieser Überlegung wird erkennbar: Biologische Kriterien sind untauglich, um INNERKULTURELL über "wahr" und "unwahr" zu entscheiden. Und sie sind erst recht untauglich, um damit über Wahrheit im transkulturellen Vergleich zu entscheiden. Denn jede Kultur, die heute noch existiert, hat MIT IHREN MITTELN überlebt. (Bei den untergegangenen Kulturen wäre zu fragen, ob ihre Überlebenstechniken an der Natur gescheitert sind oder am Kontakt mit anderen Kulturen.)



Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am Gestern, 16:08 Uhr

hallo miteinand' ;)

@gershwin
ich hoffe, du machst ne woche urlaub *g*


Zitat:

Du als Sprecher weißt natürlich, dass es die Wahrheit ist, dass Du Dir neue Schuhe gekauft hast


damit sehen wir uns der problematik gegenüber, die ich in meinen vorigen beiträgen angesprochen habe:
wir haben eine wahrheit, und viele aussagen. manche sind wahr, manche nicht. und wenn ich von der wahrheit weiß, versuche ich mein gegenüber davon zu überzeugen - das hat aber mit der eigentlichen wahrheit nichts zu tun.

@hermeneuticus

Zitat:

Was macht, dass eine bestimmte Behauptung sich auf die Wirklichkeit bezieht


ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit bezieht sich auf die beschaffenheit der wirklichkeit. ein satz der ethik bezieht sich auf eine bewertung der wirklichkeit.


Zitat:

es muss schon gewusst werden, von welcher Art Behauptungen sind, die sich auf "die Welt" oder "die Wirklichkeit" und ihre Beschaffenheit beziehen und welche nicht.


er sich mit mathematischen sätzen beschäftigt, muss von vornherein wissen, ob ein satz ein mathematischer ist, oder nicht.


Zitat:

Klar, es stellt sich heraus, seine Annahme war falsch. Aber das bedeutet ja, dass es gar keine Aussage über die Wirklichkeit war.


nicht das kind mit dem bade ausschütten :]
nach wie vor ist es ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit - aber eben ein falscher (ähnlich: "die zahl der planeten in unserem sonnensystem ist 11" ).


Zitat:

" Wasser kocht bei 100 Grad C."  
Ist das eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit?


aber sicher doch. warum denn nicht? ob er immer zutrifft,hängt - wie du auch schon angedeutet hast, von vielen kriterien (reinheit des wassers, luftdruck etc.) ab. nur weil ein satz falsch ist, bezieht er sich dennoch auf die wirklichkeit.

- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am Gestern, 16:55 Uhr

Hallo Thomas/j!


Zitat:

ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit bezieht sich auf die beschaffenheit wirklichkeit. ein satz der ethik bezieht sich auf eine bewertung der wirklichkeit.


Dein erster Satz ist eine Tautologie, wenn Du - im Sinne einer erkenntniskritischen Rekonstruktion - keine allgemeinen Kriterien für "Beschaffenheit der Wirklichkeit" angibst.
Eine erkenntniskritische Rekonstruktion klärt, wie Wissen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ÜBERHAUPT möglich ist.

Vor die Frage gestellt, wieso Du von der Wirklichkeit überhaupt etwas wissen kannst, ist es keine Antwort, wenn Du sagst: "Weil ich es eben kann."

Was bedeutet es (für Aussagen): "sich auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit BEZIEHEN" ?

Gruß
H.

- III
- jacopo_belbo am Gestern, 17:23 Uhr

hallo hermeneuticus,


Zitat:

Vor die Frage gestellt, wieso Du von der Wirklichkeit überhaupt etwas wissen kannst, ist es keine Antwort, wenn Du sagst: "Weil ich es eben kann."


genau so sieht es aber aus; und ich dachte, das sei unter hermeneutikern keine neuigkeit mehr.
wenn wir fragen, warum wir sehen können, so können wir antworten, dass wir mit unseren augen sehen. wir können erklären, wie unser auge beschaffen ist, wie unsere umwelt beschaffen ist; das alles läßt sich auch subsummieren unter "weil ich es eben kann".
das nennt man -nach gadamer/mit heidegger- einen hermeneutischen zirkel.
wir können sätze über die welt formulieren, weil wir eben dazu in der lage sind. die zeiten einer transzendentalen deduktion sind vorbei :]

Zitat:

Dein erster Satz ist eine Tautologie, wenn Du - im Sinne einer erkenntniskritischen Rekonstruktion - keine allgemeinen Kriterien für "Beschaffenheit der Wirklichkeit" angibst.


wahre sätze über die wirklichkeit handeln davon, was der fall ist. das ist weniger eine tautologie als vielmehr eine deflationistische definition.
welche kriterien würdest du denn ansetzen, um zu rekonstruieren, was sätze über die beschaffenheit der wirklichkeit aussagen? ich meine, die formulierung ist genauso tautologisch wie die, dass mathematische sätze von mathematischen sachverhalten handeln.

Zitat:

Was bedeutet es (für Aussagen): "sich auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit BEZIEHEN" ?


dass sie uns z. B. über die materialen eigenschaften der welt aufSchluss geben. zufrieden?
- mfg thomas

- III
- Hermeneuticus am Heute, 00:38 Uhr

Hallo Thomas!


on 11/29/04 um 17:23:38, jacopo_belbo wrote:

das nennt man -nach gadamer/mit heidegger- einen hermeneutischen zirkel.


Da sitzt Du einem Missverständnis auf.


Zitat:

wir können sätze über die welt formulieren, weil wir eben dazu in der lage sind. die zeiten einer transzendentalen deduktion sind vorbei.


Wenn Du dazu übergehst, einfach hoheitlich zu bestimmen, was der Fall ist, erübrigt sich eine philosophische Diskussion, in der es um rationale, d. h. nachvollziehbare Begründungen geht.


Zitat:

wahre sätze über die wirklichkeit handeln davon, was der fall ist. das ist weniger eine tautologie als vielmehr eine deflationistische definition.


Was eine "deflationistische Wirtschaftspolitik" ist, bringe ich vielleicht noch zusammen. Bei einer ebensolchen Definition muss ich passen.

Wer stellt übrigens verbindlich fest, was "der Fall ist" ?



Zitat:

dass sie uns z. B. über die materialen eigenschaften der welt aufSchluss geben. zufrieden?


Es geht nicht darum, ob ich zufrieden mit Dir bin. :-)

Mich würde aber interessieren, ob Du als denkendes, handelndes Wesen in Deinem eigenen Weltbild unterzubringen bist. Nach einigen Deiner bisherigen Auskünfte scheint das nicht so zu sein. Und das ist typisch für "naturalistische" Weltbilder: Die Personen, die solche Weltbilder entwerfen und begründen, erklären sich selbst zu extramundanen Wesen. Sie können als das, was sie - ihren Handlungen nach - unmittelbar sind, kein "Fall" in ihrer Welt sein.

Du musst es ja nicht genauso sehen (ja, Du scheinst, Deinem Diskussionsverhalten nach, regelrecht BESCHLOSSEN zu haben, solche Argumente gar nicht erst zu verstehen...) - aber ich sehe darin eine schwerwiegende Inkonsistenz. Eine Inkonsistenz, wenn Du mir diesen Ausrutscher ins Psychologische gestattest, die einen gewissen touch von heroischer Selbstverleugnung, von  männlichem Vorsatz zum "nüchternen Realismus" hat... Die Welt der Naturwissenschaft ist halt nix für softies...

Aber das ist natürlich kein Argument. :-)

Gruß
H.

- III
- Dyade am Heute, 09:02 Uhr

... das grünblaue Heideluftstielzchen ist eine kleine Wiesenpflanze, die nur im Herbst blüht. Das besondere am grünblauen Heideluftstielzchen ist:

es hat einen grünblauen Stiel
blauleuchtende Blätter mit feiner Aderung
einen weißen Blüthenkelch

bemerkenswert ist, das das grünblaue Heideluftstielzchen noch nie von einem menschlichen Auge erblickt wurde. Immer wenn wir es sehen, verwandelt es sich in eine normale Butterblume ...

- III
- jacopo_belbo am Heute, 09:58 Uhr

hallo hermeneuticus,

schön, dass du mich darüber informierst, dass ich einem "missverständnis aufgesessen bin", aber leider nicht erklärst, worin dieses missverständnis besteht.
es wäre wenig sinnvoll jetzt in die tiefen der heideggerschen daseinshermeneutik einzusteigen, und uns gadamers "hermeneutischen" zirkel in extensio zu widmen. aber ich denke, wir können festhalten, dass die grundverfassung von heideggers "dasein" im "in-der-welt" sein besteht, und gadamers hermeneutischer zirkel darauf beruht, dass bei jedem verstehen unser vorverständnis eine wichtige rolle spielt.
angewandt auf unser problem:
wir stehen schon je in verbindung mit der welt, wir sind vertraut mit ihr, weil wir ein teil von ihr sind. ob wir das nun biologistisch/naturalistisch oder philosophisch/hermeneutisch betrachten ist dabei nebensache. das subjekt ist als subjekt teil der objektiven welt.
dass das dem grundgedanken kants widerspricht, der seine philosophie im transzendentalen subjekt verankert, das quasi über die welt erhaben ist, mag sein. aber das ist eine wende in der philosophie, die man nicht unbeachtet lassen sollte.
wir können die welt nicht aus einem (absoluten) subjekt heraus begründen, ohne uns in widersprüche zu verwickeln. wir sind immer schon -ich werde einmal ein wenig heideggerianisch- befangen in unserem verständnis von der welt. wir bringen schon ein gewisses vorverständnis mit. wir sind - mit maurice merleau-ponty - immer schon "zur welt" angelegt. dieser zirkel ist grundlage unseres weltverständnisses. an die stelle des zirkels kann keine sinnvolle begründung treten. deshalb sagte ich auch, dass wir sätze über die welt formulieren können, eben weil wir dazu in der lage sind.

und das ist auch keine "hoheitliche" bestimmung, sondern das ist eine tatsache oder sagen wir besser, das ist -mit heidegger- unser "geworfensein" unsere" faktizität".
es ist erstaunlich, dass du dich als hermeneuticus so wenig auf die hermeneutische tradition beziehst.


Zitat:

Was eine "deflationistische Wirtschaftspolitik" ist, bringe ich vielleicht noch zusammen. Bei einer ebensolchen Definition muss ich passen.



Zitat:

h.j.glock: Ich plädiere für eine größere Kontinuität im Denken des frühen und späten Wittgenstein im Gegensatz zu den Interpreten, die denken, der frühe Wittgenstein sei ein Realist und habe eine Korrespondenztheorie, und der späte Wittgenstein hingegen sei ein Antirealist, er habe eine Kohärenztheorie oder eine pragmatische Theorie. Die Idee der Abbildung bleibt im Spätwerk nicht bestehen. Was aber bestehen bleibt, ist die Idee, dass es zwei Elemente braucht, um die Wahrheit   eines Satzes zu erklären: wir brauchen ein semantisches Element, nämlich ein wahrer Satz muss sagen, dass sich etwas so und so verhält, und ein deflationäres Element, das man beim frühen Wittgenstein das Bestehenselement nennen würde, nämlich das, was der Satz sagt, ist auch der Fall. Die Dinge sind so, wie der Satz es sagt.

(http://www.information-philosophie.de/philosophie/wittgensteinwahrheit.html)
http://www.gavagai.de/themen/HHP68.htm (unter punkt 4: deflationistische wahrheitstheorien)


Zitat:

Mich würde aber interessieren, ob Du als denkendes, handelndes Wesen in Deinem eigenen Weltbild unterzubringen bist.


ich wüßte nicht, warum "ich" keinen platz in der welt haben sollte.

Zitat:

Die Personen, die solche Weltbilder entwerfen und begründen, erklären sich selbst zu extramundanen Wesen.


gerade das, habe ich ja versucht zu erklären, ist nicht der fall. ich bin ein -si licet dicendi- intramundanes wesen, welches die welt verstehen will - und zwar als ein fest in die welt eingebundenes wesen.

Zitat:

Die Welt der Naturwissenschaft ist halt nix für softies


auch wenn es sich um ein vorurteil letzter güte handelt, würde ich dir darin zustimmen - frei nach platos türbalken: »ageometretos medeis eisito« (=" keiner, der nichts von geometrie versteht, trete hier ein!" )

- mfg thomas

- III
- Eberhard am Heute, 10:42 Uhr

Hallo allerseits, hallo Thomas (J),

Soll man Sätze als wahr oder falsch bezeichnen?

Wenn man unter einem "Satz" eine grammatisch geordnete Folge von Wörtern versteht, dann kann ein und derselbe Satz verschiedene Bedeutungen haben, z. B. weil die Wörter, die in dem Satz verwendet werden, mehrdeutig sind. Der Satz "Sein Ton ist fest" bedeutet in der Töpferwerkstatt etwas anderes als beim Gesangslehrer.

Dadurch ist es möglich, dass der Satz in der einen Bedeutung wahr ist und in der anderen Bedeutung falsch ist. Wenn jedoch ein und derselbe Satz sowohl wahr wie falsch ist, besteht ein logischer Widerspruch.

Deshalb erscheint es mir als sinnvoll, das Wort "wahr" nicht auf den Satz im engeren Sinne zu beziehen sondern auf den Satz mit einer bestimmten Bedeutung.

Wenn man dies akzeptiert, ist es nicht zulässig, einen mehrdeutigen Satz als "wahr" oder "falsch" zu bezeichnen. Bevor ich die Frage beantworte, ob ein bestimmter Satz wahr ist, muss geklärt sein, welche Bedeutung des Satzes gemeint ist.

Wir bemühen uns deshalb um wahre Aussagen, weil wir Fragen haben, die wir richtig beantwortet haben wollen. Es ist jedoch nicht immer klar, wie eine Frage gemeint ist.

Wenn jemand fragt: "Hat es heute geregnet?" und es hat heute in Kairo geregnet, während in ganz Mitteleuropa kein einziger Tropfen gefallen ist, dann ist es eher eine Eulenspiegelei zu antworten: "Ja, es hat heute geregnet." Man hat dann die Frage im Sinne von "Hat es heute irgendwo geregnet?" interpretiert, da sie keine Ortsbestimmung enthielt.

Andererseits ist es zur Abkürzung der Sätze üblich, auf die Angabe von Ort und Zeit zu verzichten, wenn die Bestimmung "hier und jetzt" ist. Wenn ich zu vorgerückter Stunde den Kellner frage: "Bekomme ich noch ein Bier?" und er sagt: "Ja selbstverständlich", dann fühle ich mich missverstanden - wenn nicht an der Nase herumgeführt - wenn ich eine viertel Stunde warte und dann frage: "Wann bekomme ich mein Bier, Herr Ober?" und er antwortet: "Morgen bekommen sie wieder Bier."

Da in der Alltagssprache häufig das "Selbstverständliche" weggelassen wird, kann man die Frage "Ist diese Aussage wahr?" häufig erst nach Ausformulierung der Bedeutung sinnvoll stellen, es sei denn, man will die Spießbürger foppen, indem man sie "beim Wort" nimmt, so wie Eulenspiegel.

Es grüßt Euch Eberhard.

 

 

***


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