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PhilTalk-Diskussion
Wahrheit III
PhilTalk Philosophieforen
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Wahrheit III
(Thema begonnen von: Hermeneuticus am 13. Nov. 2004, 18:14 Uhr)
- III
- Hermeneuticus am 13. Nov. 2004, 18:14 Uhr
Liebe Wahrheitssucher! :-)
Die bisherige Diskussion blieb m.E. unbefriedigend, weil wir methodisch zu
ungeordnet vorgegangen sind. Zwar war der Diskussionsansatz "analytisch", aber
für meine Begriffe nicht analytisch genug...
Wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir den Gebrauch der Prädikate "wahr" oder "falsch" auf "Aussagen über die Wirklichkeit" beschränken (also
sprach-analytisch vorgehen) wollten. Das ist auch sinnvoll, weil man gewöhnlich "wahr" oder "unwahr" nur Aussagen oder Behauptungen nennt. Nachdem das so weit
geklärt war, kreiste fast die gesamte Diskussion in "Wahrheit II" um den Begriff
der Wirklichkeit, der dabei ja vorausgesetzt wird. Und es ist wohl leicht
einzusehen, dass wir mit einer Definition von Wahrheit als das "Zutreffen von
Aussagen über die Wirklichkeit" wenig anfangen können, wenn es unentscheidbar
oder gar beliebig bleibt, was wir mit "Wirklichkeit" meinen. Wenn jeder etwas
anderes darunter versteht, erübrigt sich auch der Wahrheitsbegriff.
Um das "Wirklichkeitsproblem" entscheidbar zu machen, schlage ich vor,
dass wir uns näher mit den Situationen beschäftigen, in denen man gewöhnlich den
Begriff der Wahrheit verwendet. Damit hätten wir den Wahrheitsbegriff von
vornherein in die WIRKLICHE PRAXIS eingebettet, in der Aussagen auf ihr
Zutreffen hin diskutiert werden, d. h. in denen man die Prädikate "wahr" oder "unwahr" TATSÄCHLICH GEBRAUCHT.
Es soll dabei keine Vorentscheidung über einen spezifischen,
fachgebundenen, wissenschaftlichen oder philosophischen Gebrauch getroffen sein.
Vielmehr soll es auch Thema sein, wie sich etwa ein lebensweltlicher Gebrauch
des Wahrheitsbegriffs zu einem wissenschaftlichen verhält.
Außerdem schlage ich vor, dass wir uns dabei auch Rechenschaft geben über die
Rolle, die die REFLEXION (der Zweifel) bei der Verwendung des Wahrheitsbegriffs
spielt. –
Was meine ich damit?
Stellen wir uns vor, A sagt im Gespräch zu B: "Iss besser nicht so viel
tierische Fette! Davon bekommst du Arteriosklerose."
A begründet also seinen Ratschlag mit einer Behauptung über die
Wirklichkeit: Zu viel tierische Fette in der Nahrung erzeugen Arteriosklerose.
Wenn nun B antwortet: "Ja, ich sollte wirklich etwas besser aufpassen."
hat sich das Thema erledigt. Mit seiner Zustimmung hat er, ohne viel darüber
nachzudenken, die Behauptung über den Zusammenhang von tierischen Fetten und
Arteriosklerose als "wahr" akzeptiert.
Antwortet B dagegen: "Das stimmt doch gar nicht! Neulich im Fernsehen..."
Und schon befinden sie sich in einer "Wahrheitsdiskussion", d. h. sie machen jene
Behauptung über die Wirklichkeit zum Thema. Sie REFLEKTIEREN darüber, weil B sie
bezweifelt hat.
Man kann das auch so ausdrücken, dass ihr Gespräch von der "Objektsprache" auf eine "metasprachliche Ebene" gewechselt hat. Erst NACH
diesem Wechsel des Themas ist der Unterschied zwischen "wahr" und "falsch"
relevant geworden.
Oder anders gesagt: Der Unterschied zwischen "wahr" und "falsch" setzt
eine REFLEXION voraus, in der mit der Behauptung über die Wirklichkeit
auch diese Wirklichkeit selbst in Frage steht. Es wird also eigentlich
danach gefragt, "was denn nun Sache ist", wie es sich WIRKLICH verhält.
Daran wird auch noch einmal erkennbar, dass man nicht einen Begriff der "Wirklichkeit, wie sie ist" einfach als "gegeben" voraussetzen kann, wenn man
über die Wahrheit von Aussagen diskutiert. Die Wahrheitsfrage ist zugleich immer
auch eine Frage nach der Wirklichkeit.
Ich will, um diesen Gedankengang abzurunden, einen Passus aus der "Logisch-pragmatischen Propädeutik" von P.Janich zitieren, in dem er vier
Sprachebenen – Ebenen der Reflexion – von einander abhebt. Mir scheint es
nützlich für die Diskussion, sich jeweils Klarheit darüber zu verschaffen, auf
welcher Ebene sich die eigenen Äußerungen gerade befinden.
Zitat:
Hält man sich die im vorangegangenen Abschnitt aufgezählten Wahrheitstypen
und ihre unterschiedliche Kontrolle schon im Alltag vor Augen, lassen sich
vier Sprachebenen unterscheiden: Die unterste ist die des Behauptens in
einem Gespräch zwischen Personen. Werden diese objektsprachlichen
Behauptungen Gegenstand des Zweifels, beginnt ein metasprachliches Gespräch über
deren Zustimmungswürdigkeit. Auf dieser zweiten Ebene werden Begründungen
oder Widerlegungen, allgemeiner Argumente für oder wider die
fraglichen Behauptungen vorgetragen. Führt auch dieser (" Wahrheits-" ) Diskurs zu
Kontroversen, wäre auf einer dritten Sprachebene etwa zu klären, welche
Wahrheitskriterien für eine Begründung oder Widerlegung in Frage kommen. Auf
dieser dritten Ebene würde etwa erörtert, ob die fraglichen Behauptungen der
Objektsprache zum Beispiel tatsächlich an Erfahrung scheitern können oder nicht
vielmehr eine logische Folge der zugrunde gelegten Wortverwendungen sind. (...)
Würde nun auch auf dieser dritten Sprachebene des Diskurses über
Wahrheitskriterien (...) ein Dissens auftreten, müssten auf einer vierten
Sprachebene konkurrierende Wahrheitskriterien bzw. Wahrheitstheorien
erörtert werden. Hierher gehören Fragen der oben schon behandelten Art, ob
Wahrheit als Strukturähnlichkeit zu einer menschenunabhängigen Realität
aufgefasst werden könne oder nicht.
Bei einem Diskurs auf dieser vierten Ebene handelt es sich nicht mehr um ein
Gegeneinander von Argumenten, die selbst nach wahr oder falsch beurteilt werden
können. Vielmehr geht es hier um die Rechtfertigung konkurrierender
Systeme von Vorschriften, nach denen dem Wahrheitsproblem beizukommen
sei.
P.Janich, Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001, S.165f.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 13. Nov. 2004, 21:58 Uhr
Vorbemerkung: Das Folgende wurde geschrieben, als ich noch nichts von diesem
neuen Thread wusste.
Hallo Hermeneuticus,
Dir ist wichtig, zwischen "Vollzugswirklichkeit" und "gegenständlicher
Wirklichkeit" zu unterscheiden. Ich gebe zu, dass ich weiterhin Probleme habe,
den Sinn dieser Unterscheidung einzusehen.
Du schreibst, "dass 'Denken' als schiere, nicht näher bestimmte geistige
TÄTIGKEIT mit 'Sein' (Dasein) identisch ist. Nur eben nicht logisch identisch,
sondern als Vollzug. ... Die Vollzugseinheit von Denken und Sein bleibt in jeder
möglichen gegenständlichen Bestimmung des Denkens erhalten. Aber es ist auch
klar, dass sie den jeweiligen Denkinhalten gewissermaßen "im Rücken" liegt; sie
wird als solche nicht gedacht – und widersetzt sich auch einer gedanklichen
Erfassung."
Was ist aber eine "Vollzugseinheit" bzw. eine "Identität als Vollzug" in
Bezug auf Denken und Sein? Vollkommen mysteriös wird es für mich, wenn Du
schreibst, dass die Vollzugseinheit von Denken und Sein sich einer gedanklichen
Erfassung "widersetzt".
Ich kann das Verhältnis von Denken und Sein in dem Satz ausdrücken: "Wer
denkt, der muss logischer Weise auch existieren." Dabei kommt es nicht auf die
gedachten Inhalte an, sondern nur auf das Faktum des Denkens.
Was darüber hinaus noch eine "Identität als Vollzug" bedeutet, kann ich
nicht erkennen. Was ist, gehört zur Wirklichkeit, sei es auch noch flüchtig,
veränderlich, unfertig, partikular, individuell, banal etc.
Du schreibst: " … erfahrungsgemäß begleitet uns die Selbstgewissheit des
Daseins ja in vielerlei Vollzügen …" Richtig ist, dass bei vielem, was ich tue,
keinerlei Nachdenken oder Zweifel aufkommen – und auch völlig überflüssig, wenn
nicht sogar hinderlich wären. Aber um das festzustellen, benötige ich nicht den
Begriff der "Vollzugswirklichkeit".
Dir ist wichtig, dass die Praxis dem Begründen vorangeht. Ich kann dem
insofern zustimmen, als etwas nicht deswegen wirklich ist, weil wir es zum
Gegenstand von wahren Aussagen machen. Den Kometen Hale-Bopp, der vor wenigen
Jahren am Firmament auftauchte, hat es schon gegeben, bevor Menschen ihn
entdeckten.
Allerdings: um ihn für wirklich zu halten und diese Überzeugung in einer
entsprechenden Existenzbehauptung auszudrücken (" Es gibt einen Kometen mit der
Flugbahn x,y,z. Er trägt den Namen 'Hale-Bopp'" ), muss es dafür Begründungen
geben.
Die Ebenen des "wirklich seins" (das unabhängig von unserem Denken der
Fall sein kann) und die Ebene des "als wirklich halten bzw. behaupten" (das eine
Begründung verlangt) müssen deshalb sorgfältig auseinander gehalten werden.
Damit hat sich wohl auch Deine Frage zur Handlung des Aussagens erledigt,
wo Du fragst: "Ist die Handlung wirklich deshalb, weil man darüber Aussagen
machen kann? Oder ist sie auch wirklich, ohne dass sie zum Gegenstand einer
Aussage wird?
Unter der mangelnden Unterscheidung der beiden Ebenen des "wirklich
seins" und des "für wirklich halten" leidet auch Deine Feststellung: "Und darum
ist nicht nur das … 'wirklich' … , was durch aufwendige Praktiken der
Begründung gegen JEDEN MÖGLICHEN Zweifel abgesichert ist."
Der Komet Hale-Bopp war bereits wirklich, bevor Menschen ihn entdeckten
und begründen konnten, dass es einen derartigen Himmelskörper gibt. Aber es ist
nicht zulässig, etwas als "wirklich" zu behaupten, ohne dass man über Gründe für
die behauptete Existenz des Kometen verfügt.
Es grüßt Dich ein um Verständnis bemühter Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 01:10 Uhr
Hallo Eberhard!
Zitat:
Was ist aber eine "Vollzugseinheit" bzw. eine "Identität als Vollzug" in Bezug auf Denken und Sein? Vollkommen mysteriös wird es für mich, wenn Du schreibst, dass die Vollzugseinheit von Denken und Sein sich einer gedanklichen Erfassung "widersetzt".
Nun, zunächst einmal ist es ein Unterschied, ob man sich eine Handlung nur
vorstellt, sie beschreibt oder beobachtet oder ob man sie selbst vollzieht.
Denke ich ÜBER eine Handlung nach oder beobachte bzw. beschreibe ich eine
Handlung, die jemand anderes vollzieht, ist diese Handlung ein GEGENSTAND des
Wissens. Man kann bestimmen, wo sie anfängt, wo sie endet, welches Ziel sie hat,
in welche Teilhandlungen sie zerfällt, welche methodische Ordnung es unter den
Teilhandlungen geben muss, damit die Handlung als ganze erfolgreich ist usw.
Eine solche Analyse lässt sich mit einer Handlung, die man gerade vollzieht,
gewöhnlich nicht durchführen.
Nehmen wir an, die beobachtete Handlung sei eine sprachliche Äußerung. Ist sie
einmal gemacht, lässt sie sich beliebig fein bis in die phonetischen Details
analysieren und auch - hinsichtlich der sprachlichen Regeln - beurteilen. Es
lässt sich auch zurAbhebung bringen, was daran standardisiert ist und was zum "Stil", zum individuellen "Ausdruck" des Sprechers gehört. Usw.
Aber alle diese Untersuchungen kann ein Sprecher unmöglich vornehmen, der gerade
spricht. Denn er ist mitten im VOLLZUG dieser Handlung, und genau das
verhindert, dass er gleichzeitig ihr unbeteiligter Beobachter ist. Wer denkt den
an die Gesetze der Phonetik, die Regeln der Grammatik usw. wenn er einen Satz
äußert? Wenn wir sprechen, bauen wir unsere Äußerungen nicht gleichsam aus ihren
digitalen Partikeln zusammen.
Sicherlich: Wenn wir bestimmte Handlungsschemata lernen - etwa das Sprechen oder
das Klavierspielen oder das Hemdenbügeln -, dann beobachten und kontrollieren
wir dabei unsere Versuche. Man nennt das "Üben". Aber eine Handlung üben ist
nicht: sie WIRKLICH VOLLZIEHEN. Übungen sind nämlich immer auf einzelne Aspekte
fokussiert. So kann man beim Klavierüben mal auf die Hauptstimme, mal auf die
Nebenstimmen achten oder auf einzelne musikalische Parameter (Rhythmus, Dynamik,
Artikulation usw.). Wenn man aber "richtig spielt", vollzieht man ein (Sinn-)
Ganzes, das nicht mehr bis in die Details überblickt wird und auch nicht
überblickt werden könnte, wenn man es wollte. Diese Details müssen bis dahin "abgespeichert", automatisiert sein - was aber zugleich bedeutet, dass sie im
Vollzug gar nicht mehr bewusst werden. Die Automatisierung "entlastet" unsere
bewusste Kontrolle, die offensichtlich recht begrenzt ist.
Nun ist Klavierspielen eine überaus komplexe Handlung. Aber ich denke, wenn man
kleine Handlungen aus dem Alltag, die man völlig automatisiert und bewußtslos
vollzieht, genau analysiert, wird man entdecken, dass sie - etwa im Vergleich zu
den Rechenoperationen eine Computers - immer noch ungeheuer komplex sind, so
dass es völlig ausgeschlossen wäre, sie bewusst bis in ihre Details zu
überblicken, während wir sie vollziehen.
Das kann man dem armen Bewusstsein nicht als Mangel ankreiden. Denn es arbeitet
eben nach dem Prinzip der Selektion des Relevanten aus einem nur vage
überblickten Gesamtzusammenhang. Wenn ich mein Bewusstsein auf einige wenige
Aspekte dieses Zusammenhangs - die "wesentlichen" - fokussiere, werden die
vielen anderen notwendigerweise abgeblendet. Dies ist bereits beim Beobachten
eines vor meinen Augen ablaufenden Geschehens so. Umso mehr gilt es für eine
Handlung, die ich gerade selbst vollziehe.
Auch ist es für die Sozialwissenschaften eine erkenntnistheoretisch sehr
relevante Frage, ob man einen gesellschaftlichen Sachverhalt aus der Sicht des
Beobachters oder aus der Beteiligtenperspektive sieht. (Wir haben dieses Problem
schon berührt, als wir auf Normen zu sprechen kamen.) Und es ist ein bekanntes
Phänomen, dass Beteiligte in mancher Hinsicht "mehr" und auch anderes sehen als
Außenstehende; dass aber auch Außenstehende in anderen Hinsichten mehr sehen
können als die Beteiligten. So kann jemand, der die Regeln des Schachspiels
nicht kennt, keine Züge im Spiel beobachten oder gar beurteilen. Umgekehrt ist
ein von einem spanndenden Spiel gefesselter Spieler nicht in der Lage, sich und
seine Eigenheiten, die er sich beim Spielen angewöhnt hat, wahrzunehmen.
Das umgangssprachliche Wort von der "Betriebsblindheit" zielt genau auf den von
mir gemeinten Unterschied zwischen der Wirklichkeit des Vollzugs (die eine "Innensicht" ist) und der (gegenständlichen) Wirklichkeit des (" äußeren" )
Beobachters.
Ich hoffe, ich habe mich nun etwas verständlicher gemacht.
Zitat:
Ich kann das Verhältnis von Denken und Sein in dem Satz ausdrücken: "Wer denkt, der muss logischer Weise auch existieren." Dabei kommt es nicht auf die gedachten Inhalte an, sondern nur auf das Faktum des Denkens.
Ich bestreite, dass es eine LOGISCHE Abhängigkeit ist, die in Descartes' Satz "Ich denke, also bin ich" aufgezeigt wird. Wie überhaupt "Existenz" kein Thema
der Logik ist, sondern allenfalls der Empirie. (Wenn man aus einem Begriff auf
seine Existenz schließen könnte, wäre der ontologische Gottesbeweis noch
gültig.)
Nun sprichst Du vom "Faktum" des Denkens. Wörtlich übersetzt, bedeutet "Faktum"
das Gemachte, Gehandelte. Aber diese Herkunft denken wir gewöhnlich nicht, wenn
wir von einem Faktum sprechen. Wir meinen vielmehr etwas, "das der Fall ist".
Und dabei nehmen wir gewöhnlich auch die Perspektive des Beobachters ein. Wir
haben uns daran gewöhnt, "Fakten" auf den Bereich des (sinnlich) Wahrgenommen
oder Wahrnehmbaren zu beschränken.
Aber ein solches sinnlich wahrnehmbares "Faktum" ist das Denken gerade nicht.
Man kann es jemandem auch nicht ansehen, ob er gerade denkt oder nicht. Wohl
kann man einer Handlung oder einer Äußerung meist ansehen, ob sich darin das
Denken ihres Urhebers manifestiert.
Doch jenes "ich denke", von dem Descartes spricht, ist ein ganz und gar privates "Faktum".
Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, das eigene Denken zu "beobachten". Versuch doch mal, Deine Gedanken zu beschreiben - so, als ob Du
eine Handlung beschriebest! Und stell Dir vor, es gelänge Dir - meinst Du, dass
wir viel mit Deinen Beschreibungen anfangen könnten? Wüssten wir dann, wie Dein
Denken "wirklich beschaffen" ist? Weißt Du selbst, wie Dein Denken "wirklich
beschaffen" ist?
Es ist wohl offensichtlich, dass die Gewissheit, die ich von meinem Denken habe,
WÄHREND ich denke, von ganz anderer Art ist als die Gewissheit, die ich von
einem Vorgang habe, den ich beobachte. Und ich denke, das liegt daran, dass man
hier eben KEIN BEOBACHTER ist, sondern EIN HANDELNDER.
Übrigens ist das auch ein wichtiger Punkt für die Diskussion: Wie steht es mit
der Wahrheit bei "inneren Wahrnehmungen" (wie eben dem Denken oder
Schmerzempfindungen)? Hat hier Wahrheit einen anderen Gebrauch und andere
Kriterien als im Falle von empirischen Beobachtungen?
Zitat:
Dir ist wichtig, dass die Praxis dem Begründen vorangeht. Ich kann dem insofern zustimmen, als etwas nicht deswegen wirklich ist, weil wir es zum Gegenstand von wahren Aussagen machen. Den Kometen Hale-Bopp, der vor wenigen Jahren am Firmament auftauchte, hat es schon gegeben, bevor Menschen ihn entdeckten.
Dies wissen wir aber, streng genommen, nicht aus unmittelbarer Erfahrung,
sondern wir schließen darauf. Das ist ein erkenntnistheoretisch wichtiger
Unterschied.
Und vielleicht wirst Du mir zustimmen, dass etwas, das wir unmittelbar erfahren
- sei es als Teilnehmer oder als Beobachter -, "wirklicher" für uns ist als
etwas, auf das wir nur schließen können. Es ist ein Unterschied, ob wir Knochen,
Rekonstruktionen, Computeranimationen von Dinosauriern betrachten oder ob wir
einem solchen Wesen persönlich begegnen. Und ich bin sicher, dass wir bei der
Begegnung mit einem Tyrannussaurus Rex nicht viel Zeit auf - für sich genommen,
sehr interessante - morphologische Studien verwenden würden...
Bis hierher erst einmal. Auf die weiteren Abschnitte Deines Beitrags gehe ich
noch ein.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 14. Nov. 2004, 10:11 Uhr
Hallo Hermeneuticus,
Ich will mich auf einen Punkt beschränken, auf die "Vollzugswirklichkeit" im
Unterschied zur "gegenständlichen Wirklichkeit".
Du veranschaulichst das, was Du unter "Vollzugswirklichkeit" verstehst,
durch die Perspektive des Handelnden im Vollzug der Handlung und fragst
rhetorisch: "Wer denkt denn an die Gesetze der Phonetik, die Regeln der
Grammatik usw. wenn er einen Satz äußert?"
Mir ist zwar klar, dass jemand die Fähigkeit haben kann, etwas
auszuführen, ohne selber zu wissen, wie er das macht. Wenn ich eine Melodie
pfeife und jemand fragt mich: "Wie machst Du das? Ich will das auch können!", so
hätte ich wahrscheinlich Schwierigkeiten zu sagen, welche Muskelnbewegungen ich
dabei ausführe. Es handelt sich um weitgehend automatisierte Abläufe, bei denen
die Nervenimpulse nicht mehr im Großhirn verarbeitet werden, sondern "direkter"
geschaltet werden, vergleichbar den Funktionstasten auf der Tastatur, die mit
fertigen kleinen Programmen belegt sind.
Mir ist auch klar, dass es so etwas wie die "Weisheit des Körpers" gibt,
z. B. wenn unser Körper auf eine zu große Erwärmung mit Schwitzen reagiert, was
den Körper wegen der Verdunstungskälte wieder abkühlt. Unser Körper kann also
seine Temperatur regeln, ohne dass wir wissen müssen, wie er das macht. Er "weiß", wie es geht.
Aber inwiefern ergibt sich daraus eine besondere Wirklichkeit oder eine
besondere Erkenntnis der Wirklichkeit?
Welche Fragen kann ich nicht stellen oder nicht richtig beantworten, wenn
mir der Begriff der Vollzugswirklichkeit fehlt?
Was erkennt der Handelnde besonderes, was der Fragende, der Wahrnehmende und der
Beobachtende nicht erkennen kann?
Hat man als Handelnder spezielle Sensorien, über die man als Beobachtender nicht
verfügt?
fragt Dich Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 14. Nov. 2004, 10:50 Uhr
hallo,
ich muss zugestehen, ich weiß im moment nicht, wo diese diskussion hinführt.
lassen wir uns einmal treiben. ich sehe bisher weder vor noch nachteile durch
die punkte, die wir bis jetzt herausgestellt haben.
· "wahr" und "falsch" gelten bezüglich sätzen über die wirklichkeit, resp. sätze
über die beschaffenheit der wirklichkeit
· wirklichkeit, so war mein vorschlag, ist nichts anderes als die summe all
dessen, was in existenzaussagen vorkommen kann. dies habe ich in anlehnung an
quines aufsatz "on what there is" vorgeschlagen. es handelt sich bei
existenzaussagen um ontologische festlegungen. offen gelassen wird, auf was man
sich festlegen möchte. auch hierin denke ich, kann man quine folgen.
· es ist zwischen seins- und sollens-sätzen zu unterscheiden. erstere geben uns
auskunft darüber, wie die wirklichkeit ist, letztere sind handlungsanweisungen
wie die wirklichkeit sein soll, bzw. wertende sätze, wie handeln entsprechend
einer norm beurteilt wird. diese letzteren sätze geben uns keine information
über die beschaffenheit der wirklichkeit. sie geben auskunft über einschätzungen,
wertungen, und damit implizit auskunft über das werte und normengefüge, welches
das handeln der jeweiligen person (möglicherweise) bestimmt.
insofern kann ich den geäußerten vorwurf
Zitat:
weil wir methodisch zu ungeordnet vorgegangen sind
nicht verstehen, und weise ihn als unbegründet zurück. es ist sehr wohl
methodisch vorgegangen worden - auch wenn nicht alle mit dieser methodik
einverstanden waren.
mit dem abschnitt
Zitat:
Stellen wir uns vor, A sagt im Gespräch zu B: "Iss besser nicht so viel
tierische Fette! Davon bekommst du Arteriosklerose."
A begründet also seinen Ratschlag mit einer Behauptung über die
Wirklichkeit: Zu viel tierische Fette in der Nahrung erzeugen Arteriosklerose.
Wenn nun B antwortet: "Ja, ich sollte wirklich etwas besser aufpassen." hat sich
das Thema erledigt. Mit seiner Zustimmung hat er, ohne viel darüber
nachzudenken, die Behauptung über den Zusammenhang von tierischen Fetten und
Arteriosklerose als "wahr" akzeptiert.
Antwortet B dagegen: "Das stimmt doch gar nicht! Neulich im Fernsehen..."
Und schon befinden sie sich in einer "Wahrheitsdiskussion", d. h. sie machen jene
Behauptung über die Wirklichkeit zum Thema. Sie REFLEKTIEREN darüber, weil B sie
bezweifelt hat.
verlassen wir den boden der eigentlichen diskussion und begeben uns ins feld der
rhetorik/ideologie(kritik).
es ist dann zu unterscheiden zwischen aussagen, die wahr und falsch sind, und
überzeugungen, von denen der sprecher glaubt, sie seien wahr, und die er
entsprechend argumentativ verteidigt. es geht dann nicht mehr um aussagen über
die wirklichkeit, sondern darum, was die sprecher glauben, von der wirklichkeit
zu wissen. demnach gibt es aussagen, die zwar wahr sind, von denen aber keiner
der sprecher überzeugt ist. dann gibt es aussagen, die zwar wahr, wovon aber nur
ein teil der sprecher überzeugt sind. sie müssen ebenso wie die gegenseite ihre
überzeugungen darlegen und argumentativ verteidigen. das problem ist, dass wir
hier ein sophistisches problem haben, dass nämlich nicht zwangsweise die
überzeugung die der wahrheit entspricht, sich durchsetzt, sondern die, die
argumentativ besser verteidigt wird.
der letzte und trivialste fall ist, dass die überzeugungen der sprecher der
wahrheit entsprechen.
- mfg thomas
- III
- Dyade am 14. Nov. 2004, 12:42 Uhr
nur ein Zwischenruf :-)
es gab einen Astronomen (ein Lehrer Kants) der berechnete die Wiederkunft eines
beobachteten Kometen auf eine bestimmte Anzahl von Jahren hin. Und siehe da, mit
angenäherter Genauigkeit kam ein Komet zum berechneten Datum am Himmel wieder
zum Vorschein. Welch ein enormer Beweis für die "Wahrheit" der Reflexion, dachte
man.
Dann stellte sich jedoch nach Jahrzehnten heraus, das es leider ein anderer
Komet war der am Himmel seine Bahn zog.
Es ist also keine kleine Wichtigkeit hier Erkenntnistheoretisch zu
Unterscheiden.
- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 12:45 Uhr
Hallo Eberhard!
Zitat:
Es handelt sich um weitgehend automatisierte Abläufe, bei denen die Nervenimpulse nicht mehr im Großhirn verarbeitet werden, sondern "direkter" geschaltet werden, vergleichbar den Funktionstasten auf der Tastatur, die mit fertigen kleinen Programmen belegt sind.
Von "Nervenimpulsen" und "Großhirn" hat ein Handelnder keine eigene,
sinnliche Erfahrung. Er kann als naturwissenschaftlich Interessierter
Informationen darüber haben. Oder er kann selbst Hirnforscher sein. Aber auch
ein Hirnforscher hat keine unmittelbare Erfahrung von dem, was in seinem
Grroßhirn vorgeht. Man mag das für eine bedauerliche Beschränkung unserer
Erfahrung halten, wird es aber wohl als "naturgegeben" hinnehmen müssen.
Außerdem müssen wir auch die Informationen, die wir von anderen erhalten, oder
die experimentell gewonnenen Daten irgendwann in unsere bewusste, sinnliche,
unmittelbare Wahrnehmung überführen. Denn noch sind wir nicht so weit, dass
unsere Apparate und Computer uns erklären, wie die Wirklichkeit beschaffen ist,
noch müssen wir unsere Sinne unmittelbar gebrauchen und sprachlich
interpretieren, welche Bedeutung unsere unmittelbaren Sinneseindrücke haben.
Will sagen: An unserer unmittelbaren Erfahrung und an unseren unmittelbaren
Handlungsvollzügen hängt letztlich ALLE Wirklichkeit, von der wir ein Wissen
haben und haben können.
Vielleicht lässt sich diese lästige, beschränkte und so fehleranfällige Instanz
eines Tages umgehen, so dass Großhirne andere Großhirne "direkt" und fehlerfrei
erforschen. Einstweilen brauchen wir noch unsere fünf Sinne, unsere Sprache,
unser Denken, brauchen wir "Sinn", brauchen wir Interpretationen - brauchen wir
den unmittelbaren Vollzug von Handlungen, um überhaupt irgendeinen Zugang zur
Wirklichkeit außer unserer selbst zu haben.
Im übrigen spreche ich die ganze Zeit von menschlichen Handlungen, nicht vom
beobachtbaren "Verhalten" menschlicher Organe. Und wenn wir uns einig darüber
sind, dass es so etwas wie Handlungen in der Wirklichkeit gibt, die sich von
Naturvorgängen signifikant unterscheiden, sollten wir nicht beides miteinander
vermengen.
Zitat:
Aber inwiefern ergibt sich daraus eine besondere Wirklichkeit oder eine besondere Erkenntnis der Wirklichkeit?
Nicht "eine besondere", sondern DIE menschliche Wirklichkeit, Siehe oben.
Zitat:
Welche Fragen kann ich nicht stellen oder nicht richtig beantworten, wenn mir der Begriff der Vollzugswirklichkeit fehlt?
Auf diesen Begriff können wir durchaus verzichten, aber wir können nicht
darauf verzichten, Handlungen zu vollziehen. Das Stellen einer Frage ist ja eine
Handlung.
Zitat:
Was erkennt der Handelnde besonderes, was der Fragende, der Wahrnehmende und der Beobachtende nicht erkennen kann?
Diesen Unterschied wirst Du leicht feststellen, wenn Du zuerst einem anderen
Menschen zusiehst, während er sich mit dem Hammer auf den Daumen haut, und dann
genau dieselbe Handlung vollziehst. Wetten, dass Du durch diesen Vollzug etwas
erkennst, was Du als Beobachter nicht erkannt hast? (Ich setze 10 000 €)
Zitat:
Hat man als Handelnder spezielle Sensorien, über die man als Beobachtender nicht verfügt?
Offenbar nicht. Aber man macht einen anderen Gebrauch davon.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 13:08 Uhr
PS zur Unterscheidung von Handlungen und Naturvorgängen.
Ein Naturvorgang wie meine Verdauung oder bestimmte hormonelle Zyklen geschehen "von selbst". Handlungen müssen wir ERLERNEN und üben. Wir erwerben
Handlungsschemata nicht dadurch, dass sie unserem Großhirn von kompetenter Seite "einprogrammiert" werden. Wir müssen sie selbst DURCH DEN VOLLZUG erlernen. Und
niemand hat je eine Handlung dadurch gelernt, dass sie ihm detailliert
beschrieben wurde oder dass er sie immer nur beobachtet hat.
Es wäre vielleicht sehr schön, wenn das ginge. Aber bis jetzt sind wir auf das "learning
by doing" angewiesen. Noch müssen wir unsere Fehler selber machen, um daraus zu
lernen...
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 15:28 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
wirklichkeit, so war mein vorschlag, ist nichts anderes als die summe all dessen, was in existenzaussagen vorkommen kann.
Aber diesen Vorschlag habe ich als unzureichend zurückgewiesen.
Denn, wie gesagt, so kommt Wirklichkeit immer nur als gegenständliche,
beobachtete Wirklichkeit in den Blick.
Ich könnte auch sagen: "Existenzaussagen" sind - als Handlungen - schon zu
komplex, um von ihnen als einem Ersten, nicht weiter Hinterfragbaren ausgehen zu
dürfen. z. B. wird dafür bereits eine etablierte Wissenschaft der Logik
beansprucht und deren Zuständigkeit unbefragt vorausgesetzt.
Zitat:
es ist zwischen seins- und sollens-sätzen zu unterscheiden. erstere geben uns auskunft darüber, wie die wirklichkeit ist, letztere sind handlungsanweisungen wie die wirklichkeit sein soll, bzw. wertende sätze, wie handeln entsprechend einer norm beurteilt wird. diese letzteren sätze geben uns keine information über die beschaffenheit der wirklichkeit. sie geben auskunft über einschätzungen, wertungen, und damit implizit auskunft über das werte und normengefüge, welches das handeln der jeweiligen person (möglicherweise) bestimmt.
Wenn wir vom Handeln ausgehen, das, wie ich behaupte, menschliche
Wirklichkeit überhaupt ausmacht, müssen Regeln oder Normen als KONSTITUTIVE "Bestandteile" dieser Wirklichkeit anerkannt werden.
Ich hatte Dich schon einmal vergeblich gefragt (ach, ich habe Dir in meinen
letzten 10-20 Beiträgen eine Menge nicht-rhetorisch gemeinter Fragen gestellt,
die unbeantwortet blieben...), ob z. B. das Schachspiel ALS Schachspiel zur
Wirklichkeit gehöre. Wir sind uns doch hoffentlich so weit einig, dass man nicht
WIRKLICH Schach spielen kann, ohne seine Regeln zu kennen und zu befolgen.
Wenn aber das Schachspiel ALS Schachspiel, d. h. als eine bestimmte menschliche
Praxis, zur Wirklichkeit gehört, dann vermitteln seine Regeln sehr wohl "Informationen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit".
Solltest Du aber der Ansicht sein, dass das Schachspiel zerlegt werden muss - in
Körperbewegungen, mentale Akte, Interpretationen usw. - ehe man auf die "eigentliche" Wirklichkeit stößt, dann könnten auch andere menschliche Praxen
ALS SOLCHE nicht Bestandteil der Wirklichkeit sein.
(Dennoch ist es aber zweifellos eine "Existenzaussage" zu behaupten: "Es gibt
unter den menschlichen Spielen eins, das 'Schach' genannt wird und das die und
die Regeln hat." )
Zitat:
insofern kann ich den geäußerten vorwurf
nicht verstehen, und weise ihn als unbegründet zurück. es ist sehr wohl
methodisch vorgegangen worden - auch wenn nicht alle mit dieser methodik
einverstanden waren.
Der Begriff der Wahrheit hat seinen Sitz und Sinn ausschließlich im
menschlichen Sprachgebrauch. Wenn wir nun seine Bedeutung untersuchen wollen,
sollten wir - methodisch geordnet - auch genau von diesem GEBRAUCH ausgehen
(statt bereits eine von irgendwo her bekannte Bedeutung als die einzig richtige
vorauszusetzen). Es sollte gefragt werden, bei welchen Anlässen Menschen den
Begriff der Wahrheit wie verwenden und was sie TUN, INDEM sie ihn verwenden.
Was die Unterscheidung zwischen deskriptiven und präskriptiven Sätzen und ihr
Verhältnis zur Wirklichkeit angeht, so sprachst Du selbst von einer "Vorentscheidung". Mag ja sein, dass sie bei Philosophen einer bestimmten
Tradition unhinterfragter Usus ist, es gibt aber auch eine Tradition, die diesen
Usus hinterfragt. Insofern können wir diesen Usus nicht einfach als allgemein
gültig übernehmen.
Zitat:
mit dem abschnitt (...)
verlassen wir den boden der eigentlichen diskussion und begeben uns ins feld der
rhetorik/ideologie(kritik).
Was die "eigentliche" Diskussion ist, können nur die Teilnehmer gemeinsam
entscheiden.
Die von Dir inkriminierte Passage ist nichts weiter als ein lebensweltliches
Beispiel dafür, wie der Begriff der Wahrheit gebraucht wird. Zu beachten ist
auch im einzelnen, WOFÜR ich es als Beispiel genommen habe: Mir ging es dabei um
die Unterscheidung verschiedener Sprachebenen (Objektsprache/Metasprache) und
Reflexionsniveaus. Und diese Unterscheidung halte im Hinblick auf eine Klärung
dessen, was es heißt, den Begriff der Wahrheit zu gebrauchen, für sehr nützlich.
Zitat:
es ist dann zu unterscheiden zwischen aussagen, die wahr und falsch sind, und überzeugungen, von denen der sprecher glaubt, sie seien wahr, und die er entsprechend argumentativ verteidigt.
Nun mal langsam!
Aussagen sind ja nicht "einfach so" wahr oder falsch. Sondern sie sind es nur
durch eine Begründung. (Und dann wäre - in einem weiteren Schritt - zu fragen,
was denn jeweils als Begründung gelten solle; da kann es unterschiedliche
Antworten geben.) VOR der - wirklich geleisteten! - Begründung sind auch solche
Aussagen, die sich später als zutreffend herausstellen, nur (für wahr gehaltene)
Meinungen.
Man darf wohl - im Einklag mit der bis auf Platon zurückgehenden
erkenntnistheoretischen Tradition - wahre Aussagen als BEGRÜNDETE MEINUNGEN
verstehen.
Nun ist es aber nicht so, dass wir mit lauter "Meinungen" durchs Leben gehen,
sondern wir halten das meiste Wissen, das wir haben, für wahr. So lange, wie es
gutgeht. Denn wir können durch neue Erfahrungen oder durch einen
Gesprächspartner, der Widerspruch geltend macht, darüber belehrt werden, dass
unsere vormalige "Wahrheit" nur eine unzureichend begründete "Meinung" war. So
wird also NACHTRÄGLICH aus einem Wissen nur ein Für-wahr-Halten.
Fragt sich, ob ein solches "Für-wahr-Halten" GRUNDSÄTZLICH illegitim, weil ja
noch nicht begründet, sei. Indessen sind auch alle Begründungen, die Menschen
geben können, immer nur vorläufig. So etwas wie eine "aposteriorische
Notwendigkeit" (also die Feststellung einer Notwendigkeit durch Erfahrung) kann
es nicht geben, weil wir eben nie ausschließen können, eines Tages des Irrtums
überführt zu werden. Und es wäre nichts weniger als die Umstoßung DES
erfahrungswissenschaftlichen Prinzips, wenn wir die Fallibilität unserer
Begründungen per Dekret ausschließen würden (denn das bedeutet ja "notwendig",
dass etwas nur so und nie anders sein kann).
Notwendige Wahrheiten gibt es nur in axiomatischen Sprachen. Aber da wird das
mögliche Anders-Sein von Antworten bereits durch die Definitionen und
syntaktischen Regeln (also a priori) ausgeschlossen.
Zitat:
es geht dann nicht mehr um aussagen über die wirklichkeit, sondern darum, was die sprecher glauben, von der wirklichkeit zu wissen.
Was meinst Du denn, weiß ein experimentierender Wissenschaftler VOR seinem
Experiment? Warum führt er überhaupt ein Experiment durch? Doch offenbar, weil
er - "von der Wirklichkeit" - darüber belehrt werden möchte, ob seine Vermutung,
sein Für-wahr-Halten in diesem oder jenem Aspekt sich als zutreffend (= "wahr" )
herausstellen wird. VOR dieser Erfahrung kann seine Vermutung eben auch falsch
sein und ist eben DARUM eine Vermutung.
An dieser Stelle zeigt sich die Verschiedenheit unseres Vorgehens sehr deutlich:
Du beschränkst Dich auf vorliegende "Aussagen über die Wirklichkeit". Ich
bestehe darauf, dass wir die Sprecher nicht vergessen, die solche Aussagen
hervorbringen. Aussagen sind eben an die empirisch vorkommenden Menschen
gebunden, die sie aussprechen und die sie verstehen. Das gilt auch für Aussagen,
die in einem Lehrbuch stehen.
Zitat:
demnach gibt es aussagen, die zwar wahr sind, von denen aber keiner der
sprecher überzeugt ist. dann gibt es aussagen, die zwar wahr, wovon aber nur ein
teil der sprecher überzeugt sind. sie müssen ebenso wie die gegenseite ihre
überzeugungen darlegen und argumentativ verteidigen. das problem ist, dass wir
hier ein sophistisches problem haben, dass nämlich nicht zwangsweise die
überzeugung die der wahrheit entspricht, sich durchsetzt, sondern die, die
argumentativ besser verteidigt wird.
der letzte und trivialste fall ist, dass die überzeugungen der sprecher der
wahrheit entsprechen.
Pardon, aber wenn wir davon ausgehen, dass jede Aussage von fehlbaren
Menschen gemacht wird (und das dürfte eine realistische Annahme sein), werden
wir nirgends auf Wahrheiten stoßen, die "einfach so" wahr sind. Sondern Alle
Wahrheiten waren einmal Meinungen. Und sie wurden wahr, weil Menschen sie auf
die eine oder andere Weise begründet haben. Da aber diese Begründungen -
erfahrungsgemäß - nicht für die Ewigkeit gelten, sondern nur bis zur
Widerlegung, ist diesem Kreislauf von Meinen-Zweifeln-Begründen-Wissen-Irren...
nicht grundsätzlich zu entkommen.
Es macht geradezu die WISSENSCHAFTLICHKEIT aus, dass wir diesen Kreislauf
möglichst rege IN GANG HALTEN. Denn das eben macht "Lernen" und "Erkennen" doch
aus! Eine Erfahrungswissenschaft, die eines Tages beschlösse, von nun an keine
Erfahrungen mehr zu machen, weil an ihrem Wissensbestand jedes "bloße Meinen"
und "Glauben" ein für alle Mal ausgeschlossen sei, würde sich durch diesen Akt
in eine Kirche verwandeln, die über geoffenbarte Weistümer verfügt.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 14. Nov. 2004, 16:05 Uhr
Hallo Dy!
Deinen Zwischenruf kann ich nur bekräftigen.
In meiner letzten Antwort an Eberhard sagte ich schon, dass letztlich alle
Erfahrungsdaten, alle Informationen, auch alle erschlossenen Kenntnisse in unser
unmittelbares Wahrnehmen und Verstehen überführt werden müssen. Daran hängt
letztlich die "Empirie", die den logischen und mathematischen Erkenntnissen die
Kleinigkeit voraus hat, dass sie sich auf die "Wirklichkeit" bezieht.
Messinstrumente müssen letztlich mit den menschlichen Augen abgelesen werden;
Versuchsapparate müssen entworfen und angeordnet werden; Versuchsabläufe müssen
mit dem uns allein zur Verfügung stehenden Bewusstsein "verstanden" oder "interpretiert" werden. Mag sein, dass wir von einer riesigen Menge von
Himmelskörpern nur mithilfe des Hubble-Teleskops wissen. Aber wir wissen von
ihnen letztlich doch nur, weil wir die von Hubble gesendeten Bilder "mit eigenen
Augen" betrachten. Usw.
Also, wenn wir dem Begriff der "Erfahrung" überhaupt eine unverzichtbare
Leistung in Bezug auf die Erkenntnis der Wirklichkeit zugestehen wollen, dann
müssen wir auch anerkennen, dass diese Erfahrung IN LETZTER INSTANZ immer in die
Unmittelbarkeit des Wahrnehmungs- und Verstehensvollzuges zurückführt.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 14. Nov. 2004, 16:06 Uhr
Hallo allerseits,
ich bin wie Thomas der Ansicht, dass unsere Diskussion zu der Frage: "Was heißt
es, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr" nicht so unsystematisch war.
Wir haben uns mit der Definition des Wortes "wahr" beschäftigt, insofern
es auf Sätze bezogen ist.
Wir haben uns mit der intersubjektiven und intertemporalen Geltung wahrer
Aussagen beschäftigt und gefragt, ob und inwieweit Wahrheit Allgemeingültigkeit
impliziert.
Wir haben uns dabei auf die Wahrheit derjenigen Sätze beschränkt, die
Aussagen über die Wirklichkeit machen.
Wir haben uns dann befasst mit der Unterscheidung zwischen Aussagen über die
Wirklichkeit und Definitionen, die die Bedeutung von Worten festlegen.
Wir haben uns mit den Problemen beschäftigt, die durch die Verwendung
unterschiedlicher Begriffe, Klassifikationssysteme und Sprachen entstehen.
Wir haben uns mit der Abgrenzung von Aussagen über die Wirklichkeit gegenüber
Werturteilen und normativen Sätzen beschäftigt.
Wir haben uns schließlich mit der Frage beschäftigt, was mit dem Wort "Wirklichkeit" gemeint ist.
Was wir noch diskutieren sollten, ist zum einen das Kriterium der
Wahrheit von Aussagen über die Wirklichkeit und zum andern die Besonderheiten,
die Aussagen über Psychisches, also z. B. introspektive Aussagen haben.
Es grüßt Euch Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 14. Nov. 2004, 16:13 Uhr
hi hermeneuticus,
die aussage, "ich war gestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich
gestern schuhe kaufen war. ich wüßte nicht, inwieweit ich begründen muss, dass ich
schuhe gekauft habe. es kann sein, dass du mir nicht glauben wirst, dann werde
ich dir den beleg aus dem schuhladen zeigen. dieser beleg hat aber nichts mit
der wahrheit oder falschheit des satzes zu tun, sondern damit, dass du die
überzeugung hast, ich sei gestern unmöglich schuhe kaufen gewesen.
wenn ich sage, die new york knicks sind besser als die chicago bulls, so wird
das eine überzeugung sein, die ich als solche vielleicht begründen sollte. aber
ihr wahrheitswert ist unabhängig von meiner begründung. entweder sie sind
besser, oder sie sind nicht besser als die bulls. um das zu klären könnte man
einen blick in die aktuelle tabelle werfen, und evtl. die leistungen der letzten
20 jahre miteinander vergleichen.
überzeugungen kann man unabhängig von tatsachen haben. sie können wahr oder
falsch sein, im vergleich mit den tatsachen.
der satz "vor 10000 jahren ging die sonnen auf" ist genau dann wahr, wenn die
sonne vor 10000 jahren aufgegangen ist. allerdings ist der satz so nicht (mehr)
überprüfbar.
- mfg thomas
p.s.: existenzaussagen sind das formal-logische äquivalent zu "es gibt [...]".
insofern kann ich nicht verstehen, wie man solche aussagen zurückweisen kann. es
scheint mir nicht besonders sinnvoll über die wirklichkeit sprechen zu wollen,
ohne zu sagen, was es gibt.
- III
- jacopo_belbo am 14. Nov. 2004, 16:20 Uhr
hallo eberhard,
Zitat:
zum andern die Besonderheiten, die Aussagen über Psychisches, also z. B. introspektive Aussagen haben
ein sehr heikles gebiet. :)
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 00:45 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
die aussage, "ich war gestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich gestern schuhe kaufen war. ich wüßte nicht, inwieweit ich begründen muss, dass ich schuhe gekauft habe.
Begründen MUSST Du diesen Satz nicht einmal dann, wenn ihn jemand anzweifeln
sollte. Allerdings: Wenn der Zweifelnde jemand wäre, mit dem Du aus
irgendwelchen Gründen gut auskommen wolltest - nehmen wir an, es sei Deine
brünette Freundin, die bei Deiner (recht späten) Rückkehr aus dem Schuhgeschäft
ein langes blondes (!) Haar auf Deiner Schulter gefunden hat... - also, ich
glaube, dann würde Dir auch etwas daran liegen, Deiner Behauptung zur nicht mehr
bezweifelten GELTUNG zu verhelfen.
Wie ich auch schon einmal sagte: Gelingende Praxen bedürfen keiner zusätzlichen
Begründung. Ein Zweifel, ein Dissens, ein Streit, Misstrauen... nun, das würde
ich als Anzeichen für ein mehr oder weniger gravierendes Missverstehen oder
Misslingen deuten.
Deine ersten beiden Sätze, denke ich, beruhen jedoch auf einem Missverständnis
des Wahrheitsbegriffs. "Wahr", darin waren wir uns doch einig, ist ein (metasprachliches)
Prädikat, das wir Aussagen zu- oder absprechen. Nun brauchen wir für die
Zuschreibung von Prädikaten stets Kriterien, die erfüllt sein müssen, und zwar
vom jeweiligen x, dem wir sie zuschreiben. Eine Rose, die wir rot nennen, sollte
auch rot SEIN. Und das stellen wir mithilfe unserer Kenntnis des Wortes "rot"
und einer dazu passenden sinnlichen Wahrnehmung, die wir von der fraglichen Rose
haben, fest.
In unserem Fall ist das x nun aber eine AUSSAGE. Welche Kriterien muss eine
Aussage erfüllen, damit die Zuschreibung "wahr" berechtigt/begründet ist? Die
Antwort kann zwar lauten: "Sie muss wahr SEIN." Aber dann wäre "Wahrheit" quasi
eine "Eigenschaft" von Aussagen, ganz analog der Röte einer roten Rose? Und
brauchten wir dazu nur die fragliche Aussage genauer anzuschauen, um zu
erkennen, ob sie diese Eigenschaft hat oder nicht?
Offenbar ist das so einfach nicht. Und hier liegt auch wohl der Grund für die
Einführung des Begriffs der "Geltung". Wir sagen zwar umgangssprachlich, eine
Behauptung SEI wahr, gemeint ist aber eigentlich, dass sie ALS wahr GILT. Und
diese Geltung ist eben nicht eine Eigenschaft des Satzes, sondern beruht auf der
intersubjektiven ANERKENNUNG zwischen Sprecher und Adressaten. Es ist also die
ANERKENNUNG der Adressaten, die einer Aussage zur Geltung verhilft, indem sie
sie GELTEN LÄSST. Und das bedeutet, dass diese Geltung vom Urteil DER ADRESSATEN
abhängt.
Wenn also Dein Gesprächspartner Deine Aussage gelten lässt - sie also als "wahr"
BEURTEILT -, dann brauchst Du sie nicht zu begründen. Lässt er sie aber nicht
gelten, und Dir ist an ihrer Geltung gelegen, so wirst Du in den sauren Apfel
beißen und Deine VERPFLICHTUNG zur Begründung Deiner Aussage anerkennen und ihr
auch nachkommen.
Die Funktion von Begründungen ist also eine kommunikative, ich möchte sagen
ethische. Und "Geltung" ist kein Faktum, sondern ein Phänomen der Anerkennung
durch eine Adressatengemeinschaft. Kant unterschied hier die "quaestio facti" -
die Frage nach den Fakten - von der "quaestio iuris" - der Frage nach der
BERECHTIGUNG. Und wenn es um die GELTUNG von ANSPRÜCHEN geht, dann hat die Frage
nach der Berechtigung Vorrang vor der Faktenlage.
Wenn in einer Kommunikationsgemeinschaft geklärt ist, dass Geltungsansprüche von
Behauptungen über die Wirklichkeit durch FAKTEN eingelöst werden, dann wird die
Faktenlage eben auch der fraglichen Behauptung zu ihrer Anerkennung und Geltung
als "wahr" verhelfen.
Es ist also - zumindest für eine philosophische Analyse - eine unzulässige
Vergröberung der Dinge, wenn man sagt, dass es die Fakten sind, die eine Aussage
wahr machen. Wahrheit ist ein kommunikativer, ein Geltungs- und
Anerkennungsbegriff. Er bezeichnet keine Eigenschaft von Dingen.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 15. Nov. 2004, 07:16 Uhr
hallo hermeneuticus,
wie darf ich deinen letzten beitrag verstehen? dass ich schuhe kaufen war, ist
erst dann wahr, wenn mir jemand glaubt, dass ich wirklich schuhe kaufen
war? "ich war vorgestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich vorgestern
schuhe gekauft habe. ich wüßte nicht, wieso dieser satz zusätzlich noch "geltung"
benötigt. "ich war vorgestern schuhe kaufen" ist genau dann falsch, wenn ich vorgestern
keine schuhe kaufen war, sondern z. B. den ganzen tag über zuhause krank im bett
lag.
ist das unverständlich?
- mfg thomas
p.s.: wie gesagt, hat die überzeugung einer person nichts mit der wahrheit oder
falschheit von aussagen zu tun.
- III
- Eberhard am 15. Nov. 2004, 08:21 Uhr
dem Vorschlag von Hermeneuticus folgend, will ich mein Verständnis des
Begriffs "wahr" in einem praktischen Zusammenhang verdeutlichen.
Marcus ist sauer und schimpft: "Joscha hat meinen MP3-Stick kaputt
gemacht." Joscha beteuert: "Das ist nicht wahr! Der MP3-Stick war schon kaputt,
als Joscha ihn mir gegeben hat." Aber Marcus bestreitet das: "Nein! Als ich ihm
den MP3-Stick gegeben habe, war er noch völlig in Ordnung! Ich lüge nicht! Das
ist die reine Wahrheit!"
Wir haben hier Marcus, der etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit
behauptet (" Joscha hat meinen MP3-Stick kaputt gemacht!" ) und diese Behauptung
als "wahr" kennzeichnet. Und wir haben Marcus, der dies bestreitet.
Wenn z. B. die Norm gilt: "Wer eine geliehene Sache kaputt macht, muss sie auf
seine Kosten wieder in Ordnung bringen lassen", dann kommt es bei der Anwendung
dieser Norm auf den tatsächlichen Sachverhalt an. Und wenn wir uns darauf
verständigen können, dass ein Satz dann als "wahr" bezeichnet werden soll, wenn
es so ist, wie der Satz besagt, so kommt es bei der Anwendung der genannten
Norm auf die Wahrheit der Behauptungen über diesen Sachverhalt an. Insofern ist
der Begriff "Wahrheit" (oder etwas Entsprechendes) unentbehrlich.
Außerdem zeigt das Beispiel, dass die Frage nach der Wahrheit dann aufkommt,
wenn es um Behauptungen über die Wirklichkeit geht. Wenn jemand einen Witz
erzählt oder aus seinem Roman liest und jemand wendet dagegen ein: "Das ist aber
nicht wahr!", so kann man nur mit dem Kopf schütteln und sagen: "Das hat ja auch
niemand behauptet!"
Das besondere an Behauptungen ist, dass sie einen mehr oder weniger offen
ausgedrückten allgemeinen Geltungsanspruch besitzen. Wenn ich meine Behauptung
mit dem Satz unterstreiche: "Das ist wahr!", dann fordere ich jedes beliebige
Individuum zur Bejahung und Anerkennung dieses Satzes auf. Mit der Kennzeichnung
einer Behauptung als "wahr" wird also unausgesprochen ein überpersönlicher oder "intersubjektiver" Geltungsanspruch für diese Behauptung erhoben.
Anders ausgedrückt: Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er nicht nur für mich wahr,
sondern auch für jeden beliebigen anderen. Wenn in unserm Beispiel Joscha zu
Marcus sagen würde: "Das mag deine Wahrheit sein, aber meine Wahrheit ist eine
andere", so wäre Marcus sicher erstmal verdutzt und er würde dann mit gutem
Grund das Gespräch als sinnlos beenden. Wenn es jemandem gar nicht um die eine,
gemeinsame Wahrheit geht, gibt es mit ihm auch keine gemeinsame Ebene der
Diskussion mehr.
Und noch ein anderer Aspekt des Begriffs "wahr" ist wichtig. Angenommen, in
unserm Beispiel gibt Joscha schließlich zu, dass er den MP3-Stick kaputt gemacht
hat. Als Marcus ihn am nächsten Tag auffordert, den MP3-Stick zur Reparatur zu
bringen, schüttelt Joscha mit dem Kopf und sagt: "Es ist gar nicht wahr, dass
ich den MP3-Stick kaputt gemacht habe." Marcus stutzt etwas und sagt: "Aber
gestern hast Du doch selber gesagt, dass es stimmt, dass Du ihn kaputt gemacht
hast!" Darauf sagt Joscha nur cool: "Was gestern wahr war, muss ja nicht heute
wahr sein." Marcus fällt der Unterkiefer runter und nach einer kurzen
Überraschungspause wendet er sich mit den Worten: "Der spinnt ja wohl" von
Joscha ab.
(Meiner Ansicht nach zu recht, denn wenn ein Satz heute wahr ist, dann muss er
auch gestern wahr gewesen sein. Die Auszeichnung einer Behauptung als "wahr"
ist ein zeitunabhängiger Geltungsanspruch, ich beanspruche also für einen als
wahr bezeichnete Behauptung neben der intersubjektiven Geltung auch noch eine "intertemporale" Geltung. Kurz gesagt: Mit der Auszeichnung eines Satzes als "wahr" wird für diesen Satz ein allgemeiner Anspruch auf Geltung verbunden.)
Die Frage ist natürlich, wie die Wahrheit oder Unwahrheit eines bestimmten
Satzes (" Joscha hat den MP3-Stick von Marcus kaputt gemacht" ) festgestellt
werden kann. Zum Kriterium der Wahrheit demnächst mehr.
Es grüßt Euch Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 10:50 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
wie darf ich deinen letzten beitrag verstehen? dass ich schuhe kaufen war, ist erst dann wahr, wenn mir jemand glaubt, dass ich wirklich schuhe kaufen war?
Nein, nicht wenn er GLAUBT, gilt Deine Behauptung, sondern wenn Dein
Gesprächspartner URTEILT, dass sie den Tatsachen entspricht.
Zitat:
" ich war vorgestern schuhe kaufen" ist genau dann wahr, wenn ich vorgestern schuhe gekauft habe. ich wüßte nicht, wieso dieser satz zusätzlich noch "geltung" benötigt.
Sätze sind nicht "einfach so" in der Welt und haben dann die und die "Eigenschaften" wie alle anderen Dinge. Sondern Sätze, Aussagen, Behauptungen
wenden sich an - ihrerseits sprach- und urteilskompetente - Adressaten. Man
spricht zu anderen Menschen oder schreibt etwas an andere Menschen Gerichtetes,
weil man damit etwas BEI IHNEN erreichen will. Wozu sonst sollte man mit ihnen
sprechen? Wenn sich doch alles "von selbst" (=automatisch) versteht, kann man
sich die Mühe sparen. Und wenn immer das wahr IST, was ein bestimmter
Personenkreis sagt, können die anderen immer nur gehorsam abnicken.
Ob Du (inzwischen: vor-) gestern Schuhe kaufen warst oder nicht, ist den
allermeisten Menschen auf der Welt Schnuppe. Jedenfalls habe ICH kein Problem
damit, Dir zu glauben, dass Deine Behauptung stimmt. Wenn sie nicht stimmt, hat
das in meiner Welt keine Folgen (und die chaostheoretischen Szenarien, in denen
ein Schmetterling in Australien einen Taifun in Japan "verursachen" könne, halte
ich für natur-" wissenschaftlichen" Hokuspokus).
Zu Dissens über die Wahrheit von Behauptungen kann es nur kommen, wenn die
Adressaten der Behauptungen ein INTERESSE an ihrer Wahrheit haben, z. B. wenn
damit mittelbar oder unmittelbar Folgen für sie verknüpft sind. Und hier tritt
das Begründen ins Mittel, ein VERFAHREN, das es den betroffenen Adressaten
erlaubt, sich selbst EIN URTEIL über den Sachverhalt zu bilden. Hätte die
Begründung nur die Funktion, ein wenig genauer zu erläutern, was den Adressaten
als wahr zu glauben BEFOHLEN wird, könnte man sich die Begründung gleich
schenken. Gründe sollen einsichtig für die Adressaten sein, sie sollen
NACHVOLLZOGEN werden können. (Da haben wir wieder den unmittelbaren Vollzug, den
ich für unverzichtbar halte...).
Dabei ist es genau die Eigenschaft von GRÜNDEN, in der JE EIGENEN EINSICHT
NACHVOLLZOGEN werden zu können, die es den Adressaten erlaubt, eine begründete
Behauptung nicht einfach nur zu GLAUBEN, sondern sie zu BEURTEILEN.
Du erinnerst Dich an unsere Diskussion über die "Taufe" von Dingen durch "korrekte Namen" (in: Wahrheit II, Beiträge Nr. 46 ff.). Damals hatte ich
bereits darauf aufmerksam gemacht, dass damit die URTEILSKOMPETENZ von Sprechern
kassiert werde. Der Vater hat das Wasser "Wasser" getauft, das Kind gehorcht. So
funktionieren Eigennamen tatsächlich. Aber wenn wir den Gebrauch eines Prädikats
erlernen, erwerben wir damit zugleich die kognitive Kompetenz, es eigenständig
auf andere, noch nicht "getaufte" Fälle anzuwenden. Diese Kompetenz nennt man
auch URTEILSVERMÖGEN.
Genau an dieses hat die Aufklärung appelliert - gegen das autoritäre Dogma,
gegen das Vorurteil. Und es gehörte eben zur aufklärerischen Vorreiterrolle der
Wissenschaften, dass sie keine Wahrheiten mehr VERKÜNDETEN, sondern VON
JEDERMANN NACHPRÜFBARE (d. h. beurteilbare) Behauptungen aufstellten.
Dass dieser aufklärerische Hintergrund sich heute weitgehend aus den
Naturwissenschaften verflüchtigt hat, dass naturwissenschaftliche Behauptungen
(sic!) kursieren wie ehedem Glaubenssätze, dass "Wahrheit" verdinglicht wird zu
einer Eigenschaft von Sätzen usw. - das mag wohl so sein. Aber dazu sind wir ja "Philosophen", so etwas nicht einfach durchgehen zu lassen.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 12:45 Uhr
Hallo Eberhard!
Mit Deinen Ausführungen bin ich weitgehend einverstanden. Nur denke ich, dass
so, wie Du über die "Geltung" von Behauptungen sprichst, der Anschein erweckt
wird, diese Geltung sei eine EIGENSCHAFT, die ihnen irgendwie "an sich"
anhaftet.
Es freut mich, dass Du meinem Vorschlag gefolgt bist, die Analyse des
Wahrheitsbegriffs anhand einer kommunikativen Situation mit mehreren Beteiligten
zu erläutern. Aber dieser Ansatz wirkt sich nicht auf die Resultate Deiner
Analyse aus.
Ich will das erläutern:
on 11/15/04 um 08:21:17, Eberhard wrote:
Und wenn wir uns darauf verständigen können, dass ein Satz dann als "wahr" bezeichnet werden soll, wenn es so ist, wie der Satz besagt, so kommt es bei der Anwendung der genannten Norm auf die Wahrheit der Behauptungen über diesen Sachverhalt an. Insofern ist der Begriff "Wahrheit" (oder etwas Entsprechendes) unentbehrlich.
Da bin ich mit Dir ganz einig.
Aber nun kommt der entscheidende Dissens, der sich wie ein roter Faden durch
unsere Diskussionen zieht:
Zitat:
Das besondere an Behauptungen ist, dass sie einen mehr oder weniger offen ausgedrückten allgemeinen Geltungsanspruch besitzen. Wenn ich meine Behauptung mit dem Satz unterstreiche: "Das ist wahr!", dann fordere ich jedes beliebige Individuum zur Bejahung und Anerkennung dieses Satzes auf. Mit der Kennzeichnung einer Behauptung als "wahr" wird also unausgesprochen ein überpersönlicher oder "intersubjektiver" Geltungsanspruch für diese Behauptung erhoben.
Du formulierst: Behauptungen "besitzen" einen Geltungsanspruch. Nun, das mag
nur eine ungeschickte Wortwahl sein, aber Deine weiteren Ausführungen legen die
Vermutung nahe, dass Du es auch so meinst: Geltung sei eine Eigenschaft, die
Behauptungen anhaftet. Einfach so, wie rote Rosen die Eigenschaft der Röte
haben.
Es lässt sich aber doch nicht übersehen, dass es der jeweilige SPRECHER ist, der
etwas behauptet, und dass er sich damit an wirkliche ADRESSATEN wendet. Und
alles, was er will, ist, dass DIESE ADRESSATEN seine Behauptung anerkennen, dass
sie sie als "wahr" GELTEN LASSEN.
Dies ist ein ganz entscheidender Punkt! Die "Geltung" liegt nicht in den Sätzen,
sie beruht auf der Anerkennung durch die Adressaten. Es ist IHR URTEIL, ihre
EINSICHT, die eine Behauptung VERBINDLICH macht - nämlich auch für sie selbst.
Nur DESHALB, weil die Adressaten das Urteil NACHVOLLZIEHEN, gilt es dann auch
INTERSUBJEKTIV.
Diesen Nachvollzug kann man unmöglich überspringen, GERADE wenn man von "intersubjektiver Geltung" spricht (statt von "objektiver" oder "tatsächlicher"
Geltung).
Wenn man jemanden konkret anspricht und etwas behauptet, dann beansprucht man
damit keineswegs "automatisch", es möge ihm "jedes beliebige Individuum"
beipflichten. Dies BEHAUPTEST Du, Eberhard, aber es folgt mitnichten aus Deinem
Beispiel. Man spricht nicht zu "beliebigen" Individuen, sondern zu ganz
konkreten, mit denen man umgeht.
Im vorliegenden Beispiel ist es völlig abwegig anzunehmen, Marcus erhebe einen
unbeschränkten Geltungsanspruch - selbst an Menschen in Frankreich oder
Australien, von denen Marcus nicht einmal weiß, ob es sie gibt.
Woher soll denn seiner Behauptung, die ER faktisch ausspricht, dieser
weltumspannende, ja universelle Geltungsanspruch zuwachsen? Ist "wahr" eine Art
Zauberwort mit magischen Qualitäten, von denen die, die es gebrauchen, nichts
wissen und die sich hinter ihrem Rücken, hinter ihrer Absicht "einfach so"
durchsetzen? Oder sollen wir nicht doch besser die Bedeutung von Begriffen mit
dem konkreten GEBRAUCH durch die Sprecher und dem konkreten Verständnis der
Adressaten verknüpfen? Und sollten wir nicht doch besser "Geltung" als eine
Folge KONKRETER ÜBEREINSTIMMUNG zwischen konkreten Menschen betrachten, Folge
nämlich ihrer übereinstimmenden URTEILE, die sie aufgrund ihrer Urteilskompetenz
fällen?
Für mich ist klar: Ja, das sollten wir tun.
Damit ist ja keineswegs die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die "Intersubjektivität" der Geltungsansprüche sich bei manchen Behauptungen
wirklich auf ALLE Subjekte bezieht. Bei wissenschaftlichen Behauptungen ist das
zweifellos so.
Nur ist ein so hoher Anspruch dann auch mit besonders aufwendigen Verfahren der
BEGRÜNDUNG verknüpft. Denn schließlich erwächst aus einer so anspruchsvollen
Behauptung eine VERPFLICHTUNG allen jenen gegenüber, die dem Anspruch der
Behauptung GELTUNG verschaffen, d. h. sie als VERBINDLICH anerkennen mögen. Und
diese Verpflichtung besteht darin, die Adressaten nicht zu übergehen, nicht über
ihre Köpfe hinweg etwas zu behaupten, das für sie u. U. folgenreich sein kann.
Mit dem ANSPRUCH auf verbindliche Geltung übernimmt man eine BEWEISLAST. Und das
Verfahren des Beweises - diese "Methode", dieser "Weg, den man mitgehen kann" -
hat den Sinn, diejenigen, an die der Geltungsanspruch ergeht, zu befähigen,
SELBST ZU URTEILEN.
Streng genommen (und wir sollten hier auch wirklich streng sein!) ist ein
allgemeiner Geltungsanspruch erst dann FAKTISCH eingelöst, wenn wirklich alle, "to whom it may concern", ihn anerkannt HABEN. Nun ergibt es sich aus den
faktischen Beschränkungen endlicher Individuen und ihrer Kommunikationen, dass
dieses Ziel FAKTISCH nicht zu erreichen ist. Aber daraus folgt dann streng
genommen, dass Sätze immer noch ANSPRÜCHE erheben, immer noch BEHAUPTUNGEN sind,
wenn sie nicht von allen Adressaten anerkannt SIND, selbst dann, wenn diese die
(theoretische) MÖGLICHKEIT haben, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Denn eine
Möglichkeit ist eben keine Wirklichkeit.
Analog ist auch die "Intertemporalität" von Geltungsansprüchen zu analysieren.
Bis hier her einstweilen.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 15. Nov. 2004, 13:07 Uhr
hallo ihr beiden,
ich werde bei meiner stellungnahme chronologisch vorgehen. ich denke ihr seid
einverstanden :)
also nun zunächst zu eberhard:
Zitat:
Das besondere an Behauptungen ist, dass sie einen mehr oder weniger offen ausgedrückten allgemeinen Geltungsanspruch besitzen. Wenn ich meine Behauptung mit dem Satz unterstreiche: "Das ist wahr!", dann fordere ich jedes beliebige Individuum zur Bejahung und Anerkennung dieses Satzes auf. Mit der Kennzeichnung einer Behauptung als "wahr" wird also unausgesprochen ein überpersönlicher oder "intersubjektiver" Geltungsanspruch für diese Behauptung erhoben.
wir haben es dann aber nicht mehr mit einer rein epistemischen/deskriptiven
funktion von sätzen zu tun, sondern mit einem konglommerat aus epistemischer
funktion und persuasiver. wenn ich behaupte, ein satz sei wahr, so versuche ich
meine(n) diskussionspartner davon zu überzeugen, dass dem so ist, wie ich sage.
dafür ist es nicht notwendig, dass das, wovon ich meine gesprächspartner
überzeugen will, auch wahr ist.
wir stellen uns vor, dass, bis gestern, quito die hauptstadt von ecuador war,
aber seit 0:00 ist guayaquil -durch einen akt boshafter revolutionäre- die
hauptstadt von ecuador.
ich unterhalte mich mit meinem freund darüber, was denn die hauptstadt von
ecuador sei. und ich zeige ihm meinen brockhaus. dort steht quito sei die
hauptstadt von ecuador. und ich belege meine bloße behauptung, dass es wahr sei,
dass quito die hauptstadt von ecuador sei, damit, dass ich ihm eine verlässliche
quelle meiner information zeige.
a) meine behauptung ist falsch - denn quito ist in unserem beispiel nicht mehr
hauptstadt von ecuador
b) der beleg ist ebenfalls falsch - aus dem selben grund wie (a)
c) glaubt mir mein freund, da er meiner quellenangabe vertraut und akzeptiert
meine behauptung
es wird ersichtlich, dass in diesem fall wahrheit und behauptung nicht
übereinstimmen, sowie, dass es möglich ist, jemanden von etwas zu überzeugen, was
falsch ist.
Zitat:
Außerdem zeigt das Beispiel, dass die Frage nach der Wahrheit dann aufkommt, wenn es um Behauptungen über die Wirklichkeit geht.
das sehe ich ein wenig anders. der fall, dass wir uns über die beschaffenheit
der wirklichkeit unterhalten ist eine möglichkeit, uns mit fragen nach der
wahrheit von aussagen zu beschäftigen. wie steht es aber mit fragen der art: "war saruman der weiße gegenspieler von gandalf dem grauem in tolkiens herrn der
ringe" ? es wäre verblüffend daraus eine frage nach der beschaffenheit der
wirklichkeit zu generieren.
Zitat:
Die Auszeichnung einer Behauptung als "wahr" ist ein zeitunabhängiger Geltungsanspruch,
auch das halte ich nicht für offensichtlich, bzw. einsichtig. wir sollten
zwischen aussagen unterscheiden, die diese zeitunabhänigie qualität haben, und
denen, die sie nicht haben: e.g. "gestern hat es in quito geregnet".
eine andere betrachtungsweise ist die der wahrheit über mögliche welten
hinweg. der satz "aristoteles ist der schüler von platon" ist nicht in jeder
möglichen welt wahr. es wäre denkbar, dass aristoteles in einer anderen welt,
nicht schüler von platon war. hingegen ist die aussage "aristoteles ist
aristoteles" in jeder möglichen welt wahr. ebenso der satz "gestern hat es in
quito geregnet" ist nicht notwendigerweise in allen welten wahr, auch wenn in
allen denkbaren welten quito existiert.
soweit zu eberhard.
nun zu hermeneuticus:
Zitat:
Man spricht zu anderen Menschen oder schreibt etwas an andere Menschen Gerichtetes, weil man damit etwas BEI IHNEN erreichen will. Wozu sonst sollte man mit ihnen sprechen?
ich finde die formulierung "etwas erreichen wollen" ein wenig weitgespannt.
außerdem ist die folge der sätze zirkulär:
(i) man spricht zu anderen menschen, um etwas erreichen zu wollen
(II) wozu sonst sollte man mit ihnen sprechen?.
außer acht bleibt zum beispiel die tatsache, dass ich diesen satz "ich war
vorgestern schuhe kaufen" rein zu persönlichen zwecken in mein tagebuch notieren
kann. in diesem falle habe ich den satz nicht für andere aufgestellt. auch wenn
ich einen bestimmten zweck verfolgt haben mag.
Zitat:
Und wenn immer das wahr IST, was ein bestimmter Personenkreis sagt, können die anderen immer nur gehorsam abnicken.
einspruch! wahr ist nicht automatisch das, was personen sagen - auch wenn sie
beteuern es sei wahr (c.f. obiges beispiel "quito ist die hauptstadt von ecuador).
Zitat:
Zu Dissens über die Wahrheit von Behauptungen [...]
wir sollten besser von "dissens der überzeugungen" sprechen, um keine verwirrung
zwischen sätzen, die wahr sind, e.g. "ich war vorgestern schuhe kaufen", und
sätzen die beanspruchen wahr zu sein, e.g. "meine freundin ist der überzeugung,
dass ich vorgestern schuhe kaufen war. (in wirklichkeit habe ich schon ihr
weihnachtsgeschenk gekauft)".
wahrheit ist unabhängig von den überzeugungen.
überhaupt scheint in dieser diskussion nicht ausreichend differenziert zu werden
zwischen wahrheit und überzeugungen.
Zitat:
Genau an dieses hat die Aufklärung appelliert - gegen das autoritäre Dogma,
gegen das Vorurteil. Und es gehörte eben zur aufklärerischen Vorreiterrolle der
Wissenschaften, dass sie keine Wahrheiten mehr VERKÜNDETEN, sondern VON
JEDERMANN NACHPRÜFBARE (d. h. beurteilbare) Behauptungen aufstellten.
Dass dieser aufklärerische Hintergrund sich heute weitgehend aus den
Naturwissenschaften verflüchtigt hat, dass naturwissenschaftliche Behauptungen
(sic!) kursieren wie ehedem Glaubenssätze, dass "Wahrheit" verdinglicht wird zu
einer Eigenschaft von Sätzen usw. - das mag wohl so sein. Aber dazu sind wir ja "Philosophen", so etwas nicht einfach durchgehen zu lassen.
diesen absatz verstehe ich nicht.
ich kenne keine "naturwissenschaftlichen behauptungen" die wie "glaubenssätze
kursieren".
was ist eine "verdinglichte wahrheit" ?
sätze sind wahr oder falsch. aber weshalb wird wahrheit deshalb "verdinglicht" ?
- mfg thomas
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- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 14:53 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
wahrheit ist unabhängig von den überzeugungen.
Ich denke, es kommt auf die Qualität der Überzeugungen an.
Bin ich davon überzeugt, dass man Ausländern nicht trauen kann, und meide ich
aufgrund dieser Überzeugung den Umgang mit ihnen, so beraube ich mich selbst der
Chance, eines Besseren belehrt zu werden.
Eine solche Überzeugung nennt man auch "Vorurteil". Und es zeichnet sich dadurch
aus, dass es nicht gut BEGRÜNDET ist. Denn es entbehrt genau der
Erfahrungsgrundlage, die es begründen könnte.
Eine Überzeugung dagegen, die ich aufgrund eigener Einsicht, eigener
Wahrnehmung, eigenen URTEILS oder eigenen Vollzugs habe, ist eben gut begründet.
Das hindert nicht, dass weitere Erfahrungen oder Einsichten mich zu ihrer
Korrektur veranlassen. Im Gegenteil: Da meine Überzeugung sich auf Erfahrung und
Einsicht stützt (d. h. WEGEN dieser Einsicht gilt), bin ich implizit bereit, mich
auch auf neue Erfahrungen und Einsichten einzulassen. Ich habe mit einer solchen
BEGRÜNDETEN Überzeugung nicht die Bücher ein für alle Mal geschlossen und
dekretiert: "So ist es bis in alle Ewigkeit."
Es kommt noch etwas Wichtiges hinzu:
Die GRÜNDE für meine Überzeugung, auf die ich verweise oder die ich andern
zugänglich mache, setzen andere in den Stand, SELBST ZU URTEILEN. d. h. diese
Gründe stützen sich auf Erfahrungen und Einsichten, die andere NACHVOLLZIEHEN
können. Oder anders gesagt: DIESE Art von Gründen liegen nicht in den
Eigenheiten und Eigenwilligkeiten MEINER Persönlichkeit. Sie lassen sich von
meinen Eigenheiten ablösen - also eben von anderen Individuen, die ganz andere
Eigenheiten haben, nachvollziehen.
Dieser Umstand schließt nicht aus, dass ich von einer Behauptung, die für andere
nachvollziehbar ist, weiterhin PERSÖNLICH ÜBERZEUGT bin. Im Gegenteil, ich werde
wohl noch überzeugter von ihr sein. In diesem Fall aber - MIT RECHT.
Nach diesen Differenzierungen stimmt Deine Behauptung "Wahrheit ist unabhängig
von Überzeugungen" durchaus. Aber nun ist auch geklärt, worin diese
Unabhängigkeit der Wahrheit von INDIVIDUELLEN Überzeugungen besteht: Wahre
Behauptungen sind so begründet, dass sie auch andere Individuen überzeugen
können.
Gruß
H.
********************
- III
- Hermeneuticus am 15. Nov. 2004, 22:53 Uhr
Werter Gast!
Ich wette, Du kennst die folgende kleine Geschichte von Franz Kafka noch nicht.
Darum will ich mir die Zeit nehmen und sie mir zum Vergnügen und Dir zur
Bestätigung abschreiben. Es geht in dieser Geschichte auch ums Gewinnen und
Verlieren...
- - - - - - - -
Franz Kafka: Von den Gleichnissen
Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse
seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir.
Wenn der Weise sagt: "Gehe hinüber", so meint er nicht, dass man auf die andere
Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das
Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben,
etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und
das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen
eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir
gewusst. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.
Darauf sagte einer: "Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen,
dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe
frei."
Ein anderer sagte: "Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist."
Der erste sagte: "Du hast gewonnen."
Der zweite sagte: "Aber leider nur im Gleichnis."
Der erste sagte: "Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren."
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 16. Nov. 2004, 18:09 Uhr
Hallo Hermeneuticus,
noch mal zu der Frage, warum ein als 'wahr' behaupteter Satz einen
personunabhängigen und zeitunabhängigen Geltungsanspruch beinhaltet.
Der Grund hierfür liegt meines Erachtens darin, dass eine Behauptung wie: "Der zweite Weltkrieg forderte mehr als 20 Millionen Tote" keinerlei
Geltungsbeschränkungen enthält. Diese Behauptung kann unabhängig davon überprüft
werden, welche Person zu welchem Zeitpunkt diese Behauptung gegenüber wem
geäußert hat.
Grundsätzlich kann selbst ein Mensch, der erst noch geboren wird, diesem Satz
widersprechen und sagen: "Das stimmt nicht", wenn er diesen Satz in einem Buch
liest.
Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er für jeden und jederzeit wahr. Wenn
ein Satz also als "wahr" behauptet wird (und nicht Teil einer Comedy-Show ist),
dann ist mit ihm ein unbeschränkter Geltungsanspruch verbunden.
Zum Beispiel ist die Behauptung "Die Zerstörung des Welthandelszentrums wurde
vom us-amerikanischen Geheimdienst durchgeführt" mit einem person- und
zeitunabhängigen Geltungsanspruch verbunden, ohne dass bekannt sein muss, wer
solchen Schwachsinn gegenüber wem jemals geäußert hat.
(Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass zukünftige Sprachen auch
Möglichkeiten zur Formulierung personell und zeitlich begrenzter
Geltungsansprüche in Bezug auf Aussagen über die Wirklichkeit entwickelt,
ähnlich wie im Recht, wo Rechtssätze erst ab einem bestimmten Zeitpunkt "in
Kraft treten" bzw. "gelten". Aber das ist vorerst noch Science-fiction …)
Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang sinnvoll, noch einmal zu
reflektieren, warum die Menschen den Begriff "wahr" überhaupt erfunden haben und
warum man ihn neu erfinden müsste, wenn es ihn nicht gäbe.
Meiner Ansicht wird der Begriff der Wahrheit immer dort benötigt, wo
gemeinsam gehandelt werden muss. Damit gehört der Begriff der Wahrheit zum Kern
dessen, was eine Gesellschaft zusammenhält.
Gemeinsames Handeln setzt gemeinsame Entscheidungen voraus. Wie man sich
entscheidet, hängt nicht zuletzt von den Annahmen über die Beschaffenheit der
Wirklichkeit ab. In meinem Beispiel vom kaputten MP3-Stick kann eine gemeinsame
Rechtsordnung nur dann praktiziert werden, wenn man sich einig ist, wer das gute
Stück kaputt gemacht hat. Und über wirtschaftspolitische Maßnahmen gegen die
Arbeitslosigkeit kann man sich nur einigen, wenn man die gleiche Ansicht über
die grundlegenden Ursachen der Arbeitslosigkeit hat.
Es grüßt Dich und alle andern, die das harte Brot des methodischen Denkens
essen, Eberhard.
- III
- Eberhard am 16. Nov. 2004, 18:39 Uhr
Hallo Thomas,
zum person- und zeitunabhängigen Geltungsanspruch.
Mir reicht es, wenn Du akzeptierst, dass eine wahrer Satz für jedermann
und jederzeit wahr ist.
Der Satz "Heute hat es hier geregnet" ist meiner Ansicht nach kein
Gegenbeispiel, weil dieser Satz je nach Ort und Zeitpunkt etwas anderes bedeutet
und andere Aussagen enthält.
Worte wie "ich", "jetzt", "hier" etc. sind Variable, die verschiedene
Bedeutungen annehmen je nach der Situation in der sie geäußert werden. Wenn ich
aber die Bedeutung des Satzes "Ich schreibe jetzt einen Beitrag für Philtalk"
ohne Variable formuliere als "Eberhard schreibt am 16.11.2004 um 18:27 Uhr einen
Beitrag für Philtalk" dann ist das Problem beseitigt.
Die Frage "War saruman der weiße gegenspieler von gandalf dem grauem in
tolkiens herrn der ringe?" ist meiner Ansicht nach eine Frage nach dem Inhalt
eines existierenden Buches, in dem die fiktiven Personen Saruman und Gandalf
fiktive Handlungen begehen.
Diese Fiktion Tolkiens gibt es tatsächlich, sie ist Teil der Wirklichkeit. Die
Frage ist also durch Zitate aus dem Buch belegbar und damit möglicher Gegenstand
einer empirischen Literaturforschung.
Es grüßt Dich Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am 16. Nov. 2004, 18:51 Uhr
Hallo Thomas!
on 11/15/04 um 13:07:16, jacopo_belbo wrote:
wir haben es dann aber nicht mehr mit einer rein epistemischen/deskriptiven funktion von sätzen zu tun, sondern mit einem konglommerat aus epistemischer funktion und persuasiver. wenn ich behaupte, ein satz sei wahr, so versuche ich meine(n) diskussionspartner davon zu überzeugen, dass dem so ist, wie ich sage. dafür ist es nicht notwendig, dass das, wovon ich meine gesprächspartner überzeugen will, auch wahr ist.
Worauf Deine Argumentation hinausläuft: Die Wahrheit von Sätzen steht schon fest
bzw. muss schon feststehen, bevor sie ausgesprochen werden. Aber das hätte
absurde Konsequenzen.
Da ja weiterhin gesprochen würde, bräuchte man dann doch noch ein zusätzliches
Verfahren, durch das sich unter den gesprochenen Sätzen die wahren von den
unwahren unterscheiden ließen. Denn selbstverständlich könnte auch dann
jedermann noch behaupten, ER spreche die lautere Wahrheit, ER wisse doch, dass
er gestern Schuhe kaufen war usw.
Oder sollte man denen, die schon im voraus der Lüge verdächtig sind, Redeverbot
erteilen?
Könnte es dann überhaupt so etwas wie eine GETEILTE, ÖFFENTLICHE Wahrheit geben?
Würde dann nicht Wahrheit zu einer Privatsache? Hätte dann nicht jeder nur noch
seine eigene Wahrheit, und zwar streng geknüpft an seine eigenen Erfahrungen und
Handlungen? Aber dann bräuchten wir zugleich eine vorsprachliche Technik, durch
die wir Selbsttäuschungen sicher ausschließen könnten. Denn stell Dir vor, Du
hättest nur geträumt, dass Du Schuhe kaufen warst, seist aber mit dieser
Gewissheit aufgewacht! Diese Möglichkeit müsstest Du schon ausschließen können,
ehe Du sagtest/behauptest, Du seist WIKRLICH im Schuhgeschäft gewesen... Und
wenn es so eine Technik gäbe - müsste sie nicht bei allen GLEICH funktionieren?
Aber wie könnte man das sicherstellen?
usw.
Ich denke, das Unterfangen, Wahrheit von den faktischen Aussagen faktischer
Sprecher loszulösen, wäre gleichbedeutend mit einer Aufhebung des
Wahrheitsbegriffs.
Der Begriff der Wahrheit kann sich nur beziehen auf die FAKTISCHEN Aussagen
(=Behauptungen) von Sprechern, die einer GEMEINSAMEN WIRKLICHKEIT angehören. Und
der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs dient eben dem Zweck, begründete von
unbegründeten "Überredungen" zu unterscheiden, wobei die begründeten dann "wahr", die anderen "unwahr" heißen. Der Versuch, diese Unterscheidung schon VOR
den faktischen Äußerungen zu treffen, würde das Gegenteil dessen erreichen, was
er anstrebt. Die babylonische Sprachverwirrung wäre dagegen ein Kinderspiel...
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 16. Nov. 2004, 21:42 Uhr
Hallo Eberhard!
Die Ersetzung der Variable durch "unabhängige", "absolute" Orts- und Zeitangaben
ist nicht ganz so einfach, wie Du sie in Deiner Anwort an Thomas darstellst:
on 11/16/04 um 18:39:20, Eberhard wrote:
Mir reicht es, wenn Du akzeptierst, dass ein wahrer Satz für jedermann und
jederzeit wahr ist. (...)
Wenn ich aber die Bedeutung des Satzes "Ich schreibe jetzt einen Beitrag
für Philtalk" ohne Variable formuliere als "Eberhard schreibt am 16.11.2004 um
18:27 Uhr einen Beitrag für Philtalk" dann ist das Problem beseitigt.
Hier setzt Du voraus, dass "jedermann" in der Lage sei, die Angabe "16.1.2004 um
18:27 Uhr" nicht als Vairable, sondern als "absoluten" Wert zu verstehen.
Kann man das aber so ohne weiteres voraussetzen? Wie schwierig es ist, ein "absolutes" Bezugssystem zu finden, innerhalb dessen die verschiedenen
Ortszeiten miteinander zu vergleichen sind, hat die moderne Physik uns gelehrt.
Schon terrestrisch war es keine Kleinigkeit, ein solches Bezugssystem zu
etablieren. Das setzte nämlich eine hochentwickelte Technik voraus, die wirklich
annähernd gleich gehende Uhren herstellen konnte. Damit hat man aber nur die
TERRESTRISCHEN Ortszeiten (annähernd) vergleichbar gemacht, und die umfassen nun
nicht ALLE Ortszeiten, wie der Begriff "jederzeit" unterstellt.
Natürlich genügt eine terrestrische Uhrengleichheit FÜR UNSERE ZWECKE HIER. Aber
festzuhalten bleibt, dass sich dieses "Genügen" auf UNSERE ZWECKE und nicht auf
eine "absolute Wirklichkeit" bezieht. Es handelt sich um ein von Menschen
HERGESTELLTES, TECHNISCHES Bezugssystem und bleibt damit "relativ".
Das Problem der Zeitmessung ist verzwickt, und ich bin kein Physiker. Aber auch
bei weitem nicht alle Physiker scheinen da vollends durchzublicken, da "Zeit"
meist zirkulär definiert wird. Einsteins Satz: "Zeit ist das, was Uhren messen"
weist zwar in die richtige Richtung, setzt freilich die Existenz von (gleich
gehenden!) Uhren schon voraus. Aus der Literatur - besonders den Arbeiten von
P.Janich zur Chronometrie - habe ich so viel verstanden, dass Zeitmessung eine
konventionelle SETZUNG, eine NORMIERUNG ist, die ohne die geeigneten technischen
Mittel - also gleich gehende Uhren - nicht zu realisieren ist.
Zeitmessung setzt jedenfalls stabile periodische Vorgänge voraus, die sich in
eine Skala unterteilen lassen. Wenn man eine "natürliche Uhr" als Bezugspunkt
wählen will - etwa die Sonnenumrundung der Erde - benötigt man aber bereits
Uhren, um festzustellen, ob diese Bewegung wirklich streng periodisch verläuft.
- Man kann, wenn man einmal eine Uhr hat, durch Vergleiche weitere Uhren finden,
die präziser gehen. Bis dato ist die präziseste die Atomuhr. Aber man kann
schlecht behaupten, sie messe die "absolute Zeit"....
Wie auch immer: Der Begriff "jederzeit" ist eine von Menschen hervorgebrachte
Idee, eine zweckgebundene Setzung, die PRAKTISCH nur näherungsweise erreicht
werden kann. Und als Setzung gilt sie nicht absolut.
Mehr wollte ich nicht zeigen.
Gruß
H.
*****************************************+
- III
- Hermeneuticus am 16. Nov. 2004, 23:10 Uhr
Hallo Eberhard!
on 11/16/04 um 18:09:53, Eberhard
wrote:
Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er für jeden und jederzeit wahr.
Für jeden, DER IHN VERSTEHT. So weit waren wir in unserer Diskussion schon
einmal.
Ein Satz kann überhaupt nur etwas bedeuten innerhalb einer Sprache, d. h. eines
Bezugssystems, das es (einer stets begrenzten Anzahl) Menschen erlaubt, ihre
Äußerungen auf einander zu beziehen. Und die Geltung eines Satzes wird - in
letzter Instanz - diesen Bezugsrahmen nicht überschreiten können. Die Geltung!
GeltungsANSPRÜCHE mögen unbegrenzt sein. Aber für Ansprüche allein bekommt man
nichts. Mit einem Anspruch auf 100 € kannst Du Dir nichts kaufen, sondern nur
mit einem irgendwie EINGELÖSTEN Anspruch. Ein unbeschränkter Geltungsanspruch
ist wie ein Scheck, von dem man nicht weiß, ob er gedeckt ist.
Zitat:
Meiner Ansicht nach wird der Begriff der Wahrheit immer dort benötigt, wo gemeinsam gehandelt werden muss. Damit gehört der Begriff der Wahrheit zum Kern dessen, was eine Gesellschaft zusammenhält.
Damit bin ich durchaus einverstanden.
Nun ist zu bedenken, dass man zwar "global denken" kann, aber immer nur an einem
ganz bestimmten Ort auf dieser Welt HANDELT. Und ihre Handlungen müssen Menschen
nur so weit unter einander koordinieren, wie sie einander ins Gehege kommen
können.
Dieser Bereich, in dem Menschen einander durch ihr Handeln in Gehege kommen, ist
jeweils ihre "gemeinsame Wirklichkeit".
Gewiss, es gibt heute Menschen, deren Handeln andere Menschen weltweit tangiert.
Sogar ein "privater" Börsenspekulant wie z. B. Soros kann mit ein paar
Telefonaten ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen. (Um von noch Schlimmerem
zu schweigen...)
Wo solche Interdependenzen existieren, bedürfen die darin Verwickelten auch
einer gemeinsamen Sprache und damit gemeinsamer Normen. Und die werden sich auch
- unweigerlich - herausbilden. Das will ich nicht bestreiten.
Ich wehre mich nur dagegen, das Pferd erkenntnistheoretisch vom Schwanz her
aufzuzäumen. Es ist die gemeinsame PRAXIS, die gemeinsame Bezugssysteme
hervorbringt. Es ist nicht so, dass gemeinsame Bezugssysteme entstehen, weil es
in den KÖPFEN der Menschen Idealisierungen wie "unbeschränkte Geltungsansprüche"
gibt.
ALS Idealisierungen existieren derartige Begriffe unbestreitbar. Wir "arbeiten"
mit ihnen auf Schritt und Tritt. Jedes Prädikat beansprucht ja schon
Allgemeinheit. Aber die BEDEUTUNG dieser Begriffe liegt in ihrem GEBRAUCH.
Dieser ist die EINLÖSUNG des Anspruchs. Und der ist eben immer nur begrenzt.
Zitat:
Gemeinsames Handeln setzt gemeinsame Entscheidungen voraus. Wie man sich entscheidet, hängt nicht zuletzt von den Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ab.
Du sagst m.E. ganz richtig: ANNAHMEN. Und ich würde ergänzen: Man braucht vor
allem auch bereits gemeinsame ERFAHRUNGEN, also schon das Verwickelt-Sein in
eine gemeinsame Praxis. Diese ist die PRIMÄRE WIRKLICHKEIT, die -
erfahrungsgemäß - dann auch gemeinsame Bezugs- und Deutungssysteme hervorbringt,
also z. B. Theorien und Hypothesen über die für alle Betroffenen RELEVANTE
Wirklichkeit.
Denkt man aber daran, welchen REICHTUM an von einander unabhängigen oder
koexistierenden Praxen, Gruppierungen, Systemen usw. es nur schon innerhalb
einer Gesellschaft gibt, so erscheint es schlicht als eine realistische
Forderung, die praktischen EINSCHRÄNKUNGEN allgemeiner Geltungsansprüche fest im
Blick zu behalten. Mir erscheint diese ENTLASTUNG von ausgreifenden
Geltungsansprüchen, wo immer sie möglich ist, eine notwendige Voraussetzung von
GELEBTER Freiheit zu sein.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 08:10 Uhr
hallo hermeneuticus,
aber so, wie ich es sage, wird es doch auch in der praxis gehandhabt, oder irre
ich mich? die wahrheit von aussagen liegt außerhalb dessen, was jemand als "wahr" deklariert.
wenn jemand behauptet, es sei wahr, dass im irak "weapons of massdestruction" zu
finden seien, so wird man eben den irak kurz mal hops nehmen und nachschauen, ob
dem so ist. und wenn man keine gefunden hat, so hat derjenige gelogen, der eine
solche behauptung aufgestellt hat. wenn derjenige, der gelogen hat, allerdings
rhetorisch geschickt ist und gerne verschwörungsszenarien konstruiert, wird er
dazu übergehen zu sagen, es seien wahrlich WMDs vorhanden gewesen - nur seien
sie jetzt eben gut versteckt und würden solange rumgekarrt, bis diejenigen
verschwunden sind, die kontrollieren.
Zitat:
Die Wahrheit von Sätzen steht schon fest bzw. muss schon feststehen, bevor sie ausgesprochen werden. Aber das hätte absurde Konsequenzen.
ich wüßte nicht, weshalb daraus absurde konsequenzen erwachsen sollten. die
konsequenzen wären die, dass man entweder dejenigen glaubt, der einem etwas
einredet, oder aber, dass man demjenigen nicht glaubt, und versucht auf
irgendeine art und weise zu falsifizieren, was gesagt worden ist. wenn jemand
behauptet, gestern schuhe gekauft zu haben, ich ihm aber einige videobänder
vorlege, die zeigen, dass er zur angegebenen zeit sich an einem anderen ort
aufgehalten hat, so wäre der gegenbeweis erbracht, dass die person unmöglich zu
diesem zeitpunkt am angegebenen ort gewesen sein kann. wenn ich darüberhinaus
noch den verkäufer im schuhladen vorweisen kann, der ebenfalls nicht bestätigen
kann, dass die person den laden am fraglichen tag betreten hat, und evtl. auch
noch zeugen habe, die die betreffende person an anderem ort gesehen haben, so
hat die betreffende person schlechte karten. und das funktioniert im richtigen
leben ebenso wie in jeder amerikanischen krimi-serie.
was die sache mit dem traum anbelangt,
Zitat:
Denn stell Dir vor, Du hättest nur geträumt, dass Du Schuhe kaufen warst, seist aber mit dieser Gewissheit aufgewacht!
da sprichst du eine art cartesischen zweifel an. ich denke es wäre ein leichtes,
mich zu vergewissern, ob ich gestern geträumt habe, schuhe gekauft zu haben,
oder ob das nur ein traum gewesen ist. zunächsteinmal müßte ich irgendwo die
schuhe, die ich gekauft habe, irgendwo im schuh-schrank oder sonstwo deponiert
haben. schuhe haben eine ausdehnung, folglich nehmen sie irgendwo einen platz
ein. sollte ich immer noch zweifel haben, werde ich nach dem beleg suchen, den
ich erhalten habe, als ich die schuhe gekauft habe. falls mich schwere zweifel
plagen, weil ich weder schuhe noch beleg finden kann, ich mir aber gewiss bin,
schuhe gekauft zu haben, sollte ich im betreffenden schuh-laden anrufen, und
dort nachfragen, ob ich gestern dort schuhe gekauft habe. falls meine
selbstzweifel immer noch nicht beseitigt sind, sollte ich mir gedanken über
meine psychische gesundheit machen, und evtl. erwägen, mir hilfe zu holen.
sicher. im prinzip gebe ich dir recht, dass in gewisser weise bezweifelt werden
kann, was ich an irgendeinem tag getan habe. aber da handlungen nie isoliert und
in einem robinson-szenario vollzogen werden, kann ich mich auf "indizien", "belege" und "zeugen" stützen. ganz so, wie in einem krimi :)
wenn ich paranoid bin, werde ich mich sicherlich mit keinem indiz, keinem beleg
und keinem zeugen zufrieden geben. allerdings ist das ein fall psychischer
aberration, den man gesondert betrachten sollte.
Zitat:
Ich denke, das Unterfangen, Wahrheit von den faktischen Aussagen faktischer
Sprecher loszulösen, wäre gleichbedeutend mit einer Aufhebung des
Wahrheitsbegriffs.
au contraire: gerade so unterscheiden wir doch zwischen wahrheit und bloßer
meinung. wenn mir jemand sagt, um die ecke stehe ein riesengroßer drache, werde
ich nachsehen. und wenn dort kein riesengroßer drache steht, werde ich ihn
darüber informieren, dass dem nicht so ist, wie er es behauptet hat. wahrheit -
verstanden als aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit - ist
sprecherunabhängig.
- mfg thomas
- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 08:44 Uhr
anmerkungen:
Zitat:
Aber festzuhalten bleibt, dass sich dieses "Genügen" auf UNSERE ZWECKE und nicht auf eine "absolute Wirklichkeit"
was sollte auch eine absolute wirklichkeit sein. absolut im bezug auf was? wir
haben es mit einer wirklichkeit zu tun.
Zitat:
eberhard:Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er für jeden und jederzeit
wahr.
hermeneuticus:Für jeden, DER IHN VERSTEHT. So weit waren wir in unserer
Diskussion schon einmal.
"snow is white", ist wahr, wenn schnee weiß ist. somit denke ich, wäre dieser
punkt geklärt.
Zitat:
Ein Satz kann überhaupt nur etwas bedeuten innerhalb einer Sprache, d. h. eines Bezugssystems, das es (einer stets begrenzten Anzahl) Menschen erlaubt, ihre Äußerungen auf einander zu beziehen.
zunächsteinmal können sätze über mehrere sprachen hinweg wahr sein - wie obiges
beispiel deutlich zeigen sollte. wir sollten uns auf sätze über die
beschaffenheit der wirklichkeit beschränken. dass kindstötung nicht erlaubt ist,
hätten die spartaner – zugegebenermaßen - anders gesehen.
wir sollten bei der rede von bezugssystemen nicht vergessen, dass wir ein
gemeinsames bezugssystem haben: die wirklichkeit des planeten terra.
wie ich wolfgang horn schoneinmal darauf hingewiesen habe, sollte man bei der
rede von unterschiedlichen bezugssystemen, privaten wahrheiten etc. nicht
vergessen, dass der großteil unserer ansichten eigentlich eben einem allen
menschen und kulturen gemeinsamen bezugssystem entstammt. dass sprachliche praxis
einer lebensform korreliert, ist einerseits zwar eine binsenweisheit, stellt
aber andererseits kein hindernis dar, andere absolut nicht zu verstehen.
selbst außerirdische, wenn es sie denn gäbe, besäßen eine art von metabolismus,
der - sei er noch so verschieden von unserem - sie in irgendeiner weise dazu
nötigt, energie aufzunehmen. und das werden wir als "essen" oder dergl.
verstehen.
Zitat:
Ich wehre mich nur dagegen, das Pferd erkenntnistheoretisch vom Schwanz her
aufzuzäumen. Es ist die gemeinsame PRAXIS, die gemeinsame Bezugssysteme
hervorbringt.
es fragt sich nur, wer hier was von hinten aufzäumt.
ich würde mich wundern, wenn du die these vertrittst, die welt in der wir leben,
wäre von uns hervorgebracht.
dass ich gleich mein frühstück zu mir nehme, also hunger habe, ist mitnichten ein
kulturelles produkt. es ist eine eigenschaft einer mir vorgängigen welt.
zunächst und hauptsächlich gehorcht mein körper gewissen biologischen und
physikalischen gegebenheiten. erst anschließend ist es uns menschen möglich,
eine kultur aufzubauen. auch wenn sich inuit anstrengen, so wird es ihnen kaum
gelingen, e.g. in grönland wein anzubauen. dementsprechend werden sie auch nie
aus sich heraus die kulturellen errungenschaften des weinbaus hervorbringen.
andererseits dürfte ein ägypter sichtliche probleme haben in ägypten so ohne
weiteres ein iglu zu bauen und sich als walfänger zu etablieren.
Zitat:
Diese ist die PRIMÄRE WIRKLICHKEIT, die - erfahrungsgemäß - dann auch
gemeinsame Bezugs- und Deutungssysteme hervorbringt, also z. B. Theorien und
Hypothesen über die für alle Betroffenen RELEVANTE Wirklichkeit.
wir sollten nicht vergessen, dass die rede von einer primären/sekundären
wirklichkeit lediglich heuristischen zwecken dient, und ontologisch
keinerlei fundierung besitzt. wir befinden uns alle derzeit auf dem planeten
erde - astronauten einmal ausgenommen. dementsprechend ist die irdische
wirklichkeit die wirklichkeit in der wir leben. es gelten die physikalischen
gesetze wie z. B. das gravitationsgesetz. dass wir anhand dessen, was es gibt
(also der wirklichkeit), verschiedene kulturen haben ist unzweifelhaft der fall.
aber daraus den Schluss zu ziehen, wir hätten es mit verschiedenen
wirklichkeiten zu tun, heißt, den begriff der wirklichkeit
überzustrapazieren. wie gesagt, zu heuristischen zwecken ist es sinnvoll, zu
unterscheiden zwischen "der welt der alten inkas" und der "postindustriellen
westlich geprägten welt". das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich
diese welten alle in einer wirklichkeit befinden.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 17. Nov. 2004, 10:11 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
die wahrheit von aussagen liegt außerhalb dessen, was jemand als "wahr" deklariert.
Nicht die Wahrheit, sondern die GRÜNDE, die als BELEG für die Wahrheit der
Aussagen GELTEN, verweisen auf etwas, das außerhalb der Aussagen liegt. Und
diese Gründe GELTEN jeweils deshalb, weil es Adressaten gibt, die sie gelten
LASSEN, d. h. sie ALS Gründe für die Wahrheit von Aussagen AKZEPTIEREN.
Wenn wir die Wahrheit von Aussagen außerhalb der Aussagen verorteten, fielen wir
nicht nicht nur aus dem vereinbarten Diskussionsrahmen, der den Begriff der
Wahrheit auf das Zutreffen von Aussagen begrenzt. Sondern damit wäre dann "Wahrheit" dasselbe wie "Wirklichkeit", und "wahre Wirklichkeit" ist eben der
Boden, den die vorkantische Metaphysik bestellt hat.
Ich denke, in die Argumentationsschleifen von "Wahrheit II" müssen wir nicht
erneut eintreten. Wir kommen an dem Punkt immer wieder nur zu unterschiedlichen
Fazits, die dort bereits nachzulesen sind.
Dein Beispiel mit den Massenvernichtungswaffen im Irak zeigt doch, dass ein
gewisser Personenkreis das "Beweisverfahren" (die Besetzung des Irak) nicht ALS
hinreichenden Beleg GELTEN lassen will. Das ist zwar in diesem Fall zynisch und
von schwer überbietbarer Unverschämtheit. Aber wir müssen zugeben, dass wir, die
so urteilen, uns dabei auch nur auf das Urteil von Menschen verlassen (also
ihre Begründungen GELTEN LASSEN), denen wir, wenn wir ehrlich sind, auch schon
VOR dem "Beweisverfahren" glauben schenkten...
Zu beweisen, dass etwas nicht da ist (z. B. dem Finanzamt, dass man KEINE
weiteren Einkünfte als die deklarierten hat), ist unmöglich. Darum trägt die
Beweislast derjenige, der die Existenz von etwas behauptet. Allerdings müssen
sich die Beteiligten schon vorher einig darüber sein, was sie als einen
hinreichenden Beleg GELTEN lassen. Denn sonst könnte, wie im Beispiel
tatsächlich geschehend, immer gesagt werden: DAS ist aber noch kein WIRKLICHER
Beweis, wir brauchen noch bessere Belege, also suchen wir weiter.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 17. Nov. 2004, 11:21 Uhr
Hallo allerseits,
obwohl es den gegenteiligen Anschein macht, sind wir doch in unseren Positionen
nicht so weit auseinander, was den Gebrauch des Wortes "wahr" in Bezug auf
Aussagen über die Wirklichkeit betrifft.
(Die mögliche Unterscheidung zwischen "Satz" und "Aussage" spare ich hier
aus.)
Die Frage, ob eine Aussage wahr ist, kann nur beantwortet werden, wenn
diese Aussage eine bestimmte Bedeutung hat, also in einer bekannten Terminologie
oder "Sprache" formuliert ist und insofern verständlich ist. Da sind wir uns
wohl einig.
Eine Aussage ist dann wahr, wenn es so ist, wie die Aussage besagt. Z. B.
ist die Aussage: "Es gibt Säugetiere, die fliegen können" dann wahr, wenn es
Säugetiere gibt, die fliegen können. Auch da gibt es wohl keine Probleme.
Diese Definition klingt allerdings trivial - und wäre es wohl auch - wenn
sich darin die Bedeutung des Wortes "wahr" erschöpfen würde.
Da die Kennzeichnung der Aussage als "wahr" keinerlei zusätzliche
Information enthält, wäre es scheinbar sinnvoll, auf das Wort "wahr" zu
verzichten. Statt zu sagen: "Es ist wahr, dass das liegende Säugetiere gibt"
könnte man ohne Informationsverlust einfach sagen: "Es gibt fliegende
Säugetiere."
Dass man trotzdem das Wort "wahr" verwendet, lässt vermuten, dass das
Wort noch andere Bedeutungen enthält oder noch andere Funktionen erfüllt.
Meiner Ansicht nach hat das Wort "wahr" auch einen normativen Gehalt. Es
dient dazu, Aussagen ausdrücklich zur Übernahme in die eigenen Überzeugungen zu
empfehlen. Umgekehrt dient die Kennzeichnung einer Aussage als "falsch" dazu,
ihre Aussonderung aus dem eigenen Weltbild zu empfehlen.
Dies erklärt auch, warum der Begriff "Wahrheit" in den weltanschaulichen
Auseinandersetzungen so heiß umkämpft ist.
Diese normative Bedeutungskomponente enthält ein rein empirisches
Prädikat wie z. B. "kurz" nicht. Die Aussage "Der Satz 'Peter schläft' ist kurz"
lässt sich durch Untersuchung des Satzes "Peter schläft" auf die Anzahl der
darin enthaltenen Wörter überprüfen.
Wie Hermeneuticus bereits betont hat, lässt sich die Aussage: "Der Satz
'Peter schläft' ist wahr" nicht durch die Untersuchung des Satzes "Peter
schläft" überprüfen, sondern erfordert den Bezug auf das, was der Satz besagt.
Wenn ich also mit der Aussage: "Der Satz 'Peter schläft' ist wahr" mehr
ausdrücken will, als über meine Meinung zu informieren, dann muss ich Gründe für
dessen Wahrheit angeben.
Eine Aufforderung zur Übernahme einer Aussage ohne Begründung wäre ein reiner
Glaubensappell.
Könnten wir uns darauf verständigen? fragt Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 12:31 Uhr
hallo eberhard,
ich stimme mit dir überein, dass sich die verwendung des wortes "wahr" nicht nur
rein deskriptiv auf das bestehen oder nichtbestehen von sachverhalten
beschränkt, sondern darüber hinaus existiert auch eine performative bedeutung (" x
ist wahr" = "ich weiß, dass x der fall ist, und stimme zu." ) bzw. eine
persuasive bedeutung (" x ist wahr, davon kann ich jeden überzeugen." ).
allerdings halte ich es für problematisch auf den redundanzcharakter von wahren
aussagen zu verweisen
Zitat:
Da die Kennzeichnung der Aussage als "wahr" keinerlei zusätzliche Information enthält, wäre es scheinbar sinnvoll, auf das Wort "wahr" zu verzichten
diese sichtweise greift meiner ansicht nach zu kurz.
sätze wie "alle aussagen des papstes sind wahr" wären problematisch. - wie
sollten sie umgeformt werden ohne eine synonyme konstruktion? oder wie steht es
mit der übersetzung von "'snow is white' ist wahr, genau dann, wenn schnee weiß
ist" ?
auch wenn das wort "wahr" seine ecken und kanten besitzt, ist es
nichtsdestoweniger unverzichtbar.
- mfg thomas
p.s.: @hermeneuticus
einverstanden! ich muss mich korrigieren.
aussagen sind wahr oder falsch, insofern sie die tatsachen widerspiegeln. wahr
bzw. falsch ist eine aussage dann, wenn sie zutrifft, oder nicht zutrifft. das
worauf sie sich beziehen liegt jenseits der sprache. "wahr" und "falsch" sind prädikate einer meta-sprache. "schnee ist weiß" ist wahr, genau dann, wenn schnee weiß ist.
p.p.s.:
Zitat:
Wie Hermeneuticus bereits betont hat, lässt sich die Aussage: "Der Satz 'Peter schläft' ist wahr" nicht durch die Untersuchung des Satzes "Peter schläft" überprüfen, sondern erfordert den Bezug auf das, was der Satz besagt.
"der satz 'peter schläft' ist wahr" ist genau dann wahr, wenn der satz "peter
schläft" wahr ist; der satz "peter schläft" ist wahr, wenn peter schläft.
wo ist das problem?
- III
- Dyade am 17. Nov. 2004, 12:32 Uhr
Hallo ihr Lieben, "" snow is white", ist wahr, wenn schnee weiß ist. somit denke ich, wäre dieser
punkt geklärt. "" welcher Schnee?" fragt der Eskimo und fährt fort zu behaupten dass da überhaupt
kein Schnee ist. Dann wird er fragen:" welches Weiß? Ich sehe kein Weiß,
lediglich eine sehr große Vielfalt an unterschiedlichen Farben, die jede für
sich und zusammen mit den unterschiedlichen Oberflächen, den unterschiedlichen
Konsistenzen unterschiedene "Dinge" ergeben die mit unterschiedlichen Namen
benannt sind".
Der Ureinwohner Papua-Neuguineas, dem man ein Foto von New York vorhält und den
man fragt was er darauf erkennen könne, "sieht" nicht die Wolkenkratzer im
Hintergrund, die für ihn nur seltsame "Berge" oder Felsen sind, aber die Hühner
im Vordergrund des Bildes erkennt er sofort.
Wenn also die Erfahrung, die Empirie, die ich an der Wirklichkeit (Wirk-lichkeit)
mache, an den Rändern des Logos immer weiter unscharf wird, weil andere Namen
vergeben sind, weil andere Namen aufgrund differenzierterer -oder schlicht
anderer-Erfahrungen vergeben werden, dann bleibt eben letzlich keine Wahrheit
übrig die ich als Übereinstimmung von Denken und Sein postulieren könnte. Das
gleiche gilt aber nicht nur für die Ränder des Spieles das wir tagtäglich
spielen wenn wir Namen benutzen oder neu vergeben. Das gleiche gilt auf mitten
im Spielfeld. Dann reden "die Anderen" plötzlich über Dinge die mit bestimmten
Namen belegt sind, die ich auch kenne und die ich gelernt habe, aber ich spüre
das irgendetwas nicht stimmt mit der Art und Weise wie mit den Namen und dem was
sie bezeichnen sollen, umgegangen wird. Da scheint es Differenzen zu geben und
das Spiegelbild ist gebrochen. Das ist die Komplexion des Alltags und seine
Unabgeschlossenheit. Könnte ich mit Sprache über Sprache reden, ja dann...
Man stelle sich eine Welt vor in der von Heute auf Morgen alle Uhren. nach
Jahrhunderten des gebrauchs, verschwunden sind. Wir warten einen Monat und
schauen uns dann an was aus den Verabredungen, Terminen und Dates der Menschen
geworden ist. Ich schätze wir werden feststellen, das die Zeit, in ihrer Dauer,
das was Franzosen "Duree" nennen, das was Heidegger die Zeitigung der Zeit
nennt, ihre Dehnungen und ihre Stauchungen (um ungerechtfertigt einmal
Raumbegriffe zu verwenden), das die subjektive Zeitlichkeit die "Gesellschaftsordnung" dieser Welt vollkommen auf den Kopf zu stellen beginnen
würde. Letzlich eine anderen Wirklichkeit, eine andere Vermittlung, eine andere
Wahrheit.
Conclusio: "Schnee ist weiß, wenn er weiß ist". Dieser Satz ist wahr aber so wahr das ich
auch sagen könnte er ist "nicht weiß". Diese Tautologien und Gleichungen, diese "Grundgesetze des Denkens" sind von so hoher (höchster) Allgemeinheit, das ihr
Gegenteil eben auch stimmt, bzw. das Gegenteil sogar das Einzige ist was zu
einer näheren Bestimmung des Ersten herangezogen werden kann. Damit kommen wir
aber der Gewissheit ob wir im Gespräch über ein und die selbe Wirk-lichkeit
reden keinen Schritt näher. Und das wäre doch dann erst die "wirkliche Wahrheit"
oder? :-)
Grüße
DY
- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 13:09 Uhr
hallo dyade,
ich denke, dass wir uns wenig gedanken um verständigungsprobleme machen sollten.
ich denke, dass man aussagen über die beschaffenheit der wirklichkeit ausreichend
analysieren kann, und sie entsprechend in andere sprachen übersetzen kann.
schwieriger wird es bei wortspielen etc.
wenn wir also dem inuit ausreichend verständlich machen, was wir mit schnee so
alles meinen, und was wir unter "weiß" verstehen, so dürfte der verständigung
kein hindernis mehr im weg stehen.
Zitat:
Der Ureinwohner Papua-Neuguineas, dem man ein Foto von New York vorhält und den man fragt was er darauf erkennen könne, "sieht" nicht die Wolkenkratzer im Hintergrund, die für ihn nur seltsame "Berge" oder Felsen sind, aber die Hühner im Vordergrund des Bildes erkennt er sofort.
sofern der papua ureinwohner keine augenprobleme hat, wird auch er die
hochhäuser -wir setzen einmal ein scharfes foto voraus- sehen. wo du allerdings
in new york hühner sehen kannst, wirst du mir sicher in einem der folgebeiträge
erklären :D
dass er die hochäuser nicht als "hochäuser" versteht ist lediglich ein
sprachliches, kein ontologisches problem. es würde mich erstaunen, wenn ich den
papua nach frankfurt einlade und er mir erstaunt von der "freien fläche" und der "weiten sicht" erzählt. ich glaube nicht, dass er durch unsere hochhäuser wird
hindurch sehen können.
Zitat:
Wenn also die Erfahrung, die Empirie, die ich an der Wirklichkeit (Wirk-lichkeit) mache, an den Rändern des Logos immer weiter unscharf wird, weil andere Namen vergeben sind, weil andere Namen aufgrund differenzierterer -oder schlicht anderer-Erfahrungen vergeben werden, dann bleibt eben letzlich keine Wahrheit übrig die ich als Übereinstimmung von Denken und Sein postulieren könnte.
was um alles in der welt soll das denn heißen?
vorallem: wo wird wirklichkeit unscharf?
ich glaube du verwechselst worte mit sachverhalten.
wir können sicherlich streiten, ob licht mit der wellenlänge von 564 nanometern
noch grün oder schon gelb ist. aber nicht, ob dort licht von 564 nanometern ist,
oder nicht. es gibt keinen rational angebbaren grund, warum man licht dieser
wellenlänge so oder anders bezeichnen sollte, aber, dass dort licht dieser
wellenlänge vorliegt ist nachweisbar.
Zitat:
Dann reden "die Anderen" plötzlich über Dinge die mit bestimmten Namen belegt sind, die ich auch kenne und die ich gelernt habe, aber ich spüre das irgendetwas nicht stimmt mit der Art und Weise wie mit den Namen und dem was er bezeichnen soll, umgegangen wird. Da scheint es Differenzen zu geben und das Spiegelbild ist gebrochen.
wie poetisch ....
Zitat:
Conclusio: "Schnee ist weiß, wenn er weiß ist". Dieser Satz ist wahr aber so wahr das ich auch sagen könnte er ist "nicht weiß"
wie kommst du denn dazu? vorallem, aus was folgt denn deine "conclusio" ?
nur als kleine anmerkung: es heißt "'schnee ist weiß' genau dann, wenn der
schnee weiß ist" und das ist mit nichten eine tautologie. wir haben es hier mit
zwei verschiedenen sätzen zu tun. ein satz der durch seinen namen repräsentiert
wird 'schnee ist weiß' und einen satz der die bedingung angibt, unter welcher
dieser satz wahr ist.
Zitat:
Und das wäre doch dann erst die "wirkliche Wahrheit" oder?
was ist eine "wirkliche wahrheit" ? im vergleich wozu ist sie wirklich? eine
aussage über die beschaffenheit der wirklichkeit ist wahr oder falsch. das
attribut "wirklich" ist hier fehl am platze.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 17. Nov. 2004, 17:06 Uhr
Hallo Thomas!
Wie es scheint, müssen wir die "Wirklichkeitsdiskussion" doch noch einmal
aufnehmen. Aber vielleicht ist inzwischen ein neuer Gesichtspunkt aufgetaucht...
on 11/17/04 um 08:44:26, jacopo_belbo wrote:
wir sollten bei der rede von bezugssystemen nicht vergessen, dass wir ein gemeinsames bezugssystem haben: die wirklichkeit des planeten terra.
Dass wir von diesem Bezugssystem WISSEN, d. h. die und die begründeten Aussagen
darüber machen können - verdanken wir wem? Der Erde? Dem Gravitationsgesetz? Dem
Metabolismus? Nein, sondern unseren menschlichen Erkenntnisleistungen. Und dass
wir diese menschlichen Erkenntnisleistungen klar trennen können von ihren "natürlichen" Voraussetzungen, ist ebenfalls eine Erkenntnis.
DASS es eine Wirklichkeit geben muss, damit wir überhaupt etwas erkennen können,
ist unbestritten. Aber WAS immer wir über diese Wirklichkeit herausfinden und
begründetermaßen SAGEN können, beruht auf unserer Erkenntnis.
Wir führen hier eine erkenntnistheoretische Diskussion. d. h. wir fragen danach,
was Erkenntnis leistet und wie sie normiert sein muss, damit wir am Ende (wahre)
Aussagen über die Wirklichkeit herausbekommen und nicht Aussagen über unsere
Denk- oder Begründungsfehler oder über gestörte Messinstrumente.
Wir fragen also: Wie müssen wir HANDELN, damit wir Aussagen über den Teil der
Wirklichkeit gewinnen, der NICHT unser Handeln ist und auch nicht von ihm
abhängt?
Beispiel: Wie muss ich eine Uhr ablesen, damit ich sagen kann, wie lange ein
bestimmter Vorgang dauert? - Geht die verwendete Uhr falsch oder lese ich eine
korrekt gehende Uhr falsch ab, wird die Aussage, die ich AUFGRUND dieser
fehlerhaften Messung mache, eben keine Aussage über die Dauer des beobachteten
Vorgangs sein. Sondern es wird implizit eine Aussage über gewisse Besonderheiten
MEINES Handelns sein, die wir auch "Fehler" nennen.
Die Pointe ist aber: Die Beurteilung meiner Erkenntnisleistung (des Messens) als "fehlerhaft" stützt sich offensichtlich nicht auf die wirkliche Dauer des
beobachteten Vorgangs. Denn die soll ja erst noch gemessen werden, kann also
nicht ihrerseits Maßstab für mein Handeln sein. Sondern die Beurteilung meiner
Messung orientiert sich an NORMEN, denen die HANDLUNG des Messens unterliegt.
Analog orientieren sich Regeln für das Begründen auch nicht an der Struktur
einer gegebenen Wirklichkeit, sondern es sind (zweckmäßige) Vorschriften für die
Handlung des Begründens. Eine fehlerhafte Begründung - z. B. ein logischer
Widerspruch -vereitelt nämlich schon im Ansatz, dass die Begründung überhaupt
irgendetwas über die Wirklichkeit aussagt. Natürlich ist eine Handlung
ihrerseits auch wirklich, selbst eine fehlerhaft vollzogene. Aber wenn das
Handlungsresultat nicht nur Auskunft über diese Handlung geben soll, muss diese
auf eine bestimmte Weise - nämlich vorschriftsmäßig - durchgeführt werden.
Allgemein gesagt: Was immer wir begründetermaßen (und DARUM gewiss) von jener
Wirklichkeit WISSEN, die von unserem Handeln unabhängig "da ist", wissen wir
nur, WEIL wir eine bstimmte Art des Handelns durchgeführt haben (das "Erkennen" ), und zwar: RICHTIG durchgeführt.
Dass Du immer wieder auf jene "gegebene", "vorhandene", "einfach faktisch
daseiende"... Wirklichkeit als DIE Voraussetzung und DEN Maßstab unsrer
Erkenntnis verweisen KANNST, verdankt sich bereits erfolgreichen
Erkenntnisleistungen.
Da wir nun aber ERKENNTNISTHEORIE treiben, ist es aus METHODISCHEN GRÜNDEN
unzulässig, Resultate von (gelungenen) Erkenntnisleistungen als Voraussetzung
oder gar Maßstab dieser Leistungen einzuführen. Das wäre nur dann zulässig, wenn
Du zeigen könntest, dass Dein Wissen von dieser Wirklichkeit "da draußen" nicht
auf Erkenntnisse zurückgeht (sondern etwa auf einen "privilegierten Zugang",
Eingebung" "Erleuchtung" usw.).
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 17:56 Uhr
hallo hermeneuticus,
ich muss gestehen, ich habe keinen blassen schimmer, was du mir sagen willst.
ohne jemanden, der etwas über die welt sagt, gibts keine diskussion über die
welt. es ist stark anzunehmen, dass es die welt schon ein wenig länger gibt, als
menschen auf ihr.
als es noch keinen menschen gab, gab es noch keine diskussion über die welt.
mit dem menschen und seiner sprache kam eben auch das sprechen über die
sachverhalte in der welt. eine interessante stelle in der bibel (genesis 2,19
ff.) zeigt uns sinnbildlich dieses vorgehen; die stelle an der der liebe gott
den adam erschafft, und adam die tiere "bei ihrem namen nennt. bis heute gibt es
eine heftige diskussion darüber -und in gewisser weise ist unsere diskussion ein
ast an diesem baum- ob nun adam den dingen ihren, also den dingen, eigenen namen
gab, oder ob adam die dinge benannte, also ihnen ihren namen gab.
wie dem auch immer sei, gab und gibt es eine dem menschen vorgängige welt. dort
regnet es, schneit es, hagelt es, gibt es vulkanausbrüche, dort haben menschen
hunger, durst, etc.
ich denke es wäre purer obskurantismus die gemeinsamkeiten unter den tisch
fallen zu lassen, und auf idiosynkratischen unterschieden zu beharren.
mit dieser welt stehen wir in ständigem kontakt. wenn es regnet, werden wir naß
- wir erkälten uns, bekommen fieber, husten, schnupfen, heiserkeit etc.
wir verspüren von zeit zu zeit das bedürfnis zu schlafen, zu essen, zu trinken
etc.
sicherlich, unser gehirn hat einiges an leistung zu vollbringen, bis wir die
welt quasi sehen, wie wir sie sehen. insofern ist es gerechtfertigt, von "erkenntnisleistung"
zu sprechen.
dort, in der wahrnehmung der welt, ist der dreh- und angelpunkt jeder
ernstzunehmenden erkenntnistheorie.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 17. Nov. 2004, 20:51 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
dort, in der wahrnehmung der welt, ist der dreh- und angelpunkt jeder ernstzunehmenden erkenntnistheorie.
So im Groben gesagt, ist das ganz richtig. Nur haben Wahrnehmungen und mit ihnen
alle weiteren menschlichen Erkenntnisleistungen die bedauerliche Eigenschaft,
fehlbar zu sein.
Das ist bereits in unserer unmittelbaren Umgebung so. Aber wenn es darum geht,
von den uns zur Verfügung stehenden Wahrnehmungen auf das Alter des Universums
zu schließen, potenzieren sich die möglichen Fehler- und Irrtumsquellen. Darum
ist es keine triviale Frage, wie zutreffende Aussagen über die Wirklichkeit
zustandekommen und wovon ihr Zutreffen abhängt.
Dabei ist aber auch von vornherein klar: Die Gründe für das Gelingen oder
Scheitern von menschlichen Erkenntnissen können nicht in der von uns
unabhängigen Wirklichkeit zu suchen sein. Sie sind vielmehr in den menschlichen
Handlungen selbst zu suchen, die Wissen hervorbringen.
Wenn wir danach fragen, wie gelingende Erkenntnis der Wirklichkeit MÖGLICH ist,
ist es aus methodischen Gründen ausgeschlossen, sich bei dieser Frage auf
bereits vorhandenes Wissen über die Wirklichkeit zu stützen. Dieses Wissen wird
ja gerade durch die Fragestellung problematisiert. Dass wir faktisch
selbstverständich ein Wissen von der Wirklichkeit haben, und sogar ein praktisch
bewährtes, ist klar. Nur hilft es uns nicht bei der Frage, wieso derartiges
Wissen ÜBERHAUPT wahr oder falsch sein KANN.
Die Frage nach der Möglichkeit von wahren/unwahren Aussagen ist eine Frage
danach, was wir TUN, wenn wir solche Aussagen machen und welche Regeln es für
dieses Tun gibt.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 17. Nov. 2004, 21:20 Uhr
Hallo Dayde,
wenn ich Dich recht verstehe, betonst Du die Probleme der Verständigung zwischen
Menschen verschiedener Kulturen, Sprachen und sozialer Ordnungen, die es
unmöglich machen, von einem für jedermann wahren Satz zu sprechen. Ich bin der
Meinung, dass Ethnologen und Sprachforscher dies Problem wenn nicht völlig
beseitigen aber erträglich machen können.
Dein Satz "Schnee ist weiß, wenn er weiß ist" ist in der Tat eine
Tautologie. Aber aus der Definition von Wahrheit folgt der Satz: "Der Satz
'Schnee ist weiß' ist wahr, wenn Schnee weiß ist."
Dies ist keine Tautologie, er verweist auf die Wirklichkeit. Wie kann ich
feststellen, ob Schnee (immer) weiß ist?
Wenn der Sinn der Worte "Schnee" und "weiß" geklärt ist, wird man
versuchen, Schnee zu finden und dessen Farbe festzustellen.
In diesem einfachen Fall sehe ich keine Probleme und ich sehe auch keine
Probleme, dem Angehörigen jeder beliebigen Kultur die Bedeutungen zu vermitteln,
die ich mit dem Wort "Schnee" und dem Wort "weiß" verbinde.
Es grüßt Dich Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 17. Nov. 2004, 21:29 Uhr
hi hermeneuticus,
Zitat:
Nur haben Wahrnehmungen und mit ihnen alle weiteren menschlichen Erkenntnisleistungen die bedauerliche Eigenschaft, fehlbar zu sein.
dem stimme ich voll und ganz zu.
wir sollten aber nicht vergessen, dass falsche wahrnehmungen die ausnahme,
nicht die regel sind.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 18. Nov. 2004, 03:27 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
dass er die hochäuser nicht als "hochhäuser" versteht ist lediglich ein sprachliches, kein ontologisches problem.
So recht verstehe ich nicht, was Du mit dem Unterschied zwischen einem
sprachlichen und einem ontologischen Problem meinst.
Jedenfalls wird der Papua nicht nur deshalb kein Hochhaus sehen, weil ihm das
entsprchende Wort dafür fehlt, sondern weil er nicht weiß, was für eine Art
Dinge diese Gebilde sind: woraus sie bestehen, welchen Zwecken sie dienen
usw.
Ähnlich wird ein Außerirdischer nicht wissen, was er sieht, wenn er zwei
Schachspielern zuschaut und dabei nicht weiß, was "spielen" bedeutet und welche
die Regeln dieses Spiels sind.
Deine Antwort auf meine Frage steht noch aus: ob das Schachspiel ALS Schachspiel
Teil Deiner Ontologie ist oder ob man es erst zerlegen muss, um auf die Elemente
zu stoßen, aus denen es "wirklich" besteht.
- - - - - - - - - - - -
Zitat:
wir sollten aber nicht vergessen, dass falsche wahrnehmungen die ausnahme, nicht die regel sind.
Dem würde ich zustimmen, wenn Du die Kriterien für falsches/richtiges Wahrnehmen
unter den menschlichen Normen fändest, weil Du Wahrnehmen als ein erlerntes
menschliches Handeln begriffest. Aber ich befürchte, dass Du Wahrnehmung als
einen Naturvorgang verstehst, und die Kriterien für dessen Richtigkeit in der "Beschaffenheit der Wirklichkeit" lokalisierst.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 18. Nov. 2004, 11:48 Uhr
Hallo Eberhard!
on 11/17/04 um 11:21:19, Eberhard wrote:
Die Frage, ob eine Aussage wahr ist, kann nur beantwortet werden, wenn diese Aussage eine bestimmte Bedeutung hat, also in einer bekannten Terminologie oder "Sprache" formuliert ist und insofern verständlich ist. Da sind wir uns wohl einig.
Ja. Wobei ich schon hier zur Verdeutlichung anfügen würde, dass eine Sprache
eine PRAXIS ist und die Bedeutung von Wörtern ihr (mehr oder weniger geregelter)
Gebrauch.
Zitat:
Eine Aussage ist dann wahr, wenn es so ist, wie die Aussage besagt. Z. B. ist
die Aussage: "Es gibt Säugetiere, die fliegen können" dann wahr, wenn es
Säugetiere gibt, die fliegen können. Auch da gibt es wohl keine Probleme.
Diese Definition klingt allerdings trivial - und wäre es wohl auch - wenn
sich darin die Bedeutung des Wortes "wahr" erschöpfen würde.
Da die Kennzeichnung der Aussage als "wahr" keinerlei zusätzliche
Information enthält, wäre es scheinbar sinnvoll, auf das Wort "wahr" zu
verzichten. Statt zu sagen: "Es ist wahr, dass das liegende Säugetiere gibt"
könnte man ohne Informationsverlust einfach sagen: "Es gibt fliegende
Säugetiere."
Dass der Gebrauch des Wortes "wahr" keine "zusätzliche Information" enthält,
sollte präzisiert werden: Er enthält keine zusätzliche Information über den
Sachverhalt, dessen Vorliegen die Aussage behauptet. Aber es verweist (oder
lässt schließen) auf das Vorhandensein von Kriterien/Regeln für den richtigen
Gebrauch der Begriffe, aus denen die Aussage besteht.
Zitat:
Meiner Ansicht nach hat das Wort "wahr" auch einen normativen Gehalt. Es dient dazu, Aussagen ausdrücklich zur Übernahme in die eigenen Überzeugungen zu empfehlen. Umgekehrt dient die Kennzeichnung einer Aussage als "falsch" dazu, ihre Aussonderung aus dem eigenen Weltbild zu empfehlen.
Einverstanden. - Allerdings ist "eigene Überzeugung" mit gewissen
Differenzierungen zu verstehen, auf die ich Thomas oben im Beitrag Nr.19
hingewiesen habe.
Der Zusammenhang zwischen "Weltanschauung" /" Weltbild" und der Normativität des
Wortes "wahr" scheint mir so plausibel, dass ich gleich wieder den Begriff der "(Interpretations-)Welten" (im Plural) aus der Kiste ziehe...
[surprise]
Man könnte nämlich eine "Weltanschauung" als die Summe der wahren Sätze
bezeichnen, die die Sprecher einer Sprache über die Welt äußern können.
Zitat:
Wenn ich mit der Aussage: "Der Satz 'Peter schläft' ist wahr" mehr ausdrücken
will, als über meine Meinung zu informieren, dann muss ich Gründe für dessen
Wahrheit angeben.
Eine Aufforderung zur Übernahme einer Aussage ohne Begründung wäre ein
reiner Glaubensappell.
Einverstanden.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 18. Nov. 2004, 15:27 Uhr
hallo hermeneuticus,
ich denke am schnellsten klar wird das, was ich meine, wenn wir uns mit den
farbnamen beschäftigen.
wir haben einerseits ein kontinuum von elektromagnetischen wellen und
andererseits eine diskrete benennung durch farbnamen. man ist leicht versucht
farben als entitäten anzusehen. rot, gelb, grün, blau, lila. etc. existieren als
sprachliche, aber nicht als ontologische entitäten. und das ist der wesentliche
unterschied. es existiert kein "rot" als solches. und es ist auch nicht
einzusehen, weshalb die farbe rot nicht noch weiter zu differenzieren sei; so
dass wir nicht nur ein "rot" sondern auch ein "kaminrot", ein "rotbraun" etc.
haben. wir haben ein kontinuum an elektromagnetischer strahlung (das bezeichne
ich mit ontologisch) und eine reihe von quasiwillkürlichen unterteilungen (eine
semiotische differenzierung).
das semiotische universum eines papua sieht mit sicherheit anders aus, als unser
universum. er wird das, was wir mit "hochhaus" bezeichnen nicht als hochaus
erkennen - was aber nicht heißt, dass er dasjenige, was wir mit "hochhaus"
bezeichnen nicht sieht. er identifiziert es nicht als hochhaus.
was die frage nach der richtigen wahrnehmung anbelangt, so kannst du dir die
frage leicht selbst beantworten. frage dich, was du den ganzen tag über so tust.
du stehst morgens aus dem bett auf, schlägst deine decke zurück, findest deine
latschen, schlüpfst mit den füßen hinein, gehst in die küche, bereitest dir
dein frühstück, stellst milch auf den tisch, nimmst teller aus dem schrank,
gehst zum kühlschrank, nimmst wurst heraus etc.
den ganzen tag wird die information deiner sinne genutzt um deine motorik
korrekt zu steuern. fehler sind da eher die ausnahme. stell dir nur einmal vor,
dass 10% aller motorischen vorgänge fehlerhaft seien. das chaos wäre perfekt.
Zitat:
Aber ich befürchte, dass Du Wahrnehmung als einen Naturvorgang verstehst, und die Kriterien für dessen Richtigkeit in der "Beschaffenheit der Wirklichkeit" lokalisierst.
wie du richtig gesagt hast, ist für mich wahrnehmung ein naturvorgang. eine
interaktion zwischen mensch und umwelt - beide elemente der natur. und
entsprechend ist die "richtigkeit" eben in dieser interaktion zu finden: ich
greife im normalfall da hin, wo auch meine tasse steht; nur ausnahmen lassen
mich danebengreifen.
- mfg thomas
p.s.: dein schachspiel als schachspiel ist kein teil der wirklichkeit. es
ist ein koordinierter ablauf von bewegungen oder gewisser verhaltensweisen, die
derjenige, der sie versteht "schachspiel" nennt, und die von andern vielleicht "langweiliges rumsitzen" genannt wird.
- Hallo Re: Wahrheit III
- Hermeneuticus am 18. Nov. 2004, 16:43 Uhr
Hallo Thomas!
Ja, dann habe ich Dich doch von Anfang "richtig" verstanden, nämlich als einen
Vertreter der "naturalistischen" Erkenntnistheorie und der Abbildtheorie der
Wahrheit... :-)
on 11/18/04 um 15:27:42, jacopo_belbo wrote:
wir haben einerseits ein kontinuum von elektromagnetischen wellen und andererseits eine diskrete benennung durch farbnamen.
Dass "wir" ein Kontinuum von elektromagnetischen Wellen "haben", ist eine
empirische, also erfahrungswissenschaftliche Behauptung. Es ist keine
unbegründete Behauptung, aber eben doch eine erfahrungswissenschaftliche. Nun
können erfahrungswissenschaftliche Sätze wahr oder falsch sein. d. h. sie sind
BEISPIELE für die Verwendung des Wahrheitsbegriffs.
Wenn wir hier ALLGEMEIN klären wollen, welche Bedeutung die Verwendung des
Wahrheitsbegriffs hat, bedeutet das nicht, dass Beispiele nichts zu einer
solchen Klärung beitragen können. Aber eben immer nur als Beispiele, nicht als
ausschlaggebende Instanzen, deren Ergebnisse wir einfach übernehmen müssten.
Oder anders gesagt: Wenn wir klären wollen, wie wahre Sätze über die
Wirklichkeit möglich sind - d. h. welchen grundlegenden Regeln sie folgen -, dann
klären wir damit zugleich auch, wie solche Sätze in jenen
Erfahrungswissenschaften möglich sind, die z. B. vom "Kontinuum der
elektromagnetischen Wellen" handeln. Daraus folgt logisch, dass unsere Klärung
nicht von einzelnen empirischen Behauptungen abhängen kann. Denn wir klären ja
gerade erst deren prinzipiellen Geltungsbedingungen.
Oder nochmals anders gesagt: Die Urheber erfahrungswissenschaftlicher Sätze
nehmen den etablierten Gebrauch des Wahrheitsbegriffs bereits in Anspruch. Wir
klären hier, worin dieser etablierte Gebrauch allgemein besteht.
Erfahrungswissenschaftliche Sätze können also keine Vorschriften enthalten, nach
denen sich der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs ALLGEMEIN richtet.
Zitat:
rot, gelb, grün, blau, lila. etc. existieren als sprachliche, aber nicht als ontologische entitäten.
Hier nimmst Du bereits eine spezialisierte, nämlich erfahrungswissenschaftliche
Ontologie in Anspruch.
Zum Inhalt Deiner Behauptung: Die Farben "existieren" wohl kaum als "sprachliche", sondern als die diskreten Wahrnehmungen unseres Sehvermögens. Ob
sie als solche "Entitäten" im Sinne von "Dingen" sind, lassen wir mal
dahingestellt. Aber da wir Menschen existieren, existiert irgendwie auch, was
wir tun oder was in uns vorgeht. Die Wahrnehmung einer roten Rose ist zumindest
ALS VORGANG etwas anderes als die Äußerung des Satzes "Die Rose ist rot".
Insofern besteht zwischen dem Wort "rot" und der roten Wahrnehmung ein "ontologischer" Unterschied.
Nun ist es ohne weiteres möglich, den geregelten Zusammenhang zwischen Aussagen
und Wahrnehmungen zu erläutern, ohne dabei darauf zurückzugreifen, was diese
Wahrnehmungen jeweils physikalisch auslöst (hier: elektromagnetische Wellen
einer bestimmten Frequenz). Für die Klärung dieses Zusammenhangs ist die
Beschaffenheit des Wahnehmungsauslösers sogar belanglos. Beweis dafür ist die
Fähigkeit von ca. 6 Milliarden menschlichen Individuen, rote Rosen richtig
wahrzunehmen und als "rot" zu identifzieren, ohne von der Beschaffenheit
elektromagnetischer Wellen etwas zu wissen. (Dass es rote Rosen,
elektromagnetische Wellen und was nicht sonst noch alles... in der Wirklichkeit
geben muss, damit Menschen sie wahrnehmen und identifizieren können, ist klar.
Aber wir wollen hier wissen, was die Menschen tun, wenn sie Wahrnehmungen
- gleich welcher Art - zutreffend identifizieren.)
Zitat:
wir haben ein kontinuum an elektromagnetischer strahlung (das bezeichne ich mit ontologisch) und eine reihe von quasiwillkürlichen unterteilungen (eine semiotische differenzierung).
Nein, wir "haben" hier ZUNÄCHST einmal Wahrnehmungen unserer Sinne und
semiotische Differenzierungen. Das genügt vollauf zur Klärung unserer Frage.
Nun sind unsere Augen bereits physiologisch so beschaffen, dass sie aus dem "Kontinuum" der elektromagnetischen Wellen nur einen kleinen Bereich AUSWÄHLEN.
Den Bereich, der wir - und ganz zutreffend - "Licht" nennen. Mehr "haben" unsere
Augen also auch nicht. Dass Wissenschaftler mit aufwendiger Technik über diese
Auswahl ihrer Augen hinausgreifen und dabei feststellen können, dass das von den
Augen Wahrgenommene bloß eine Auswahl aus einem Kontinuum ist, sei unbestritten,
ist aber für die Klärung des Wahrheitsbegriffs völlig irrelevant.
Abgesehen davon: Womit lesen diese Wissenschaftler wohl die Zifferblätter ihrer
Instrumente ab? Womit schauen sie auf Monitore und Fotografien? Richtig: Mit
ihren Augen.
Allein daraus erhellt schon zwingend, dass der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs
zunächst einmal für das Zusammenspiel von Sprache und Augen-Wahrnehmungen
GEKLÄRT SEIN MUSS, ehe wir auf das elektrotmagnetische Kontinuum zu sprechen
kommen können.
To be continuued. Ich muss jetzt aber abbrechen.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 18. Nov. 2004, 18:40 Uhr
zwischenbemerkung:
ich bin ja mal gespannt, wie das weitergeht.
allerdings habe ich den eindruck, dass du dir selbst das wasser abgräbst, indem
du verkennst, was ich versuche zu verdeutlichen.
sicherlich ist die identifikation dessen, was wir "farben" nennen,
zunächsteinmal unabhängig von der kenntnis elektromagnetischer wellen. dagegen
wird sich kaum etwas einwenden lassen. die physik, insbesondere die optik,
arbeitete ja zunächst auch ohne den begriff der elektromagnetischen strahlung
-der erst mit maxwell einzug in die physik erhalten hat.
und ich gebe dir recht, dass die menschen zunächsteinmal, aufgrund ihrer
biologischen beschaffenheit, das sich ihnen darbietende phänomenale feld
segmentiert haben. die sprachlichen niederschläge dessen sind die farbnamen.
was ich versucht habe deutlich zu machen, im rückgriff auf die
elektromagnetische strahlung, sprich die wellenlänge des lichts, wie es möglich
ist, aufgrund gleicher biologischer/physikalischer voraussetzungen (auge/wellenspektrum
des lichts) unterschiedliche segmentierungen zu schaffen. es gibt keinen
rational angebbaren grund, wieso man licht gewisser wellenlänge als "rot"
bezeichnet. was für den einen "rot" ist, ist für den anderen schon "rotbraun"
o.ä.
wichtig war mir, zu zeigen, dass es sich bei farben(=farbnamen) nicht um
physikalische entitäten handelt -im gegensatz zu elektromagnetischen wellen-
sondern um eine arbtiträre segmentierung eines kontinuums handelt. ebenso die
benennung von gegenständen. dass wir etwas als "hochhaus" klassifizieren, was
andere z. B. als "fels" oder "höhle" klassifizieren. dieser unterschied ist kein
unterschied in der sache, sondern in der benennung.
gesichert ist allerdings, dass es sich im falle eines "hochhauses" um ein
etwas handelt, das klassifiziert werden kann. und dieses etwas ist
als ein etwas, das (da) ist, gegenstand der ontologie.
eine farbe(=farbname) ist nicht etwas, das als etwas (da) ist. es
existiert kein "rot" als solches. man segmentiert das farbspektrum, und ein
segment benennt man mit "rot" und entsprechend benennt man die gegenstände, die
licht dieses typs reflektieren mit "rot".
und diese position müßte dir doch sehr entgegenkommen, weil sie gerade die
bedeutung der kulturellen umstände versucht miteinzubinden.
- mfg thomas
- III
- Dyade am 18. Nov. 2004, 21:15 Uhr
Hallo hallo ihr Wahrsinnigen,
es kann sein das ich mit diesem Posting schon wieder -leicht oder heftig- neben
der Spur eures Gespräches liege. Sorry im Voraus.
Auf die Gegenreden von Thomas und Eberhard möchte ich etwas später eingehen.
Zunächst: "Man könnte nämlich eine "Weltanschauung" als die Summe der wahren Sätze
bezeichnen, die die Sprecher einer Sprache über die Welt äußern können." (Herm.)
Was ist los wenn der Satz lautet:
Eine Weltanschauung ist die Summe der Strukturelemente(1) einer Sprache die mir
erlaubt wahre Sätze zu bilden.
(1) oder Strukturgesetze zB. jene der aristotelischen Logik.
Die Frage ist auch von Ethnologen nach meinem Wissenstand nicht geklärt ob es
sich bei den Gesetzen der Logik, die wir ja anwenden wenn wir zB. über "unseren"
Schnee reden, um wirklich lückenlose "Weltgesetze des Denkens" handelt. Um das
wiederum "zu beweisen" müsste es ja schon noch höher gültige Axiome geben. Und
eben das ist durch diese Axiomatik selber ausgeschlossen, oder?
Grüße
DY
ps.
Von Niklas Luhmann stammt der Satz: "Es genügt, dass wir uns das Erstaunen
darüber bewahren, dass man überhaupt etwas >>draußen<< sehen kann, obwohl man nur
>>drinnen<< sehen kann." (in, "Die Kunst der Gesellschaft", S.14)
- III
- Dyade am 18. Nov. 2004, 23:23 Uhr
Über den Satz vom Schnee
oder,
die Identität.
oder,
Vom Blödsinn des Versuchs sich zu verstehn
oder,
Die Turmbauer von Babel in einer UBahn:
ein Praktiker und ein Naiver, schon lange im Gespräch
Praktiker: "Schnee ist weiß."
Naiver: Schnee ist doch Schnee und nicht weiß.
Praktiker: Ok, Schnee hat neben anderen Eigenschaften auch diejenige weiß zu
sein.
Naiver: Dann ist der Satz "Schnee ist weiß" also falsch?
Praktiker: Nein, nur dann wenn ich sage es wäre seine einzige Eigenschaft.
Naiver: Was denn jetzt? Schnee ist doch Schnee und er kann nicht gleichzeitig
etwas anderes sein, ob weiß oder blau oder sonstwas, er ist doch er selbst,
oder?.
Praktiker: Kann es sein, das wir unter "IST" nicht das Gleiche verstehn?
Naiver: Du meinst nicht das Selbe?
Praktiker: Wie das Selbe? Das ist doch gleich?
Naiver: Das Selbe ist genausowenig das Gleiche wie umgekehrt und ebensowenig wie
der Schnee etwas anderes ist als Schnee.
Praktiker: Hm, du sagtest "als", also "Schnee als Schnee", so ähnlich wie Ich
als Prinz im Karneval? Also ist Schnee1 als Schnee2 in seiner eigenen
Verkleidung unterwegs?
Naiver: Nein er ist doch er Selbst.
Praktiker: Also ich steige hier aus.
Naiver: Oje, ich langweile dich.
Praktiker: Nein, hier ist meine Station, hier muss ich aus der UBahn aussteigen
Naiver: Achso.
Schaffner tritt auf. Er hat das Gespräch belauscht und traut sich kaum nach den
Fahrkarten zu fragen.
Schaffner: Kann es sein meine Herren, das einer von ihnen nicht zwischen
syntaktischer und semantischer Wahrheit unterscheiden kann?
Alle ab
Schweigen....
- III
- Eberhard am 18. Nov. 2004, 23:40 Uhr
Hallo allerseits, hallo Dyade,
noch eine Nachbemerkung zur Allgemeinverständlichkeit von Aussagen und zu den
Grenzen der Übersetzung von einer Sprache in eine andere.
Wörter haben nicht nur eine Bedeutung, die man erläutern oder durch
ausdrückliche Definition präzisieren kann.
Für ein Individuum haben die Wörter seiner Sprache zugleich auch eine
Geschichte: an jedem Wort hängen die Assoziationen an die Situationen, in denen
es das betreffende Wort selber benutzt oder gehört hat. An einem Wort, z. B. dem
Namen des Ortes, an dem man einen herrlichen Urlaub verlebt hat, hängen die
Stimmungen von damals.
Dies gilt auch für ganze Sprachgemeinschaften. Ob man z. B. unsere Sonne
weiblich als DIE Sonne bezeichnet oder ob man wie die Franzosen von einer
männlichen Sonne, also le soleil spricht, macht für die Präzision der Sprache
beim Bezeichnen von Objekten keinen Unterschied.
Trotzdem schwingt bei der männlichen Sonne, LE soleil, die Erfahrung einer
gnadenlos vom Himmel brennenden Sonne im Hintergrund mit, die für den Süden
typisch ist.
Diese an den Wörtern hängenden Assoziationen werden von den Definitionen und
Bedeutungsfestlegungen nicht erfasst. Dies ist auch der Grund, weshalb lyrische
Gedichte nach der Übersetzung keine Lyrik mehr sind. Nachdichtungen entfernen
sich andererseits notwendigerweise vom Original.
Daraus folgt, dass im Bemühen um dauerhafte und allgemein gültige Aussagen über
die Beschaffenheit unserer Welt vieles, was die Sprache an
Ausdrucksmöglichkeiten bietet, diesem Ziel geopfert werden muss. Deshalb ist die
an der Erkenntnis der Wirklichkeit ausgerichtete Sprache auch nicht die ganze
Sprache. Die Lyrik, der Rhythmus und Klang der Sprache, der persönliche
Sprachstil behalten ihre eigene Berechtigung.
Es grüßt Euch Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 18. Nov. 2004, 23:53 Uhr
hallo eberhard,
ich will nicht drängeln, aber ich wollte dich bei dieser gelegenheit nocheinmal
an
Zitat:
Was wir noch diskutieren sollten, ist zum einen das Kriterium der Wahrheit von Aussagen über die Wirklichkeit und zum andern die Besonderheiten, die Aussagen über Psychisches, also z. B. introspektive Aussagen haben.
erinnern ;)
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 19. Nov. 2004, 08:21 Uhr
Hallo Thomas!
Meine Zeit reicht nur für eine kurze Antwort.
Meine Argumentation im letzten Beitrag sollte begründen, wieso es in einer
Diskussion des Wahrheitsbegriffs aus methodischen Gründen nicht statthaft ist,
auf empirische Sätze über die Wirklichkeit zurückzugreifen, um aus ihnen
allgemein verbindliche Wahrheitskriterien zu gewinnen.
Eine so und so beschaffene Wirklichkeit kann also nicht als "Maßstab" oder "Wahrmacher" von Sätzen behauptet werden.
Beispiel: "Der Satz 'Wasser ist H2O' ist wahr, weil Wasser H2O ist."
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 19. Nov. 2004, 11:47 Uhr
hi hermeneuticus,
zunächsteinmal "'wasser ist H2O' genau dann wahr, wenn wasser H2O ist" ; nicht "[...]weil". das wäre in dem falle keine wahrheitsbehauptung.
Zitat:
Eine so und so beschaffene Wirklichkeit kann also nicht als "Maßstab" oder "Wahrmacher" von Sätzen behauptet werden.
warum?
Zitat:
Meine Argumentation im letzten Beitrag sollte begründen, wieso es in einer Diskussion des Wahrheitsbegriffs aus methodischen Gründen nicht statthaft ist, auf empirische Sätze über die Wirklichkeit zurückzugreifen, um aus ihnen allgemein verbindliche Wahrheitskriterien zu gewinnen.
wieso sollten wir sätze die wahr sind, ignorieren?
wenn wir uns darüber unterhalten, ob in einer gewissen entfernung von uns ein
baum steht, so reicht es nicht aus, dass wir uns beide darüber einig sind, was
wir mit "entfernung" und "baum" meinen, und ich dir zustimme, dass dort ein baum
steht. solange dort kein baum steht, werden wir ihn auch nicht erklettern
können, oder keine seiner früchte essen können.
kohärenz und konsistenz reichen als wahrheitskriterien nicht aus. märchen können
sowohl kohärent wie auch konsistent sein, und trotzdem falsch.
- mfg thomas
- III
- Eberhard am 19. Nov. 2004, 19:13 Uhr
Hallo allerseits,
Ich will noch einmal festhalten: die Beantwortung der Frage: "Ist die Aussage x
wahr?" hat für den Einzelnen insofern praktische Bedeutung, als sein Leben
solange frei von Enttäuschungen verläuft, als er seinem Denken und Handeln wahre
Aussagen zu Grunde legt, solange also sein Weltbild realistisch ist, frei von
Illusionen, Irrtümern oder "weißen Flecken" der Unwissenheit.
Entsprechendes gilt für das Handeln eines sozialen Subjekts, das aus mehreren
Individuen besteht, wie z. B. ein Verein oder ein Staat. Auch ein soziales
Subjekts benötigt für ein enttäuschungsfreies Handeln wahre Aussagen als
Antworten auf die gestellten Fragen.
Darüber hinaus steht jedes soziale Subjekt vor dem Problem der möglichen
Uneinigkeit seiner "Glieder", der einzelnen Individuen. Vor diesem praktischen
Hintergrund ist meines Erachtens die Frage nach der Bedeutung des Wortes "wahr"
zu klären.
(Damit ist vielleicht auch der Dissens zwischen Hermeneuticus und mir
etwas entschärft: "Wahrheit" beinhaltet zwar einen uneingeschränkten
Geltungsanspruch, aber praktische Bedeutung hat dieser Geltungsanspruch nur für
Individuen oder soziale Subjekte, die miteinander in einer Beziehung stehen.)
Mit der Auszeichnung einer bestimmten Aussage als "wahr" spricht man dieser
Aussage soziale Geltung zu, mit der Auszeichnung als "falsch" spricht man einer
Aussage die soziale Geltung ab.
Wenn es eine von ihren Anhängern anerkannte Autorität gibt, die nach
eigenen Selbstverständnis entscheidet, ob eine Aussage wahr oder falsch ist,
(wie z. B. der Papst, wenn er ex cathedra spricht, oder der Erste Sekretär des
Zentralkomitees einer stalinistischen Partei), haben wir es mit Dogmen zu tun,
deren soziale Geltung auf Vertrauen in die jeweilige Autorität beruht.
Wenn man im Falle dogmatischer Wahrheit ein Individuum fragt, warum der
Satz p wahr ist, so erhält man als Begründung: "weil A (die zuständige
Autorität) dies so sagt". Wenn man weiter fragt, woher denn die betreffende
Autorität weiß, was wahr ist, stößt man auf ein gedankliches Gebäude gemischt
aus logisch aufgebauten Rechtfertigungen, versteckten Fehlschlüssen und
Strategien zur Abschirmung möglicher Kritik.
Eine derartige autoritäre Bestimmung von Wahrheit kann zwar eine gewisse
Vereinheitlichung der individuellen Weltbilder bewirken und damit die soziale
Integration der Individuen fördern, sie ist jedoch mit dem Konstruktionsfehler
der mangelnden Lernfähigkeit behaftet: das autoritätsgebundene Weltbild ist
starr und unbeweglich. In einer Gesellschaft, die durch immer neue Entdeckungen
und Erfahrungen geprägt ist, ist mangelnde Lernfähigkeit ein schwerwiegender
Mangel.
In einer Gesellschaft, in der es für die Entscheidung über die Wahrheit einer
Aussage keine anerkannte Autorität gibt, sondern in der Meinungsfreiheit
herrscht, ist die Situation anders. Wenn Individuum A erklärt, die Aussage p sei
wahr, dann spricht es der Aussage p (intersubjektive) Geltung zu. Die andern
Individuen müssen dies jedoch nicht akzeptieren. Individuum B widerspricht und
spricht der Aussage die Geltung ab. Damit stellt sich die Frage nach einem
Kriterium für die Wahrheit von Aussagen über die Beschaffenheit der
Wirklichkeit.
Hier will ich erstmal unterbrechen. Grüße an alle von Eberhard.
- III
- Dyade am 19. Nov. 2004, 22:12 Uhr
Nabend zusammen, " Ich will noch einmal festhalten: die Beantwortung der Frage: "Ist die
Aussage x wahr?" hat für den Einzelnen insofern praktische Bedeutung, als sein
Leben solange frei von Enttäuschungen verläuft, als er seinem Denken und Handeln
wahre Aussagen zu Grunde legt, solange also sein Weltbild realistisch ist, frei
von Illusionen, Irrtümern oder "weißen Flecken" der Unwissenheit."
(Eberhard)
Dieses Eis ist dünn, weil die Aussentemperatur sehr warm geworden ist! (Beweis:
Messung der Eisdicke)
Was bringt denn nun die Sicherheit lieber Eberhard, der wahre Satz oder die
Messung?
verwirrt wie immer
Dyade
- III
- Hermeneuticus am 19. Nov. 2004, 22:27 Uhr
Hallo Eberhard!
on 11/18/04 um 23:40:39, Eberhard wrote:
Für ein Individuum haben die Wörter seiner Sprache zugleich auch eine
Geschichte: an jedem Wort hängen die Assoziationen an die Situationen, in denen
es das betreffende Wort selber benutzt oder gehört hat. An einem Wort, z. B. dem
Namen des Ortes, an dem man einen herrlichen Urlaub verlebt hat, hängen die
Stimmungen von damals.
Dies gilt auch für ganze Sprachgemeinschaften. Ob man z. B. unsere Sonne
weiblich als DIE Sonne bezeichnet oder ob man wie die Franzosen von einer
männlichen Sonne, also le soleil spricht, macht für die Präzision der Sprache
beim Bezeichnen von Objekten keinen Unterschied.
Ich denke, man greift zu kurz, wenn man die Gebrauchsgeschichte von Begriffen,
Redewendungen oder ganz allgemein Zeichen als bloße "Assoziation" begreift.
Dadurch wird sie von vornherein in den Bereich des "bloß Subjektiven"
verlegt, also in den Bereich der Eigenheiten, die für die präzisierte "Bezeichnung von Objekten" keine Rolle spielen und auch nicht spielen sollen.
Wir sind uns darin einig, dass im Prozess des Begründens sich wohl nur solche
Überzeugungen intersubjektiv teilen und mitteilen lassen, die von den
individuellen Eigenheiten der Sprecher ablösbar sind.
Aber erstens glaube ich nicht, dass man mögliche Argumente a priori in
intersubjektiv teilbare und idiosynkratische aufteilen kann; denn das setzte ja
voraus, dass man die jeweils argumentierenden Sprecher und Adressaten ohne
Ansehung kennt. Wie soll man aber im voraus wissen, welches Argument einen
bestimmten Gesprächspartner (oder womöglich alle) überzeugt?
Und zweitens liegt der Sinn von Begründungen darin, dass sich die Adressaten EIN
EIGENES URTEIL bilden können. Die Nachvollziehbarkeit von Gründen ist keine
Formalie, sondern eine kommunikative, ethische Verpflichtung. Diese würde man
unterlaufen, wenn man dem EIGENEN URTEIL der Adressaten vorgriffe. Etwa, indem
man sagte: "So, ich habe der Form genügt, wenn ihr das nicht nachvollziehen
könnt, ist das euer Problem. Beschlossen und verkündet!" Dadurch würde sich der
gute Sinn von Begründungen ins Gegenteil verkehren.
(Ein unschönes Beispiel: Müntefering angesichts der Proteste gegen Hartz IV. Er
sagte sinngemäß: "Ja, wir hätten den Menschen dieses Gesetz besser erklären
sollen." Das klang wie: Wir hätten ihnen mehr Hilfestellung beim Gehorchen geben
müssen.)
Kurz: Es kann keine allgemeinen und formalen Kriterien dafür geben, welche Art
von Begründungen in einer konkreten Sprachgemeinschaft "konsensfähig" sind und
welche nicht. Die Bildung des Konsenses muss man schon den Beteiligten selbst
überlassen.
Aus demselben Grund ist auch die Gebrauchsgeschichte von Begriffen nicht
zwingend eine "bloß subjektive" Äußerlichkeit, die bei der wahrheitsfähigen
Präzisierung abgeschliffen wird. Ich sage bewusst "Gebrauchsgeschichte", weil
die gemeinsame Sprache die Sprechergemeinschaft und IHRE GEMEINSAME WIRKLICHKEIT
mitkonstituiert. In der gesprochenen Sprache sind auch geteilte Überzeugungen
sedimentiert, die sich durch den dauerhaften Gebrauch "bewährt" haben.
Damit will ich nicht behaupten, es sei keine berechtigte Kritik am
lebensweltlichen Sprachgebrauch möglich. Ich meine nur, dass es nicht angehen
kann, die Grenze zwischen dem "substatiellen, wahrheitsfähigen Bestand" und dem "bloß Assozativen" a priori - und vor allem: aus einer Beobachterperspektive!!
vorzunehmen. Diese Grenzziehung fällt in die - nicht hintergehbare -
Urteilskompetenz der an Begründungsprozessen jeweils Beteiligten.
Zitat:
Diese an den Wörtern hängenden Assoziationen werden von den Definitionen und Bedeutungsfestlegungen nicht erfasst.
Diese Formulierung illustriert sehr gut, was ich kritisiere: Assoziationen
bleiben äußerlich, sind nicht wahrheitsfähig. Dagegen halte ich: Im geteilten
Sprachgebrauch sedimentieren sich auch geteilte Überzeugungen, die durch
gemeinsame Praxen bewährt sind.
Zitat:
Daraus folgt, dass im Bemühen um dauerhafte und allgemein gültige Aussagen über die Beschaffenheit unserer Welt vieles, was die Sprache an Ausdrucksmöglichkeiten bietet, diesem Ziel geopfert werden muss.
Dass Du von einem "Opfer" sprichst, unterstreicht die ethische Dimension des
Begründens. Und daraus ergibt sich, dass es sich hier nicht um ein Opfer handeln
sollte, das den Betroffenen von außen ZUGEMUTET wird, sondern das nur sie selbst
bringen können, und zwar aus eigener Einsicht. "Einsicht" ist nun einmal nichts,
was man Menschen verordnen kann wie eine bittere Medizin.
Entweder wir nehmen den aufklärerischen Anspruch ernst und sinnen ALLEN
Subjekten die Fähigkeit zur Einsicht und zum verantwortlichen Urteil an (dann
dürfen wir keine gschickten Vorkehrungen treffen, diese Kompetenz wieder zu
unterlaufen) oder wir verzichten gleich darauf und wechseln nur kirchliche und
politische Autoritäten gegen die Autorität von Wahrheits-Experten aus.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 20. Nov. 2004, 10:15 Uhr
Hallo Dyade,
ich hatte geschrieben, dass derjenige, der seinem Denken und Handeln wahre
Aussagen zu Grunde legt, keine Enttäuschungen erlebt.
Nun stellst Du dazu die Frage, ob wahre Aussagen Sicherheit bringen.
Entäuschungsfreiheit und Sicherheit sind aber verschiedene Dinge.
Auf Dein Beispiel bezogen: Wenn ich aufgrund von Messungen zu der wahren Aussage
gelange, dass das Eis nur 4 cm dick ist und ich aufgrund anderer Kenntnisse
schließen kann, dass das Eis mich nicht trägt, dann bedeutet es für mich keine
Enttäuschung, wenn ich trotzdem aufs Eis gehe und einbreche. Ich wusste ja
vorher: Wenn ich aufs Eis gehe, werde ich "mit Sicherheit" einbrechen.
Was Ist daran verwirrend? fragt Dich Eberhard.
- III
- Dyade am 20. Nov. 2004, 13:38 Uhr
Hallo Eberhard,
also ein bisschen spitzfindig ist deine Unterscheidung von "Enttäuschung" und "Sicherheit" schon. Denn, wenn du die Frage stellst nach den Kriterien über die "Wahrheit" von Aussagen über die Wirklichkeit, dann steckt doch dort ein ganz
praktisches Problem drin. A sagt das Eis ist zu dünn um es zu betreten. B sagt
nein, das Eis trägt. Ob jetzt A oder B recht hat ist ja keine Frage der Symetrie
mehr. Hat A unrecht, ist er vielleicht wirklich überrascht ( ent-täuscht) wenn
das Eis dennoch trägt. Hat B unrecht ist er nicht nur überrascht und entäuscht,
sondern auch noch ertrunken.
Ich bin verwirrt, besser wäre es zu sagen: ich staune immer wieder über die
Tatsache, dass unsere Theorien über die Beschaffenheit der Realität tatsächlich
stimmen können, obwohl von Kant bis Luhmann der systemische Ansatz sagt, wir
sehen nur "innen".
Nie war ein Mensch auf dem Mars und dennoch benutzen wir Mathematik um eine
Sonde punktgenau, wenn wir RICHTIG rechnen, ins Ziel zu bringen. Das heißt, die
Ordnungsanstrengungen unseres Verstandes in Bezug auf die Sinnesdaten, scheinen
ja wohl irgendwie in der Lage zu sein die Realität passgenau (=richtig=wahr)
nachzubilden. Eine kleine Hilfestellung von Hermeneuticus wäre mir hier sehr
lieb. Vielleicht lichtet sich meine "Verwirrung" ohne das ich aufhören muss zu
staunen. :-)
liebe Grüße
- III
- Hermeneuticus am 20. Nov. 2004, 14:35 Uhr
Persönliches PS zu meinem letzten Beitrag:
Eins der ersten "richtig philosophischen" Bücher, das ich gelesen habe, war "Wissenshaft
und Technik als Ideologie" von Jürgen Habermas. Ich ging noch zur Schule, aber
ein guter Freund studierte bereits Philosophie und hatte dieses Buch zur
gemeinsamen Lektüre vorgeschlagen. (Etwa gleichzeitig versuchten wir uns an "Sein und Zeit", das wir nach den ersten 20 Seiten verwirrt wieder weglegten...)
Ich erinnere mich kaum an den Text von Habermas' Aufsatzsammlung (ein
dunkelblaues Bändchen aus der "edition suhrkamp" ). Aber unsere Diskussionen
damals scheinen für mich doch richtungsweisend gewesen zu sein. Das stelle ich
mit einem gewissen (freudigen) Staunen gelegentlich fest, wenn ich mir bei den
Diskussionen hier im Forum über die Schulter sehe.
:-)
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 20. Nov. 2004, 15:37 Uhr
Hallo Dyade!
Ich eile, Dir die "kleine Hilfestellung" zu geben, obwohl ich nicht sicher bin,
ob ich das kann... :-)
on 11/20/04 um 13:38:20, Dyade wrote:
Denn, wenn du die Frage stellst nach den Kriterien über die "Wahrheit" von Aussagen über die Wirklichkeit, dann steckt doch dort ein ganz praktisches Problem drin. A sagt das Eis ist zu dünn um es zu betreten. B sagt nein, das Eis trägt. Ob jetzt A oder B recht hat ist ja keine Frage der Symetrie mehr. Hat A unrecht, ist er vielleicht wirklich überrascht ( ent-täuscht) wenn das Eis dennoch trägt. Hat B unrecht ist er nicht nur überrascht und entäuscht, sondern auch noch ertrunken.
Ich bin nicht sicher, ob Du damit Eberhards Intention grundsätzlich
widersprichst.
Aus meiner Sicht wäre an dem Beispiel etwa dies zu bemerken: "Messung". - Hmm, erstens ist es nicht so einfach, die Dicke einer
geschlosseenen Eisdecke zu messen. Dazu müsste man - wenn man nicht modernste
Technik zur Verfügung hat - erst ein Loch hineinschlagen - was sich aber nicht
empfiehlt, weil dadurch ihre Oberflächenspannung, also Tragfähigkeit vermindert
würde. Außerdem macht eine Zentimeterangabe nur Sinn, wenn man weiß: 1. ab
welcher Dicke Eis gewöhnlich welches Gewicht trägt, 2. wie schwer man selbst
ist, 3. auf eine wie große/kleine Druckfläche sich das fragliche Gewicht
verteilen darf. Vielleicht trägt das Eis ja einen Schuhträger von 80 kg, aber
keinen Schlittschuhläufer von 70 kg? Außerdem können unregelmäßige Strukturen im
Eis (zugefrorene Bruchkanten etc.) die Prüfung seiner schieren Dicke
relativieren...
Aus diesen Gründen wohl sieht man niemals Leute das Eis "messen", ehe sie es
betreten. Die Erprobungspraxis sieht anders aus. Wie?
Es handelt sich um eine bewährte Praxis, die optische, taktile und akustische
Symptome mit Erfahrungswerten, die in einer Art "Körpergefühl" gespeichert sind,
kombiniert. Sie ist sehr viel effektiver als eine Messung mit technischen
Geräten. Könnte man die Eisdicke INSGESAMT vermessen, wäre eine Messung wohl
zuverlässiger - wenn man weiß, welche Schlüsse aus den Zahlen für die "user" zu
ziehen sind...
Aber ein Restrisiko bleibt bei jeder Art von Test.
Was ich andeuten will: Das "Zugrundelegen" von "wahren Aussagen über die
Wirklichkeit" ist eine recht gestelzte Umschreibung dessen, was wir in der
Praxis tun. Wenn wir die Dicke des Eises testen, wenden wir keine "Theorie" an,
vielleicht sprechen wir nicht einmal dabei.
Mag sein, dass die eingespielte Praxis des Testens sich als ein "Zugrundelegen
von wahren Aussagen" REKONSTRUIEREN ließe; d. h. dass unsere eingespielte Praxis
dieselben methodischen Schritte impliziert, die eine
erkenntnistheoretische Analyse dann expliziert. Das wäre zu prüfen.
Aber lebensweltlich empfiehlt es sich selten, nach solchen expliziten
Rekonstruktionen zu verfahren. Das wäre denn doch allermeist "von hinten durch
die Brust ins Auge geschossen".
Zitat:
Ich bin verwirrt, besser wäre es zu sagen: ich staune immer wieder über die Tatsache, dass unsere Theorien über die Beschaffenheit der Realität tatsächlich stimmen können, obwohl von Kant bis Luhmann der systemische Ansatz sagt, wir sehen nur "innen".
Kants "transzendentale" Analyse versteht sich als eine solche (oben angedeutete)
methodische Rekonstruktion dessen, was geschieht, wenn wir etwas "erfahren".
Sein Ansatz bei dieser Rekonstruktion hat eine gewisse Verfremdung zur Folge:
Alles, was sonst in unserer eingespielten Praxis des Erkennens als wirkliches
Kontinuum zwischen Subjekt und den Objekten PRAKTISCH BEWÄHRT ist, steht nun
in Frage. Es ist problematisiert, um die einzelnen methodischen Schritte
thematisieren zu können, die notwendig sind, damit diese Praxen gelingen können.
- Kant fragt. "Wie ist Erfahrung MÖGLICH?" Wobei er natürlich davon ausgeht,
dass sie dauernd gelingt...
Bei Luhmann tritt das Problem auf, dass er diese bei Kant nur analytisch
verstandene Sichtweise naturalisiert. Die ganze Welt BESTEHT bei ihm aus
problematischen "Systemen", denen eine IM PRINZIP UNBEKANNTE "Umwelt"
gegenübersteht. Dieser Ansatz ist im hohen Maße, was man "kontraintuitiv" nennt.
d. h. er stellt unsere lebensweltliche Erfahrung und Wirklichkeit auf den Kopf.
Wir finden uns in dieser Theorie mit unserem Lebensgefühl nicht wieder.
Zitat:
Das heißt, die Ordnungsanstrengungen unseres Verstandes in Bezug auf die Sinnesdaten, scheinen ja wohl irgendwie in der Lage zu sein die Realität passgenau (=richtig=wahr) nachzubilden.
Hier übernimmst Du die analytische, rekonstruktive, also "verfremdende" Sicht.
Das, was "immer schon" gelingt (und auch gelingen MUSS, wenn wir nur überhaupt
so weit kommen wollen, ein philosophisches Buch aufzuschlagen), ist aus
methodischen Gründen verrätselt.
Für mich ergibt sich aber aus dieser Überlegung, dass die Analyse oder
Rekonstruktion WEIT GENUG getireben werden muss - so weit nämlich, dass in ihr
auch die gelingende Praxis der Lebenswelt einen Platz findet. Denn, wie gesagt,
diese gelingende Praxis, die gar nicht rätselhaft ist, ist auch die
selbstverständliche VORAUSSETZUNG für jede Art von Reflexion.
War das hilfreich? :-)
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 20. Nov. 2004, 19:33 Uhr
Hallo allerseits, hallo Hermeneuticus,
wenn ich genau hinsehe, dann widersprichst Du meinen Thesen nicht, sondern
willst sie erweitert sehen (" greift zu kurz" ), oder Du ziehst selber daraus
Konsequenzen, die Du für nicht akzeptabel hältst (" Wahrheits-Experten" ).
Wahrscheinlich können wir unsere beiderseitigen Ansichten am besten
klären anhand des Kriteriums für die Wahrheit von Aussagen über die
Beschaffenheit der Wirklichkeit:
Wie können wir entscheiden, ob es so ist,
wie die Aussage besagt?
Da es unterschiedliche Arten von positiven Aussagen gibt, schlage ich
vor, dass wir mit den einfachsten Aussagen beginnen. Dazu zähle ich Aussagen
wie: "Vor mir ist (jetzt) ein Haus". Es handelt sich dabei um eine Aussage über
das Vorhandensein eines zeitlich und räumlich gegenwärtigen Gegenstandes.
Als Sprecher dieses Satzes mache ich bereits verschiedene
stillschweigende Voraussetzungen: z. B. dass es mich selbst gibt (" mir" ), dass
ich den Sinn räumlicher Bestimmungen und Richtungsangaben (" vor mir" ) sowie die
Bedeutung der Wörter "Haus" und "ist" in deutscher Sprache verstehe.
Besondere Beachtung verdient das Wörtchen "ist". Grammatisch handelt es
sich um die Gegenwartsform des Verbs "sein" in der 3. Person Singular Neutrum
(" es ist" ). Das Wort "sein" ist mehrdeutig, aber aus den Zusammenhang wird
deutlich, dass das Wort "sein" hier in der Bedeutung von "vorhanden sein,
gegeben sein, da sein bzw. existieren" gebraucht wird.
Darüber entwickelt sich folgendes Gespräch zwischen mir und meinem Freund
Skeptikus.
Skeptikus: "Woher weißt Du, dass vor Dir ein Haus steht?"
Ich: "Ich weiß das, weil ich es vor mir sehe."
Skepticus: "Es könnte sich ja um die Attrappe eines Hauses handeln, wie
sie bei Filmaufnahmen verwendet wird."
Ich: "Das kann ich nicht ausschließen. Ich werde deshalb um das Objekt
herumgehen und mich vergewissern, dass es sich um ein Haus handelt und nicht um
eine bemalte Pappwand."
Skeptikus: "Du bist Dir jetzt sicher, dass Du ein Haus vor Dir siehst.
Aber es könnte ja eine Halluzination sein, die Dir das Haus vorgaukelt."
Ich: "Ich leide eigentlich nicht unter Halluzinationen, aber zur
Sicherheit will ich klären, ob ich einer optischen Illusion unterliege. Ich
mache jetzt meine Augen zu … und ich stelle fest, ich sehe nichts mehr. Ich
mache meine Augen wieder auf … und ich sehe das Haus unverändert an derselben
Stelle vor mir, wie zu erwarten war."
Skepticus: "Vielleicht ist aber das Ganze eine optische Halluzination."
Ich: "Na gut. Dann werde ich versuchen, das Haus anzufassen. … Ich fühle
massiven Stein, wie zu erwarten war. Eine optische Halluzination scheidet somit
für mich aus."
Skeptikus: "Aber vielleicht träumst Du das Ganze nur, auch Dein Sehen und
Tasten ist vielleicht nur geträumt, und in Wirklichkeit liegst Du zu Hause in
Deinem Bett."
Ich: "Das kann ich so ziemlich ausschließen. Ich kenne meine Träume. Da
geht es nicht so geordnet zu. Aber zur Sicherheit kneife ich mich noch mal
kräftig … Au. … Ich stelle fest, ich bin davon nicht aufgewacht. … Außerdem
erinnere ich mich gut daran, wie ich die Fahrt hierher geplant habe und wie ich
heute mit dem Auto hierher zu diesem Haus gefahren bin. Es ist alles stimmig,
auch was den Zeitablauf betrifft, denn auf meiner Uhr ist es jetzt 14.30 Uhr, so
wie geplant. So stimmig sind meine Träume nicht."
Mein begründetes (?) Fazit aus diesem Dialog: Der Satz "Vor mir ist ein
Haus" ist eine wahre Aussage über die Wirklichkeit. Ich nehme mit meinen Augen
und Fingern all das wahr, was zu erwarten ist, wenn der Satz wahr ist.
Es grüßt Euch Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 03:33 Uhr
Hallo Eberhard!
An der inhaltlichen Darlegung Deines Beispiels - dem Dialog mit dem Skeptiker -
finde ich so weit nichts auszusetzen. Wohl aber an seiner Auswahl und den damit
getroffenen Vorentscheidungen.
Die Situation ist recht künstlich, eigens erdacht zur Widerlegung eines -
ebenfalls künstlichen - Skeptikers. Solche Dialoge und Begründungen mag es in
philosophischen Foren geben, aber nicht im Alltag. Es handelt sich eben um die
Illustration von (bekannten) Argumenten, eine dialogisierte Reflexion.
Es scheint mir wichtig, sich dies klar zu machen. Denn es ist eines, in einem
Haus zu leben, es zu heizen, zu warten, zu verschönern usw. Und es ist etwas
anderes, ein Haus als einen - ziemlich beliebigen - Gegenstand unter
Gegenständen vor sich zu haben - als bloßen Anlass zur Reflexion.
Die Art und Weise, wie Häuser im Alltag "gegeben" sind, unterscheidet sich sehr
von dieser reflektierten Betrachtung. Hier, im Beispiel, haben wir zwei "Subjekte" und, ihnen gegenüber, also klar von ihnen gesondert, ein "Objekt" ;
und bei ihrer Art der Betrachtung und Diskussion über seine Realität könnte das
Objekt ohne Verlust durch einen Baum, ein Auto, ein Aktmodell oder spielende
Kinder ausgetauscht werden. Die "Wirklichkeit" von Häusern, in denen sich der
größte Teil unseres Lebens vollzieht, zu denen wir also eine ausgezeichnete
Beziehung haben, spielt im Beispiel gar keine Rolle.
Häuser, in denen wir leben, sind für uns Kulturwesen ohne Fell weitaus mehr als "Gegenstände" einer desinteressierten Betrachtung. Sie sind in gewissem Sinn ein
TEIL von uns, die von Natur aus auf technisch hergestellten Schutz gegen
Witterung und Umweltgefahren angewiesen sind. Es sind Angelpunkte unseres
Lebens, wofür es unzählige Indizien gibt, von den vielen Redewendungen
(Gorbatschows "Haus Europa" ) bis hin zur heiß umkämpften "Eigenheimzulage"...
Insofern ist es ziemlich unsinnig, das Vorhandensein eines Hauses anzuzweifeln
wie es Dein Skeptiker tut. Die unmittelbare Gebrauchswirklichkeit von Häusern
ist dafür viel zu gewiss.
Aber das gilt natürlich für so ziemlich alles, das Teil unserer Lebenswelt ist
und EBEN DESHALB kein abgetrennter "Gegenstand" einer rein "theoretischen"
Betrachtung. Um ein Haus in der Weise Deiner Diskussionspartner zu Gesicht zu
bekommen - also als beliebiges Ding unter Dingen -, muss man durch Reflexion
eine andere Einstellung zu ihnen einnehmen. Und der Wechsel dieser Einstellung
ist folgenreich dafür, ALS WAS der fragliche Gegenstand jeweils wahrgenommen
wird.
Natürlich habe ich bei diesen Überlegungen auch wieder den Unterschied zwischen
einer Wirklichkeit aus Gegenständen und einer Wirklichkeit des (irreflexiven)
Vollzugs im Hinterkopf. Ebenso denke ich an die "erkenntnistheoretische"
Verfremdung, die sich an unserer Lebenswirklichkeit vollzieht, wenn wir aus ihr
heraustreten, um zu refkletieren. (Siehe dazu auch meinen letzten Beitrag an
Dyade.) Und mir scheint es für die Behandlung des Wahrheitsbegriffs - hier der
Wahrheitskriterien - von elementarer Bedeutung zu sein, dass man sich über den
angedeuteten Wechsel der "Einstellung" Rechenschaft gibt.
Denn die Weise, in der uns Dinge gegenständlich sind, wenn wir über sie
reflektieren, ist eine abgeleitete, sekundäre Weise. Darum sollte sie in einer
methodischen Untersuchung des Wahrheitsbegriffs auch ALS abgeleiteter Modus
begriffen sein, nicht als gewissermaßen "natürliche" Ausgangsbasis.
Um es etwas konkreter zu sagen: Du schneidest - auch schon durch Deine Beispiele
- die Wahrheitsfrage so zu, dass sie wie ein Sonderfall von Wissenschaftstheorie
erscheint. Mir liegt durchgängig daran, den Abstand zwischen unserer
lebensweltlichen Einstellung und ihrer wissenschaftlichen "Verfremdung" zu
verdeutlichen.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 12:07 Uhr
Hallo miteinander!
Ich möchte kurz erläutern, was ich mit der angesprochenen "erkenntnistheoretischen Verfremdung" genauer meine und wie sie sich auf unsere
Einstellung zu Dingen unseres täglichen Lebens auswirkt.
Zitat:
(Kants "transzendentaler" ) Ansatz bei (der erkenntnistheoretischen)
Rekonstruktion hat eine gewisse Verfremdung zur Folge: Alles, was sonst in
unserer eingespielten Praxis des Erkennens als wirkliches Kontinuum zwischen
Subjekt und den Objekten PRAKTISCH BEWÄHRT ist, steht nun in Frage. (Hermeneuticus
in Beitrag Nr. 60)
Um ein Haus in der Weise Deiner Diskussionspartner zu Gesicht zu bekommen - also
als beliebiges Ding unter Dingen -, muss man durch Reflexion eine andere
Einstellung zu ihnen einnehmen. Und der Wechsel dieser Einstellung ist
folgenreich dafür, ALS WAS der fragliche Gegenstand jeweils wahrgenommen wird.
(Hermeneuticus in Beitrag Nr. 62)
Wenn wir P.Janichs Unterscheidung der verschiedenen Sprachebenen zugrunde
legen (siehe den Eröffnungs- "Wahrheit III" ), dann werden Wahrheitskriterien
erst auf der dritten Ebene eines Wahrheitsdiskurses thematisch.
- Angefangen hat der Diskurs mit einer positiven, objektsprachlichen Aussage und
ihrer Anzweiflung.
- Die Anzweiflung macht diese Aussage zum Gegenstand des Gesprächs, genauer: das
Verhältnis von Behauptung und Sachverhalt, dessen Vorliegen in Frage steht. Es
folgt ein Austausch von Argumenten für und wider die Behauptung.
- Wird dabei keine Einigkeit erzielt, kommt in den Blick, dass die Diskutanten
vielleicht unterschiedliche Kriterien für das Vorliegen des fraglichen
Sachverhalts gebrauchen. Hier, könnte man sagen, verschärft sich der Dissens
über eine einzelne Aussage zu einem grundsätzlichen Dissens über Regeln, die für
ALLE Aussagen dieser Art gelten.
Vielleicht einigen sich die Gesprächspartner auf gemeinsame Kriterien, anhand
derer sie den fraglichen Sachverhalt (und implizit natürlich auch alle künftigen
Sachverhalte gleicher Art) überprüfen und daraufhin als gegeben gelten lassen
wollen. Was hätte das für den Sachverhalt zur Folge? Bei seiner ÜBERPRÜFUNG käme
er nur so weit in Betracht, als es für die gemeinsamen Kriterien, die den Streit
schlichten sollen, nötig wäre. Er unterläge also einer verschärft SELEKTIVEN
Betrachtung. Denn die anderen, nun nicht weiter berücksichtigten Eigenschaften
des Sachverhalts wurden von den Sprechern offenbar so verschieden gesehen, dass
sie darauf keine gemeinsame Ansicht gründen konnten.
Durch ihre Beschränkung auf bestimmte, unstrittige Züge des Sachverhalts umgehen
sie die Kontroverse. Was aber nicht bedeuten muss, dass sie künftig den
fraglichen Sachverhalt immer nur in dieser Beschränkung betrachten werden. Jeder
von ihnen wird den Sachverhalt auch künftig noch auf seine individuelle Weise
sehen.
Nehmen wir an, die streitende Runde bestehe nicht nur aus zwei, sondern vielen
Teilnehmern mit verschiedenen, individuellen Sichtweisen. Wollten die sich nun
auf gemeinsame Prüfungskriterien einigen, müssten sie sich höchstwahrscheinlich
auf NOCH ABSTRAKTERE Züge des Sachverhalts zurückziehen. Vielleicht würde es
sich dabei nur noch um messbare Qualitäten handeln (Masse, Ausdehnung,
Geschwindigkeit usw.).
Nun fragt sich: Werden diese Diskutanten künftig behaupten, dass der
fragliche Sachverhalt – sei er meinetwegen ein Haus – IM WESENTLICHEN ein so und
so zu messendes Ding mit der und der Masse, Ausdehnung, Geschwindigkeit... SEI?
Wohl kaum. FÜR PRÜFUNGSZWECKE, also den Fall, dass anders KEINE EINIGKEIT unter
ihnen zu erzielen ist, werden sie immer wieder auf diese Kriterien
zurückgreifen. Nicht aber, wenn sie im Alltag mit Häusern umgehen. Sie werden
nicht denken: Ein Haus ist IM WESENTLICHEN ein Ding mit Masse, Ausdehnung,
Geschwindigkeit...
Nun noch ein wesentlicher Punkt. Dass eine größere Gruppe von Diskutanten sich
so uneinig über ein Haus sein könnte, ist höchst unwahrscheinlich. Stammen sie
alle aus derselben Stadt, werden ihnen Häuser aus ihrem täglichen Leben
wohlbekannt sein. Allgemeiner gesagt: Da, wo eine bewährte gemeinsame
Lebenswirklichkeit (Praxis) vorausgesetzt werden kann, gibt es auch schon
geteilte Überzeugungen und geteilte Kriterien für Dinge ihrer Wirklichkeit. Es
besteht also für sie kein Grund, nur Prüfungskriterien zu vereinbaren, die so
abstrakt sind, dass sie notfalls auch für Kontroversen mit Papuas oder Besucher
von Alpha Centauri tauglich wären – also für bloß ausgedachte Gesprächspartner,
mit denen sie keinerlei Praxis teilen.
Das illustriert, was ich mit der "erkenntnistheoretischen Verfremdung"
meine. Betrachtet man an Dingen nur DAS als ihre "wesentlichen Eigenschaften",
was für JEDEN MÖGLICHEN SKEPTIKER überprüfbar wäre, reduziert sich die
Wirklichkeit der täglichen Umgebung, die durch dauernden Umgang VERTRAUT ist,
auf ein lebloses, kaum wiedererkennbares Skelett.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 21. Nov. 2004, 13:15 Uhr
hallo hermeneuticus,
auf eine art hast du vollkommen recht, wenn du sagst, dass
Zitat:
Betrachtet man an Dingen nur DAS als ihre "wesentlichen Eigenschaften", was für JEDEN MÖGLICHEN SKEPTIKER überprüfbar wäre, reduziert sich die Wirklichkeit der täglichen Umgebung, [...]auf ein lebloses, kaum wiedererkennbares Skelett.
.
eben ein solches skelett ist die ontologie, die lehre dessen, was da ist.
aber beim skeptizismus dreht es sich meiner ansicht nach um genau diesen punkt.
der skeptiker leugnet, dass da etwas ist. denken wir an gorgias:
· nichts existiert
· selbst, wenn etwas existiert, ist es doch nicht erkennbar
· selbst, wenn etwas erkennbar ist, ist es doch nicht mitteilbar
oder nehmen wir das moderne gedankenexperiment h. putnams (" brain in a vat" ).
die philosophische position des skeptizismus reduziert sich auf dieses skelett,
dessen existenz er bestreitet. besonders in putnams version des skeptizismus
wird deutlich, dass a) wie du, hermeneuticus, richtig formuliert hast, der
skeptiker quasi den boden der lebensweltlichen tatsachen verläßt, und b) in
wieweit diese tatsachen relevant sein können (ein gehirn im tank kann keine
sinnvolle aussage darüber machen, dass es ein gehirn im tank sei.).
- mfg thomas
p.s.: noch einige bemerkungen an dyade
Zitat:
Ich bin verwirrt, besser wäre es zu sagen: ich staune immer wieder über die Tatsache, dass unsere Theorien über die Beschaffenheit der Realität tatsächlich stimmen können, obwohl von Kant bis Luhmann der systemische Ansatz sagt, wir sehen nur "innen".
Zitat:
Das heißt, die Ordnungsanstrengungen unseres Verstandes in Bezug auf die Sinnesdaten, scheinen ja wohl irgendwie in der Lage zu sein die Realität passgenau (=richtig=wahr) nachzubilden.
ich denke, wir sollten uns -si licet dicendi- nicht philosophisch dümmeranstellen,
als wir sind.
ich weiß nicht, weshalb es so verführerisch ist, so zu tun, als seien wir
menschen im grunde eine art weltfremde spezies, die mit einem *plopp* in
einer welt aufwachen, zu der sie a) nie kontakt hatten, und die sie b) irgendwie
aus dem bewußtsein rekonstruieren müßten. eine solche sichtweise muss uns
letztlich über die enormen leistungen eines solchen bewußtseins staunen lassen.
aber ich denke das die wirklichkeit ein wenig einfacher ist.
wir sollten nicht vergessen, dass wir als menschen schon seit jeher in diese welt
miteingebunden sind, dass wir von der geburt bis zum tod -ob darüberhinaus, diese
frage überlasse ich den religionen- den gesetzen unseres körpers und somit auch
den gesetzen dieser welt unterliegen. wir haben verhalten, dass schon seit je her
an diese umgebung angepaßt ist. das zeigt auch die untersuchung der reflexe, die
der arzt an neugeborenen vollzieht. ohne komplexe reflexion saugt ein kind an
der mutterbrust.
wir dürfen bei aller rede vom bewußtsein nicht vergessen, dass unser bewußtsein
ein körperliches ist (ich lasse diese formulierung bewußt unscharf).
wir sind von je her "zur welt" (eine abwandlung des heideggerschen "in-der-welt-seins"
angeregt durch maurice merleau ponty). nicht bloß in die welt hineingekommen.
- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 14:22 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
eben ein solches skelett ist die ontologie, die lehre dessen, was da ist.
Ontologie muss sich nicht zwingend in einer Ontologie von DINGEN erschöpfen. Sie
kann sich auch zunächst einmal um die Seinsweise derjenigen kümmern, denen Dinge
so und so "gegeben" sind. Sprich: Sie kann auch ansetzen beim menschlichen
In-der-Welt-Sein. Aber diese menschliche Seinsweise ist eben in den Kategorien
der traditionellen Ding-Ontologie nicht zutreffend zu beschreiben.
Zitat:
wir dürfen bei aller rede vom bewußtsein nicht vergessen, dass unser bewußtsein ein körperliches ist (ich lasse diese formulierung bewußt unscharf).
Naja, hier versuchst Du, "Bewusstsein" (das ja auch ein "Sein" zu sein
scheint...) mit dem Sein von "Körpern" (also Dingen) in einen - bewussst
unscharfen - Zusammenhang zu bringen. Mich interessiert natürlich, wie Du Dir
diesen Zusammenhang genauer vorstellst. Aber das ist ein anderes Thema. Ich
möchte nur im voraus davor warnen, aus Angst vor dem radikalen Skeptiker und
bösen Relativisten das Bewusstsein unter die körperlichen Sachverhalte
subsumieren, es dort gewissermaßen in Sicherheit bringen zu wollen... :-)
Wenn man in den Kategorien der traditionellen Ding-Ontologie denkt, kann man das
Bewusstsein-Körper-Problem nicht lösen. Die methodischen Vorentscheidungen der
Ding-Ontologie lassen keinen Platz für Bewusstseinsvollzüge. Man muss schon,
davon bin ich überzeugt, statt von Dingen von PRAXIS als der elementaren "Wirklichkeit" ausgehen. Und man darf Praxen nicht wieder zerlegen wollen in
einen "wirklichen" Teil (= bewegte Dinge) und einen "bewussten" Teil, von dem
man dann nicht genau weiß, wie er zwischen den Dingen unterzubringen ist...
Praxis muss übrigens auch der radikalste Skeptiker anerkennen. Denn auch ein
Skeptiker denkt, spricht, behauptet und bestreitet. Es besteht also kein Grund,
den Skeptiker allein dadurch zu widerlegen, dass man ihn mit der Nase auf die
massiven DINGE, die "hard facts" stößt. Es genügt, ihn an das zu erinnnern, was
er TUT, wenn er die Wirklichkeit von allem bestreitet.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 21. Nov. 2004, 18:14 Uhr
hallo hermeneuticus,
nur drei kleine anmerkungen zu deinem letzten beitrag:
I)
Zitat:
Ontologie muss sich nicht zwingend in einer Ontologie von DINGEN erschöpfen.
ich schließe aus deinem statement, dass du nicht ganz verstanden hast, wovon ich
sprach.
ontologie ist die lehre von dem, was da ist. und ich denke im prinzip
sind wir uns nicht uneins in diesem punkt. ich habe nicht gesagt, dass ontologie
die lehre ist, von den dingen die da sind. das hieße sich von vornherein auf
eine bestimmte ontologie festlegen.
II)
Zitat:
das Bewusstsein unter die körperlichen Sachverhalte subsumieren, es dort gewissermaßen in Sicherheit bringen zu wollen
zu diesem punkt gibt es verschiedene philosophische sichtweisen. ob wir uns auf
ein "inkarniertes bewußtsein" im sinne maurice merleau-pontys berufen, oder ob
wir uns auf den von dir sogenannten "naturalistischen" weg begeben, und das
bewußtsein als identität von geist und gehirn begreifen, ist dabei offen. ich
denke, dass zumindest unter den heutigen philosophen einigkeit besteht, dass das
von descartes aufgeworfene leib-seele-problem verworfen worden ist. ein
materialer dualismus von leib und seele ist so nicht haltbar. wir haben es
nicht mit einer occasionalen verbindung zu tun. das wird weithin akzeptiert.
III)
Zitat:
Praxis muss übrigens auch der radikalste Skeptiker anerkennen.
ich denke, dass auch niemand, der sich ernsthaft auf eine skeptische position
beruft, bezweifelt, dass menschliche praxis in dem sinne stattfindet. eine
ernstzunehmende skeptische position wird allerdings den ontologischen status der
wirklichkeit infrage stellen. wenn wir uns zum beispiel putnams "brain in a
vat" -problematik widemen, so denke ich, ist es unzweifelhaft, dass dem gehirn im
tank suggeriert wird, dass praxis stattfindet. das gehirn registriert "eine welt" und reagiert auf "diese welt". was aber fraglich ist, ist der status
dieser welt.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 21. Nov. 2004, 20:01 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
ontologie ist die lehre von dem, was da ist. und ich denke im prinzip sind wir uns nicht uneins in diesem punkt. ich habe nicht gesagt, dass ontologie die lehre ist, von den dingen die da sind. das hieße sich von vornherein auf eine bestimmte ontologie festlegen.
Halte mich für spitzfindig, aber die Formulierung "WAS da ist", legt nahe, dass
es sich um nicht-persönliche Entitäten handelt. Nach Personen, sich selbst
eingeschlossen, fragt man nicht mit "was?" (außer vielleicht in dem einst
populären Ratespiel "Was bin ich?", aber das war eben ein heiteres BERUFE-Raten...)
:-)
Es macht jedenfalls einen Unterschied, ob man EINE riesige Klasse von Entitäten
annimmt, von der es dann auch eine Untermenge "Personen" mit dem Element "Ich"
gibt. Oder ob man die Ontologie beginnen lässt bei dem Sein, das man selbst (und
seinesgleichen) ist. Hier jedenfalls schaut man nicht aus einer
Beobachterperspektive zu, was das Seiende wohl so macht, wie es sich verhält
usw. Sondern hier hat man den großen Vorzug, Beteiligter zu sein. So ist man ein
Sein, das seine Seinsweise mitbestimmt, nämlich handelnd gestaltet und
reflektierend erkundet.
Ja, das scheint mir ein großer Vorzug zu sein: selbst handelnd Einfluss auf das
eigene Sein nehmen zu können. Alles andere Seiende (= Dinge) muss man nämlich
zuerst einmal so hinnehmen, wie es ist (auch dann, wenn man es technisch
umgestalten will). Allein dieser Umstand hebt das eigene Sein aus der Masse der
Seienden heraus.
Wir können das gern vertiefen, allerdings führt das möglicherweise zu weit vom
Thema ab?
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 22. Nov. 2004, 01:48 Uhr
ob dein einwand nun spitzfindig ist, oder nicht, sei einmal dahingestellt, ich frage mich nur, ob er der sache nützt.
- III
- Dyade am 22. Nov. 2004, 09:35 Uhr
Liebe Gehirnbesitzer,
kann es vom Standpunkt eines radikalen Konstruktivisten aus überhaupt eine Frage
nach der Wahrheit geben? Mit dem konstruktiven Statment zusammen ist doch ebenso
ein "erkenntnistheoretischer Solipsismus" (Glasersfeld) gegeben, von dem ich
sagen würde er führt auch in Sachen Wahhrheit dazu behaupten zu müssen sie sei
lediglich eine besondere Form der Eigenproduktion des Systems.
Die besondere Leistung die aus der systemtheoretischen Sicht lebenden Systemen
zukommt ist es, dass sie den Objektbezug zu einem "Quasi-Aussen" intern
wiederholen und so erst überhaupt ein Umwelt/System-Verhältnis KONSTRUIEREN,
wobei Umwelt(=Wirklichkeit) lediglich die Innenseite eines Spiegels bleibt.
WAHRHEIT = Katastrophe
Ähnlich wie bei Kants transzendentaler Analyse bleibt bei dieser naturalisierten
Wendung (thanks Hermeneuticus) das "Ding an sich" oder "Die Realität" außen vor.
Sie ist vielleicht nur noch ein Taktgeber (jedoch ohne erkennbaren Takt), der
via Katastrophe der Wirklichkeit des Systems die Flötentöne beibringt.
Ich muss gestehn, hier wird für mich die Frage nach Wahrheit, wenn ich damit
tatsächlich die Adäquation von Denken und Sein meine, vollkommen undeutlich.
Um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen möchte ich noch einen weiteren Begriff
einführen. Das ist der Begriff der "Evidenz", also das 'fraglose-für-wahr-halten'
eines Sachverhaltes (Vorschlag). Das was Hermeneuticus mit dem Hinweis auf
Heideggers Fundamentalontologie des menschlichen In-der-Welt-seins und der
Da-seins Analyse angedeutet hat, geht in meinen Augen von dieser ersten
unmittelbaren Evidenz aus. Ist das dann auch die erste Wahrheit?
Grüße
Dy
- III
- Hermeneuticus am 22. Nov. 2004, 14:04 Uhr
Hallo Dy!
on 11/22/04 um 09:35:24, Dyade wrote:
Liebe Gehirnbesitzer...
Ich denke gerade über den rechtlichen Status dieses meines "Besitzes"
(" Eigentums" ???) nach. Ich hab es nicht bei Karstadt gekauft, nicht geleast,
nicht geerbt, nicht eigentlich geschenkt bekommen, auch nicht zufällig auf einer
Parkbank gefunden und eingesteckt... Hab ich überhaupt mehr als ein bloßes
Gewohnheitsrecht auf mein Gehirn?
[???]
Zitat:
Kann es vom Standpunkt eines radikalen Konstruktivisten aus überhaupt eine Frage nach der Wahrheit geben? Mit dem konstruktiven Statment zusammen ist doch ebenso ein "erkenntnistheoretischer Solipsismus" (Glasersfeld) gegeben, von dem ich sagen würde er führt auch in Sachen Wahhrheit dazu behaupten zu müssen sie sei lediglich eine besondere Form der Eigenproduktion des Systems.
Ich weiß nicht, ob von Glasersfeld und die Seinen ihre Theorie nur für einen
zufälligen Schuss ins Blaue halten - mal kucken, was draus wird... - oder für
eine wissenschaftliche Theorie, die Anspruch auf Wahrheit erhebt.
Tut sie dies nicht, brauchen wir uns damit nicht weiter zu befassen.
Tut sie es doch, müssen die Theoretiker zugeben, dass ihre Theorie nur gilt,
wenn man die jeweils Anwesenden vom Gegenstandsbereich ausnimmt, weil diese
nämlich den Begriff der Wahrheit wie bisher beanspruchen. Zur Klärung genau
dieses Anspruchs kann aber ihre Theorie erklärtermaßen nichts beitragen.
Solipsisten sind, sobald sie nur den Mund auftun und zu ARGUMENTIEREN anfangen,
nicht mehr ALS Solipsisten ernst zu nehmen.
Mit Absurditäten befasse ich mich nur, wenn sie MIR Vergnügen machen. Aber mir
ist es einfach zu blöde, wenn jemand eine absurde Position vertritt, nur um zu
testen, ob es jemandem gelingt, sie mit ernsthaften Argumenten zu widerlegen.
Wenn ich "Denksport" betreiben will, spiele ich Schach.
Zitat:
Ähnlich wie bei Kants transzendentaler Analyse...
Kant hatte eine sehr klare Vorstellung davon, dass der Anspruch auf Wahrheit mit
Begründung und BERECHTIGUNG zu tun hat, also eine "quaestio iuris" ist. Wahr
kann nicht eine Wahrnehmung als solche sein (etwa weil sie irgendwie einer "Außenwelt" ähnelt oder "mit den Fakten übereinstimmt" ), sondern nur ein URTEIL,
also eine (nachvollziehbare) BEHAUPTUNG.
Aber für Solipsisten können Urteile, Ansprüche, Behauptungen, Rechte, Normen...
keine Bedeutung haben. Ein Solipsist kommuniziert nicht. Oder nur, wenn er
seinem Standpunkt untreu wird.
Zitat:
Ich muss gestehn, hier wird für mich die Frage nach Wahrheit, wenn ich damit tatsächlich die Adäquation von Denken und Sein meine, vollkommen undeutlich.
Mit dieser Undeutlichkeit hast Du auch ganz Recht. Denn wenn es die Ähnlichkeit
zwischen Wirklichkeit und Abbild ist, die eine Aussage "wahr macht", muss man,
um diese Wahrheit zu überprüfen, BEIDES KENNEN und vergleichen können. Das geht
aber schlecht, wenn es zu den Voraussetzungen einer solchen "Erkentnistheorie"
gehört, dass wir die "Außenwelt" EBEN NICHT KENNEN.
Zitat:
Um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen möchte ich noch einen weiteren Begriff einführen. Das ist der Begriff der "Evidenz", also das 'fraglose-für-wahr-halten' eines Sachverhaltes (Vorschlag).
Da machst Du ein großes Fass auf...
Zitat:
Das was Hermeneuticus mit dem Hinweis auf Heideggers Fundamentalontologie des menschlichen In-der-Welt-seins und der Da-seins Analyse angedeutet hat, geht in meinen Augen von dieser ersten unmittelbaren Evidenz aus. Ist das dann auch die erste Wahrheit?
Wenn ich Heidegger in "Sein und Zeit" einigermaßen verstehe, dann unternimmt er
dort den Versuch, auf dem Weg einer PHÄNOMENOLOGIE zu "erhellen", was "Dasein"
bedeutet. Und weil er dieses Unternehmen für eine FUNDAMENTALE Aufgabe hält,
erhebt er damit wohl einen "transzendentalen" Anspruch.
Aber "Evidenz" ? Kann ich mir nicht denken. Das würde seinen Absichten wohl eher
entgegenlaufen. Der Begriff der Evidenz ist historisch verknüpft mit der "reinen
Schau" eines Bewusstseins, und diese Selbstgenügsamkeit und reine Selbstpräsenz
des Geistes ist gerade der Zielpunkt von Heideggers Kritik.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 22. Nov. 2004, 18:12 Uhr
Hallo allerseits, hallo Hermeneuticus,
Du betonst, dass das reflektierende fragende Verhältnis zur Welt eine besondere
Einstellung darstellt, die auf gelingenden Lebensvollzügen aufbaut. Da habe ich
keine Probleme mit. Aber was ändert das an den Fragen, die gestellt werden und
an den Kriterien für deren richtige Beantwortung?
die Auswahl meines Beispiels (unmittelbare raum-zeitliche Gegenwart eines mit
mehreren Sinnesorganen unmittelbar wahrnehmbaren ortsfesten und dauerhaften
Gegenstandes) hatte seinen Grund darin, dass Aussagen dieser Art noch am
leichtesten auf ihre Wahrheit überprüft werden können.
Das beinhaltet jedoch keinerlei Vorentscheidung und hindert uns nicht, andere
und kompliziertere Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu
diskutieren wie z. B.:
Aussagen über nicht wahrnehmbare Objekte (" Dieser Stein ist schwach
radioaktiv" ),
Aussagen über vergangene Sachverhalte (" Napoleon Bonaparte wurde auf
Korsika geboren" ),
Aussagen über weit entfernte Objekte (" In Neuseeland gibt es wild lebende
Koala-Bären" ),
Aussagen über empirische Zusammenhänge (" Raucher sterben x-mal häufiger
an Krebs der Atemwege als Nichtraucher" ),
Aussagen über zukünftige Ereignisse (" Bei der nächsten Bundestagswahl
werden die Nationalisten in den Bundestag einziehen" ),
Aussagen über empirische Regelmäßigkeiten (" Politiker, die in Ihrer
Machtausübung von niemandem kontrolliert werden, verfolgen ihre privaten
Eigeninteressen" ),
Aussagen über eigenpsychisches (" Ich habe starke Kopfschmerzen" ),
Aussagen über Fremdpsychisches (" Das eigentliche Motiv der
Bush-Administration für den militärischen Angriff gegen den Irak war, die
Kontrolle über die irakischen Ölvorkommen zu bekommen" ),
Aussagen über übersinnliche Wesen (" Es gibt Menschen, die einen Pakt mit
dem Teufel geschlossen haben" ),
Aussagen über übersinnliche Sachverhalte (" Jeder Mensch hat eine
unsterbliche Seele" ).
Man muss kein Wahrheits-Experte sein, um zu diskutieren, wie man jeweils
für bzw. gegen Behauptungen dieser Art argumentieren kann.
Um meine Position hier zu verdeutlichen: Um die Wahrheit einer Aussage
über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu prüfen, muss ich fragen, ob ich all
die Wahrnehmungen mache, die sich logisch ergeben, wenn diese Aussage gilt und
keine Wahrnehmungen mache, die mit der Geltung von p logisch nicht vereinbar
sind.
Anders ausgedrückt: Ich habe guten Grund, bis auf weiteres die Aussage p für
wahr zu halten, wenn ich all die – und nur die - Wahrnehmungen mache, die bei
Annahme von p zu erwarten sind.
Entscheidendes Wahrheitskriterium für Aussagen über die Beschaffenheit
der Wirklichkeit ist also die Wahrnehmung.
Mit dieser bewusst zugespitzten Formulierung grüßt Euch Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am 22. Nov. 2004, 19:55 Uhr
Hallo Eberhard!
Mit Deinen Ausführungen im letzten Beitrag habe ich meinerseits ebenfalls keine
Probleme. Ich kann auch Deinem Fazit zustimmen:
Zitat:
Entscheidendes Wahrheitskriterium für Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ist also die Wahrnehmung.
Nun fragt sich nur, ob wir mit "Wahrnehmung" dasselbe meinen.
Meine Fragen wären etwa:
Ist Wahrnehmung eine Organfunktion, die immer auf fast dieselbe Weise abläuft
und daher als Naturvorgang beschreibbar wäre? Wäre das jeweils Wahrgenommene
daher "von Natur aus" eine nahezu untrügliche Informationsquelle, die nur durch
organische Störungen beeinträchtigt wird?
Oder ist das Wahrnehmen eine Handlung, die erlernt werden muss? Die, da man
Handlungen auf verschiedene Weisen lernen kann, auch in verschiedenen Kontexten
verschieden ausgeführt wird? Wäre daher Wahrnehmen auch ein Akt der
Interpretation, durch den die nahezu gleichen Sinnesreize von verschiedenen
Individuen jeweils anders "synthetisiert" werden können?
Gibt die Wahrnehmung immer dasselbe wieder - ganz gleich, in welchen praktischen
Zusammenhängen sie vollzogen wird? Oder folgt sie grundsätzlich dem (interpretativen)
Schema, nach dem stets "etwas ALS etwas" wahrgenommen wird?
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 22. Nov. 2004, 23:59 Uhr
hallo,
vielleicht wäre es hilfreich zumindest aus heuristischen gründen bei der
wahrnehmung zu differenzieren zwischen (i)dem rein physiologischen, (ii) dem
psychophysischen und (iii) dem kognitiven vorgang.
(i) entspräche dann dem rein biologischen vorgang; (ii) dann dem, der
gegenüberstellung von objektiven reiz und dem psychischen aspekt der wahrnehmung
(da sich nicht jeder reiz zwangsläufig in einer reaktion des wahrnehmenden
niederschlägt; stichwort: "schwellen" ) und letztlich dem kognitiven vorgang
(iii) in dem etwas als etwas identifiziert wird. besonders bei (iii) spielt z. B.
das vorwissen eine nicht unerhebliche rolle.
wenn wir diese drei ebenen akzeptieren, und gleichfalls akzeptieren, dass (ii)
auf (i) aufbaut und (iii) auf (ii) also letztlich (iii) auf (i) aufbaut, denke
ich, kommen wir einen großen schritt weiter.
vorallem werden unsere fragen zielgerichteter verlaufen.
Zitat:
Ist Wahrnehmung eine Organfunktion, die immer auf fast dieselbe Weise abläuft und daher als Naturvorgang beschreibbar wäre?
diese frage müßte dann auf allen 3 ebenen gesondert behandelt werden. betrachten
wir die unterste ebene (i), so können wir diese frage uneingeschränkt bejahen.
wahrnehmung ist prinzipiell eine organische funktion des menschlichen körpers.
und als solche ist sie auch beschreibbar. wir können ein neuronales netzwerk als
modell für das gehirn nutzen, um uns zu veranschaulichen, inwieweit das gehirn
die (um)welt repräsentiert -dabei ist zu beachten, dass das gehirn aus vielen
autonomen sub-netzwerken besteht, die (a) weitgehend autonom agieren und (b) auf
verschiedenen ebenen schon "repräsentatives verhalten" zeigen; also das, was wir "repräsentation" nennen ist ein ganzer komplex und nicht ein einzelnes ganzes.
wir können auf die erkenntnisse der phyiologie unserer sinne beziehen.
betrachten wir das geschehen beispielsweise auf der höchsten ebene (iii) wird
die beantwortung schwieriger und weitaus komplexer. wie gesagt spielt unter
anderem das, was man gemeinhin erfahrung nennt, eine nicht geringe rolle.
Zitat:
Wäre das jeweils Wahrgenommene daher "von Natur aus" eine nahezu untrügliche Informationsquelle, die nur durch organische Störungen beeinträchtigt wird?
auch hier läßt sich im rückgriff auf die drei betrachtungsebenen antworten.
zunächsteinmal ist das jeweils wahrgenommene nicht nur eine nahezu untrügliche
informationsquelle, sie ist untrüglich. entweder ein reiz ist gegeben oder
nicht.
betrachtet man hingegen schon die zweite ebene, kann man nicht in dem sinne mehr
von untrüglich, im sinne einer 1:1 umsetzung sprechen, da nicht jeder
objektiv gegebene reiz auch in einer bewußten wahrnehmung repräsentiert wird.
denken wir z. B. an das sehen oder hören, wo wir nur einen ausschnitt der reize
verarbeiten. das heißt zwar nicht, dass das, was wir wahrnehmen falsch oder
trügerisch ist, sondern schlicht und ergreifend begrenzt.
auf der dritten ebene schließlich kann auch sinnvoll von "trug" und "falsch"
gesprochen werden. auf dieser ebene findet eine einordung unter schon bekanntes
statt, bekanntes ergänzt die gegebene information etc. dort ist es möglich, dass
z. B. erinnerung die wahrnehmung so beeinflußt, dass unsere interpretation verfälscht
oder schlichtweg falsch wird.
Zitat:
Oder ist das Wahrnehmen eine Handlung, die erlernt werden muss? Die, da man Handlungen auf verschiedene Weisen lernen kann, auch in verschiedenen Kontexten verschieden ausgeführt wird? Wäre daher Wahrnehmen auch ein Akt der Interpretation, durch den die nahezu gleichen Sinnesreize von verschiedenen Individuen jeweils anders "synthetisiert" werden können?
auf der ebene (i) sieht die antwort so aus, dass wahrnehmung als eine
körperfunktion weder erlernt werden kann, noch lassen sich die sinnesreize
anders synthetisieren. ebene (ii) liefert schon eine ganz andere sicht.
natürlich können wir in begrenztem rahmen auch unsere sinne und damit unsere
wahrnehmung trainieren. man kann zwar nicht soweit gehen zu sagen, dass reize
anders synthetisiert werden, eher sollte man sagen, die darbebotenen
reize werden anders differenziert - also analysiert.
schließlich und endlich auf der dritten ebene ist es durchaus möglich, dass
sinnesreize in gewisser weise anders interpretiert werden. denken wir an ein
geräusch unbekannter quelle. je nach vorwissen können aussagen über eine
mögliche quelle und ursache des geräuschs abgegeben werden, und so wird das
geräusch verschieden interpretiert.
ich denke demonstriert zu haben wie leistungsfähig diese heuristische
unterteilung der "wahrnehmung" ist.
selbstverständlich ist die wahrnehmung noch weitaus komplexer. es kommen bei den
jeweiligen wahrnehmungen die eigenzustände des wahrnehmenden hinzu; ebenfalls
habe ich anomalien jeglicher art beiseite gelassen, weil es mir zweckdienlich
erscheint, dass wir uns auf ein paar wenige, grundlegene mechanismen
einigen sollten.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 23. Nov. 2004, 08:31 Uhr
Hallo Thomas!
Zu Deinem Beitrag wäre viel zu sagen. Im Moment muss ich mich auf zwei Punkte
beschränken:
Zitat:
also das, was wir "repräsentation" nennen ist ein ganzer komplex und nicht ein einzelnes ganzes. wir können uns auf die erkenntnisse der phyiologie unserer sinne beziehen.
1. Der Begriff der "Repräsentation" ist unbedingt klärungsbedürftig.
2. Bei der Frage, als was wir "Wahrnehmung" im Zusammenhang einer
erkenntnistheoretischen Diskussion verstehen wollen, können wir
erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach übernehmen. Empirische
Theorein arbeiten ja stets mit kategorialen Voraussetzungen, die die Geltung
ihrer Aussagen beschränken.
Der Begriff der Repräsentation ist eine solche Voraussetzung.
Denkt man sich bei einer physiologischen Untersuchung der Sinnesorgane ihre
Funktion nach dem Muster der "Repräsentation", erhält man auch entsprechende
Resultate. Diese Resultate können dann aber in einer erkentnistheoretischen
Untersuchung nicht als "empirischer Beleg" dafür stehen, dass Erkennen im
Wesentlichen Repräsentation SEI.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 23. Nov. 2004, 10:15 Uhr
repräsentation:
der begriff der repräsentation läßt sich unter zuhilfenahme der
informationsverarbeitung definieren.
ein system A verhält sich repräsentativ wenn es informationen aus der
interaktion mit X behandelt als wären es informationen aus Y. es behandelt X als
repräsentation von Y.
http://www.awi-bremerhaven.de/GEO/Publ/PhDs/CPorthun/img196.gif
Prinzipdarstellung eines Neuronalen Netz (nach Malmgren und Tolderlund, 1997)
· in der eingangsschicht haben wir die rohinformation, beim eintritt ins
neuronale netz.
· die aktivität der sogenannten versteckten schicht (weil nicht mit
externen stellen verbunden) resultiert aus der aktivität der eingangsschicht in
verbindung mit der gewichtung zwischen eingangs- und versteckter schicht.
· das verhalten der ausgangsschicht hängt von dem verhalten der versteckten
schicht und der gewichtiung zwischen ausgangs- und versteckter schicht ab
die neuronen der sog. versteckte schicht sind in der lage ihre eigenen
repräsentationen zu bilden. die gewichtung zwischen eingangs- und versteckter
schicht bestimmt, wann jedes neuron der versteckten schicht aktiv wird und in
dem es diese gewichtung verändern kann, ist es in der lage eigene
repräsentationen zu bilden.
Zitat:
2. Bei der Frage, als was wir "Wahrnehmung" im Zusammenhang einer erkenntnistheoretischen Diskussion verstehen wollen, können wir erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach übernehmen.
erneut die frage: warum?
Zitat:
Der Begriff der Repräsentation ist eine solche Voraussetzung.
und dieser begriff ist als solcher geklärt.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 23. Nov. 2004, 17:24 Uhr
Hallo Thomas!
Du fragst, warum erfahrungswissenshaftliche Sätze nicht unbefragt in eine
grundlegende Klärung des Wahrheitsbegriffs übernommen oder gar schlicht
vorausgesetzt werden könnten. Ich hatte die Gründe dafür zwar schon angedeutet,
will aber versuchen, sie noch klarer zu machen.
Unsere Diskussion hat ergeben, dass Sätze über die Wirklichkeit zunächst einmal
VERSTANDEN sein müssen, ehe in einem weiteren Schritt ihr Zutreffen anhand von
Kriterien überprüft werden kann. Erfüllt ein Sätz diese Kriterien, kann er von
denen, die ihn verstehen, als "wahr" bezeichnet werden.
Daraus ist ersichtlich, dass empirische Aussagen grundsätzlich nur BEDINGT wahr
sein können. Ihre Geltung ist nicht nur abhängig davon, ob sie die für sie
einschlägigen Kriterien erfüllen, sondern auch von den VORAUSSTZUNGEN, die in
der Bedeutung der in ihnen verwendeten Begriffe liegen.
Aus der Wahrheit einer bestimmten Behauptung "xp" folgt also nicht, dass "xq", "xr", "xs" usw. falsch sein müssen. Angewandt auf den vorliegenden Sachverhalt: Dass
sich die physiologische Funktionen von Sinnesorganen zutreffend als ein Fall von "Repräsentation" interpretieren lassen, schließt nicht aus, dass diese Funktion
nicht auch zutreffend als ein Fall von "Konstruktion" zu interpretieren wäre.
Außerdem: Beide Behauptungen sind Beispiele für die Verwendung des
Wahrheitsbegriffs. Als solche können sie nicht als Gründe in einer
ALLGEMEINEN Klärung des Wahrheitsbegriffs verwendet werden. Denn ihre Geltung
als "wahre" Behauptungen setzt bereits den unabhängig von ihnen zu klärenden
Gebrauch des Wahrheitsbegriffs voraus.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 23. Nov. 2004, 19:15 Uhr
hi hermeneuticus,
ich habe nicht den blassesten schimmer, inwieweit du mit deinem beitrag meine(n)
vorangegangene(n) kritisierst, widerlegst etc.
du schreibst:
Zitat:
1. Der Begriff der "Repräsentation" ist unbedingt klärungsbedürftig.
daraufhin gebe ich dir eine definition. und du antwortest mit
Zitat:
Dass sich die physiologische Funktionen von Sinnesorganen zutreffend als ein Fall von "Repräsentation" interpretieren lassen, schließt nicht aus, dass diese Funktion nicht auch zutreffend als ein Fall von "Konstruktion" zu interpretieren wäre.
was hat das mit dem vorgebrachten zu tun? vielleicht erläuterst du mir den
zusammenhang ein wenig.
Zitat:
Denn ihre Geltung als "wahre" Behauptungen setzt bereits den unabhängig von ihnen zu klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs voraus.
ich denke nicht, dass der informationstheoretische begriff der repräsentation,
den "klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs" voraussetzt. das wort "wahrheit"
kommt in dieser definition nicht vor. wir haben eingangsdaten, eine verarbeitung
im neuronalen netz und eine ausgabe. was hat das mit "wahrheit" zu tun?
ich weiß beim besten willen nicht, worauf du hinauswillst. sorry.
- mfg thomas
- III
- Eberhard am 23. Nov. 2004, 19:46 Uhr
Hallo allerseits,
zu der Kontroverse über die Repräsentation in der Wahrnehmung folgendes:
Unser Oberthema ist die Klärung des Wahrheitsbegriffs in Bezug auf Aussagen über
die Beschaffenheit der Wirklichkeit: Was meint man, wenn man einen Satz oder
eine Theorie (als Menge logisch aufeinander bezogener Sätze) als "wahr"
auszeichnet? Was impliziert der Begriff "wahr" ? Was sind die Regeln für den
Gebrauch des Wortes "wahr" ?
Wir fragten zuletzt nach dem Kriterium der Wahrheit: Wie stellt man fest,
ob eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu Recht als "wahr"
bezeichnet wird? Was ist hierfür der Prüfstein?
Hier waren wir uns einig, dass man eine Aussage p nur dann als "wahr"
auszeichnen soll, wenn die Wahrnehmungen, die man macht, so sind, wie es bei
Geltung der Aussage zu erwarten wäre,
Gegenwärtig versuchen wir zu klären, was in diesem Zusammenhang unter dem
Begriff "Wahrnehmung" zu verstehen ist.
Da die Wahrnehmungen mit Aussagen konfrontiert werden, müssen die
Wahrnehmungen ebenfalls sprachlich wiedergegeben werden können. Von dorther
kommen nur bewusste Wahrnehmungen für unsere Zwecke in Betracht, also nach der
von Thomas dargelegten Einteilung interessiert nur die Ebene der kognitiven
Wahrnehmung. (Ich habe mir von Psychologen sagen lassen, dass der Mensch in der
Sekunde 10 Millionen Bits an Informationen aufnimmt, aber davon weniger als 50
das Bewusstsein ausmachen.)
Wir sollten die Forschungsergebnisse der Physiologen und Psychologen zur
Kenntnis nehmen und bei Bedarf darauf zurückgreifen.
Wichtig für uns scheint mir die Klärung der von Hermeneuticus aufgeworfenen
Frage zu
sein, inwieweit in die wahrgenommenen Sinneseindrücke Interpretationen eingehen.
Nehmen wir ein Bild auf einem Monitor, das aus Millionen von Punkten
unterschiedlicher Farbe und Helligkeit besteht, die sich pro Sekunde mehr 50 mal
ändern. Was wir bewusst davon wahrnehmen ist ein Text aus schwarzen Buchstaben
auf weißem Hintergrund. Ist das eine Interpretation der Rohdaten des
Sinneseindrucks? Wirft dies für unser Thema Probleme auf?
Wie kulturspezifisch ist die Wahrnehmung? In mancher Hinsicht offenbar gar
nicht. Wenn ich mit unserm Hund spazieren gehe und ich bemerke, dass er
angespannt in eine bestimmte Richtung blickt, dann entdecke ich gewöhnlich in
dieser Richtung auch ein für den Hund interessantes Objekt, z, B. in Form eines
anderen Hundes.
Die von Thomas angesprochenen Fehlermöglichkeiten bei der Interpretation von
Sinneseindrücken und beim Erkennen von Objekten scheinen mir für uns von
Bedeutung zu sein. Gleiches gilt für das Verhältnis von zufälliger Wahrnehmung
und gezielter Beobachtung.
Es grüßt Euch Eberhard.
- III
- Dyade am 23. Nov. 2004, 21:17 Uhr
Hallo ihr Drei,
Eberhard schreibt: "(Ich habe mir von Psychologen sagen lassen, dass der Mensch in der Sekunde 10
Millionen Bits an Informationen aufnimmt, aber davon weniger als 50 das
Bewusstsein ausmachen.)"
bei meinem folgenden Kommentar ist mir überhaupt nicht spitzfindig zu Mute. Hat
der befragte Psychologe vergessen das er ein rein "hermeneutisches" Fach der
Wissenschaft betreibt? Hat er vergessen, das er ausschließlich auf Aussagen
angewiesen ist, bei seinen Untersuchungen, die ihm SPRACHLICH mitgeteilt werden
müssen mit allen Reflexionsprozessen die eben so vor sich gehn wenn einer
darüber nachdenkt was er "wahrnimmt" um es dem Forscher dann zu erzählen. Wie
will er wissen wieviele Bits das Bewusstsein ausmachen und wieviele unter der
Oberfläche bleiben (den Begriff Bewusstsein in dieser Frage einmal völlig
unkritisch gelesen) und ob überhaupt eine Einheit zur Bestimmung einer Quantität
(Bit) ausreicht um etwas über die Qualität (Wahrnehmung) auszusagen.. Es kann
doch bei solchen Untersuchungen nicht zugehn wie beim Erbsen zählen, soviel gehn
rein in die Dose, soviele kommen raus? Der Probant ist doch kein Relais an das
ich Strom lege oder nicht und der dann mit 1 oder 0 antwortet. Wieviele Bits
sind es denn wenn ich Bachs H-Moll Messe höre und wieviele sind es wenn ich ein
Bild male oder an diesem Text hier schreibe?
Für micht gilt vorerst, dass die philosophische QUALITÄT solcher Aussagen deshalb
nicht relevant ist, weil sie ihre Ausgangsposition, ihren Geltungsrahmen
erkenntnistheoretisch nicht ausreichend im Ergebnis berücksichtigt bzw.
kennzeichnet. Man kann vielleicht messen wieviele Neuronen angeregt werden,
welche Areale im Gehirn aktiv sind und usw. usf. aber damit hat man in meinen
Augen keinen Schritt in Richtung Wahrnehmungsinhalt getan.
grüße
DY, heute wiedermal als Cato unterwegs :-) :-)
ps. an Thomas
Ich frage mich was denn die Unterschiede der verschiedenen von dir Thomas
vorgetragenen Wahrnehmungsebenen- oder Schichten (oder Weisen) ist. Was
unterscheidet zB. psychisch/physische Wahrnehmung von kognitiver Wahrnehmung?
pps. an alle
Hermeneuticus will wohl sagen, so verstehe ich ihn, das man das Explicans nicht
durch das Explicandum erklären kann und umgekehrt. Anders, man sollte das was
man überhaupt erst erklären will nicht als Voraussetzung in die Erklärung vorher
eingebaut haben. Was natürlich bei Fragen nach Bewusstsein oder Wahrnehmung ua.
dann schon sehr sehr problematisch wird.
- III
- Hermeneuticus am 23. Nov. 2004, 22:52 Uhr
Hallo Thomas!
Durch Deine Darstellung ist der Begriff der Repräsentation kein bisschen klarer
geworden.
Du schreibst:
Zitat:
die neuronen der sog. versteckte schicht sind in der lage ihre eigenen repräsentationen zu bilden. die gewichtung zwischen eingangs- und versteckter schicht bestimmt, wann jedes neuron der versteckten schicht aktiv wird und in dem es diese gewichtung verändern kann, ist es in der lage eigene repräsentationen zu bilden.
Unter "Repräsentation" versteht man gemeinhin so etwas wie Stellvertretung oder
Wiedergabe. Etwas, das selbst nicht anwesend (präsent) ist, wird durch etwas
anderes, jedoch Anwesendes "wiedergegeben" oder "vertreten", So repräsentiert
der englische Botschafter in Deutschland die englische Regierung. Oder ein
Honeckerporträt in der Amtsstube repräsentiert den Staatsratsvorsitzenden und
Genossen Generalsekretär der SED...
Traditionellerweise - d. h. seit Platon - stellte man sich die Repräsentation so
vor, dass etwas "Wirkliches" durch ein bloßes Zeichen, ein "Bild" vertreten
werde, das selbst - im Vergleich zum Vorbild - nicht von derselben "Wirklichkeit" sei. d. h. man gewichtete das Bild durch einen Vergleich mit dem,
was es zeigt, ohne es selbst zu sein.
Was dabei völlig unterging, war die "Wirklichkeit", die die HANDLUNG der
Darstellung und ihr PRODUKT (das fertige Bild) ist. Ein Bild kommt eben nicht
durch das in die Welt, was es zeigt, sondern durch jemanden, der es herstellt.
Und er stellt es her, um damit etwas zu zeigen, und zwar auf eine bestimmte
Weise zu zeigen. Diese Herstellungsleistung ist eine Wirklichkeit sui generis,
und SIE bestimmt, was das Bild überhaupt zeigt, welchen Sinn oder Zweck es haben
soll.
So gesehen, wird auch klar, dass eine Darstellung immer eine gezielte AUSWAHL
aus einem Ausgangsmaterial ist und daher MIT der Darstellung IMMER ZUGLEICH eine
INTERPRETATION des Dargestellten (und keine bloße Vergegenwärtigung desselben).
Es zeigt sich, dass der Begriff der Repräsentation eigentlich irreführend ist,
weil er die WIRKLICHKEIT DES BILDES als einer eigenständigen
Informationsverarbeitung - einer Interpetationsleistung also - verschleiert.
Mit dieser Problemskizze im Hinterkopf fällt an der graphischen Darstellung in
Deinem Beitrag auf, dass sie ebenfalls diesen Aspekt der eigenen LEISTUNG
verschleiert. Es entsteht der Eindruck, als verlaufe die Reizweitergabe linear
von links nach rechts wie eine Kausalkette, bei der eine Schicht auf die nächste
einwirkt. Das Endprodukt erscheint wie die bloße Verdichtung einer vorher
gestreuten "Information" : es geht eine (sozusagen redundante) Mehrzahl gleicher "Partikel" ein, am Ende steht ein einziger "Partikel", der diese eingehende
Mehrzahl "vertritt". Und es scheint, als werde dasselbe (eine "Information" ) nur
über verschiedene Schichten "weitergereicht".
Dass es sich aber nicht um eine bloße Weiterleitung desselben handeln kann,
sondern zumindest um eine UMWANDLUNG von etwas in etwas anderes, wird allein
durch das recht klein formatierte Wort "Wichtung" angedeutet, das die
Verbindungslinien zwischen "Eingangsschicht" und "versteckter Schicht"
charakterisiert. Was soll das bedeuten?
Eine "Wichtung" KANN eigentlich nur eine Interpretationsleistung sein, und zwar
eine SELEKTIVE: es wird Wichtiges von Unwichtigem UNTERSCHIEDEN, Wichtiges aus
Unwichtigem AUSGEWÄHLT. Dies ist eine selbständige Leistung. Denn es fragt sich:
IM HINBLICK WORAUF wird hier "gewichtet" ? Und da kann die einzig sinnvolle
Antwort nur lauten: Wichtig für den EMPFÄNGER der "Information".
Und das entspricht auch unserer alltäglichen Erfahrung, die aus der unabsehbaren
Flut von Reizen nur das berücksichtigt, was jeweils für uns wichtig ist. Das
Unwichtige wird, wenn überhaupt wahrgenommen, aus dem Bewusstsein verdrängt.
Ohne eine solche Auswahl wären wir nicht lebensfähig.
Klar ist aber, dass es stets UNSERE Auswahl ist, die da getroffen wird, und dass
es sich um eine "spontane", also von uns ausgehende LEISTUNG handeln muss, nicht
um ein von Außenreizen "kausal" bedingtes Geschehen. Denn den eingehenden Reizen
ist es gleichgültig, wie wir sie "wichten", d. h. was wir daraus MACHEN, welche
BEDEUTUNG wir ihnen FÜR UNS beilegen.
Die geläufige Vorstellung von "Repräsentation" oder "Wiedergabe" bzw.
Weiterleitung einer "Information" ist also auch hier höchst irreführend.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 24. Nov. 2004, 01:06 Uhr
Hallo Thomas!
Zitat:
ich denke nicht, dass der informationstheoretische begriff der repräsentation,
den "klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs" voraussetzt. das wort "wahrheit"
kommt in dieser definition nicht vor. wir haben eingangsdaten, eine verarbeitung
im neuronalen netz und eine ausgabe. was hat das mit "wahrheit" zu tun?
ich weiß beim besten willen nicht, worauf du hinauswillst. sorry.
Natürlich kommt in einer empirischen Aussage, z. B. über die Physiologie der
Sinne, nicht der Begriff der Wahrheit vor. Aber als Aussage über die
Wirklichkeit wird sie ja doch wohl den Anspruch darauf erheben, eine WAHRE
Aussage zu sein - ganz besonders, wenn es sich um eine wissenschaftliche Aussage
handelt.
Als eine Aussage mit Anspruch auf Wahrheit ist sie in dieser Diskussion hier nur
ein (beliebiges) BEISPIEL. Denn wir diskutieren hier darüber, welchen Normen
JEDE Aussage genügen muss, um mit Recht "wahr" genannt werden zu dürfen. d. h.
wir suchen nach Kriterien, nach denen Aussagen BEURTEILT werden sollen.
Und es ist doch (logisch) klar, dass wir Urteilskriterien, die für Aussagen IM
ALLGEMEINEN gelten sollen, schlecht von EINZELNEN AUSSAGEN ableiten können. Man
kann beispielsweise schlecht behaupten, dass Aussagen nur dann mit Recht "wahr"
genannt dürfen, wenn sie mit dem Satz des Pythagoras vereinbar sind. Umgekehrt:
Wir fragen danach, von welchen allgemeinen Bedingungen z. B. die Wahrheit von
Pythagoras' Satz abhängt.
Insofern ist es logisch zwingend, dass wir allgemeine Wahrheitsbedingungen
unabhängig von irgendwelchen Anwendungsfällen klären müssen. Nun sind aber Sätze
über die Physiologie der Sinne solche Anwendungsfälle. Folglich können sie IM
KERN nichts zu unserer Fragestellung beitragen. (Zur Illustration können sie
durchaus herangezogen werden.)
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 24. Nov. 2004, 07:36 Uhr
PS zum Beitrag über "Repräsentation" :
Sinnvoll kann in diesem Zusammenhang von einer "Information" erst gesprochen
werden, NACHDEM Außenreize "gewichtet" sind. Erst dann sind sie für den
Empfänger eine "Botschaft", die sein Handeln oder Verhalten orientieren kann.
Die Vorstellung, dass ein externer "Sender" diese Information ausschickt, z. B.
um vor etwas zu warnen, ist absurd. Die Licht- und Schallwellen, die ein 20 m
vor uns brüllender Löwe "aussendet", verfolgen nicht die Absicht, uns die Gefahr
zu signalisieren. Denn ein Elefant z. B., der dieselben Licht- und Schallwellen
empfängt, wird dabei völlig cool bleiben, weil ein Löwe für ihn keine Gefahr
ist.
Es ist zwar in den Naturwissenschaften ein inzwischen geläufiger Sprachgebrauch,
Naturphänomene, selbst dann, wenn gar keine Menschen darin verwickelt sind, als
Speicherung oder Weiterleitung von "Informationen" zu bezeichnen. Das ist
allerdings ein Anthropomorphismus, der im Prinzip nicht wissenschaftlicher ist
als es einst der Animismus war. In beiden Fällen wird nämlich Bedeutung, die
Phänomene nur durch Interpretation erhalten, naturalisiert oder verdinglicht -
also zu einer faktischen "Eigenschaft" eines Trägers (eines sog. "Senders" )
erklärt.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am 24. Nov. 2004, 09:09 Uhr
Hallo Dyade,
zu meiner Randbemerkung über die riesige Informationsmenge, die ein Mensch über
seine reizaufnehmenden Sinneszellen empfängt, und die relativ winzige Menge, die
davon für die Bildung seines Bewusstseinsinhaltes verwendet wird.
Dies ist wohl ein Resultat neurophysiologischer Forschung, die für empirisch
arbeitende Psychologen allerdings von großer Bedeutung ist. Eine Diskussion über
empirische versus hermeneutische Psychologie würde wohl den Rahmen dieser Runde
sprengen.
Es grüßt Dich Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 24. Nov. 2004, 09:23 Uhr
hallo hermeneutikus,
das für unsere diskussion relevante steht eigentlich im ersten absatz meines
vorletzten artikels:
Zitat:
der begriff der repräsentation läßt sich unter zuhilfenahme der
informationsverarbeitung definieren.
ein system A verhält sich repräsentativ wenn es informationen aus der
interaktion mit X behandelt als wären es informationen aus Y. es behandelt X als
repräsentation von Y.
repräsentiert wird y durch interaktion des systems mit x - also unser gehirn
arbeitet insofern repräsentativ, als es aus seinem eigenzustand und dessen
veränderung die welt repräsentiert. und eine quelle für diese eigenveränderung
ist eben information die über die sinne weitergegeben wird.
information ist in diesem falle kein qualitativer (ampel rot=gefahr) sondern ein
quantitativer begriff.
er ist nach claude e. shannon definiert als entropiewahrscheinlichkeit
http://en.wikipedia.org/math/699cd747a643eeea29e408ea9af35931.png
wobei Pi die wahrscheinlichkeit von i ist; wenn man die basis 2 für den
logarithmus wählt, erhält man die anzahl der bits. beispiel: um ein zeichen des
ASCII(=american standard code for information interchange) zu kodieren benötigt
man 8 bit(00000000 bis 11111111). damit hat man alle möglichkeiten der
kombinationen von 0 und 1 auf 8 stellen berücksichtigt. es ist die in der
informatik übliche einheit byte; 2 bytes bilden ein wort, 4bytes ein doppelwort
etc. ein doppelwort kann einerseits genutzt werden, um 4 buchstaben zu kodieren,
oder aber eine zahl zwischen 0 und 4294967295, bzw. -2147483648 bis +2147483647
oder um 32 bit bildinformation darzustellen.
ob es sich bei der information nun um zahlen, buchstaben oder um bildpunkte etc.
handelt ist vernachlässigbar. der begriff der information ist neutral.
Zitat:
Sinnvoll kann in diesem Zusammenhang von einer "Information" erst gesprochen werden, NACHDEM Außenreize "gewichtet" sind.
im prinzip nein. in jedem falle kann von information gesprochen werden. was du
aber meinst ist, dass sinnvoll von repräsentation erst gesprochen werden
kann, nachdem das system "gelernt" hat, was es repräsentieren soll. da stimme
ich dir zu. das habe ich bei meiner darstellung außen vor gelassen.
ich möchte mich auf das für die diskussion notwendige beschränken.
einen überblick gibt es z. B. unter http://wwwmath.uni-muenster.de/SoftComputing/lehre/material/wwwnnscript/startseite.html
--------------------------------------------------------------------------------------
noch einige anmerkungen:
@dyade
Zitat:
Hat er vergessen, das er ausschließlich auf Aussagen angewiesen ist, bei seinen Untersuchungen, die ihm SPRACHLICH mitgeteilt werden müssen mit allen Reflexionsprozessen die eben so vor sich gehn wenn einer darüber nachdenkt was er "wahrnimmt" um es dem Forscher dann zu erzählen.
das ist eine triviale feststellung und vernachlässigbar
Zitat:
Der Probant ist doch kein Relais an das ich Strom lege oder nicht und der dann mit 1 oder 0 antwortet.
was spricht denn gegen die digitalisierbarkeit analoger information?
prinzipiell ist jede analoge information digitalisierbar. (->abtasttheorem von
nyquist/shannon).
Zitat:
Wieviele Bits sind es denn wenn ich Bachs H-Moll Messe höre
das läßt sich abschätzen: durchschnittlich reichen 192 Kbits/s also ca. 1,4 MB
die minute. gehen wir von knapp 140 minuten aus, macht das 140x1,4=196 MB oder
1605632 bits, also ca. 1.6 mio.
noch fragen?
Zitat:
aber damit hat man in meinen Augen keinen Schritt in Richtung Wahrnehmungsinhalt getan.
ja. aber ist der relevant?
Zitat:
Was unterscheidet zB. psychisch/physische Wahrnehmung von kognitiver Wahrnehmung?
wie ich anfangs sagte, dient diese unterscheidung rein heuristischen zwecken.
während auf der physiologischen ebene z. B. davon gesprochen werden kann, dass ein
reiz vorliegt, muss es noch keinen psycho/physischen niederschlag haben (z. B.
hochfrequente töne) erst ab gewissen schwellen nehmen wir etwas wahr. dass es
sich bei dem wahrgenommenen z. B. um das rappeln der waschmaschine handelt, ist
erst auf der kognitiven ebene interessant.
@hermeneuticus
Zitat:
Unter "Repräsentation" versteht man gemeinhin...
das ist in diesem zusammenhang uninteressant, was man gemeinhin darunter
versteht. interessant ist, wann sich ein system repräsentativ bzw.
repräsentierend verhält. und das habe ich angegeben.
Zitat:
Ein Bild kommt eben nicht durch das in die Welt, was es zeigt, sondern durch jemanden, der es herstellt.
und wer hat die welt hergestellt? auch das ist vernachlässigbar.
Zitat:
So gesehen, wird auch klar, dass eine Darstellung immer eine gezielte AUSWAHL aus einem Ausgangsmaterial ist...
ja. deshalb verarbeitet unser menschliches gehirn auch nicht sämtliche
information, die es angeboten bekommt. das entspricht dem, was ich als übergang
von der rein physiologischen zur psycho/physischen ebene bezeichne. erst ab
einer bestimmten schwelle wird die information eingang in das system
finden.
Zitat:
Mit dieser Problemskizze im Hinterkopf fällt an der graphischen Darstellung in Deinem Beitrag auf, dass sie ebenfalls diesen Aspekt der eigenen LEISTUNG verschleiert.
es wird nichts verschleiert. ich habe es schlicht ausgelassen, um die diskussion
nicht zu überfrachten.
zudem handelt es sich bei dem beispiel, eben nur um ein beispiel eines
einfachen neuronalen netzwerks; und ist somit nur begrenzt leistungsfähig. es
ist für unsere diskussion ausreichend.
Zitat:
Die geläufige Vorstellung von "Repräsentation" oder "Wiedergabe" bzw. Weiterleitung einer "Information" ist also auch hier höchst irreführend.
die repräsentation besteht im gesamtzustand des systems. sie ist
inhärent und nicht explizit (" explizit" hieße:e.g. der buchstabe "A" liegt
als solcher an einer bestimmten stelle des systems versteckt).
@eberhard
Zitat:
Die von Thomas angesprochenen Fehlermöglichkeiten bei der Interpretation von Sinneseindrücken und beim Erkennen von Objekten scheinen mir für uns von Bedeutung zu sein. Gleiches gilt für das Verhältnis von zufälliger Wahrnehmung und gezielter Beobachtung.
ich denke, wir sollten an dieser stelle unsere diskussion fortführen.
- mfg thomas
- III
- Eberhard am 24. Nov. 2004, 10:57 Uhr
Hallo allerseits,
wir sind bei einem methodisch wichtigen Punkt angelangt, der einer gründlichen
Klärung bedarf. Ich meine den von Hermeneuticus gegen Thomas vorgetragenen
Einwand des Zirkelschlusses in der Argumentation, wenn er Ergebnisse der
empirischen Wahrnehmungsforschung als Argument einbringen will.
Hermeneuticus schreibt: " … Wir diskutieren hier darüber, welchen Normen JEDE Aussage genügen muss, um
mit Recht 'wahr' genannt werden zu dürfen. d. h. wir suchen nach Kriterien, nach
denen Aussagen BEURTEILT werden sollen.
Und es ist doch (logisch) klar, dass wir Urteilskriterien, die für Aussagen IM
ALLGEMEINEN gelten sollen, schlecht von EINZELNEN AUSSAGEN ableiten können. Man
kann beispielsweise schlecht behaupten, dass Aussagen nur dann mit Recht 'wahr'
genannt dürfen, wenn sie mit dem Satz des Pythagoras vereinbar sind. Umgekehrt:
Wir fragen danach, von welchen allgemeinen Bedingungen z. B. die Wahrheit von
Pythagoras' Satz abhängt."
Ein Zirkelschluss innerhalb einer logisch deduktiv aufgebauten Theorie
wäre natürlich fatal.
Die Frage, die ich mir stelle und über deren Beantwortung ich mir
gegenwärtig nicht klar bin, ist die, ob das, was wir suchen, wirklich eine
deduktive Ableitung des Wahrheitsbegriffs darstellt und wenn ja, was die
Ausgangsprämissen dieser Ableitung sind.
Wenn man z. B. einen bestimmten Begriff von Wahrheit als den am besten geeigneten
begründen will, ohne ihn dabei zugleich irgendwie in Anspruch zu nehmen, dann
müsste man schweigen, denn um überhaupt etwas begründen zu können, muss man ja
die Wahrheit irgendeines Arguments voraussetzen.
Um es an einem Beispiel zu erläutern: Wenn wir Wahrheit am Prüfstein der
Wahrnehmung festmachen, dann wird möglicherweise eingewendet: "Die Sinne können
uns täuschen und haben uns schon getäuscht. Deshalb kann die Wahrheit einer
Aussage nicht davon abhängig gemacht werden."
Dies ist ein ernstzunehmender Einwand, obwohl er empirischer Natur ist
und selber bereits für sich Wahrheit in Anspruch nimmt.
Ebenso ernsthaft sind jedoch die Gegenargumente, dass wir aufgrund von
Alltagserfahrungen und empirischer Forschung wissen, unter welchen Bedingungen
verlässliche und unter welchen Bedingungen zweifelhafte Wahrnehmungen
zustandekommen.
Wir wissen z. B., dass wir nicht nur "Sterne sehen", wenn wir nachts zum
wolkenfreien Himmel sehen, sondern auch dann, wenn wir einen Schlag aufs Auge
bekommen. Denn die Sinneszellen des Auges erzeugen im Bewusstsein nicht nur
Bilder, wenn sie durch eintreffende Lichtstrahlen gereizt werden, sondern auch,
wenn sie elektrisch oder mechanisch gereizt werden.
Ich glaube nicht, dass wir mit der Diskussion der Wahrnehmung als Kriterium der
Wahrheit weiterkommen, wenn wir auf derartige Erkenntnisse nicht zurückgreifen
dürfen.
Vielleicht ist unser Unternehmen eher eine Art "Rekonstruktion" des von
uns fortwährend in Anspruch genommenen Begriffs von Wahrheit, wobei wir, um ein
Bild (ich glaube von Paul Lorenzen) zu verwenden, die einzelnen Planken unseres
Bootes rekonstruieren und notfalls reparieren, während wir damit auf hoher See
sind (wobei nasse Füße noch das geringere Übel darstellen).
Wir dürften also empirische Aussagen vorläufig in Anspruch nehmen, sofern sich
am Ende eine in sich widerspruchsfreie und zirkelfreie kohärente Theorie ergibt,
die den von uns gestellten Anforderungen genügt.
Das heißt, wir müssten überprüfen, ob sich der am Ende ergebenden
Wahrheitsbegriff auf die unterwegs in Anspruch genommenen empirischen Sätze
anwenden lässt und ob diese Sätze auch dann noch diesem Wahrheitsbegriff
genügen.
Womit wir nach dem Konsensprinzip (wahre Aussagen erfordern als allgemeingültige
ihre allgemeine Einsichtigkeit), dem Korrespondenzprinzip (aus wahren Aussagen
müssen sich logisch Wahrnehmungen ableiten lassen, die den gemachten
Wahrnehmungen entsprechen) auch noch das Kohärenzprinzip in unsere
Wahrheitstheorie mit aufgenommen hätten.
Mit dem Ratschlag, auf schwankendem Boden und schwierigem Gelände umsichtig und
nur Schritt für Schritt voranzugehen, grüßt Euch Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 24. Nov. 2004, 14:18 Uhr
hallo liebe talker,
ich denke, dass wir unterscheiden sollten zwischen einem begriff von "wahrheit"
der einer sog. "armchair" -definition entspringt und dem begriff von wahrheit, so
wie wir ihn alltäglich verwenden. und ich denke, ich kann hermeneuticus den
ball, die lebenswelt zu verlassen, in diesem punkt gerne zurückspielen.
Zitat:
Denn ihre Geltung als "wahre" Behauptungen setzt bereits den unabhängig von ihnen zu klärenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs voraus.
Zitat:
Aber als Aussage über die Wirklichkeit wird sie ja doch wohl den Anspruch darauf erheben, eine WAHRE Aussage zu sein - ganz besonders, wenn es sich um eine wissenschaftliche Aussage handelt.
Zitat:
Insofern ist es logisch zwingend, dass wir allgemeine Wahrheitsbedingungen unabhängig von irgendwelchen Anwendungsfällen klären müssen.
ich denke es ist ganz hilfreich, wenn wir uns die anwendungsfälle
ansehen, in welchen wir von der wahrheit von aussagen sprechen.
wenn wir uns darüber untherhalten, ob und wie unsere sinne uns täuschen, dann
sollten wir auch bereit sein, uns zumindest prinzipiell damit
auseinanderzusetzen, wie die arbeits- und funktionsweise unserer sinne ist; und
entsprechend lokalisieren, wo mögliche fehlerquellen vorliegen können. ein
wichtiger punkt ist dabei die arbeitsweise des gehirns, das, wie ich versucht
habe darzustellen, als neuronales netz aufgefaßt werden kann, welches mit einer
repräsentation der welt arbeitet. auf der ebene der reinen
informationsverarbeitung taucht der begriff der "wahrheit" nicht auf. es werden
informationen verarbeitet - unabhängig von ihrem gehalt. und ich denke, dass das
ein wichtiger punkt ist, den wir festhalten sollten.
wenn wir im diskussionsverlauf zurückgehen, so haben wir, wie eberhard schon
aufgelistet hat, es bisher mit 3 typen von wahrheitstheorien zu tun:
· konsenstheorie
· korrespondenztheorie
· kohärenztheorie
(einen vierten -semantischen-sbegriff habe ich implizit auch miteingebracht: "'X' ist genau dann wahr, wenn P" )
ich vertrete eine position, die sich als eine verbindung von semantischer
wahrheits- und korrespondenztheorie ergibt. wir werden sagen, dass der satz "dort
steht ein haus" dann wahr ist, wenn dort ein haus steht.
gegen die kohärenz, sowie die konsenstheorie läßt sich der gleiche einwand
vorbringen, nämlich, dass sich die sprecher durchaus einig über einen sachverhalt
sein können, und dieser sachverhalt kann sich auch kohärent in das weltbild der
sprechergemeinschaft einfügen, ohne jedoch wahr sein zu müssen. e.g. "quito ist
die hauptstadt von ecudador". dieser satz ist wahr, wenn quito hauptstadt ist.
es ist aber denkbar, dass gestern nacht guayaquil zur hauptstadt ernannt worden
ist. dennoch wird mein weltbild in diesem punkt, wo quito noch hauptstadt ist,
kohärent sein. und wenn ich mich mit freunden unterhalte, die von dem
staatsstreich nichts mitbekommen haben, werden wir auch einer meinung darüber
sein.
obwohl es falsch ist.
- mfg thomas
- III
- Dyade am 24. Nov. 2004, 18:20 Uhr
... dann wenn dort ein Haus steht, dann ist der Satz: "dort steht ein Haus"
wahr. Wenn man sich darauf einigen kann ist das doch dann Wahrheit, oder?
In einer Welt wie der unseren, die sich von unserer nur in einem Punkt
unterscheidet, nämlich das man keine Ahnung von der Relativitätstheorie (RT)
hat, betrachtet man den Sternenhimmel und einigt sich darauf das Rigel eben
JETZT in der Position ist wo ihn alle sehen. Man muss sich nicht lange einigen,
er ist ja für jeden sichtbar von einem gemeinsamen Standort zu einer bestimmten
Zeit.
Mit dem Wissen der RT, wissen wir, das uns die Sinne täuschen über diese oben
beschriebene Position von Riegel. Wir können nicht mehr sagen "JETZT ist er dort
wo wir ihn sehen". (obwohl das sehr wahrscheinlich für unseren Alltag
vernachlässigbar ist)
Jetzt müssen wir uns doch erst über die "Wahrheit" der RT einigen, oder? Für den
Cusanus war das kein Problem. Alle relative Wahrheit konvergiert irgendwo (bzw.
in Gott) ohnehin zur absoluten Wahrheit. Aber wir sind ja keine Metaphysiker
mehr.
- III
- Hermeneuticus am 24. Nov. 2004, 21:15 Uhr
Hallo Thomas, hallo Eberhard!
on 11/24/04 um 14:18:29, jacopo_belbo wrote:
und ich denke, ich kann hermeneuticus den ball, die lebenswelt zu verlassen, in diesem punkt gerne zurückspielen. (...) ich denke es ist ganz hilfreich, wenn wir uns die anwendungsfälle ansehen, in welchen wir von der wahrheit von aussagen sprechen.
Diese Kritik muss ich wohl einstecken. Mir selbst liegt nichts an einer "deduktiven" Wahrheitstheorie, sondern sinnvoll kann m.E. nur eine "Rekonstruktion" von bereits etablierten Praxen sein, in denen der Begriff der
Wahrheit gebraucht wird.
Allerdings wäre dann zu präzisieren, wie wir uns die Beziehungen zwischen
solchen verschiedenen Praxen vorstellen. Verstehen wir sie nur als "Anwendungsfälle"
ein und desselben, universellen Wahrheitsbegriffs, haben wir es, wenn nicht mit
einer deduktiven, dann doch einer reduktionistischen Wahrheitstheorie zu
tun. Dann würde nämlich ein bestimmter Gebrauch des Wahrheitsbegriffs
privilegiert und als externe Norm auf andere Verwendungsweisen angewendet.
Demgegenüber wäre eine "Familie von Fällen" à la Wittgenstein vorzuziehen.
Wie könnten die "Familienähnlichkeiten" zwischen den verschiedenen Fällen
aussehen?
Eine Theorie vom Typ der "Rekonstruktion" geht aus von einer gelingenden
Praxis. Sie beschreibt diese Praxis nicht bloß, sondern analysiert ihre
konstitutiven Bestandteile und zeigt deren innere Ordnung. Sie macht diese
Praxis also nachvollziehbar oder – was dasselbe ist – sie zeigt ihre
Rationalität. Dazu gehört selbstverständlich, dass auch die GRENZEN der
Nachvollziehbarkeit erkennbar werden.
Auf diese Weise wird die rekonstruierte Praxis allerdings auch
VERGLEICHBAR mit anderen Praxen. Es könnte sich etwa zeigen, dass verschiedene
Praxen ähnliche Ziel verfolgen, oder umgekehrt, dass dasselbe Ziel mit
verschiedenen, äquivalenten Praxen zu erreichen wäre. Die Rekonstruktion
unterscheidet sich also von der Beschreibung insofern, als sie die Praxis
kritisierbar macht.
Aber dies ist eine "immanente Kritik", d. h. sie gewinnt ihre Maßstäbe aus der
Analyse der Praxis und trägt sie nicht von außen an sie heran. Der Sinn der
kritischen Rekonstruktion liegt also in einer Stützung und Verbesserung der
untersuchten Praxis, nicht in ihrer Reduktion auf eine andere.
- - - - - - - - -
Zitat:
wenn wir uns darüber untherhalten, ob und wie unsere sinne uns täuschen, dann sollten wir auch bereit sein, uns zumindest prinzipiell damit auseinanderzusetzen, wie die arbeits- und funktionsweise unserer sinne ist; und entsprechend lokalisieren, wo mögliche fehlerquellen vorliegen können. ein wichtiger punkt ist dabei die arbeitsweise des gehirns...
In diesem Punkt ist meine Meinung unverändert: Naturwissenschaftliche
BESCHREIBUNGEN von Organfunktionen unterliegen begrenzten Geltungsbedingungen
und können nicht als ein unhinterfragbares "sachliches" oder "ontologisches"
Fundament zugrundegelegt werden.
Wir müssen uns schon darauf einigen, was wir tun, wenn wir über "Wahrheit"
diskutieren: Rekonstruieren wir Handlungsschemata (Praxen) und ihre Normen oder
beschreiben wir Naturvorgänge? Da liegt die entscheidende Differenz. Kann man
menschliche Handlungen und ihre Normen auf determiniertes Verhalten
zurückführen?
Ist "Erkenntnis" ein Naturprozess, dann muss man konsequenterweise beide: wahre
und unwahre Sätze als kausal bedingte Phänomene hinnehmen. Aber ganz offenbar
würde man damit jeder wissenschaftlichen Bemühung um Wahrheit den Boden
entziehen. Wenn wir Unwahrheit aber dem Scheitern von Begründungen zurechnen,
darin also kritisierbare menschliche Fehlleistungen sehen, muss auch Wahrheit
das anrechenbare Gelingen einer HANDLUNG sein.
Letztlich ist der für unsere Diskussion relevante Unterschied in puncto
Wahrnehmung die Grenze zwischen unterlassbaren, geregelten Handlungen und
nicht-unterlassbarem Verhalten. Organische Störungen können zwar korrekte
Wahrnehmungen verhindern, aber sie sind kein Anwendungsfall für Wahrheitsnormen.
Und um diese allein geht es uns.
Ich breche hier ab.
Die Diskussion um "Repräsentation" und "Information" können wir zurückstellen.
Aber ich finde sie so wichtig, dass man sie zum Gegenstand einer neuen
Diskussionsrunde machen könnte.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 24. Nov. 2004, 22:07 Uhr
hallo hermeneuticus,
gern können wir -zu einem späteren zeitpunkt- einen eigenen thread zum thema der
information und repräsentation aufmachen. und ich würde mich über eine ähnlich
rege beteiligung freuen wie in den threads zum thema wahrheit; das ja nun doch
schon in die dritte runde gegangen ist.
zu deinem beitrag habe ich aber noch folgende fragen:
·
Zitat:
Verstehen wir sie nur als "Anwendungsfälle" ein und desselben, universellen Wahrheitsbegriffs, haben wir es, wenn nicht mit einer deduktiven, dann doch einer reduktionistischen Wahrheitstheorie zu tun.
was verstehst du hier unter reduktionismus?
·
Zitat:
Naturwissenschaftliche BESCHREIBUNGEN von Organfunktionen unterliegen begrenzten Geltungsbedingungen und können nicht als ein unhinterfragbares "sachliches" oder "ontologisches" Fundament zugrundegelegt werden.
worin bestehen denn deiner meinung nach die "begrenzten geltungsbedingungen" -
besonders im hinblick auf a) die beschreibung der gehirnaktivität unter
berücksichtigung der informationstheorie und b) die physiologischen grundlagen
der wahrnehmung?
·
Zitat:
Kann man menschliche Handlungen und ihre Normen auf determiniertes Verhalten zurückführen?
in wieweit ist diese frage relevant bezüglich unserer diskussion?
·
Zitat:
Ist "Erkenntnis" ein Naturprozess, dann muss man konsequenterweise beide: wahre und unwahre Sätze als kausal bedingte Phänomene hinnehmen. Aber ganz offenbar würde man damit jeder wissenschaftlichen Bemühung um Wahrheit den Boden entziehen.
was heißt in diesem zusammenhang kausal bedingt? und inwieweit würde
einer wissenschaftlichen bemühung um wahrheit der boden entzogen?
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 01:09 Uhr
Hallo Thomas!
Zu Deinen Fragen:
1. Unter "Reduktionismus" verstehe ich ein theoretsiches Programm, das
vorfindliche Praxen, Theorien, Sprachen auf eine allein verbindliche Praxis,
Theorie oder Sprache "zurückführen" will. Beispiele: Wittgensteins Kritik der
Umgangssprache im Tractatus, sein "logischer Atomismus" und die daran
anschließenden Bemühungen des Wiener Kreises.
2. Die Beschreibung von Körperfunktionen liefert keine normativen Kriterien für
Handlungen. Sprechen ist aber eine Handlung. Ebenso das Begründen und
Kritisieren von Sätzen.
Elementar ist hier, wie gesagt, die Unterscheidung von VERHALTEN und HANDELN.
Wenn es in Deiner Welt diesen Unterschied nicht gibt, kannst Du auch keinen
grundlegenden Unterschied zwischen dem störungsfreien Funktionieren eines Organs
und einer wahren Behauptung sehen.
Das führt nahtlos zur nächsten Frage:
3. In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen
Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor. Organfunktionen haben
natürliche Ursachen, ihre Regelmäßigkeiten sind also keine Normen für ein
Handeln, das so oder auch anders sein, das gelingen oder scheitern kann, sondern
diese Regelmäßigkeiten "determinieren" das Verhalten der Organe.
Wenn ich beschließe, heute nicht zu frühstücken, ist das kein Verstoß gegen
irgend eine Regel. Wenn aber mein Magen die Nahrung nicht verdaut, ist seine
Funktion gestört, wir nennen ihn "krank".
Ich finde es offensichtlich, dass der Unterschied zwischen wahren und unwahren
Sätzen nicht gleichgesetzt werden kann mit der Gesundheit oder Krankheit der an
der Hervorbringung solcher Sätze beteiligten Organe.
Und das Aussprechen unlogischer Sätze lässt nicht auf eine gestörte
Hirntätigkeit schließen.
So wenig ich auch von der Hirnforschung im einzelnen weiß: Selbst die
Hirnforscher gestehen dem Gehirn LERNFÄHIGKEIT zu, und zwar in sehr großem
Umfang. Und sie werden kaum die Fehler, die ein Mensch bei einer erlernten
Handlungsweise wie dem Sprechen der deutschen Sprache macht, mit einer gestörten
Hirnfunktion gleichsetzen.
Ich denke, das sollte die Relevanz des Unterschieds zwischen (" determiniertem" )
Verhalten und Handlungen (die gelingen oder scheitern können), hinreichend
erläutern. Und es sollte auch zeigen, dass sich der Gebrauch von Wahrheitsregeln
auf (erlernte) Handlungen und nichts anderes bezieht.
4. Wenn Erkenntnis ein Naturvorgang wäre, dann wäre auch wissenschaftliche
Erkenntnis ein Naturvorgang. Dann wäre also auch die Physiologie und die
Hirnforschung ein Naturvorgang. Dann wären auch die Theorien dieser
Wissenschaften "Naturprodukte", die sich nur im Komplexitätsgrad z. B. von
Hühnereiern unterschieden. Hast Du aber schon einmal ein Huhn "wahre" und "unwahre" Eier legen sehen?
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 10:06 Uhr
hi,
Zitat:
1. Unter "Reduktionismus" verstehe ich ein theoretsiches Programm, das vorfindliche Praxen, Theorien, Sprachen auf eine allein verbindliche Praxis, Theorie oder Sprache "zurückführen" will. Beispiele: Wittgensteins Kritik der Umgangssprache im Tractatus, sein "logischer Atomismus" und die daran anschließenden Bemühungen des Wiener Kreises.
d'accord.
aber ehrlichgesagt, weiß ich mit dem rest deiner antwort nichts anzufangen.
gefragt war unteranderem nach den begrenzten geltungsbedingungen
naturwissenschaftlicher sätze. ich kann noch nicht ausmachen, wo du diese frage
abhandelst. vieleicht hier:
Zitat:
Hast Du aber schon einmal ein Huhn "wahre" und "unwahre" Eier legen sehen?
[???]
Zitat:
Wenn Erkenntnis ein Naturvorgang wäre, dann wäre auch wissenschaftliche Erkenntnis ein Naturvorgang. Dann wäre also auch die Physiologie und die Hirnforschung ein Naturvorgang. Dann wären auch die Theorien dieser Wissenschaften "Naturprodukte", die sich nur im Komplexitätsgrad z. B. von Hühnereiern unterschieden.
erkenntnis ist ein naturvorgang, insoweit er in der natur
stattfindet und von einem organismus vollzogen wird. insofern ist auch die
hirnforschung ein "naturvorgang". allerdings unterscheiden diese naturvorgänge
sich nicht nur allein durch den "komplexitätsgrad", sondern auch durch die
völlige andersartigkeit - sie beruhen auf emergenten eigenschaften, die
bei einem hühnerei nicht vorzufinden sind.
Zitat:
grundlegenden Unterschied zwischen dem störungsfreien Funktionieren eines Organs und einer wahren Behauptung sehen.
was hat das eine mit dem anderen zu tun? ich sehe da keinen zusammenhang. trotz
funktionierender augen kann ich z. B. einer optischen täuschung erliegen.
Zitat:
In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor.
nein. warum auch? es geht doch um die funktion von organen, oder?
Zitat:
Ich finde es offensichtlich, dass der Unterschied zwischen wahren und unwahren Sätzen nicht gleichgesetzt werden kann mit der Gesundheit oder Krankheit der an der Hervorbringung solcher Sätze beteiligten Organe.
das hat auch niemand behauptet. ich weiß auch nicht, wie du darauf kommst.
also nocheinmal meine fragen:
1) worin bestehen genau die deiner meinung nach begrenzten
geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher beschreibungen? was leisten
sie nicht, was sie deiner meinung nach leisten sollen?
konkret: was leistet z. B. eine beschreibung des aufbaus und der funktion des
auges nicht?
2) inwieweit ist es relevant, zu wissen ob man, oder ob man nicht handlungen auf
determiniertes verhalten zurückführen kann? vorallem, was heißt hier
determiniert?
3) inwieweit sind wahre und unwahre sätze kausal bedingt - unter der
prämisse, erkenntnis sei ein naturvorgang? was heißt hier kausal?
sind nicht optische täuschungen in gewisser weise kausal bedingt(ich
bevorzuge in diesem zusammenhang den ausdruck "motiviert" )? liegt die ursache
nicht in der ambiguität der dargebotenen information?
ich wäre für eine kurze beantwortung dieser drei punkte dankbar.
- mfg thomas
- III
- Dyade am 25. Nov. 2004, 11:09 Uhr
Hallo zusammen,
hallo Hermeneuticus,
wenn du an Thomas schreibst: "In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen
Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor...."
Ist es nicht so, dass vor jeder Handlung eine "Entscheidung" liegt. Könnte es
nicht sein, dass vor einer Handlung WISSEN erzeugt wird und das dieses Wissen als
volitiver Prozess zweifach gegliedert werden kann in:
· a) einen Akt der Auswahl aus einem unstrukturierten Zusammenhang (Umgebung) und
· b) einem kognitiven Prozeß, der aus dem durch die Auswahl bestimmten Zusammenhang durch Modellierungsfunktionen Informationen gewinnt und repräsentiert.
Und das "in" diesem volitiven Prozess a + b simultan ablaufen.
Grüße
Dyade
ps.
bitte wieder nur als heuristische Nebenbemerkung verstehn. Sollte ich völlig
neben eurem Thema liegen mit meinen Einwürfen, bitte ich mir dies zu schreiben.
Ich denke leider sehr langsam und meist seit ihr schon wieder 20 Schritte weiter
ehe ich meinen Punkt für mich geklärt habe. Komme mir vor wie die
personifizierte Phasenverschiebung in eurem Tread. :-)
- III
- Eberhard am 25. Nov. 2004, 11:57 Uhr
Hallo allerseits,
Die Formulierung: "kritische Rekonstruktion der Regeln für die Verwendung des
Wortes ''wahr' in Bezug auf Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit"
erscheint mir als Bestimmung unserer Aufgabenstellung als akzeptabel.
Es drängt sich jedoch sofort die Frage auf, was der Maßstab der Kritik
dabei sein soll, von welchem Gesichtspunkt oder Kriterium aus also kritisiert
werden soll.
Um diese Frage zu beantworten erscheint es mir sinnvoll, sich nochmals darüber
klar zu werden, weshalb wir uns überhaupt mit der Frage: ist diese Aussage wahr
oder nicht? beschäftigen.
Hinter der Frage: Ist diese Aussage wahr? Steht die Frage: Welche Aussage soll
ich meinem Denken und Handeln zugrunde legen?
(Im Folgenden sehe ich vom Aspekt der intersubjektiven Geltung vorläufig ab, um
das Ganze nicht zu kompliziert werden zu lassen.)
Wenn man den Begriff der Geltung einführt und definiert: Diejenigen Aussagen,
die ein Subjekt seinem Denken und Handeln zugrunde legt, werden als "die für das
Subjekt geltenden Aussagen" bezeichnet, so lautet die grundlegende Frage: Welche
Aussage soll (für mich) gelten?
Welche Gesichtspunkte sind für diese Entscheidung relevant?
Insofern wir Subjekte mit Wünschen, Zielen, Bedürfnissen etc. sind, insofern wir
also wollende Wesen sind, ist die Verwirklichung unseres Willens der
entscheidende Gesichtspunkt für die Auswahl der Aussage.
Aussagen beinhalten eine bestimmte Beschaffenheit der Wirklichkeit, der wiederum
bestimmte Wahrnehmungen entsprechen. Die Aussage: "Hinter der Mauer ist eine
Wiese" beinhaltet unter anderem, dass ich grünes Gras sehe, wenn ich hinter die
Mauer blicke. Welche Wahrnehmungen eine Aussage beinhaltet, ergibt sich aus
ihrer Bedeutung. In diesem Fall bedeutet "Wiese" eine größere, dicht mit Gräsern
bewachsene Fläche.
Wenn die Aussage "Hinter der Mauer ist eine Wiese" für mich gilt, wenn
ich also meinem Denken und Handeln diese Aussage zugrunde lege, dann kann ich
z. B. damit rechnen, dass mein Pferd hinter der Mauer Gras zum Fressen findet.
Wenn ich jedoch über die Mauer blicke und dahinter nur Sand und Steine sehe,
dann ist mein zielgerichtetes Handeln durchkreuzt worden. Ich werde mit
unerwarteten Wahrnehmungen konfrontiert.
Die Vermeidung dieser Situation ist Gesichtspunkt für die Auswahl einer Aussage
als Grundlage des eigenen Handelns.
Um den Widerspruch zwischen erwarteter Wahrnehmung und aktueller Wahrnehmung
aufzulösen und wieder ein zielgerichtetes Handeln zu ermöglichen, bestehen
folgende Möglichkeiten:
1. Ich überprüfe, ob ich die Aussage richtig verstanden habe. Gibt es
Möglichkeiten eines Missverständnisses, z. B. darüber, was mit dem Wort "Mauer"
gemeint war? Möglicherweise kommt man durch eine veränderte Interpretation der
Aussage (" gemeint war die Backsteinmauer und nicht die aufgeschichteten
Feldsteine" ) wieder zu einer Übereinstimmung zwischen erwarteter und aktueller
Wahrnehmung. Dann handelte es sich um einen Irrtum hinsichtlich der Bedeutung
der Aussage.
2. Ich zweifle meine aktuelle Wahrnehmung an (" ist nur eine Halluzination", "ich
hatte meine Brille nicht auf", "kann eine Täuschung sein, weil es schon dunkel
ist" ). Möglicherweise komme ich zu einer veränderten Wahrnehmung, wenn ich
Bedingungen ausschalte, die zu Täuschungen meiner Wahrnehmung führen können,
indem ich z. B. mehr Licht schaffe, meine Brille aufsetze oder näher herangehe.
Dann handelte es sich um einen Irrtum in der Interpretation meiner Wahrnehmung.
3. Ich beende die Geltung der Aussage und suche eine andere Aussage als
Grundlage meines Denkens und Handelns, die nicht zu einem Widerspruch zwischen
zu erwartenden und gemachten Wahrnehmungen führt, die also nicht
korrekturbedürftig ist. Diese Aussage gilt dann zeitlich unbefristet bis zum
Auftreten einer damit unvereinbaren Wahrnehmung. In diesem Fall war die
bisherige Ausssage falsch.
Am besten wäre natürlich eine Aussage, die niemals zum Widerspruch zwischen zu
erwartenden und aktuellen Wahrnehmungen führt, also zeitlose Geltung verdient.
Nur eine solche Aussage "ist" wahr in dem Sinne, dass die Wirklichkeit so
beschaffen "ist", wie die Aussage besagt.
Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit
eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (= berechtigte
Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns gemacht werden,
die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen stehen.
Aussagen, für die es keinen Grund zum Bezweifeln gibt, "halten" wir begründeter
Weise für wahr.
Unsere kritische Rekonstruktion der Regeln für den Gebrauch des Wortes "wahr" (in Bezug auf Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit) wäre
also daran zu messen, ob sie dem Ziel eines enttäuschungsfreien Handelns
dienlich ist.
Mit dieser etwas mühseligen Vergewisserung der Grundlagen unseres Tuns sage ich
Tschüs, Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 12:34 Uhr
hallo eberhard,
da hast du uns aber einen beutel mit vielen bunten sachen mitgebracht. und wenn
man näher hinsieht entpuppt sich einiges als starker tobak. so zum beispiel:
Zitat:
Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (= berechtigte Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns gemacht werden, die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen stehen.
diesen satz halte ich für problematisch.
zum einen drückt er eine triviale weisheit aus, zum anderen ist er falsch.
wenn wir äußerungen über die beschaffenheit der wirklichkeit treffen, e.g. "Hinter der Mauer ist eine Wiese", so ist dies temporär wahr - morgen könnte sie
schon untergepflügt werden, und zum feld werden; so haben wir hier in der tat
sätze, die zu einem zeitpunkt wahr, zum anderen falsch sein können. dass es
solche sätze gibt, ist wohl einzusehen. warum aber alle sätze dieser art sein
sollen, ist nicht einzusehen.
wenn ich aber sage: "thomas ist ein mensch", so ist das ein satz, der nicht
temporärer natur ist. dieser satz ist wahr, wenn thomas ein mensch ist.
oder ein anderes beispiel: "tullius ist cicero". dieser satz ist wahr, obwohl
die betreffende person nicht mehr unter uns weilt.
oder nehmen wir eine wissenschaftliche aussage wie "licht ist eine
elektromagnetische welle".
ich denke, dass identitätsaussagen a) ein paradebeispiel für aussagen über
die beschaffenheit der wirklichkeit sind und b) in jedem falle geltung
besitzen.
- mfg thomas
- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 12:42 Uhr
hi dyade,
Zitat:
ps.
bitte wieder nur als heuristische Nebenbemerkung verstehn. Sollte ich völlig
neben eurem Thema liegen mit meinen Einwürfen, bitte ich mir dies zu schreiben.
Ich denke leider sehr langsam und meist seit ihr schon wieder 20 Schritte weiter
ehe ich meinen Punkt für mich geklärt habe. Komme mir vor wie die
personifizierte Phasenverschiebung in eurem Tread.
wir marschieren hier wahrlich mit siebenmeilenstiefeln durch ein weites feld.
wenn du fragen hast bezüglich unserer "20 schritte" (du gibst uns aber viel
vorsprung [grin]), dann frag einfach nach. ich denke, jeder wird dir gerne rede
und antwort stehen [smiley=smily005.gif]
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 15:17 Uhr
Hallo Thomas!
on 11/25/04 um 10:06:19, jacopo_belbo wrote:
gefragt war unteranderem nach den begrenzten geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher sätze. ich kann noch nicht ausmachen, wo du diese frage abhandelst.
Der erste Satz zu Punkt 2. meiner Antwort lautete: "Die Beschreibung von
Körperfunktionen liefert keine normativen Kriterien für Handlungen."
Dies ist doch eine deutliche Begrenzung. Und woraus resultiert sie? "In den Theorien, die Organe und ihre Funktionen zum Gegenstand haben, kommen
Handlungen, die unterlassen werden können, nicht vor."
Offenbar liegt das daran, dass Naturwissenschaftler nicht Fragen nach
menschlichen Handlungen stellen, sondern nach Prozessen und Gesetzmäßigkeiten,
auf die Menschen keinen Einfluss nehmen (können). Daher sind auch
naturwissenschaftliche Begriffe und Erklärungsmodelle entsprechend spezifiziert.
Nun ist es ein unstrittiges Resultat unserer Diskussion, dass die Wahrheit von
Aussagen auch von der Definition der darin verwendeten Begriffe abhängt (also
davon begrenzt ist). Also liegt EINE Grenze für die Geltung wissenschaftlicher
Sätze in der Definition der Begriffe bzw. der durch sie konstituierten
Sachverhalte, auf die sich die Aussagen jeweils beziehen.
Daher ist es ganz klar: Eine Wissenschaft, die z. B. die physiologischen
Funktionen von Gehirnen untersucht, untersucht GENAU DARUM z. B. keine Normen für
erlerntes und unterlassbares Handeln. Sie wird darum z. B. keine wissenschaftlich
begründeten Aussagen darüber machen können, ob es so etwas wie "Willensfreiheit"
gibt, weil das kein Gegenstand ist, über den sie physiologisch begründete
Aussagen macht. Wenn ein Hirnforscher über Willensfreiheit spricht, spricht er
nicht ALS Hirnforscher, sondern als ein philosophierender oder spekulierender
Zeitgenosse, der im Hauptberuf Hirnforscher ist.
Wenn man bestimmte Gegenstandsbereiche VON VORNHEREIN von der eigenen Forschung
ausschließt - allein schon durch die verwendeten Begriffe und Modelle -, bekommt
man folglich auch keine Aussagen über diese ausgeschlossenen Gegenstände heraus.
Eine recht simple Einsicht, die aber von vielen Wissenschaftlern immer wieder
vergessen wird.
Zitat:
1) worin bestehen genau die deiner meinung nach begrenzten
geltungsbedingungen naturwissenschaftlicher beschreibungen? was leisten
sie nicht, was sie deiner meinung nach leisten sollen?
konkret: was leistet z. B. eine beschreibung des aufbaus und der funktion des
auges nicht?
Das habe ich oben schon beantwortet.
Trotzdem: Man kann von der natürlichen Ausstattung eines (gesunden) Auges einen
enorm diversifizierten Gebrauch machen. Man kann damit ebenso jagen wie lesen,
man kann sich damit beim Gang durch eine Stadt orientieren oder Messgeräte
ablesen... Und keine von diesen Gebrauchsweisen resultiert aus der Physiologie
des Auges, sondern jede ist eine kulturell erlernte Fähigkeit mit Normen für
ihre jeweils richtige Ausführung. Man kann mit gesunden Augen auch Uhren falsch
ablesen. Und ebenso kann man mit einer gesunden Hand grottenfalsche Sätze
schreiben oder mit gesunden Sprechwerkzeugen unwahre Behauptungen aufstellen.
Die Regeln für den richtigen Gebrauch des Wahrheitsbegriffs sind aber
offensichtlich Regeln für erlernte Handlungsschemata. Sie haben mit den
physiologischen Voraussetzungen der von ihnen betroffenen Handlungsschemata
nichts zu tun. Einem kranken Auge kann man keine Vorschriften machen, sondern
man muss es heilen. WIE man es heilen muss, dafür gibt es wiederum Normen, und
DIESE Normen werden sich auch weitgehend an der natürlichen Funktion des Auges
orientieren, die man ja wiederherstellen möchte.
Zitat:
2) inwieweit ist es relevant, zu wissen ob man, oder ob man nicht handlungen auf determiniertes verhalten zurückführen kann? vorallem, was heißt hier determiniert?
Es ist für meine Zwecke nicht nötig, den Begriff der "Determination" allzu genau
zu definieren. Es genügt, ihn mit dem VERHALTEN zu assoziieren, das sich von
HANDLUNGEN dadurch unterscheidet, dass es nicht unterlassen werden kann. "Determiniert" bedeutet darum so viel wie: unverfügbar, nicht steuerbar, "von
sich aus" geschehend u.ä.
Für die Klärung des Wahrheitsbegriffs ist es nötig zu wissen, worauf sich die
mit seinem Gebrauch verknüpften Regeln beziehen: nämlich auf unterlassbare
(insofern nicht natürlich determinierte) Handlungen - das Äußern von Sätzen.
Normen für Naturvorgänge aufzustellen, wäre ganz einfach sinnlos.
Zitat:
3) inwieweit sind wahre und unwahre sätze kausal bedingt - unter der prämisse, erkenntnis sei ein naturvorgang? was heißt hier kausal?
Das muss uns in unserem Zusammenhang gar nicht weiter interessieren, wenn klar
ist, dass "Wahrheit" ein normativer Ausdruck ist, der sich auf Handlungen
bezieht.
Die Prämisse, Erkenntnis sei ein Naturvorgang, ist unverträglich mit dem
Gebrauch des Wahrheitsbegriffs. Mir kam es nur darauf an, genau das
plausibel zu machen.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 16:17 Uhr
hi hermeneuticus,
dann könnten wir uns ja darauf einigen:
· wissenschaftliche theorien, wie zum beispiel die phyiologie des auges, haben
einen gewissen aussagenbereich. wenn wir das beispiel des auges nehmen, klärt
uns die physiologie des auges darüber auf, dass das menschliche auge so und so
aufgebaut ist, so und so funktioniert etc. d. h. die von ihr (der physiologie)
gestellte frage nach dem aufbau und der funktion des auges kann von ihr
beantwortet werden.
das heißt auch, dass diese theorie keine beschreibung der verwendungsweisen des
auges enthält.
sie erfüllt die ihr gestellte aufgabe. fragen, die nicht in diesen
aussagenbereich fallen, brauch sie auch nicht zu beantworten.
Zitat:
Offenbar liegt das daran, dass Naturwissenschaftler nicht Fragen nach menschlichen Handlungen stellen, sondern nach Prozessen und Gesetzmäßigkeiten, auf die Menschen keinen Einfluss nehmen (können). Daher sind auch naturwissenschaftliche Begriffe und Erklärungsmodelle entsprechend spezifiziert
das ist ja auch nicht ihre aufgabe.
Zitat:
Sie wird darum z. B. keine wissenschaftlich begründeten Aussagen darüber machen können, ob es so etwas wie "Willensfreiheit" gibt, weil das kein Gegenstand ist, über den sie physiologisch begründete Aussagen macht. Wenn ein Hirnforscher über Willensfreiheit spricht, spricht er nicht ALS Hirnforscher, sondern als ein philosophierender oder spekulierender Zeitgenosse, der im Hauptberuf Hirnforscher ist.
das ist ein schwieriger punkt.
sowohl der hirnforscher als auch der philosoph müssen sich in der diskussion
darauf einigen, was ein "freier wille" überhaupt ist. wenn man nicht weiß, was
etwas ist, kann man auch keine frage danach beantworten, ob es dieses etwas gibt
oder nicht.
und wenn beide nicht nur aus ihrem sessel heraus schwadronieren wollen,
müssen sie sich schon auf etwas beziehen. der hirnforscher wird sich wohl
auf seine forschungsarbeit stützen. und das nicht zu unrecht. allerdings stellt
sich gerade bei diesem thema der willensfreiheit die frage, ob seine forschung
das hergibt, was er daraus ableiten will. und das würde ich -obwohl kein
neurologe- derzeit bezweifeln. ich denke, dass man die frage derzeit aus
neurologischer sicht weder bejahen noch verneinen kann. - offen ist, ob es sich
bei dieser frage, um eine frage handelt.
Zitat:
Wenn man bestimmte Gegenstandsbereiche VON VORNHEREIN von der eigenen Forschung ausschließt - allein schon durch die verwendeten Begriffe und Modelle -, bekommt man folglich auch keine Aussagen über diese ausgeschlossenen Gegenstände heraus. Eine recht simple Einsicht, die aber von vielen Wissenschaftlern immer wieder vergessen wird.
ja, nur allzu wahr. deshalb sollte ein redlicher wissenschaftler auch
darauf achten, was er sagt - wie jeder redliche mensch.
Zitat:
Es ist für meine Zwecke nicht nötig, den Begriff der "Determination" allzu genau zu definieren. Es genügt, ihn mit dem VERHALTEN zu assoziieren, das sich von HANDLUNGEN dadurch unterscheidet, dass es nicht unterlassen werden kann. "Determiniert" bedeutet darum so viel wie: unverfügbar, nicht steuerbar, "von sich aus" geschehend u.ä.
es geht nicht um deine zwecke. man macht ja keine aussagen für den "hausgebrauch".
ich würde sagen, dass "determinismus" irrelevant für unsere diskussion ist.
Zitat:
Das muss uns in unserem Zusammenhang gar nicht weiter interessieren, wenn klar ist, dass "Wahrheit" ein normativer Ausdruck ist, der sich auf Handlungen bezieht.
seit wann sind "handlungen" wahr? der punkt ist mir in unserer diskussion bisher
entgangen. ich dachte bisher, dass aussagen wahr bzw. falsch sein könnten.
Zitat:
Die Prämisse, Erkenntnis sei ein Naturvorgang, ist unverträglich mit dem Gebrauch des Wahrheitsbegriffs.
ich wüßte nicht warum nicht?
wir sehen z. B. mit unseren augen. diese information wird von unserem gehirn
weiterverarbeitet; und wenn das kein naturvorgang ist, dann weiß ich auch nicht
weiter.
- mfg thomas
- III
- Eberhard am 25. Nov. 2004, 16:41 Uhr
Hallo Thomas,
offenbar habe ich den Beispielsatz "Hinter der Mauer ist eine Wiese" nicht ganz
glücklich gewählt, weil die Aussage keine Orts- und Zeitangabe enthält, was im
Alltag auch meist nicht nötig ist.
Ich ergänze deshalb das Beispiel dahingehend, dass der Satz von jemandem
gesprochen wird, der am 01. Oktober 2004 um 15 Uhr in A-Stadt vor dem Grundstück
B-Straße 10 steht.
Der in diesem Zusammenhang gesprochene Satz: "Hinter der Mauer ist eine
Wiese" bedeutet dann (ausführlich gesprochen): "Hinter der Mauer auf dem
Grundstück B-Straße 10 in A-Dorf ist am 01. Oktober 2004 um 15 Uhr eine Wiese."
Dieser Satz bleibt wahr, auch wenn am 02. Oktober 2004 ein Bulldozer die
Fläche hinter der Mauer in eine einzige Sandwüste verwandelt.
Sicher lassen sich auch noch andere und besser geeignete Beispielsätze
finden.
Bei den von Dir vorgeschlagenen Identitätsaussagen wie "Licht ist eine
elektromagnetische Welle" muss man deutlich machen, dass es sich nicht um
Definitionen handelt nach der Art: "Elektromagnetische Wellen, deren Frequenz
zwischen liegt, bezeichnen wir als 'Licht'" oder um Aussagen über des "Wesen"
des Lichts.
Meine These: "Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit
der Wirklichkeit eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (=
berechtigte Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns
gemacht werden, die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen
stehen" halte ich weiterhin aufrecht. Dass Du sie für trivial hältst, kann ich
noch schlucken, aber dass sie falsch sein soll, hätte ich gerne begründet.
Es grüßt Dich Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 16:42 Uhr
Hallo Dyade!
Zitat:
Ist es nicht so, dass vor jeder Handlung eine "Entscheidung" liegt. Könnte es
nicht sein, dass vor einer Handlung WISSEN erzeugt wird und das dieses Wissen als
volitiver Prozess zweifach gegliedert werden kann in:
a) einen Akt der Auswahl aus einem unstrukturierten Zusammenhang (Umgebung) und
b) einem kognitiven Prozeß, der aus dem durch die Auswahl bestimmten
Zusammenhang durch Modellierungsfunktionen Informationen gewinnt und
repräsentiert.
Und das "in" diesem volitiven Prozess a + b simultan ablaufen.
Zunächst eine Gegenfrage: Wie würde man prüfen können, ob "es so ist", wie Du
beschreibst? Könnte man für diese Thesen empirische Belege finden? Oder müssten
wir uns auf intuitives Wissen oder phänomenologische Beobachtungen beschränken?
Mir scheint nämlich, dass Du in Deiner These Begriffe aus verschiedenen
Bereichen verwendest, ohne darauf zu achten, ob sie sich mit einander vertragen.
Nehmen wir etwa den Begriff des "volitiven Prozesses". Dass Du das Fremdwort "volitiv"
gebrauchst, statt einfach vom "Willen" zu reden, verwandelt den lebensweltlich
unproblematischen Sachverhalt des "Wollens" nicht automatisch in eine
naturwissenschaftliche Kategorie, die sich z. B. auf die messbaren Aktivitäten
gewisser neuronaler Netzwerke bezieht. Es müsste hier doch erst einmal geklärt
werden, ob der lebensweltliche Ausdruck "Wille" DASSELBE meint, was etwa an
neuronalen Aktivitäen einer bestimmten Hirnregion zu beobachten wäre.
Die Rede vom "Willen" macht nur Sinn, wenn wir dabei an Handlungen denken, die
wir unterlassen können. Wenn man nun aus dem "Willen" einen "volitiven Prozess"
macht, also ein GESCHEHEN, das so und so beschaffen und so und so gesteuert in
menschlichen Hirnen VON NATUR AUS abläuft, beraubt man den Begriff der "Willens"
seines Sinns. Denn naturwissenschaftliche Modelle - z. B. kybernetische
Regelkreise - setzen bereits voraus, dass man es dabei mit gesetzmäßig
verlaufenden Prozessen zu tun hat, auf die ein handelnder Mensch keinen Einfluss
hat.
Und in der Tat: Ich kann die neuronalen Prozesse in meinem Gehirn ebenso wenig
steuern wie die Funktion meiner Nieren oder meines Dünndarms. Damit ist aber
nicht der Beweis erbracht, dass die Vorstellung eines Willens und einer
absichtlichen Steuerung Illusionen seien. Denn es gibt genug Handlungen, die ich
steuern kann und die zu steuern sich auch aus verschiedenen Gründen dringend
empfiehlt; denken wir nur an das Lenken eines Autos im Straßenverkehr.
Was ich sagen will: Wenn wir den Begriff des Willens aus der Lebenswelt, wo er
unverzichtbar ist, in die Sprache einer Naturwissenschaft "übersetzen", wechseln
wir das "Paradigma". "Wille" kommt in den Naturwissenschaften schlechterdings
nicht vor. (Jedenfalls nicht als Gegenstand; als Kompetenz der Wissenschaftler
ist er unverzichtbar.) Was für den Willen die "Entscheidungsfreiheit" (die
gezielte Wahl zwischen Alternativen) ist, kann in der Sprache der
Naturwissenschaft allenfalls unter "Zufall" oder "Kontingenz" erscheinen - also
als etwas INDETERMINIERTES.
Nun ist aber unser Wille nicht indeterminiert, sondern gerade ein AKT der
Determination, den wir selbst vollziehen, wenn wir aus verschiedenen
Möglichkeiten EINE BESTIMMTE wählen.
Also noch einmal: Die Bedeutung von "Wille" und die eines
naturwissenschaftlichen Begriffs der "Volition" (der sich z. B. auf beobachtbare
neuronale Prozesse in menschlichen, vielleicht auch tierischen Gehirnen
bezieht), sind so verschieden, dass sie sich nicht in einander übersetzen
lassen. Darum wäre es methodisch unzulässig, von der Beobachtung neuronaler
Prozesse auf die "Natur" des Willens zu schließen.
Dieser Fehler erfreut sich aber offenbar großer Popularität. Und er wird
nahegelegt durch die irreführende Bezeichnung "volitiver Prozess", die geradezu
zu diesem schwerwiegenden Kategorienfehler anstiftet. Ja, von gewisser Seite ist
dieser Fehler höchst erwünscht. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um
einen Fehler handelt.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 25. Nov. 2004, 16:53 Uhr
Hallo Thomas!
Wir sind hier wieder an einem Punkt, wo wir endlos weiter an einander
vorbeireden könnten.
Darum beantworte doch einfach klipp und klar die Frage, ob für Dich der
Unterschied zwischen VERHALTEN und HANDLUNGEN ein relevanter Unterschied ist.
Deine Antwort auf diese Frage ist zur Klärung unserer Standpunkte unerlässlich.
Denn mir scheint: Wo immer ich von "Handlungen" und ihren Normen spreche,
subsumierst Du das stillschweigend unter dem, was ich "Verhalten" nenne.
Übrigens bitte ich Dich, etwas genauer zu lesen. Ich habe nicht gesagt, dass
WAHRHEIT eine Handlung sei, sondern ein NORMATIVER BEGRIFF, der sich AUF
Handlungen BEZIEHT. Wobei ich eben voraussetze, dass das Äußern von Sätzen eine
erlernte und geregelte Handlung ist (und kein Naturgeschehen).
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 16:58 Uhr
hi eberhard,
genau auf diese these bezieht sich mein beispiel:
Zitat:
Es kann jedoch für keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Garantie für deren zeitlich unbeschränkte Gültigkeit (= berechtigte Geltung) gegeben werden, da ständig neue Wahrnehmungen von uns gemacht werden, die möglicherweise im Widerspruch zu bisher geltenden Aussagen stehen
wir haben aussagen, denen wir temporäre gültigkeit zuschreiben. ein beispiel
ist, das beispiel der wiese.
heute kann die aussage wahr sein -wir gucken hin, ob dem so ist; morgen kann sie
schon falsch sein -wir machen eine wahrnehmung, die im widerspruch zu der
gestern getroffenen aussage steht. soweit so gut. bis zu diesem punkt gebe ich
dir ja recht,
wenn ich zum beispiel eine aussage treffe wie "der tisch hier vor mir besteht
aus holz", so ist diese aussage wahr, wenn dieser tisch hier vor mir aus holz
besteht. wenn diese aussage wahr ist, so uneingeschränkt und dauerhaft wahr. und
keine neue wahrnehmung wird die wahrheit dieser aussage beeinflussen können.
diese aussage ist zeitlich unbeschränkt wahr.
- mfg thomas
p.s.: ich verstehe deine these so, dass es keine aussagen gibt, die
uneingeschränkt und überzeitlich wahr sind, also die uneingeschränkt gelten.
worauf du hinaus willst, ist wahrscheinlich die fallibilität menschlichen
wissens. das ist in diesem zusammenhang aber etwas ganz anderes.
- III
- jacopo_belbo am 25. Nov. 2004, 17:03 Uhr
on 11/25/04 um 16:53:37, Hermeneuticus wrote:
Hallo Thomas!
Wir sind hier wieder an einem Punkt, wo wir endlos weiter an einander
vorbeireden könnten.
Darum beantworte doch einfach klipp und klar die Frage, ob für Dich der
Unterschied zwischen VERHALTEN und HANDLUNGEN ein relevanter Unterschied ist.
Deine Antwort auf diese Frage ist zur Klärung unserer Standpunkte unerlässlich.
Denn mir scheint: Wo immer ich von "Handlungen" und ihren Normen spreche,
subsumierst Du das stillschweigend unter dem, was ich "Verhalten" nenne.
Übrigens bitte ich Dich, etwas genauer zu lesen. Ich habe nicht gesagt, dass
WAHRHEIT eine Handlung sei, sondern ein NORMATIVER BEGRIFF, der sich AUF
Handlungen BEZIEHT. Wobei ich eben voraussetze, dass das Äußern von Sätzen eine
erlernte und geregelte Handlung ist (und kein Naturgeschehen).
Gruß
H.
hi,
kurz und schmerzlos:
· handeln ist ein synonym zu verhalten. wenn ich sage "A handelt so und so" ist
das synonym zu "A verhält sich so und so". es besteht für mich kein unterschied,
·
Zitat:
wenn klar ist, dass "Wahrheit" ein normativer Ausdruck ist, der sich auf Handlungen bezieht.
wahr bezieht sich nicht auf handlungen, sondern auf aussagen.
Zitat:
jacopo:seit wann sind "handlungen" wahr? der punkt ist mir in unserer diskussion bisher entgangen. ich dachte bisher, dass aussagen wahr bzw. falsch sein könnten.
Zitat:
hermeneuticus:dass WAHRHEIT eine Handlung sei
das habe ich ja auch nicht gesagt ^^
- mfg thomas
- III
- Dyade am 26. Nov. 2004, 00:16 Uhr
Hallo Hermeneuticus,
hallo an alle,
mal sehen ob ich dir etwas tragfähiges entgegen setzen kann.
on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:
Zunächst eine Gegenfrage: Wie würde man prüfen können, ob "es so ist", wie Du beschreibst? Könnte man für diese Thesen empirische Belege finden? Oder müssten wir uns auf intuitives Wissen oder phänomenologische Beobachtungen beschränken?
Mir würde zunächst reichen wenn mit dieser Hypothese ein Element für eine
Theorie gefunden wäre, die eine Mehrzahl der Phänomene schlüssig beschreibt, die
wir beobachten bei Lebewesen die eine Entscheidung treffen. Für die
Ausgangssituation stelle ich mir den berühmten Esel Buridians vor, der zwischen
zwei Heuhaufen steht die in jeder Beziehung gleich sind, und der sich dennoch
entscheidet von einem der beiden zu fressen. Zugegeben, das ist eine
Hilfkonstruktion die als Exempel herhalten muss, aber dennoch eine denkbare.
on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:
Nehmen wir etwa den Begriff des "volitiven Prozesses". Dass Du das Fremdwort "volitiv" gebrauchst, statt einfach vom "Willen" zu reden, verwandelt den lebensweltlich unproblematischen Sachverhalt des "Wollens" nicht automatisch in eine naturwissenschaftliche Kategorie, die sich z. B. auf die messbaren Aktivitäten gewisser neuronaler Netzwerke bezieht. Es müsste hier doch erst einmal geklärt werden, ob der lebensweltliche Ausdruck "Wille" DASSELBE meint, was etwa an neuronalen Aktivitäen einer bestimmten Hirnregion zu beobachten wäre.
Ich sehe nicht ganz ein, warum du hier den Alltagsgebrauch des Wortes "Wille"
als etwas betrachtest, das nicht für den Versuch geeignet ist es formal
beschreiben zu wollen. Eine naturwissenschaftliche würde für mich notwendig eine
formale Beschreibung sein. Es ginge also darum das, was wir beobachten wenn wir
sagen "X wollte dies oder jenes", zu problematisieren.
Darf ich dich darauf hinweisen, das der Begriff "neuronale Netzwerke" auch
nichts weiter ist als die Bezeichnung für eine Modellvorstellung die versucht
die Funktionsweise eines Dinges zu beschreiben das wir Gehirn nennen. Gemessen
wird dabei nicht das neuronale Netz, das ist ja nur eine Konstruktion die wir
benutzen um die Quantitäten, die wir als Eingangs- und Ausgangsspannungen
messen, in einen sinnvollen Kontext zu stellen. Vielleciht wird weiter unten
klarer was ich meine.
Zugegeben, Wille ist kein Ding unter Dingen, sondern bezeichnet etwas das wir
intuitiv einem anderen Menschen unterstellen und das wir uns selber als Menschen
zugestehen. Zugegeben auch, dass mit "Mensch" (und dem was ich darunter verstehe)
etwas gesetzt wird, welches selbst das eigentliche Problem das gelöst werden
soll quasi enthält.
on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:
Die Rede vom "Willen" macht nur Sinn, wenn wir dabei an Handlungen denken, die wir unterlassen können....
Einverstanden. Warum du das nur negativ formulierst ist mir allerdings nicht
ganz klar, obwohl ich vermute dass darin für dich des Pudels Kern liegt. Mal
sehen ob ich das noch verstehe. Halb sank er hin, halb zog es ihn. Ich kann
natürlich von meinem Esel sagen: "Er verschmähte den einen Haufen", aber in
jedem Fall verlagere ich doch nur den Ort der Entscheidung. Und wenn Wille
prozessiert wird, dann doch dort. Das Unterlassen einer Handlung könnte also ein
Signal sein dafür, dass der Handelnde eine gewisse Unabhängigkeit besitzt
gegenüber seiner Umgebung die ihn bedrängt zu handeln. Das unterscheidet und
konstituiert überhaupt erst den Begriffsinhalt des Willens und setzt ihn ab vom
determinierten Lauf der Dinge. (OK, wir diskutieren jetzt nicht auch noch über
Freiheit)
on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:
Wenn man nun aus dem "Willen" einen "volitiven Prozess" macht, also ein GESCHEHEN, das so und so beschaffen und so und so gesteuert in menschlichen Hirnen VON NATUR AUS abläuft, beraubt man den Begriff der "Willens" seines Sinns. Denn naturwissenschaftliche Modelle - z. B. kybernetische Regelkreise - setzen bereits voraus, dass man es dabei mit gesetzmäßig verlaufenden Prozessen zu tun hat, auf die ein handelnder Mensch keinen Einfluss hat.
Hm, das ist ein starkes Argument und ich zaudere sofort darauf zu antworten.
Irgendwie kommt mir das ganze bekannt vor. War das nicht ein Streit unter
Scholastikern, ob Gott die Welt aus seinem Willen heraus erschuf als einen
ursprünglichen Akt der Entscheidung "tiefer als jede Vernunft" oder ob er sie
aus seinem "tiefen Ratschluss" als Akt der Vernunft erschuf (Thomisten gegen
Scotisten oder vielleicht sogar Kant vs. Hegel)? Letztendlich eine
Entgegensetzung von Vernunft und Wille, wenn man letzteren als den "Beweger an
sich" verstanden haben will. Du scheinst unter "wollen" genau das zu verstehen,
souveräne Entscheidung, oder?
Um das alles noch einmal mit anderen Worten zu sagen: Meine These ist, das weder
das eine (determinierte Naturabläufe) noch das andere (Entscheidung/Wille) zwei
zu unterscheidende Phänomene sind, sondern zwei Seiten ein und desselben
Phänomens unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet.
on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:
Was ich sagen will: Wenn wir den Begriff des Willens aus der Lebenswelt, wo er unverzichtbar ist, in die Sprache einer Naturwissenschaft "übersetzen", wechseln wir das "Paradigma". "Wille" kommt in den Naturwissenschaften schlechterdings nicht vor. (Jedenfalls nicht als Gegenstand; als Kompetenz der Wissenschaftler ist er unverzichtbar.) Was für den Willen die "Entscheidungsfreiheit" (die gezielte Wahl zwischen Alternativen) ist, kann in der Sprache der Naturwissenschaft allenfalls unter "Zufall" oder "Kontingenz" erscheinen - also als etwas INDETERMINIERTES.
Klar, so gesehen treffen sich hier zwei vollkommen unvereinbare Paradigmen. Die
sind aber vielleicht überhaupt erst entstanden, weil man nur durch die Trennung
des einen vom anderen beide für sich konsistent halten konnte. Naturwissenschaft
schließt, wie ich ja bereits schrieb, selbstverständlich Subjektivität und damit
den Willen, den wir NUR einem Subjekt unterstellen, radikal aus. Umgekehrt
reklamiert das andere Paradigma die Freiheit für sich.
on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:
Nun ist aber unser Wille nicht indeterminiert, sondern gerade ein AKT der Determination, den wir selbst vollziehen, wenn wir aus verschiedenen Möglichkeiten EINE BESTIMMTE wählen.
Dies sind Sätze, lieber Hermeneuticus, an denen mein Gehirn heißläuft. :-) Es
müsste doch klar sein, das du das Problem nur verschiebst. Wenn du von einem "Akt" sprichst, dann liegt doch die Entscheidung ganz klar dort. Determiniert zu
sein (nicht indeterminiert) oder einen Akt der Determination vollziehen ist doch
zu unterscheiden.
on 11/25/04 um 16:42:17, Hermeneuticus wrote:
Also noch einmal: Die Bedeutung von "Wille" und die eines
naturwissenschaftlichen Begriffs der "Volition" (der sich z. B. auf beobachtbare
neuronale Prozesse in menschlichen, vielleicht auch tierischen Gehirnen
bezieht), sind so verschieden, dass sie sich nicht in einander übersetzen
lassen. Darum wäre es methodisch unzulässig, von der Beobachtung neuronaler
Prozesse auf die "Natur" des Willens zu schließen.
Dieser Fehler erfreut sich aber offenbar großer Popularität. Und er wird
nahegelegt durch die irreführende Bezeichnung "volitiver Prozess", die geradezu
zu diesem schwerwiegenden Kategorienfehler anstiftet. Ja, von gewisser Seite ist
dieser Fehler höchst erwünscht. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um
einen Fehler handelt.
Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann dürfte es nach deinen Thesen,
überhaupt keinen Begriff des Willens oder der Volition in den
Naturwissenschaften geben. Ich weiß nicht genau was du unter Lebenswelt
verstehst. Ich weiß was zB. Husserl darunter verstand. Ich unterstelle jeden Tag
mir und anderen Menschen einen Willen. Und wenn wir davon reden und dieses Wort
in irgendeiner Weise sinnvoll gebrauchen, dann muss das was wir darunter zu
verstehen glauben auch formal beschreibbar sein. Gerade dieser Versuch, wenn er
gelänge, wirkt gegen den "erwünschten Fehler" von dem du sprichst. Diese
Trennung von Lebenswelt und Welt der Naturwissenschaft führt doch gerade zu
ständigen "big impacts" von Nachrichten aus der einen Sphäre in die andere.
Führt man nicht gerade genau darüber heftigste Diskussionen unter dem
Schlagwort: Keine Willensfreiheit! (siehe Roth u.a.) Das liegt in meinen Augen
daran, das es sich Philosophen hinter dieser angenehmen Trennung der
Methodologien bequem gemacht haben. 
Herzlich
DY
- III
- jacopo_belbo am 26. Nov. 2004, 06:20 Uhr
eine kleine zwischenfrage:
ist das thema "willensakt" für die diskussion relevant?
wenn ja, wäre es nett, mich einzuweihen :)
- mfg thomas
- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 06:42 Uhr
Hallo Dyade,
es freut mich, dass Du Deine Position etwas mehr ausführst. Dadurch wird es auch
leichter, darauf einzugehen. Ich sehe bei Deinem letzten Beitrag zum Begriff des
Willens allerdings die Gefahr, dass unsere "Thread" sich zu sehr zerfasert.
Die Fragestellung dieser Runde (Was meinen wir, wenn wir von einer Aussage über
die Wirklichkeit sagen, sie sei "wahr" ? Welche Regeln sollen für die Verwendung
des Wortes "wahr" gelten? Was rechtfertigt die Auszeichnung eines Satzes als "wahr" ?) ist derart schwierig, dass wir nur dann einer Beantwortung näher
kommen, wenn jeder diese Fragen im Auge behält und seine Beiträge daraufhin
befragt, inwiefern sie zur Beantwortung der Fragestellung beitragen können.
Es kommt also für jeden von uns darauf an, letztlich "die Kurve zu kriegen" zur
eigentlichen Fragestellung, so sehr es uns auch reizen mag, an anderen Punkten
weiter zu diskutieren. Aber dafür ist Philtalk ja offen.
An einer in alle Richtungen ausufernden philosophischen Diskussion hätte
ich nur geringes Interesse.
Es grüßt Dich herzlich Eberhard.
- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 07:10 Uhr
Hallo Thomas, hallo allerseits,
es geht mir in der Tat darum, dass wir im Prinzip von keiner Aussage sagen
können, dass wir sie für alle Zeiten unserm Denken und Handeln zugrunde legen
sollten. Neue Wahrnehmungen können die Ersetzung dieser Aussage durch eine
andere erfordern, die diesen neuen Wahrnehmungen besser entspricht.
Ich sage bewusst "im Prinzip", weil es Aussagen über singuläre Sachverhalte oder
Ereignisse gibt, von denen man sich kaum vorstellen kann, dass sie durch neue
Wahrnehmungen korrekturbedürftig werden.
Auch Dein Beispiel: "Der Tisch hier vor mir besteht aus Holz" wird
wahrscheinlich niemals korrekturbedürftig werden.
Aber nehmen wir einmal an, Du willst den Tisch niedriger machen und
willst deshalb von jedem Tischbein 5 cm absägen. Du holst eine Säge und setzt
sie am ersten Bein an. Aber die Säge dringt einfach nicht in das "Holz" ein. Der
einzige Effekt, den Du erzielst ist der, dass Dein Sägeblatt heiß und stumpf
wird. Als Du es mit einem neuen Sägeblatt probierst, bricht dies ab, ohne auch
nur einen Millimeter in das "Holz" einzudringen.
Du murmelst etwas von "seltsam" und "mysteriös" und kannst Dir die ganze
Angelegenheit nicht erklären. Das heißt: Du hast damit nicht gerechnet, weil bei
Geltung Deines bisherigen Weltbildes der Vorgang unmöglich wäre. Für Dich galten
bisher die Aussagen: "Der Tisch vor mir ist aus Holz", "Holz ist weicher als
Stahl", "Das Sägeblatt ist aus Stahl". Daraus leitete sich für Dich die
Erwartung ab, dass sich das gezähnte Sägeblatt in das Tischbein hinein frisst,
wenn es mit Druck auf dem Tischbein hin und her bewegt wird. Du erwartest
aufgrund der bisher geltenden Aussagen die Wahrnehmung eines Schnitts in das
Tischbein, siehst aber nur ein unbeschädigtes Tischbein.
Wenn Du weder an Deiner Wahrnehmung und ihrer Interpretation zweifeln kannst
(z. B. weil Du auch durch Tasten mit den Fingerspitzen keinen Einschnitt fühlen
kannst), noch daran, dass Holz weicher ist als Stahl und auch nicht daran, dass
das Sägeblatt aus Stahl ist, so müsstest Du wohl die Aussage "Dieser Tisch ist
aus Holz" korrigieren, d. h., Du würdest diese Aussage nicht mehr länger für wahr
halten und durch eine andere Aussage ersetzen.
Das Beispiel zeigt, dass das Verhältnis zwischen Aussage und Wahrnehmung
komplizierter ist als es Tarskis Wahrheitsdefinition "Der Satz p ist wahr, wenn
p" vermuten lässt.
Noch eine Anmerkung: Den Satz: "Die Sonne scheint" würde ich nicht als
temporär wahre Aussage bezeichnen somdern als eine unvollständige Aussage, weil
ohne Zeit- und Ortsangabe.
Grüße an alle Interessierten von Eberhard.
- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 08:48 Uhr
Hallo Hermeneuticus,
Dir ist wichtig, dass Erkennen (die richtige Beantwortung von Fragen durch wahre
Sätze) ein Regeln folgendes absichtsvolles Handeln erfordert. Die Frage ist, ob
Thomas das überhaupt bestreitet.
Unstrittig ist wohl, dass Erkenntnis immer Entscheidungen erfordert (stelle ich
meine aktuelle Wahrnehmung in Frage oder ändere ich mein Weltbild).
Es grüßt Dich Eberhard.
- III
- Dyade am 26. Nov. 2004, 09:33 Uhr
Hallo Thomas, hallo Eberhard,
ihr habt beide recht, es ist tatsächlich etwas weit in eine andere Richtung
gegangen. Ich habe das schon bemerkt als ich die Antwort an Hermneuticus schrieb
und dachte kurz einen anderen Tread damit zu eröffnen.
Das für das Thema "Wahrheit" letzlich nicht nur zu klären wäre was 'nehmen-wir-wahr'
sondern auch ob und wie 'Wahrheit' bei der Entscheidung zu handeln eine Rolle
spielt (wo denn sonst noch??) liegt für mich auf der Hand. Aber das liegt
tatsächlich zunächst in einer anderen Richtung.
Ich will also versuchen bis zur nächsten Kurve wieder auf der Höhe eurer
Diskussion zu sein.
Grüße
Dyade
- III
- jacopo_belbo am 26. Nov. 2004, 10:11 Uhr
hallo eberhard,
ich verstehe aber nicht, wo du ein problem mit der aussage siehst, dass der von
dir angesprochene tisch aus holz ist. entweder die aussage ist falsch und der
tisch ist in wirklichkeit nicht aus holz, sondern nur aus einem immitat mit -wie
steht in den modernen katalogen so schön- "holzoptik" ; oder der tisch ist aus
holz - allerdings aus einer sehr widerstandsfähigen variante.
wie es aussieht lag ich mit meiner vermutung, dass du auf die fallibilität
menschlichen wissens hinaus willst, anscheinend doch nicht so falsch ;)
ich sehe in diesem falle keine gefährdung des eigentlichen tarski-schemas.
entweder es ist so, wie der satz sagt, oder es ist nicht so. wenn es sich nicht
so verhält, müssen wir den satz entsprechend korrigieren. wir müssen unsere
sätze den gegebenheiten anpassen, wenn wir objektive aussagen treffen
wollen.
Zitat:
Noch eine Anmerkung: Den Satz: "Die Sonne scheint" würde ich nicht als temporär wahre Aussage bezeichnen somdern als eine unvollständige Aussage, weil ohne Zeit- und Ortsangabe.
dazu gibt es bei wittgenstein eine interessante passage. es ist eine passage,
die in den PU vor der einführung der "familienähnlichkeiten" beginnt.und ich
denke, hermeneuticus wird sich freuen, wenn ich seiner auffasung damit ein stück
weit näher rücke:
Zitat:
60. wenn ich nun sage: »mein besen steht in der ecke«, - ist dies eigentlich
eine aussage über den besenstiel und die bürste des besens? jedenfalls könnte
man doch die aussage ersetzen durch eine, die die lage des stils und die lage
der bürste angibt. und diese aussage ist doch nun wie eine weiter analysierte
form der ersten. - warum aber nenne ich sie »weiter analysiert«? [...] wenn wir
jemanden fragten, ob er das meint [der stiel sei dort und die bürste, und der
stiel stecke in der bürste], würde er wohl sagen, dass er garnicht an den
besenstiel besonders, oder an die bürste besonders, gedacht habe. und das wäre
die richtige antwort, denn er wollte weder vom besenstiel, noch von der
bürste besonders reden. denke, du sagtest jemandem statt »bring mir den besen!«
- »bring mir den besenstil und die bürste, die an ihm steckt!« - ist die antwort
darauf nicht: »willst du den besen haben? und warum drückst du das so sonderbar
aus?« [...]
63. [...] wir denken etwa: wer nur die unanalysierte form besitzt, dem geht die
analyse ab; wer aber die analysierte form kennt, der besitze damit alles[...]
später dann:
Zitat:
69. wie gesagt, wir können -für einen besonderen zweck- ein grenze ziehen. machen wir dadurch den begriff erst brauchbar? durchaus nicht! es sei denn, für diesen besonderen zweck. so wenig wie der das längenmaß >1 schritt< brauchbar machte, der die definition gab: 1 schritt = 75 cm. und wenn du sagen willst »aber vorher war es doch kein exaktes längenmaß«, so antworte ich: gut, dann war es ein unexaktes. - obgleich du mir noch die definition der exaktheit schuldig bist.
ich könnte die spur noch ein wenig weiter verfolgen, aber das würde hier zu weit
führen. worauf ich dabei hinaus will ist folgendes:
unter logikern und sprachphilosophen scheint es eine unart zu geben, die
darin besteht, "unanalysierte" sätze zu analysieren, bzw. analysierbar zu machen
- wittgenstein ist, glaube ich, in seinem tractaus einer ähnlichen idee
verfallen. wir sollten uns aber -mit dem wittgenstein der PU- fragen, inwieweit
man einen analysierten satz besser versteht; bzw. ob der analysierte satz
eher wahr ist, als der unanalysierte. ich denke, der kontext in welchem
eine aussage getroffen wird, ist nicht unerheblich.
wenn wir uns unterhalten, und du sagst: »die sonne scheint«, so ist diese
aussage wahr, wenn die sonne scheint - also genau dann, wenn es zutrifft, dass
die sonne scheint (mit tarksi). ich kann also aus dem fenster sehen und deine
aussage entweder bestätigen, oder dich auf deinen fehler hinweisen »schau! der
himmel ist bedeckt.« das ist für diese zwecke vollkommen ausreichend. und zu
recht würde ich die augen verdrehen, wenn du statt »die sonne scheint« -
»die sonne scheint am 26.11.2004 post christum natum um 10:01« sagtest. auch
wenn das "exakter" oder "vollständiger" wäre.
präzision fungiert hier nur als ein surrogat.
sicher, wir können unserer aussage, dass die sonne scheint, die aura des ewig
unabänderlichen geben, indem wir eine "exakte" zeitangabe machen. so wird diese
aussage über die zeit hinweg wahr sein.
- mfg thomas
- III
- Dyade am 26. Nov. 2004, 11:35 Uhr
Hallo,
ich habe jetzt schon mehrmals gelesen, das der eine über den Text des anderen
urteilte: "Das ist ja trivial" !
Aber genau darum geht es doch, oder? Diese Ganzen Beispiele die wir anführen
(Tisch, Haus, Sonne) und die Aussagen über diese Dinge sind doch Trivialitäten
die ihre Komplexion durch ihre unmittelbare Nähe verdecken (Siehe Wittgensteins
Besen).
Natürlich scheint die Sonne auch wenn es bewölkt ist. Nur kann ich es nicht
sehen. Es sei denn ich steige in Frankfurt ins Flugzeug und fliege 10.000 Fuß
hoch. Wären Handys im Flugzeug erlaubt könnte Eberhard dir Thomas sagen: "Die
Sonne scheint" du wärst nur nicht in der Lage es zu prüfen wenn du nicht auch in
dem Flugzeug sitzt. Es müsste also die Bedingung erfüllt sein, dass die
Gesprächspartner bei dem Versuch die Wahrheit eines Satzes zu prüfen, in der "gleichen Situation" sind.
Aus diesem Grund will ich nocheinmal meine Frage von weiter oben präzisieren:
Muss ich um die "Wahrheit" eines Satzes bestätigen zu können ständig das in ihm
ausgedrückte Urteil über die Wirklichkeit prüfen können? Oder ist ein Verweis
auf ein theoretisches Wissen ausreichend?
fragend
Dy
- III
- jacopo_belbo am 26. Nov. 2004, 12:12 Uhr
hallo dyade,
Zitat:
Aus diesem Grund will ich nocheinmal meine Frage von weiter oben präzisieren: Muss ich um die "Wahrheit" eines Satzes bestätigen zu können ständig das in ihm ausgedrückte Urteil über die Wirklichkeit prüfen können? Oder ist ein Verweis auf ein theoretisches Wissen ausreichend?
wir nähern uns langsam einem punkt, den ich schon beim abfassen meines letzten
beitrages im sinn hatte, den ich aber zuersteinmal zurückgestellt habe. es
scheint, als bestünde eine asymmetrie zwischen der wahrheit eines satzes und dem
wissen um diese wahrheit. ich kann wissen, dass quito die hauptstadt von ecuador
ist. es kann sich allerdings auch herausstellen, dass, als ich sagte, quito sei
die hauptstadt von ecuador, ich mich in diesem punkt getäuscht habe.
wahr ist der satz "quito ist die hauptstadt" von ecuador nur dann, wenn quito
die hauptstadt von ecuador ist.
auch wenn ich mich auf die aktuellste ausgabe des brockhauses -als beispiel für
ein verläßliches medium- verlasse, also mich auf -wie du es nennst- "theoretisches wissen" stütze, kann es sein, dass ich mich täusche. das ist auch
das, worauf eberhard (wahrscheinlich) hinauswill, wenn er sagt, dass es
prinzipiell keine aussage mit universeller geltung gibt - ich nenne das
fallibilismus.
aber -so mein einwand- sind das zwei verschiedene paar schuhe, ob etwas wahr
ist, oder ich es nur für wahr halte. das ändert aber nichts am prinzip der
wahrheit. wahr sind sätze in übereinstimmung mit den tatsachen. stellt es sich
später anders heraus, war der satz nicht wahr: ich muss meine ansicht revidieren.
ich bin nicht bereit, den Schluss von "es ist möglich, dass wir uns prinzipiell
irren können" auf "wir irren uns beständig" mitzumachen. wir sollten den begriff
der wahrheit (als korrespondenz) nicht so ohne weiteres opfern, auch wenn es
schwer wird ihn zu definieren, bzw. ihn zu verteidigen.
meine einwände bezüglich konsenstheorie, kohärenztheorie, redundanztheorie habe
ich schon einmal formuliert. zum einen können sätze übereinstimmend für wahr
gehalten werden, die auch keiner erfahrung widersprechen und dennoch falsch
sein. zum anderen ist das wort "wahr" sprachlich nicht unverzichtbar - auch wenn
es so ist, wie die deflationstheorie der wahrheit sagt, dass wahrheit ausdrückt,
dass eine sache so oder so zutrifft.
in summa: es reicht nicht aus, sich auf ein wie auch immer geartetes wissen zu
stützen; darüberhinaus muss man sich auch mit den fakten auseinandersetzen.
- mfg thomas
- III
- Eberhard am 26. Nov. 2004, 18:34 Uhr
Hallo Thomas, hallo Dyade,
Ich habe geschrieben, dass Sätze wie: "Hinter dieser Mauer ist eine Wiese" oder "Die Sonne scheint" oder "Ich bin über 1,80 m groß" unvollständig formuliert
sind. Ihre vollständige Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang, in dem diese
Sätze geäußert werden. Das heißt aber auch, dass je nach dem Zusammenhang, in
dem solche Sätze geäußert werden, ihre Bedeutung wechselt.
Thomas formuliert: "wir haben aussagen, denen wir temporäre gültigkeit
zuschreiben. ein beispiel ist das beispiel der wiese. heute kann die aussage
wahr sein - wir gucken hin, ob dem so ist; morgen kann sie schon falsch sein -
wir machen eine wahrnehmung, die im widerspruch zu der gestern getroffenen
aussage steht."
Hier von Sätzen mit temporärer Gültigkeit zu sprechen, die heute wahr sind und
morgen falsch (weil inzwischen ein Bulldozer das Gras beseitigt hat), halte ich
nicht für sinnvoll.
Wenn ein und derselbe Satz heute wahr sein kann und morgen falsch, dann müssten
wir logisch widersprüchliche Sätze wie "Hinter der Mauer ist eine Wiese" und "Hinter der Mauer ist keine Wiese" nebeneinander gelten lassen, denn der erste
Satz war am 1. Oktober 2004 wahr und der zweite Satz war am 2. Oktober 2004
wahr, nachdem die Planierraupe gewirkt hat.
Wenn man jedoch Widersprüche zulässt, hat man einen Sprengsatz in die eigene
Theorie eingebaut, der keinen Stein auf dem andern lässt.
Es scheint deshalb sinnvoll, zwischen dem Satz als einer grammatisch geordneten
Folge bestimmter Wörter und den Bedeutungen dieses Satzes zu unterscheiden. Nur
diese Bedeutungen können genau genommen wahr oder falsch sein.
Es erscheint also nicht sinnvoll zu sagen: "Der Satz 'Ich bin größer als
1,90 m' " ist manchmal wahr und manchmal falsch, je nachdem, ob z. B. der
zierliche Lukas oder der lange Mirko den Satz äußern.
Stattdessen empfiehlt es sich zu sagen: "Die Satz 'Ich bin größer als
1,80 m' hat verschiedene Bedeutungen: Wenn Lukas sagt: "Ich bin größer als 1,80
m' bedeutet der Satz: "Lukas ist größer als 1,80" (und diese Aussage ist
falsch).
Und wenn Mirko sagt: "Ich bin größer als 1,80 m" bedeutet der Satz: "Mirko ist größer als 1,80 m" (und diese Aussage ist wahr).
Somit bleibt unser Denken widerspruchsfrei. Es gibt keine Aussage, die
wahr und falsch ist.
Der Aspekt der intertemporalen, die Zeit überdauernden Geltung wahrer Aussagen
erscheint mir ein zentraler Bedeutungskern des Wortes "wahr" zu sein (denken wir
nur an das Worte wie "bewahren" oder "während" ).
Deshalb sollten wir Sätze wie "Die Sonne scheint" entweder als verkürzte,
unvollständige Sätze ansehen, die erst aus dem Zusammenhang eine Bedeutung
erhalten. Oder aber wir betrachten Sätze als solche gar nicht mehr als wahr oder
falsch, sondern beziehen die Prädikate "wahr" und "falsch" nur noch auf die
Satzbedeutungen bzw. Satzinhalte, also die Aussagen, die mit Sätzen gemacht
werden,
meint Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am 26. Nov. 2004, 23:52 Uhr
Hallo Eberhard!
So wie Du den Begriff der Geltung gebrauchst, erscheint er mir wie eine
Hilfskonstruktion, die Du nur benötigst, um den für Dich unverzichtbaren
Bedeutungskern "Intertemporalität" des Wortes "wahr" zu retten.
Auf der einen Seite bestreitest Du, dass Aussagen nur temporär "wahr"
sein könnten. Auf der anderen Seite räumst Du ein, dass eine Behauptung, die
heute als unbeschränkt wahr gilt, morgen revidiert werden müsste, wenn neue
Wahrnehmungsbefunde dieser Behauptung den Boden (die Berechtigung) entzögen.
Ich frage mich, wozu hier die Einführung der "Geltung" gut sein soll, was
man sich, salopp gesagt, für eine solche "unbeschränkte Geltung" kaufen kann,
wenn man doch weiß, dass veränderte Umstände diese Geltung jederzeit beenden
können.
So gefasst, scheint der Begriff der Geltung nur ein Synonym von "Fürwahrhalten"
zu sein, ein entpersonalisiertes allerdings. Denn etwas für wahr halten können
nur Subjekte/Personen/Individuen, während "Geltung" Sätzen auch losgelöst von
ihren Sprechern zukommen zu können scheint.
Nun ist es ganz plausibel: Wenn ich etwas für wahr halte, dann ist das
ein Ausdruck von Gewissheit. Ich zweifle nicht immerzu daran und komme nicht
heute zu diesem und morgen wieder zu einem anderen Urteil über den Sachverhalt.
Für mein Handeln ist solche Gewissheit auch nützlich, weil ich mich dann
entscheiden kann, ohne lange zu fackeln. Trotzdem – und das räumst Du ja ganz
ausdrücklich ein – kann morgen etwas geschehen, das dieser Gewissheit den Boden
entzieht. Ich kann plötzlich entdecken, dass die Wirklichkeit anders ist, als
ich mit Gewissheit voraussetzte. Und dabei stelle ich fest, dass die "Wahrheit"
von gestern nur ein persönliches Fürwahrhalten war. Die Behauptung über die
Wirklichkeit, die ich gestern machte, ist nun keine Aussage über die
Wirklichkeit mehr, sondern fällt auf mich zurück: sie spricht nun davon, was ICH
für wahr hielt.
Mir scheint, dass das, was Du im Beitrag Nr.95 als "Geltung" einführst,
ohne Bedeutungsverlust durch "Gewissheit" oder "gewisses Fürwahrhalten" ersetzt
werden könnte.
Im Grunde motivierst Du die Intertemporalität der "Geltung" aus
praktischen Bedürfnissen. Wenn ich handle, möchte ich nicht enttäuscht werden.
Ich kann darum Aussagen über die Wirklichkeit, die nicht nur jetzt, sondern auch
morgen und übermorgen... ad infinitum gelten, gut gebrauchen. Aber so motiviert,
ist die Unbeschränktheit der Geltung nicht mehr als der Ausdruck eines Wunsches.
(" Denn Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit", dichtete Nietzsche.)
Insbesondere dann, wenn ich doch – ebenfalls mit Gewissheit - weiß, dass
Enttäuschungen niemals auszuschließen sind. So wird auch der Unterschied
zwischen "Geltung" und bloßem "Geltungsanspruch" (= Anspruch auf unbeschränkte
Geltung) verwischt.
Ich denke, dass der Ausdruck "Geltung" nur sinnvoll ist, wenn er "faktische intersubjektive Anerkennung" bedeutet. Diese Anerkennung kann auf
(implizit) geteilten Überzeugungen beruhen, die durch eine gelingende gemeinsame
Praxis bewährt sind. Oder diese Anerkennung kann aus expliziten Urteilen
bestehen, etwa wenn sie aus einem Wahrheitsdiskurs hervorging, in dem eine
kontroverse Behauptung durch geeignete Begründungen für alle Beteiligten
nachvollziehbar gemacht wurde.
Damit ist auch klar, dass "Geltung" immer beschränkt bleibt auf ein
empirisches Kollektiv von Subjekten. "Geltungsansprüche" mögen dagegen über die faktische Geltung
hinausgreifen und mit der Idee von Unbegrenztheit und Ewigkeit verknüpft sein.
Indessen leben wir nicht mehr in der Zeit, "da das Wünschen noch geholfen hat".
Und mir ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wieso wir diese Idee mit dem
Begriff der "Wahrheit" verbinden müssen, wenn wir ihn nicht seines Sinns
berauben wollen.
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 27. Nov. 2004, 00:21 Uhr
Hallo Thomas!
Du schreibst:
Zitat:
" wahr" bezieht sich nicht auf handlungen, sondern auf aussagen.
Das stimmt, nur fallen Aussagen nicht vom Himmel, sondern es sind kommunikative
Handlungen (" Sprechakte" ), durch die Sprecher sich an Adressaten wenden, um
etwas zu behaupten.
Obwohl Du ausführlich Wittgensteins PU zitierst – was an sich sehr
löblich ist... :-) -, neigst Du doch dazu, losgelöste, irgendwie vorhandene
Sätze nur im Verhältnis zu den "Fakten" zu betrachten. So wird dann die Wahrheit
zu einer Eigenschaft von Sätzen, die darin besteht, dass diese Sätze mit den "Fakten" übereinstimmen.
Demgegenüber scheint es mir fruchtbarer zu sein, das pragmatische "Fundament" von Behauptungen und Wahrheitsdiskursen zwischen empirischen,
handelnden Subjekten immer fest im Blick zu behalten.
Deine Hinweise auf Wittgenstein und den "Kontext" deuten auch eigentlich in
diese pragmatische Richtung. Nur dass eben das Handeln und Kommunizieren von
Subjekten nicht bloß ein "Kontext" für irgendwie schon vorhandene Aussagen ist.
Sondern das gemeinsame Handeln und das Kommunizieren ist die Wirklichkeit, aus
der Sätze überhaupt hervorgehen und auf die diese Sätze auch stets bezogen
bleiben.
Oder anders gesagt: Die Praxis des Sprechens, diese "Lebensformen", die
Wittgenstein mit den "Sprachspielen" meinte, sind nicht das, was man
notgedrungen mit zu Rate ziehen muss, wenn man die Bedeutung von Sätzen nicht in
ihrer isolierten Gegebenheit - durch syntaktische und semantische Analysen -
klären kann. Nur verstanden als Bestandteile kommunikativen Handelns HABEN Sätze
überhaupt eine Bedeutung und eine Form. Und das gilt nicht nur "lebensweltlich",
sondern ohne Abstriche für jene gelingenden Praxen, die wir "Wissenschaften" zu
nennen gewohnt sind.
Gruß
H.
- III
- gershwin am 27. Nov. 2004, 01:11 Uhr
Hi Leute
Sorry, dass ich mich so ansatzlos einmische, aber ein Teilnehmer dieser
Diskussion hat mich dazu aufgefordert.
Was ist Wahrheit? Leider kann ich in diesem Thread nirgends nahtlos anknüpfen,
aber meine Ansichten habe ich in einem ähnlichen Thread schon ausgeführt.
Was ist Wahrheit? Ein Wort. Was ist ein Wort? Ein Signal an einen Artgenossen.
Nehmen wir ein anderes Signal: flüchtige Jasmonate aus einem angebissenen Blatt,
welche Nachbarblätter oder Blätter einer Nachbarpflanze veranlassen,
Bitterstoffe zu synthetisieren. Eine solche Signalkette ist natürlich wegen des
hohen Zeitbedarfs nicht sonderlich modulierbar, überdies sind wären die
Reaktionsmöglichkeiten der Empfänger ohnehin sehr beschränkt.
Unsere Sprache ist in meinen Augen jedoch nichts prinzipiell anderes. Nur, dass
Luftdruckschwankungen eben ausreichend modulierbar sind und ein komplexes Gehirn
plus eine daran angeschlossene (auch Sprach-) Motorik eine extrem breite
Reaktionspalette bieten. Daraus ergibt sich eine (an der ET orientierte)
pragmatische Bedeutungstheorie. "Jasmonate" sind eine Aufforderung an Artgenossen, Bitterstoffe zu
synthetisieren, das Wort "Wahrheit" ist eine Meta-Aufforderung an Artgenossen,
ein anderes Signal (also die Aussage, auf die sich das Wort Wahrheit bezieht)
ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln. Das Signal "Wahrheit" (bzw. "Nicht-Wahrheit" also "Unwahrheit", eigentlich das viel wichtigere Wort) ist im
Kampf ums Überleben sowohl eine Waffe gegen Irrtum als auch Betrug. (Wären
Pflanzen soziale Wesen mit komplexem Verhalten, könnten sie Argenossen mit einem
analogen Signalmolekül beispielsweise vor irrtümlicher oder gar betrügerischer
Jasmonataussendung warnen.)
Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen: Die Komplexität unserer Sprache erkläre
ich mir aus dem innerartlichen Evolutionsdruck. Signale aussenden und damit das
Verhalten von Argenossen zu beeinflussen ist eine extrem wichtige Fähigkeit im
Kampf um Ressourcen und um Geschlechtspartner. Mathe und Physik sind wichtig für
Architektur, Waffenkonstruktion usw., nicht minder wichtig ist Rhethorik. Und
genau das haben schon die alten Griechen erkannt, das ist ziemlich
beeindruckend. Die Angelegenheit ist meiner Ansicht nach deshalb so schwer
durchschaubar, weil hier biologische und kulturelle Evolution ineinandergreifen
und wir noch viel zu wenig über die Wechselwirkung dieser beiden Prozesse
wissen.
Freundliche Grüße
Thomas
- III
- Hermeneuticus am 27. Nov. 2004, 09:42 Uhr
Hallo Thomas/gershwin!
Zitat:
Signale aussenden und damit das Verhalten von Argenossen zu beeinflussen ist eine extrem wichtige Fähigkeit im Kampf um Ressourcen und um Geschlechtspartner. Mathe und Physik sind wichtig für Architektur, Waffenkonstruktion usw., nicht minder wichtig ist Rhethorik. Und genau das haben schon die alten Griechen erkannt, das ist ziemlich beeindruckend.
Ich denke angestrengt nach, welche Ressourcen und wie viele
Geschlechtspartnerinnen mir beispielsweise diese Diskussion, die es nun in ihrer
zweiten Fortsetzung schon wieder auf über hundert Beiträge gebracht hat (eine
Menge Signale, das!!), mir erschlossen hat... Und komme auf eine runde 0.
[cry]
Überlebenstechnisch muss es sich um eine besonders ineffektive Strategie der
Signalaussendung handeln. Das wussten übrigens auch die alten Griechen schon.
Denken wir an Diogenes, dem, von Alexander dem Großen nach einem Wunsch gefragt,
den er ihm erfüllen solle, nichts Bessereres einfiel als: "Geh mir ein wenig aus
der Sonne!" Oder denken wir an Sokrates, der Philosophie für eine Kunst hielt,
leicht zu sterben. Denken wir daran, welchen Ärger seine ewige Diskutiererei auf
dem Marktplatz und bei Saufgelagen ihm mit seiner Ehefrau eingetragen hat.
Denken wir daran, wie unermüdlich Platon jene klugen Köpfe verfolgte, die es
verstanden, mit ihrer Weisheit wirklich etwas zu verdienen (die Sophisten und
Rhetoren). Und denken wir daran, wie abfällig Aristoteles über die "Gelderwerbskunst" sprach und wie hoch er dagegen die brotlose Beschäftigung mit
der Theorie veranschlagte...
In was für eine Galerie von überlebensunfähigen Mutanten reihen wir uns da ein??
Gruß
H.
- III
- Hermeneuticus am 27. Nov. 2004, 13:23 Uhr
Hallo Eberhard, hallo Thomas/jacopo!
Noch eine Ergänzung zu meinem vorletzten Beitrag. Dort schrieb ich:
Zitat:
Deine Hinweise auf Wittgenstein und den "Kontext" deuten auch eigentlich in diese pragmatische Richtung. Nur dass eben das Handeln und Kommunizieren von Subjekten nicht bloß ein "Kontext" für irgendwie schon vorhandene Aussagen ist. Sondern das gemeinsame Handeln und das Kommunizieren ist die Wirklichkeit, aus der Sätze überhaupt hervorgehen und auf die diese Sätze auch stets bezogen bleiben.
Der Ausdruck "Kontext" deutet schon an, dass man sich in einer Untersuchung
befindet, die von vorhandenen Sätzen ausgeht. Diese sind "gegeben", gleichgültig
woher. Auch wenn sie vom Himmel gefallen wären - man kann ihre syntaktische und
semantische Struktur untersuchen und prüfen, ob oder unter welchen Bedingungen
sie wahr sind.
Das ist der traditionelle Ansatz der "analytischen" Sprachphilosophie.
Sie täuscht eine gewisse Selbstgenügsamkeit vor. (Die Logik, sagte Thomas schon
einmal in diesem Forum, habe keine pragmatische Dimension.)
Nun gibt es Sätze, die mehrdeutig bleiben, wenn man sie losgelöst von der
Situation betrachtet, in der sie geäußert werden (wie etwa "Die Sonne scheint."
oder "Ich bin 1,80 m groß." ). Je nach Situation oder je nach dem Sprecher, der
da "ich" sagt, können sie wahr oder falsch sein. Darum heißen sie "unvollständige" Sätze. Sie können eben nicht isoliert dastehen. Und so muss
man, etwas widerwillig, den "Text" hinzuziehen, in dem man diese Sätze
vorgefunden hat - also den "Kontext", der seinerseits wieder nur aus Sätzen zu
bestehen scheint.
Die Rede von "unvollständigen Sätzen" ist m.E. ein Indiz dafür, dass die
Untersuchung die "vollständigen", die selbstgenügsamen Sätze favorisiert.
Zugleich ist damit auch angedeutet, dass "Wahrheit" jene (formalen)
Eigenschaften von Sätzen meint, die sie von ihren empirischen Sprechern
unabhängig machen. Bei einem "vollständigen" wahren Satz spielt es - so die
Konsequenz - keine Rolle mehr, welches empirische Subjekt ihn geäußert hat und
was dieses Subjekt damit zu wem sagen wollte bzw. was es damit TUN wollte, INDEM
es den Satz sagte.
Ein "vollständiger" wahrer Satz ist eine reine Form. Seine Geltung ist "absolut". Und ihm korrespondiert die "Wirklichkeit, wie sie war, ist und sein
wird..."
Immer wieder entdecke ich an Euren Analysen den Hang zu diesem onto-logischen
Formalismus. Das muss mit Eurer Art des "analytischen" Vorgehens zu tun haben.
Dabei bestreite ich gar nicht, dass wahre Sätze deshalb wahr sind, weil sie
NACHVOLLZOGEN werden können und insofern nicht von den individuellen Ansichten
und Eigenschaften ihrer Sprecher abhängen. Aber während bei Euch immer die
Tendenz bemerkbar ist, Wahrheit (oder "Geltung" ) als eine FORMALE Eigenschaft
von Sätzen zu betrachten, betone ich immerzu das Handeln, das sich im Äußern
oder Verstehen von Sätzen vollzieht. Wie es scheint, hat diese unterschiedliche
Gewichtung eines Sachverhalts, der - isoliert betrachtet - zwischen uns
unstrittig ist, doch weitreichende Konsequenzen.
Gruß
H.
- III
- Dyade am 27. Nov. 2004, 14:33 Uhr
Hallo,
ein unvollständiger Satz wäre also "Die Sonne scheint".
In einer Gesprächssituation kann dieser Satz von allen Teilnehmer als wahr
aktzeptiert werden oder als falsch abgelehnt werden.
ein wahrer Satz der immer und überall gilt wäre: "Schrödingers Katze lebt oder
ist tot". Ein solcher Satz ist eine reine Formalie bzw. er wird in eine Hohlform
gesetzt, die ihn als "immer wahr" materialisiert. Er sagt etwas über
Schrödingers Katze, von der man auch sagen könnte sie ist dick und getigert und
gefräßig. Sie ist aber immer entweder getigert oder nicht getigert, lebt oder
ist tot. Damit haben wir einen wahren Satz, mit dem ich aber praktisch überhaupt
nichts anfangen kann. Denn wenn mich einer fragt "Hast du meine Katze gesehen
ich suche sie", und ich frage "wie sieht sie aus" und er sagt "sie ist getigert
oder nicht" dann weis ich genau soviel wie vorher. (Stichwort: "trivial" )
Und das scheint der Knackpunkt zu sein, denn hier wird eine Form gewählt, wie
die Nebelkammer in einem Teilchenbeschleuniger, die immer wahre Aussagen
generiert und zwar "... nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der
Inhalt mag sein, welcher er wolle." (Kant, KdRV). Diese Hohlform, die völlig
indifferent gegenüber den wechselnden Argumenten ist mit denen man sie füllt ist "das All des Denk- und Vorstellbaren, das bei geeigneter Einsetzung aus offenen
Aussageformen wahre Urteile werden läßt." (Frege, weis nicht wo :-))
Wahrheit wäre also bloß eine Trivialität?
keinen Schritt weiter, Dyade
[cool]
- III
- gershwin am 27. Nov. 2004, 17:09 Uhr
Hi Hermeneutikus
Mir ist schon bewußt, dass der an der ET-orientierte Zugang eine ungeheure
Provokation kopernikanischen Ausmaßes darstellt. DAS soll schon alles gewesen
sein, was Sprache ist? Wenn man den Rahmen wechselt, gelangt man natürlich zu
erweiterten Begründungsmustern. Dann hat Sprache natürlich unendlich viele
Funktionen.
Ebenso wie selbstverständlich die Nicht-Sprach-Motorik unendlich viele
Funktionen haben kann: Auch für das Gehen, Laufen, überhaupt für alle
motorischen Bewegungen gilt: wir haben diese Fähigkeiten entwickelt, weil sie
der Fortpflanzung förderlich waren, also dem Zugang zu Ressourcen und
Geschlechtspartnern. Trotzdem kannst Du stundenlang mit gleich drei hübschen
Frauen in einem Zimmer rumgehen oder sogar rumlaufen, ohne zum Zuge zu kommen.
Deine Polemik im ersten Absatz zieht hier also nicht.
Zum zweiten Absatz mit Aristoteles, Platon und Co: Ich kann meine
Überlebensfähigkeiten auch dazu nutzen, nachts Schnecken über die Straße zu
tragen, ....damit sie dann auf der anderen Seite Geschlechtspartner finden,
deren Nachwuchs mir dann meine Salatbeete ruinieren. Das ist deshalb kein
Problem, weil Nahrung kein limitierender Faktor mehr für uns ist. Dann geh ich
halt in den Supermarkt. Bei fehlendem äußeren Selektionsdruck dominiert die
innerartliche Selektion. Wenn beispielsweise Geweihtiere lange Zeit auf einer
Insel der Glückseligen leben (ohne Freßfeinde, gutes Nahrunsangebot usw.), dann
kann sich unter Umständen der einstmals sinnvolle Trend fortsetzen, dass
Weibchen weiterhin stets den Hirsch mit dem größten Geweih bevorzugen. Bis die
Armen eines Tages ihr Ding kaum noch tragen können. Aristoteles und Co. lebten
unter vergleichsweise günstigen Umständen. Sie hätten auch von Morgens bis
Abends nur Schnecken unterstützen können. Sie konnten nur deshalb so ausgiebig
der musse frönen, weil andere für sie geschuftet haben.
Was wir Männer und Frauen schätzen und was nicht, ergibt sich aus der Struktur
unseres emotionalen Systems. Dinge oder Situationen oder Verhaltensweisen von
Artgenossen, kurz: Wahrnehmungen lösen bei uns Emotionen
(Verhaltensdispositionen im weitesten Sinne) aus, wobei mindestens folgende
Faktoren zu berücksichtigen sind: die stammesgeschichtliche sowie die
individuelle Erfahrung, plus das, was man gemeinhin kognitive (bewußte und
unbewußte) Prozesse nennt. Ich hatte schon erwähnt: das Ineinandergreifen
kultureller und biologischer Evolution ist extrem komplex, daher der Analyse
schwer zugänglich. Kurzes Beispiel: Was ein erfolgreiches Mem (z. B. die
Geschichte mit der Sonne) wird, hängt auch von den Genen ab, aber auch von
sozialen und nicht selten sogar von individuellen Faktoren. Denn wenn der erste
der Multiplikatoren keine Lust hat oder vergeßlich ist oder vorzeitig stirbt,
kann auch das Mem für immer aus dem kulturellen Bestand verschwinden.
Kurz noch mal die Pointe meiner Gedanken: Sprache ist nichts Prinzipiell anderes
als andere Muskelbewegungen auch. (daher funktioniert ja auch Gebärdensprache so
gut). Das ist natürlich schwer verdaulich für Metyphysik-Fans. Aber das Leben
und Denken ist darum trotzdem kein bißchen weniger interessant.
Freundliche Grüße
Thomas
- III
- Eberhard am 27. Nov. 2004, 23:13 Uhr
Hallo Dyade,
ich hatte schon mal das Beispiel gebracht "Wenn der Hahn kräht auf dem Mist,
dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist", um zu zeigen, dass
Wahrheit als solche keinen Wert besitzt, wenn die wahren Sätze keine
Informationen enthalten, also auch keine Frage beantworten können.
Meine Frage an dich: Hältst du einen Sprachgebrauch für sinnvoll, bei dem es
möglich ist, dass eine Behauptung, die gestern wahr gewesen ist, heute falsch
ist? Wenn ja: Was machst du mit den logischen Widersprüchen, die dadurch
entstehen können?
Damit keine Missverständnisse aufkommen: ich halte es ohne weiteres für möglich,
dass ich gestern eine Aussage für wahr gehalten habe, die ich heute für falsch
halte. (Aber dann war sie von meinem heutigen Standpunkt aus auch schon gestern
falsch, als ich sie noch für wahr gehalten habe.)
Meine Frage an dich und alle anderen, die Sätzen wie "Die Sonne scheint"
Wahrheitswerte zuschreiben wollen: Was geschieht mit den daraus entstehenden
logischen Widersprüchen?
Grüße an alle von Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 00:38 Uhr
Hallo Thomas/g!
Meine erste Antwort war nicht als Argumentation gemeint.
Also, ich bin kein "Metaphysik-Fan". Im Gegenteil, wenn Du in der Diskussion mal
zurückblätterst, wirst Du sehen, dass mir eher daran liegt, auf unreflektierte,
als solche nicht durchschaute "metaphysische" Elemente bei meinen Kontrahenten
hinzuweisen.
Was meine ich mit "Metaphysik" ? Im Anschluss an Kant verstehe ich darunter ein "überschwängliches" Denken, das mehr zu wissen meint, als es, nach den eigenen
Voraussetzungen, wissen kann. Kant dachte bei seiner Erkenntniskritik nicht nur
an seine philosophierenden Vorgänger, sondern auch an die Grenzen des
naturwissenschaftlichen Wissens. Und mir scheint, dass diese zweite Richtung der
Erkenntniskritik heute sehr viel dringlicher geworden ist als die Zurückweisung
des theologischen "Schweifens in intelligiblen Welten". Denn die heutigen
Popularisierungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verfallen oft in ganz
ähnliche Fehler: Verlassen der empirischen Basis, unscharfe Begrifflichkeit,
Verdinglichung von analytischen Begriffen, Inkonsistenzen...
Ein Beispiel für unscharfe Begrifflichkeit lieferst Du selbst mit dem "ziemlich
komplexen" Ineinandergreifen von "biologischer und kultureller Evolution". Ich
bin kein Biologe (so wie Biologen keine Kulturwissenschaftler sind...), aber so
weit ich sehe, scheint das Prinzip der "natürlichen Selektion" unverzichtbar für
die ET zu sein. Nun ist die biologische Konstitution der Gattung Mensch durch
eine fehlende Spezialisierung gekennzeichnet, weshalb Menschen sozusagen von
Natur aus auf Technik angewiesen sind. Ihre technischen Errungenschaften sind es
also, die Menschen das Überleben ermöglichen - was aber bedeutet, dass Menschen
imstande sind, das Prinzip der natürlichen Selektion für sich aufzuheben. Aus
diesem Grund ist die Geschichte des Menschen als Kulturwesen nicht einfach der
ET zu subsumieren. Von "biologischer und kultureller Evolution" in einem Atemzug
zu sprechen, ist ein begrifflicher Pfusch, ja geradezu ein Täuschungsmanöver,
weil hier zwei PRINZIPIELL verschiedene Arten von Entwicklung als
Anwendungsfälle der ET ausgegeben werden.
Was an der ET allerdings IN DIESEM THREAD besonders interessiert, ist ihre
Anwendung auf Erkenntnis und den Wahrheitsbegriff.
Mein Standardargument - Du bist nämlich nicht der erste in diesem Thread -
lautet hier:
Die ET versteht sich als eine erfahrungswissenschaftliche Theorie, die den
Anspruch erhebt, WAHR zu sein. Aber ist die Wahrheit, die sie als Theorie für
sich beansprucht, von derselben Art wie die "Wahrheit", die sie biologisch
erklärt? Ist die ET ein ANWENDUNGSFALL ihrer selbst?
Dann wäre die ET nur eine Aussendung von Signalen mithilfe reflexhafter
Körperbewegungen zu den und den biologischen Zwecken... Und statt den
BEGRÜNDUNGSVERFAHREN, die diese Signale in den Rang einer wahren Theorie
erheben, allzu viel Beachtung zu schenken, warten wir einfach mal ab, ob sich
ihre Vertreter im Kampf ums Dasein bewähren. Überleben sie, muss an der Theorie
was dran gewesen sein; sterben sie aus, war sie Schrott...
Aber so argumentiert natürlich kein Biologe. Nein, er nimmt seine Methoden und
Begründungsverfahren äußerst ernst. Er nimmt also den BISHER GELÄUFIGEN Begriff
von WISSENSCHAFTLICHER Wahrheit mit großer Selbstverständlichkeit weiter in
Anspruch. Einen Wahrheitsbegriff allerdings, zu dessen Klärung bloß seine ET
nicht viel beitragen kann.
Kurz: Die evolutionsbiologische "Erkenntnistheorie" gilt nur, wenn ihre
Vertreter von ihr ausgenommen bleiben.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am Vorgestern, 09:40 Uhr
Hallo Thomas (G),
Du schreibst: "Das Wort 'Wahrheit' ist eine Meta-Aufforderung an Artgenossen,
ein anderes Signal (also die Aussage, auf die sich das Wort Wahrheit bezieht)
ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln."
Damit hast Du aber nur einen Aspekt des Wortes "wahr" erfasst (die
Aufforderung, die als "wahr" bezeichnete Aussage dem eigenen Denken und Handeln
zugrunde zu legen, was ich als "Geltungsanspruch" bezeichne). Gegen diesen
Geltungsanspruch kann der Angesprochene einwenden: "Ist das wirkliche wahr?
Begründe mir das!"
Damit stellt sich die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit von Aussagen. Das
heißt, es wird nach der Begründung der Behauptung verlangt.
Was sagt die an der Evolutionstheorie orientierte pragmatische Bedeutungstheorie
zur Frage nach dem Kriterium für "wahr" und "falsch" ?
Es grüßt dich Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 12:33 Uhr
Hallo Eberhard!
Zitat:
Meine Frage an dich und alle anderen, die Sätzen wie "Die Sonne scheint" Wahrheitswerte zuschreiben wollen: Was geschieht mit den daraus entstehenden logischen Widersprüchen?
Zu logischen Widersprüchen kann es bei solchen Sätzen nur kommen, wenn man sie
isoliert, nämlich nur hinsichtlich ihrer Syntax und Semantik, untersucht. Die
kommunikativen Situationen, in denen Menschen feststellen oder darauf hinweisen,
dass die Sonne scheint, sichern ihre einwandfreie Verständlichkeit. (Zur
Sprachkompetenz gehört auch das Wissen, welche Sätze zu welchen Situationen
passen.)
Bei Sätzen, die man gestern für wahr hielt, die aber heute revidiert werden
müssen, tritt auch kein logischer Widerspruch auf. Empirische, also auf
Erfahrung gestützte Sätze können immer wahr oder falsch sein, wobei es eben die
Erfahrung ist, die über ihr Zutreffen entscheidet. Wenn ein solcher Satz gestern
wahr war, weil er durch entsprechende Erfahrungen entschieden bzw. gestützt
wurde, dann war er GENAU DARUM wahr. Entfällt diese Erfahrung, muss der Satz
GENAU DARUM unwahr sein.
Es ist charakteristisch für empirische Aussagen, dass sie zu ihrer BEGRÜNDUNG
auf aktuelle Erfahrungen verweisen. Die Erfahrung (oder Wahrnehmung) GILT,
anders gesagt, als ihr Begründung. Damit Wahrnehmungen Sätze begründen können,
ist es freilich notwendig, dass man sie (im voraus) spezifiziert. Es muss unter
den Beteiligten ausgemacht sein, WAS FÜR EINE Wahrnehmung ALS Begründung des
Satzes GELTEN SOLL.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am Vorgestern, 15:46 Uhr
Hallo Hermeneuticus,
Ich hatte gefragt:
Soll das Wort 'wahr' so verwendet werden können, dass ein und derselbe Satz zum
einen Zeitpunkt wahr sein kann und zum andern Zeitpunkt falsch?
Ist Deine Antwort nun ja oder nein?
Ich bin mir nach Deinen Ausführungen nicht sicher.
Wenn 'ja': Gilt dies nur für mehrdeutige Sätze oder gilt dies auch für
eindeutige Sätze?
Es grüßt Dich Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 19:19 Uhr
Hallo Eberhard!
on 11/28/04 um 15:46:17, Eberhard wrote:
Soll das Wort 'wahr' so verwendet werden können, dass ein und derselbe Satz zum einen Zeitpunkt wahr sein kann und zum andern Zeitpunkt falsch?
Der Satz "Die Sonne scheint." ist NICHT ein und derselbe Satz, wenn verschiedene
Personen ihn zu verschiedenen Zeitpunkten äußern!
Offenbar sind die Kriterien für die Identität von Sätzen nicht unabhängig davon,
was man unter "Satz" versteht. Versteht man ihn als FORM, ist "Die Sonne
scheint" in der Tat jedesmal derselbe Satz, gleichgültig, wer ihn wann zu
welchen Zwecken ausspricht. Versteht man einen Satz dagegen als eine HANDLUNG,
einen GEBRAUCH von Worten, als einen Sprechakt, als die Behauptung eines
Sprechers an einen Adressaten, als Zug in einem Sprachspiel... dann hat man es
mit verschiedenen Sätzen zu tun, je nachdem, wer ihn auspricht.
Man kann mit (formal) identischen Worten eben sehr Verschiedenes TUN.
Zitat:
Ist Deine Antwort nun ja oder nein?
Mit der m.E. unerlässlichen Differenzierung oben: Nein.
Gruß
H.
- III
- Eberhard am Vorgestern, 20:59 Uhr
Hallo Hermeneuticus,
Mit der Festlegung, dass ein und derselbe Satz nicht zum einen Zeitpunkt wahr
sein kann und zum andern falsch, bin ich einverstanden.
Wenn der Satz "Die Sonne scheint" in unterschiedlichen Situationen geäußert
wird, "ist er nicht derselbe". Für mich ist entscheidend, dass der Satz je nach
Situation eine unterschiedliche Bedeutung bekommt und etwas anderes über die
Beschaffenheit der Wirklichkeit aussagt. Wenn ich ihn um 8 Uhr äußere, sagt er
etwas anderes aus, als wenn ich ihn um 10 Uhr äußere.
Leider gibt es kein Wort, das einen Satz mit einer dazugehörigen Bedeutung
bezeichnet, so wie das Wort "Begriff", das ein Wort samt zugehöriger Bedeutung
bezeichnet. Bei ein und demselben Wort hat man es bei Mehrdeutigkeit mit
verschiedenen Begriffen zu tun.
Man könnte vielleicht entsprechend sagen: Bei ein und demselben Satz hat
man es bei Mehrdeutigkeit mit verschiedenen "Aussagen" (englisch "statement" ) zu
tun. Dann wären nicht Sätze wahr oder falsch, sondern Aussagen, also Sätze mit
ihrer bestimmten Bedeutung. Das wäre ein Vorschlag zur Terminologie.
Du sagst, dass es sich bei der Wortfolge "Die Sonne scheint" je nach
Situation der Äußerung um verschiedene Sätze handelt, und begründest es damit,
dass die Äußerung dieser Wortfolge eine Handlung darstellt und dass es sich um
zwei verschiedene Handlungen handele.
Das Problem ist jedoch, dass Du dann Handlungen Wahrheitswerte zuschreiben
müsstest.
Das zeigt mal wieder, wie Recht Du mit Deinem Wittgenstein-Motto hast, dass
unser Hauptproblem darin besteht, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht
übersehen.
Es grüßt Dich Eberhard.
- III
- Hermeneuticus am Vorgestern, 22:08 Uhr
Hallo Eberhard!
on 11/28/04 um 20:59:15, Eberhard wrote:
Mit der Festlegung, dass ein und derselbe Satz nicht zum einen Zeitpunkt wahr sein kann und zum andern falsch, bin ich einverstanden.
Wenn A zu B an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit sagt: "Die
Sonne scheint.", dann verbindet er damit nicht die Vorstellung einer
zeitunabhängigen Geltung. Er denkt nicht: "Wow, diese Worte werden nun bis in
alle Ewigkeit wahr sein!"
Das PROBLEM der intertemporalen Geltung von Behauptungen stellt sich wohl nur in
Begründungsdiksursen, und nur dann, wenn mit solchen Behauptungen auch
tatsächlich intertemporale Geltungs-ANSRPÜCHE verknüpft sind. Das ist etwa bei
Prognosen so.
Mir scheint es daher überflüssig zu sein, das Wort "wahr" IN JEDEM FALL mit
einer intertemporaler Geltung zu verknüpfen. Aber darauf willst Du eben hinaus.
Das war der Hintersinn Deiner Frage.
Mir geht es um die Anerkennung, dass es Geltungsansprüche von verschiedener
Allgemeinheit gibt.
Sagt A zu B: "Die Sonne scheint!" Und B antwortet etwa: "Ja, das ist wahr.
Endlich!", so ist mit diesem Wortgebrauch kein Geltungsanspruch verknüpft, wie
ihn etwa eine wissenschaftliche Behauptung erhebt oder eine Zeugenaussage vor
Gericht. Und das hat damit zu tun, dass Aussagen je nach Situation ein anderes "Gewicht" haben, d. h. dass unterschiedliche Folgen damit verknüpft sein können.
Je weiter diese Folgen reichen, desto strenger werden die Maßstäbe, desto
heikler wird der Gebrauch des Wahrheitsbegriffs.
Der Gebrauch des Wortes "wahr" ist eben "eine Familie von Fällen". Es besteht
kein Grund, die ganze Familie auf ein und denselben Gebrauch zu verpflichten.
Zitat:
Man könnte vielleicht entsprechend sagen: Bei ein und demselben Satz hat man es bei Mehrdeutigkeit mit verschiedenen "Aussagen" (englisch "statement" ) zu tun. Dann wären nicht Sätze wahr oder falsch, sondern Aussagen, also Sätze mit ihrer bestimmten Bedeutung. Das wäre ein Vorschlag zur Terminologie.
Mir scheint es noch deutlicher zu sein, wenn man hier von "Behauptungen"
spricht.
Man kann nämlich auch Satzbedeutungen formalistisch isolieren - wie das etwa die
Rede von "propositionalen Gehalten" tut. Bei "Behauptungen" dagegen bleibt
bewusst, dass es PERSONEN sind, die etwas tun, indem sie etwas sagen.
Zitat:
Du sagst, dass es sich bei der Wortfolge "Die Sonne scheint" je nach
Situation der Äußerung um verschiedene Sätze handelt, und begründest es damit,
dass die Äußerung dieser Wortfolge eine Handlung darstellt und dass es sich um
zwei verschiedene Handlungen handele.
Das Problem ist jedoch, dass Du dann Handlungen Wahrheitswerte zuschreiben
müsstest.
Nun ja, nicht x-beliebigen Handlungen. Sondern nur Sprechhandlungen, und zwar
solchen Sprechhandlungen, in denen etwas (über die Wirklichkeit) behauptet wird.
Wie unsere Diskussion zeigt, lässt es sich nicht an den isolierten sprachlichen
Formen festmachen, was jeweils damit behauptet wird.
Gruß
H.
- III
- gershwin am Gestern, 06:40 Uhr
Hi Hermeneuticus
Einiges kann ich nicht so recht nachvollziehen, vielleicht kriegen wir raus,
weshalb. Zunächst mal der Vorwurf der unscharfen Begrifflichkeit. Jeder Begriff
ist unscharf, das gilt selbst für so harmlose Wörter wie "Tisch". Du kannst per
Computeranimation beispielsweise einen Tisch (allgemeiner Konsens)
kontinuierlich in einen Nicht-Tisch (allgemeiner Konsens) verwandeln. Dabei
entstehen Zwischenfiguren, über die man streiten könnte, ob Tisch oder nicht. Da
keine partikularen Interessen dahinterstehen, also das gemeinsame Interesse weit
überwiegt, sich konfliktlos über Tische verständigen zu können, wird es hier
keine Diskussionen geben. Bei vielen Wörten kommen eben solche partikularen
(finanzielle, ideologische, politische, religiöse usw.) Interessen ins Spiel,
und da gibt es dann im Bereich der Unschärfen unter Umständen heftige
Streitereien über Begrifflichkeiten. Ich nenne die Gruppe, die sich letztlich
durchsetzt, also bestimmte Sprachspielregelnuancen festlegt, gerne "Definitionsmacht".
Biologische und kulturelle Evolution sind für mein Gefühl allerdings
vergleichsweise trennscharfe Begriffe, sowohl was die zeitliche Dimension (seeeehr
langsam, recht rasch) als auch die materielle Basis der beiden Phänomene
(Erbmaterial; Nervenzellgruppen). Ich denke mal, wie im Falle des Tisches weiß
jeder hinreichend genau, was gemeint ist.
Du hast natürlich recht, biologisch hat sich in den letzten Jahrtausenden nur
sehr wenig getan, wohingegen die kulturelle Evolution sich in diese Zeit
ziemlich rasant vollzog. Dennoch hat sich der Mensch (bisher jedenfalls; ich
bestreite aber nicht, dass das möglich wäre) von der biologischen Evolution
keineswegs abgekoppelt. Wir gehen aufrecht, haben aber immer noch Probleme, weil
die Wirbelsäule noch nicht optimal angepaßt ist. Wir haben immer noch Angst, wir
verlieben uns, werden eifersüchtig und trauern usw. Diese Emotionen sind ein
Produkt der biologischen Evolution und haben maßgeblichen Einfluß auf unser
Handeln. Darum können Kulturen auch nicht beliebige Verhaltensweisen etablieren.
Bei aller Verschiedenheit haben alle menschlichen Gesellschaften doch
erstaunlich viele Gemeinsamkeiten. Ein Anthropologe, mir fällt der Name grad
nicht ein, hat mal eine Liste der kulturellen Universalien erstellt. Ich weiß
nicht, was Du mit "subsumieren" meinst, aber ich denke, es kann kein Zweifel
geben, dass ein Mensch Produkt der biologischen Evolution sowie Kultur ist, in
die er hineingeboren wurde. Das meinte ich mit Ineinandergreifen. Und wenn man,
um nur ein Beispiel zu nennen, liest, wieviele Menschen alleine in Deutschland
jährlich an einer schweren Depression erkranken, erscheint es schon sehr
nützlich, biologische und kulturelle Ursachen dieser Erkrankheit dingfest zu
machen und ihr Ineinandergreifen zu verstehen. Wo ist da der Pfusch?
Zurück zur Wahrheitsdiskussion. Hier meine ich, wirst Du reichlich schwammig,
jedenfalls verstehe ich kaum etwas von der zweiten Hälfte Deines Beitrages. Der
Reihe nach:
Zitat:
Die ET versteht sich als eine erfahrungswissenschaftliche Theorie, die den Anspruch erhebt, WAHR zu sein
Eine solche Formulierung impliziert doch bereits jene merkwürdigen (meiner
Meinung nach aus vordarwinistischen philosophischen Traditionen stammenden: bei
Platon beispielsweise "gab" es irgendwo distinkte Ideen, die wir hier auf der
Erde wiedererkennen können.) "überschwänglichen" :-) Voraussetzungen, die auch
der sonderbaren Frage: Was ist Wahrheit? zugrundeliegen. Es gibt keine Idee der
Tischheit, die einem Objekt zukommt oder nicht und es gibt auch keine Entität
wie Wahrheit, die einer Aussage kontextlos zukommt oder nicht. Dieser Stock ist
2 m lang. Wahr oder nicht? Nachmessen ergibt 2m, also wahr. Genaueres Nachmessen
ergibt 1,998 m, also unwahr. Analoges gilt für fast alle Aussagen. Manche
naturwissenschaftlichen Aussagen machen den verführerischen Eindruck, immer und
unter allen Umständen wahr zu sein. Kannst gerne mal eine anführen, die gucken
wir dann mal genauer an. (Die meisten davon sind meiner Ansicht nach vom Typ:
Ich glaube, diesen Pilz solltest Du nicht essen, weil alle, die ihn bisher
gegessen haben, gestorben sind.)
Zitat:
Die ET versteht sich als eine erfahrungswissenschaftliche Theorie, die den Anspruch erhebt, WAHR zu sein.
Eine Theorie kann natürlich keine Ansprüche erheben. Etwas für wahr halten, ist
vielmehr ein phänomenaler Akt, gegen den man sich gar nicht wehren kann. Bei
diesem Akt spielen neben formalen, "logischen" Ableitungen noch andere,
individuelle und soziale Faktoren eine Rolle, wie man schön an jenen Leuten
erkennt, die immer noch (z. T. trotz Biologiestudiums) für WAHR halten, dass der
Mensch vor 6000 Jahren in einem einmaligen Schöpfungsakt erzeugt wurde. Dabei
ist die ET äußerst trivial, sobald mal die Prinzipien der Genetik (die ja
theoretisch unabhängig von der ET erforschbar wären) und die Zusammenhänge
zwischen Genotyp und Phänotyp sowie die möglichen Auswirkungen von Mutationen
und Rekombinationen so halbwegs erkannt sind: Gene, die häufiger vererbt werden
als andere, finden sich eben in der nächsten Generation häufiger. Da ist fast
schon der Begriff Theorie etwas hoch gegriffen. Die Ausarbeitung der Stammbäume
ist dann noch eine reine Fleißarbeit.
Wissenschaft ist in meinen Augen im Prinzip nichts anderes als Detektivarbeit,
und das ist im Grund auch nichts großartig anderes als das, was beispielsweise
eine Kindergartenschwester oder ein Richter leisten muss, wenn ihnen ein Streit
in verschiedenen Versionen dargelegt wird: Verheddert sich jemand in
Widersprüche? Wie glaubwürdig ist jemand? Läßt sich dieses Detail überprüfen?
usw. Nur arbeiten an dem Fall Wissenschaft viele Detektive gemeinsam und um
möglichst wenig Zeit mit der Verfolgung von falschen Spuren zu verschwenden, hat
man sich ab dem 16. Jh. auf gewisse Regeln geeinigt. Ohne diese Regeln,
verblendet durch Autoritätshörigkeit (obwohl Aristoteles das wohl gar nicht
gewollt hätte) und behindert durch religiöse Dogmen, hat man trotz
jahrtausendelanger Haustierzucht- und Pflanzenzucht nicht erkennen können, was
uns heute so trivial erscheint. d. h. die ET erhebt nicht den Anspruch WAHR zu
sein, sondern sie erscheint vielen von uns einfach wahr, ohne dass wir uns
dagegen wehren könnten. Weil sie eine Unmenge von Daten zu einem kohärenten
Gesamtbild integriert und alle Alternativtheorien diesbezüglich vergleichsweise
schwere Mängel aufweisen.
Zitat:
Aber ist die Wahrheit, die sie als Theorie für sich beansprucht, von derselben Art wie die "Wahrheit", die sie biologisch erklärt? Ist die ET ein ANWENDUNGSFALL ihrer selbst?
Das alte Problem: Der Skeptiker kann alles in Frage stellen, aber seine Skepsis
nicht. Wieso eigentlich nicht? Auch meine Skepsis kann sich doch als falsch
herausstellen?
Ansonsten verstehe ich diese Frage nicht. Die ET erklärt doch nicht biologisch
die "Wahrheit". Denn in ihr kommt erstmal gar keine Entität Wahrheit vor. Wahr
ist nur ein auf eine Aussage bezogenes Zeichen, das signalisiert, dass man sich
auf diese Aussage (und die Folgerungen aus ihr) verlassen kann. Die
Substantivierung von "wahr" zu "Wahrheit" ist eine kleine Verhexung des
Verstandes durch die Grammatik. Wahrheit gibt es wie beispielsweise Grün nicht
isoliert.
Oder etwas anders ausgedrückt: Wir sind uns wohl alle hier einig, dass der späte
Wittgenstein seinen Tractatus mit Recht verworfen hat. Wahrheiten gibt es viele,
und es wird wohl schwer sein, etwas zu finden, was ihnen allen gemeinsam
zukommt. Drum befindet sich der im Fliegenglas, der sich allzutief in die Frage
nach "der Wahrheit" verbohrt.
Die Evolutionäre Erkenntnistheorie, wenn ich es richtig verstanden habe, geht
lediglich davon aus, dass unsere geistigen Fähigkeiten ebenso das Produkt von
Mutation und Selektion sind wie unsere körperlichen. Demnach wäre es geradezu
erstaunlich, wenn wir zu endgültig wahren Aussagen gelangen könnten. Es reicht
völlig aus, wenn die Verarbeitung von Input so erfolgt, dass der Output es
ermöglicht Kinder großzuziehen. Philosophie wäre somit eine Anwendung von
Fähigkeiten auf Probleme, zu deren Lösung diese nicht geschaffen wurden. Ich
spiele z. B. öfters Tischtennis als dass ich mir über (allgemeine, abstrakte)
WAHRHEIT den Kopf zerbreche, obwohl sich die menschliche Hand sicherlich nicht
entwickelt hat, um einen kleinen Zelluloidball hin und her zu schlagen. :-)
Zitat:
Dann wäre die ET nur eine Aussendung von Signalen mithilfe reflexhafter
Körperbewegungen zu den und den biologischen Zwecken... Und statt den
BEGRÜNDUNGSVERFAHREN, die diese Signale in den Rang einer wahren Theorie
erheben, allzu viel Beachtung zu schenken, warten wir einfach mal ab, ob sich
ihre Vertreter im Kampf ums Dasein bewähren. Überleben sie, muss an der Theorie
was dran gewesen sein; sterben sie aus, war sie Schrott...
Aber so argumentiert natürlich kein Biologe.
Je nachdem wie der erste Satz gemeint ist, argumentiert so vielleicht doch ein
Biologe. Der Teil nach den Pünktchen ist natürlich Unsinn, da sind wir uns
einig, denn Überleben und Aussterben sind ja keine monokausalen Ereignisse. Ich
meine halt nach wie vor, dass Sprache auch nichts prinzipiell anderes ist als
die restliche Motorik. Auch die hat Theorien, wenn man so will: Für eine
intendierte Bewegung werden die Inputs auf bestimmte (z. T. ererbte, z. T.
erlernte) Weise zu einem Output verrechnet. Ist die Theorie falsch bzw. für eine
bestimmte Situation unvollständig, fällt der Affe vom Baum und hat keine
Nachkommen. Dennoch kann es passieren, dass die besten Kletterer aussterben und
die Stümper überleben, vielleicht weil sie am Boden bleiben. Wenn ich bedenke,
was eine Katze alles NICHT kann und welche Zusammenhänge sie alle NICHT kapiert!
Dennoch haben Katzen bis heute überlebt und die Neanderthaler mit den nach
wissenschaftlichen Kriterien sicherlich besseren Theorien sind weg.
Zitat:
Kurz: Die evolutionsbiologische "Erkenntnistheorie" gilt nur, wenn ihre Vertreter von ihr ausgenommen bleiben.
Das verstehe ich nicht. Könntest Du das noch mal etwas ausführlicher begründen?
Freundliche Grüße
Thomas
- III
- Eberhard am Gestern, 06:47 Uhr
Hallo allerseits,
ich glaube, wir sind uns einig darüber, dass Sätze als nach grammatischen Regeln
geordnete Folge von Wörtern verschiedene Bedeutungen haben können, und dass sie
in der einen Bedeutung wahr sein können und in der anderen falsch.
Wenn derselbe Satz jedoch zugleich wahr und falsch ist, kann er keine Frage mehr
beantworten. Wenn der Satz "Heute hat es geregnet" zugleich wahr ist (In
Stuttgart hat es heute geregnet) und falsch (in Leipzig hat es heute nicht
geregnet) lautet die Antwort auf die Frage: "Hat es heute geregnet?" "Ja und
nein".
Wir sollten deshalb nicht den Sätzen im engeren Sinne (den Folgen von
Wörtern) Wahrheitswerte zuschreiben, sondern Sätzen verbunden mit bestimmten
Bedeutungen. Hermeneuticus hat hierfür als Bezeichnung "Behauptung"
vorgeschlagen.
In dieser Terminologie hieße unser Thema jetzt: "Was meinen wir, wenn wir
eine Behauptung als 'wahr' bezeichnen?" Dabei beschränken wir uns auf solche
Behauptungen, die aussagen, wie die Welt (als Gesamtheit alles Wirklichen)
beschaffen ist.
Einverstanden?
fragt Euch Eberhard.
- III
- gershwin am Gestern, 06:50 Uhr
Hi Eberhard
Du hast Recht, aber das hatte ich in meinem ersten Beitrag doch angeschnitten.
Die Zuschreibung "wahr" ist NUR DESHALB nötig, weil wir als soziale Wesen mit
Irrtum oder Betrug rechnen müssen. Mir erscheint auch die Frage: "Was ist
Unwahrheit?" viel sinnvoller als die nach der Wahrheit, aber damit verliert sie
natürlich ein wenig an Suggestivkraft und Erhabenheit (die Frage meine ich).
Du fragst nach einem Kriterium für den Geltungsanspruch. Meinst Du damit eine
Art Algorithmus? Oder befriedigt Dich folgende Antwort: Die Aussage: "Schnee ist
weiß" ist dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist. :-)
Es sieht nicht so aus, als ob man sich jemals auf allgemein anerkannte Kriterien
einigen könnte. Einer der Gründe: Weil es in diesem Fall wohl niemals eine
Definitionsmacht geben wird, die ihre Ansprüche durchsetzen kann. Mir
beispielsweise erscheinen so ziemlich alle Aussagen im Zusammenhang mit
Offenbarungsreligionen schwachsinnig, anderen sind sie umgekehrt die tiefste
Wahrheit. Da erscheint eine Verständigung unmöglich.
Wissenschaftler unter sich haben es da leichter, weil sie sich auf Verfahren
geeinigt haben, die Wahr-Zuschreibung zu vergeben. Und bei der Wahl dieser
Verfahren ging man rein pragmatisch vor. (Gäbe es einen Hellseher, dessen
Vorhersagen immer eintreffen, würde man irgendwann einmal auch seinen Aussagen
das Attribut wahr zuschreiben.) Aber obwohl Wissenschaftler ja in erster Linie
ein gemeinsames Ziel verfolgen, wirken auch hier mehr oder weniger mächtig
Partikularinteressen. Interessant sind z. B. die z. T. stark divergierenden
Ratschläge von ausgewiesenen Ernährungsfachleuten bei gleichem Zugang zu
mittlerweile riesigen Datenmengen.
Drum könnte man es auch so sagen: Wer eine Aussage als wahr bezeichnet, hat
entweder konkrete Gründe dafür (die vielschichtiger Natur sein können) oder
schlicht keine interessante Alternative, die ihn veranlassen könnte, die Aussage
in Frage zu stellen.
Freundliche Grüße
Thomas
- III
- jacopo_belbo am Gestern, 08:19 Uhr
hallo alle zusammen :)
es hat sich ja doch einiges getan in letzter zeit.
ich hoffe, ich kann das noch aufarbeiten *g*
ich fange zunächsteinmal, weils mir am einfachsten erscheint, hinten an.
@gershwin
du schreibst
Zitat:
Die Zuschreibung "wahr" ist NUR DESHALB nötig, weil wir als soziale Wesen mit Irrtum oder Betrug rechnen müssen. Mir erscheint auch die Frage: "Was ist Unwahrheit?" viel sinnvoller als die nach der Wahrheit, aber damit verliert sie natürlich ein wenig an Suggestivkraft und Erhabenheit (die Frage meine ich).
damit sprichst du in meinen augen nur einen begrenzeten bereich für die
verwendung von des wortes "wahr" an. es ist die, wie ich schon einige beiträge
vorher erläutert habe, persuasive verwendung. indem ich etwas als wahr
deklariere, bezwecke ich, mein gegenüber zu einer gewissen handlung zu
veranlassen. in dem fall fällt die behandlung der frage, was wahrheit ist, unter
die ideologiekritik. wahr ist, was jemand für wahr hält, und wovon er
andere zu überzeugen versucht.
Zitat:
Die Aussage: "Schnee ist weiß" ist dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist.
das ist eine zuverlässige definition für wahrheit. und ich denke, dass wir
uns in jedem falle auf sie berufen können.
Zitat:
Wer eine Aussage als wahr bezeichnet, hat entweder konkrete Gründe dafür (die vielschichtiger Natur sein können) oder schlicht keine interessante Alternative, die ihn veranlassen könnte, die Aussage in Frage zu stellen.
aus rhetorischer sicht stimme ich dem zu.
an anderer stelle schreibst du
Zitat:
Wir sind uns wohl alle hier einig, dass der späte Wittgenstein seinen Tractatus mit Recht verworfen hat. Wahrheiten gibt es viele, und es wird wohl schwer sein, etwas zu finden, was ihnen allen gemeinsam zukommt. Drum befindet sich der im Fliegenglas, der sich allzutief in die Frage nach "der Wahrheit" verbohrt.
ob der späte wittgenstein seinen "tractatus" verworfen hat, ist
gegenstand von fachdiskussionen - und ich glaube nicht eindeutig zu beantworten.
ein wirkliches problem habe ich mit deiner formulierung "wahrheiten gibt es
viele". wenn du damit meinst, dass es viele arten von wahren sätzen gibt, so
stimme ich dem zu. aber wieso sollte es viele wahrheiten geben. wenn ich sage, "ich habe mir neue schuhe gekauft", so denke ich ist das -im falle, dass ich
nicht gelogen habe- ein wahrer satz. und dieser satz ist auch entscheidbar
wahr oder falsch. und ich wüßte nicht, inwiefern ich mich auf mehrere
wahrheiten beziehe, als auf die eine, nämlich, dass ich schuhe gekauft habe.
wahre sätze gibt es viele. und meinungen, die leute für wahr halten sind
zahllos - dagegen gibts nur einmal.
Zitat:
Demnach wäre es geradezu erstaunlich, wenn wir zu endgültig wahren Aussagen gelangen könnten.
ich denke, da machst du es dir ein wenig zu einfach.
wir sollten unterscheiden zwischen der wahrheit und der meinung über einen
sachverhalt, er sei wahr. wenn wir davon ausgehen, dass sich e.g.
naturwissenschaftliche theorien als falsch erweisen -dass sie fallibel sind- läßt
das keinen Schluss darauf zu, sie seien niemals wahr. schlimmstenfalls sind sie
wahr, und wir wissen es nicht :)
@eberhard
Zitat:
Wenn derselbe Satz jedoch zugleich wahr und falsch ist, kann er keine Frage mehr beantworten. Wenn der Satz "Heute hat es geregnet" zugleich wahr ist (In Stuttgart hat es heute geregnet) und falsch (in Leipzig hat es heute nicht geregnet) lautet die Antwort auf die Frage: "Hat es heute geregnet?" "Ja und nein".
ich denke nicht, dass es so ist, wie du es darstellst.
wenn mich jemand fragt, "hat es heute geregnet?", so werde ich entweder mit ja
oder nein antworten - gehen wir einmal vom affirmativen fall aus. wann wird
dieser satz wahr? nur dann, wenn es heute geregnet hat. unabhängig davon, ob es
in stuttgart geregnet hat, und in kairo nicht. das was der satz aussagt trifft
zu.
der satz ist -auch in seiner allgemeinheit- entscheidbar.
fragt mich jemand, ob es heute hier geregnet hat, so kann auch dieser satz
eindeutig entschieden werden. denn entweder es hat heute hier geregnet, oder
nicht.
wenn wir den satz außerhalb jeglichen kontextes betrachten kommen wir dazu, dass
der satz "heute hat es geregnet" an einem tag affirmativ beantwortet wird - und
deshalb wahr ist, oder dass er negativ beantwortet wird, und deshalb falsch ist.
ich sehe keine probleme in der behandlung dieser sätze.
zur terminologie:
im allgemeinen bezieht man sich auf "aussagesätze", "satzaussagen" bzw. "propositionen".
ich bin stillschwiegend davon ausgegangen, dass wir uns bei "sätzen" per
synekdoche auf aussagesätze beziehen.
@hermeneuticus
Zitat:
Das PROBLEM der intertemporalen Geltung von Behauptungen stellt sich wohl nur in Begründungsdiksursen, und nur dann, wenn mit solchen Behauptungen auch tatsächlich intertemporale Geltungs-ANSRPÜCHE verknüpft sind. Das ist etwa bei Prognosen so.
meine rede :]
wenn ich davon rede, dass die sonne scheint, rede ich davon das die sonne
scheint. wenn ich davon rede, dass die sonne heute scheint rede ich
davon, dass die sonne heute scheint. und ich meine stets das, was ich sage, und
nichts anderes.
Zitat:
Der Gebrauch des Wortes "wahr" ist eben "eine Familie von Fällen". Es besteht kein Grund, die ganze Familie auf ein und denselben Gebrauch zu verpflichten.
sic!
- mfg thomas
- III
- Eberhard am Gestern, 10:17 Uhr
Hallo allerseits,
warum stelle ich die Frage, ob eine Behauptung über die Welt wahr ist?
Nehmen wir ein Beispiel. Ich will nach A-Dorf wandern. Auf dem Weg dahin komme
ich an eine Wegegabelung. (Der Wegweiser ist von unangenehmen Zeitgenossen
zerstört worden.) Soll ich nun den linken Weg gehen oder den rechten Weg? Wenn
ich bloß wüsste, welcher Weg (direkt) nach A-Dorf führt.
Ich frage einen vorbeikommenden Wanderer und bekomme zur Antwort: "Der linke Weg
führt nach A-Dorf". Zur Sicherheit frage ich noch einen zweiten Wanderer. Der
sagt: "Der rechte Weg führt nach A-Dorf." Welche der beiden Behauptungen ist nun
wahr?
(Wenn ein dritter Wanderer auf meine Frage antworten würde: "Der linke
Weg führt nach A-Dorf oder auch nicht", dann wäre diese Behauptung zwar wahr,
würde aber meine Frage nicht beantworten können, da sie keinerlei Informationen
über die Welt enthält und mit jeder beliebigen Beschaffenheit der Welt vereinbar
wäre. Wir suchen also nicht wahre Behauptungen als solche, sondern wahre
Behauptungen als richtige Antworten auf die Fragen, die uns wichtig sind.)
Wenn ich weiß, welche der beiden Behauptungen über den Weg nach A-Dorf wahr ist,
dann kann ich mein Ziel A-Dorf bis zum Hereinbrechen der Dunkelheit erreichen
und kann vermeiden, nach langen Umwegen spät in der Nacht dort anzukommen.
Allgemein formuliert: Wenn ich meinem Denken und Handeln wahre Behauptungen
zugrunde lege, kann ich eher das verwirklichen, was ich will und das vermeiden,
was ich nicht will.
Wenn ich weiß, welche Behauptung wahr ist, dann kenne ich die Folgen meiner
Handlungen und Unterlassungen, ich weiß, "was mich erwartet", ich werde von den
eintretenden Ereignissen nicht überrascht. Wenn ich meinem Handeln und
Unterlassen wahre Behauptungen zugrunde lege, dann kann ich mich auf diese
insofern verlassen, als es keinen Grund gibt, sie durch andere Behauptungen zu
ersetzen, sie "bewähren" sich, sie sind über die Zeit (intertemporal) stabil.
Es lohnt sich also, wahre von falschen Behauptungen unterscheiden zu können. Die
Frage nach dem Kriterium für die Wahrheit von Behauptungen über die Welt ist
kein philosophisches Glasperlenspiel.
Als allerletztes noch ein Beispiel zum Verhältnis von Wahrheit und Handeln. Ein
Physiker sieht über der Haustür seines Kollegen ein angenageltes Hufeisen. Er
fragt erstaunt: "Ja glaubst Du denn an den Aberglauben, dass ein Hufeisen Glück
bringt?" Der Kollege antwortet: "Wenn es wahr ist, dass ein Hufeisen Glück
bringt, dann ist es doch in Ordnung, wenn es nicht wahr ist, dann schadet es
auch nichts."
Es grüßt Euch Eberhard.
- III
- jacopo_belbo am Gestern, 11:53 Uhr
hallo,
Zitat:
Es lohnt sich also, wahre von falschen Behauptungen unterscheiden zu können. Die Frage nach dem Kriterium für die Wahrheit von Behauptungen über die Welt ist kein philosophisches Glasperlenspiel.
umgekehrt stellt sich die frage, ob a) skeptizismus ein philosophisches
glasperlenspiel ist bzw. b) ob "wahrheitspluralismus" nicht am eigentlichen
thema vorbeigeht.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am Gestern, 12:57 Uhr
Hallo Thomas/g!
Deine Antwort auf den Vorwurf der unscharfen Trennung von "biologischer" und "kultureller" Evolution geht auf mein Argument nicht ein.
Ich verwies darauf, dass Menschen das Prinzip der natürlichen Selektion mithilfe
technischer Errungenschaften für sich außer Kraft setzen. Technik setzt sie in
den Stand, Umwelteinflüsse zu entschärfen oder zu beherrschen, die unbeherrscht
zu ihrem Aussterben führen würden. Diese Naturbeherrschung geht inzwischen so
weit, dass wir an vielen Orten der Welt in einer "künstlichen" Umwelt leben, in
der Lebensgefahr fast nur noch von Menschen und menschlicher Technik ausgeht.
Eine Evolution aber, in der das Prinzip der natürlichen Selektion nicht wirkt,
kann schlecht als eine - leicht modifizierte - Verlängerung der biologischen
Evolution betrachtet werden.
Denn die beiden tragenden Prinzipien der biologischen Evolution sind (zufällige,
also nicht zielgerichtete) Mutation und Selektion. Nun ist Technik einerseits
kein Produkt von ziellosen Regungen (wie es Mutationen sind), sondern von
zweckmäßiger, zielgerichteter Konstruktion. Und zugleich ist die Beherrschung
von schädlichen - also "natürlich selektiven" - Umwelteinflüssen ein wichtiger,
von Menschen gesetzter Zweck von Technik.
Mir ist schwer begreiflich, wie man dieses, der biologischen Evolution geradezu
entgegengesetzte Prinzip der Technik (oder Kultur) quasi als einen
Sonderfall von biologischer Evolution glaubt angemessen verstehen zu können.
Dazu bedarf es entweder erheblicher Begriffsverbiegungen oder eines
willkürlich-selektiven Blicks auf die Fakten (um es freundlich zu sagen...).
Zitat:
Eine solche Formulierung impliziert doch...
Nein, sie impliziert ganz einfach, dass wissenschaftliche Aussagen nicht darauf
verzichten können, zwischen "wahr" und "unwahr" zu unterscheiden und diesen
Unterschied nachvollziehbar zu begründen.
Gibt es zwischen den folgenden Behauptungen einen relevanten Unterschied, der
keine Frage des persönlichen Geschmacks, der emotionalen Gestimmtheit oder
anders motivierten Beliebens ist? Kann man verbindlich feststellen und
begründen, welche von diesen beiden Aussagen Teil eines biologischen Lehrbuchs
sein könnte und welche nicht?
a) Darwins Abstammungslehre bestätigte empirisch den biblischen
Schöpfungsbericht.
b) Darwins Abstammungslehre erwies empirisch, dass der biblische
Schöpfungsbericht nur ein Mythos ist.
Wenn Du meinst, es gebe keine verbindlichen, das heißt: NACHVOLLZIEHABREN
Kriterien für eine Bantwortung der Frage, dann lohnt sich unsere weitere
Diskussion nicht.
Aber ich denke doch, dass Du, als Anhänger der ET, Aussage a) als eindeutig
falsch zurückweisen wirst. Und wenn Du Dich darauf besinnst, welcher Art die
Kriterien und Gründe Deines Urteils sind, dann hast Du auch einen (Vor-)Begriff
von "wissenschaftlicher Wahrheit".
Und dann frage Dich, ob DIESER Wahrheitsbegriff derselbe ist, den Du in Deinem
Eröffnungsbeitrag vorgestellt hast.
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am Gestern, 13:52 Uhr
hi,
über den punkt, dass menschliche sprache im verhältnis zu anderen
kommunikationssystemen in der natur, ein überaus elaborierter code ist, brauchen
wir, denke ich, nicht zu diskutieren. und das "wahrheit" ein wort unter vielen
anderen ist, dürfte auch klar sein. allerdings unterhalten wir uns über die
semantik bzw. die pragmatik.
bevor wir fortfahren uns mit der evolutionstheorie und
Zitat:
eine (an der ET orientierte) pragmatische Bedeutungstheorie.
auseinanderzusetzen, sollten wir die thematik ein wenig zuspitzen:
was sagt uns konkret eine an der ET ausgerichtete erkenntnistheorie über
wahrheit? was ist für den evolotionstheoretiker wahrheit? ist es das für das
überleben nützliche? und wenn ja, woran erkennt man, dass etwas in der gegenwart
für das überleben nützlich ist?
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am Gestern, 14:48 Uhr
Hallo Eberhard!
Auf die Gefahr hin, als Querulant zu erscheinen, möchte ich doch einen Einwand
gegen Deine Formulierung des Themas erheben... :-)
Zitat:
In dieser Terminologie hieße unser Thema jetzt: "Was meinen wir, wenn wir eine Behauptung als 'wahr' bezeichnen?" Dabei beschränken wir uns auf solche Behauptungen, die aussagen, wie die Welt (als Gesamtheit alles Wirklichen) beschaffen ist.
Was mich hier stört - und was mich eigentlich seit meinem Eintritt in diese
Diskussion (am 25.9.) gestört hat - ist der Umstand, dass Du "die Welt" oder "die Beschaffenheit der Welt" immer schon in der Formulierung der Wahrheitsfrage
voraussetzt. Genauer: Behauptungen/Aussagen sind in Deiner Formulierung schon
vorsortiert; es muss schon gewusst werden, von welcher Art Behauptungen
sind, die sich auf "die Welt" oder "die Wirklichkeit" und ihre Beschaffenheit
beziehen und welche nicht.
Mir scheint es aber eine nicht-triviale Frage zu sein, woher man das ALLGEMEIN
wissen kann.
Was macht, dass eine bestimmte Behauptung sich auf die Wirklichkeit
bezieht - statt nur von Wortbedeutungen oder persönlichen Wünschen oder
Ansichten oder Vorlieben zu sprechen?
Ist es nicht vielmehr so, dass es von der Wahrheit einer Behauptung - d. h. von
der Erfüllung irgendwie bestimmbarer Kriterien ABHÄNGT, ob sie sich auf "die
Welt" bezieht oder nur auf die individuellen Ansichten ihres Sprechers?
Denken wir an den Fall, dass jemand eine bestimmte Behauptung über die
Wirklichkeit als "wahr" voraussetzt. Nun stößt ihm eine Erfahrung zu, die diese "Übereinstimmung der Behauptung mit der Wirklichkeit" widerlegt. Klar, es stellt
sich heraus, seine Annahme war falsch. Aber das bedeutet ja, dass es gar
keine Aussage über die Wirklichkeit war. Die Konfrontation dieser Behauptung
mit einer neuen Erfahrung biegt diese Behauptung gewissermaßen zurück: Es
handelte sich nur um die Äußerung einer persönlichen Ansicht. Obwohl also die
Aussage auf die Wirklichkeit "zielte", verweist die Konfrontation mit der neuen
Erfahrung diese Aussage an den Sprecher zurück.
Lässt es sich also im voraus entscheiden, was eine Aussage über die Wirklichkeit
ist? Oder lässt sich im voraus nur entscheiden, wann eine Aussage auf die
Wirklichkeit "zielt" - wobei noch offen bleibt, ob sie ihr Ziel auch erreicht?
Und: Hängt es nicht von der Erfüllung bestimmter Kriterien ab - der
Wahrheitskriterien nämlich -, ob eine auf die Wirklichkeit zielende Behauptung
dieses Ziel auch erreicht?
Wenn es sich aber so verhielte, dann wäre "die Gesamtheit alles Wirklichen" ein
PROBLEMATISCHER Begriff, dessen Referenten man nicht als bekannt oder gegeben
voraussetzen kann. Vielmehr müsste man sagen, dass "die Gesamtheit alles
Wirklichen" jener Wissensbestand sei, der den (bzw. einer bestimmten Art von)
Wahrheitskriterien standgehalten hat.
Zur Frage, ob man einer Behauptung IM VORAUS ansehen kann, ob sie eine
Behauptung über die Wirklichkeit ist, dieses Beispiel, das ich früher schon
einmal angeführt habe: "Wasser kocht bei 100 Grad C."
Ist das eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit?
Gruß
H.
- III
- gershwin am Gestern, 15:28 Uhr
Hi der Thomas
Du sagst: "Ich habe mir neue Schuhe gekauft. Und das ist die Wahrheit."
Sprache ist ja nur als soziales Phänomen zu verstehen. Allein für Dich selbst
würde der Zusatz ja gar keinen Sinn machen. Sprache ist ein Medium, mit dessen
Hilfe wir uns gegenseitig Erfahrungen mitteilen können, so dass wir evt.
tödliche Fehler von Artgenossen vermeiden können, etwa einen giftigen Pilz
essen. Nun müssen wir uns in der Evolution
1. nicht nur gemeinsam als Art gegen eine feindliche Umwelt behaupten. Hier ist
Sprache quasi eine Waffe für uns alle: etwa wenn mir ein Artgenosse mitteilt: B
meinte grad folgendes, aber das ist ein Irrtum (also die Unwahrheit) weil... Wir
können so also, nach einem berühmten Popper-Wort, unsere Hypothesen sterben
lassen, statt uns selbst.
2. sondern auch im Kampf gegen Artgenossen. Hier kommt die Lüge ins Spiel ...und
ein verbündeter Artgenosse, der mir mitteilt: B meinte grad folgendes, aber er
lügt (sagt die Unwahrheit), paß auf...
Also: Du als Sprecher weißt natürlich, dass es die Wahrheit ist, dass Du Dir
neue Schuhe gekauft hast (völlig abgedrehte Einwände mit einem Dämon, der Dich
täuscht, der Möglichkeit, dass Du das geträumt hast oder so was lassen wir mal
außen vor). Aber ich kann das nicht wissen. Vielleicht hast Du sie geklaut
(nichts für ungut. :-)) Da kann es schon nützlich für mich sein, wenn mich ein
Dritter warnt mit der Bemerkung: Paß auf, er lügt (spricht die Unwahrheit).
Ich bin jetzt mal ne Woche weg, versuche aber, von nem anderen PC aus auf die
anderen Beiträge einzugehen.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas
- III
- Hermeneuticus am Gestern, 15:56 Uhr
Hallo Thomas/j!
Vor allem die letzte dieser Fragen ist eine "gute Frage" :
Zitat:
was ist für den evolutionstheoretiker wahrheit? ist es das für das überleben nützliche? und wenn ja, woran erkennt man, dass etwas in der gegenwart für das überleben nützlich ist?
Denn beim Suchen nach einer Antwort darauf wird deutlich, dass über die Wahrheit
von wissenschaftlichen Theorien nicht so ohne weiteres anhand dieses Kriteriums
entschieden werden kann. Man wird, da wir die Zukunft nur in Hypothesen
antizipieren können, einstweilen andere Kriterien brauchen, um über die Wahrheit
von Behauptungen HIER UND JETZT entscheiden zu können.
Außerdem: Es gibt heute noch Kulturen, die über kein Wissen verfügen, das nur
entfernt wissenschaftlichen Standards genügte. Nehmen wir etwa die "Buschmänner"
der Kalahari oder gewisse Dschungelkulturen in Afrika und Südamerika. Ihr Wissen
muss zum Überleben durch Jahrzehntausende vollauf genügt haben, sonst gäbe es
sie gar nicht mehr. Und da fragt es sich, ob wissenschaftliches Wissen im Sinne
der europäischen Neuzeit, evolutionsbiologisch gesehen, nicht ein reiner Luxus
ist.
Aus dieser Überlegung wird erkennbar: Biologische Kriterien sind untauglich, um
INNERKULTURELL über "wahr" und "unwahr" zu entscheiden. Und sie sind erst recht
untauglich, um damit über Wahrheit im transkulturellen Vergleich zu entscheiden.
Denn jede Kultur, die heute noch existiert, hat MIT IHREN MITTELN überlebt. (Bei
den untergegangenen Kulturen wäre zu fragen, ob ihre Überlebenstechniken an der
Natur gescheitert sind oder am Kontakt mit anderen Kulturen.)
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am Gestern, 16:08 Uhr
hallo miteinand' ;)
@gershwin
ich hoffe, du machst ne woche urlaub *g*
Zitat:
Du als Sprecher weißt natürlich, dass es die Wahrheit ist, dass Du Dir neue Schuhe gekauft hast
damit sehen wir uns der problematik gegenüber, die ich in meinen vorigen
beiträgen angesprochen habe:
wir haben eine wahrheit, und viele aussagen. manche sind wahr, manche nicht. und
wenn ich von der wahrheit weiß, versuche ich mein gegenüber davon zu überzeugen
- das hat aber mit der eigentlichen wahrheit nichts zu tun.
@hermeneuticus
Zitat:
Was macht, dass eine bestimmte Behauptung sich auf die Wirklichkeit bezieht
ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit bezieht sich auf die
beschaffenheit der wirklichkeit. ein satz der ethik bezieht sich auf eine
bewertung der wirklichkeit.
Zitat:
es muss schon gewusst werden, von welcher Art Behauptungen sind, die sich auf "die Welt" oder "die Wirklichkeit" und ihre Beschaffenheit beziehen und welche nicht.
er sich mit mathematischen sätzen beschäftigt, muss von vornherein wissen, ob ein
satz ein mathematischer ist, oder nicht.
Zitat:
Klar, es stellt sich heraus, seine Annahme war falsch. Aber das bedeutet ja, dass es gar keine Aussage über die Wirklichkeit war.
nicht das kind mit dem bade ausschütten :]
nach wie vor ist es ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit - aber
eben ein falscher (ähnlich: "die zahl der planeten in unserem sonnensystem ist
11" ).
Zitat:
" Wasser kocht bei 100 Grad C."
Ist das eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit?
aber sicher doch. warum denn nicht? ob er immer zutrifft,hängt - wie du auch
schon angedeutet hast, von vielen kriterien (reinheit des wassers, luftdruck
etc.) ab. nur weil ein satz falsch ist, bezieht er sich dennoch auf die
wirklichkeit.
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am Gestern, 16:55 Uhr
Hallo Thomas/j!
Zitat:
ein satz über die beschaffenheit der wirklichkeit bezieht sich auf die beschaffenheit wirklichkeit. ein satz der ethik bezieht sich auf eine bewertung der wirklichkeit.
Dein erster Satz ist eine Tautologie, wenn Du - im Sinne einer
erkenntniskritischen Rekonstruktion - keine allgemeinen Kriterien für "Beschaffenheit der Wirklichkeit" angibst.
Eine erkenntniskritische Rekonstruktion klärt, wie Wissen über die
Beschaffenheit der Wirklichkeit ÜBERHAUPT möglich ist.
Vor die Frage gestellt, wieso Du von der Wirklichkeit überhaupt etwas wissen
kannst, ist es keine Antwort, wenn Du sagst: "Weil ich es eben kann."
Was bedeutet es (für Aussagen): "sich auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit
BEZIEHEN" ?
Gruß
H.
- III
- jacopo_belbo am Gestern, 17:23 Uhr
hallo hermeneuticus,
Zitat:
Vor die Frage gestellt, wieso Du von der Wirklichkeit überhaupt etwas wissen kannst, ist es keine Antwort, wenn Du sagst: "Weil ich es eben kann."
genau so sieht es aber aus; und ich dachte, das sei unter hermeneutikern keine
neuigkeit mehr.
wenn wir fragen, warum wir sehen können, so können wir antworten, dass wir mit
unseren augen sehen. wir können erklären, wie unser auge beschaffen ist, wie
unsere umwelt beschaffen ist; das alles läßt sich auch subsummieren unter "weil
ich es eben kann".
das nennt man -nach gadamer/mit heidegger- einen hermeneutischen zirkel.
wir können sätze über die welt formulieren, weil wir eben dazu in der lage sind.
die zeiten einer transzendentalen deduktion sind vorbei :]
Zitat:
Dein erster Satz ist eine Tautologie, wenn Du - im Sinne einer erkenntniskritischen Rekonstruktion - keine allgemeinen Kriterien für "Beschaffenheit der Wirklichkeit" angibst.
wahre sätze über die wirklichkeit handeln davon, was der fall ist. das ist
weniger eine tautologie als vielmehr eine deflationistische definition.
welche kriterien würdest du denn ansetzen, um zu rekonstruieren, was sätze über
die beschaffenheit der wirklichkeit aussagen? ich meine, die formulierung ist
genauso tautologisch wie die, dass mathematische sätze von mathematischen
sachverhalten handeln.
Zitat:
Was bedeutet es (für Aussagen): "sich auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit BEZIEHEN" ?
dass sie uns z. B. über die materialen eigenschaften der welt aufSchluss geben.
zufrieden?
- mfg thomas
- III
- Hermeneuticus am Heute, 00:38 Uhr
Hallo Thomas!
on 11/29/04 um 17:23:38, jacopo_belbo wrote:
das nennt man -nach gadamer/mit heidegger- einen hermeneutischen zirkel.
Da sitzt Du einem Missverständnis auf.
Zitat:
wir können sätze über die welt formulieren, weil wir eben dazu in der lage sind. die zeiten einer transzendentalen deduktion sind vorbei.
Wenn Du dazu übergehst, einfach hoheitlich zu bestimmen, was der Fall ist,
erübrigt sich eine philosophische Diskussion, in der es um rationale, d. h.
nachvollziehbare Begründungen geht.
Zitat:
wahre sätze über die wirklichkeit handeln davon, was der fall ist. das ist weniger eine tautologie als vielmehr eine deflationistische definition.
Was eine "deflationistische Wirtschaftspolitik" ist, bringe ich vielleicht noch
zusammen. Bei einer ebensolchen Definition muss ich passen.
Wer stellt übrigens verbindlich fest, was "der Fall ist" ?
Zitat:
dass sie uns z. B. über die materialen eigenschaften der welt aufSchluss geben. zufrieden?
Es geht nicht darum, ob ich zufrieden mit Dir bin. :-)
Mich würde aber interessieren, ob Du als denkendes, handelndes Wesen in Deinem
eigenen Weltbild unterzubringen bist. Nach einigen Deiner bisherigen Auskünfte
scheint das nicht so zu sein. Und das ist typisch für "naturalistische"
Weltbilder: Die Personen, die solche Weltbilder entwerfen und begründen,
erklären sich selbst zu extramundanen Wesen. Sie können als das, was sie - ihren
Handlungen nach - unmittelbar sind, kein "Fall" in ihrer Welt sein.
Du musst es ja nicht genauso sehen (ja, Du scheinst, Deinem Diskussionsverhalten
nach, regelrecht BESCHLOSSEN zu haben, solche Argumente gar nicht erst zu
verstehen...) - aber ich sehe darin eine schwerwiegende Inkonsistenz. Eine
Inkonsistenz, wenn Du mir diesen Ausrutscher ins Psychologische gestattest, die
einen gewissen touch von heroischer Selbstverleugnung, von männlichem Vorsatz
zum "nüchternen Realismus" hat... Die Welt der Naturwissenschaft ist halt nix
für softies...
Aber das ist natürlich kein Argument. :-)
Gruß
H.
- III
- Dyade am Heute, 09:02 Uhr
... das grünblaue Heideluftstielzchen ist eine kleine Wiesenpflanze, die nur
im Herbst blüht. Das besondere am grünblauen Heideluftstielzchen ist:
es hat einen grünblauen Stiel
blauleuchtende Blätter mit feiner Aderung
einen weißen Blüthenkelch
bemerkenswert ist, das das grünblaue Heideluftstielzchen noch nie von einem
menschlichen Auge erblickt wurde. Immer wenn wir es sehen, verwandelt es sich in
eine normale Butterblume ...
- III
- jacopo_belbo am Heute, 09:58 Uhr
hallo hermeneuticus,
schön, dass du mich darüber informierst, dass ich einem "missverständnis
aufgesessen bin", aber leider nicht erklärst, worin dieses missverständnis
besteht.
es wäre wenig sinnvoll jetzt in die tiefen der heideggerschen daseinshermeneutik
einzusteigen, und uns gadamers "hermeneutischen" zirkel in extensio zu widmen.
aber ich denke, wir können festhalten, dass die grundverfassung von heideggers "dasein"
im "in-der-welt" sein besteht, und gadamers hermeneutischer zirkel darauf
beruht, dass bei jedem verstehen unser vorverständnis eine wichtige rolle
spielt.
angewandt auf unser problem:
wir stehen schon je in verbindung mit der welt, wir sind vertraut mit ihr, weil
wir ein teil von ihr sind. ob wir das nun biologistisch/naturalistisch oder
philosophisch/hermeneutisch betrachten ist dabei nebensache. das subjekt ist als
subjekt teil der objektiven welt.
dass das dem grundgedanken kants widerspricht, der seine philosophie im
transzendentalen subjekt verankert, das quasi über die welt erhaben ist,
mag sein. aber das ist eine wende in der philosophie, die man nicht unbeachtet
lassen sollte.
wir können die welt nicht aus einem (absoluten) subjekt heraus begründen, ohne
uns in widersprüche zu verwickeln. wir sind immer schon -ich werde einmal ein
wenig heideggerianisch- befangen in unserem verständnis von der welt. wir
bringen schon ein gewisses vorverständnis mit. wir sind - mit maurice
merleau-ponty - immer schon "zur welt" angelegt. dieser zirkel ist grundlage
unseres weltverständnisses. an die stelle des zirkels kann keine sinnvolle
begründung treten. deshalb sagte ich auch, dass wir sätze über die welt
formulieren können, eben weil wir dazu in der lage sind.
und das ist auch keine "hoheitliche" bestimmung, sondern das ist eine
tatsache oder sagen wir besser, das ist -mit heidegger- unser "geworfensein"
unsere" faktizität".
es ist erstaunlich, dass du dich als hermeneuticus so wenig auf die
hermeneutische tradition beziehst.
Zitat:
Was eine "deflationistische Wirtschaftspolitik" ist, bringe ich vielleicht noch zusammen. Bei einer ebensolchen Definition muss ich passen.
Zitat:
h.j.glock: Ich plädiere für eine größere Kontinuität im Denken des frühen und späten Wittgenstein im Gegensatz zu den Interpreten, die denken, der frühe Wittgenstein sei ein Realist und habe eine Korrespondenztheorie, und der späte Wittgenstein hingegen sei ein Antirealist, er habe eine Kohärenztheorie oder eine pragmatische Theorie. Die Idee der Abbildung bleibt im Spätwerk nicht bestehen. Was aber bestehen bleibt, ist die Idee, dass es zwei Elemente braucht, um die Wahrheit eines Satzes zu erklären: wir brauchen ein semantisches Element, nämlich ein wahrer Satz muss sagen, dass sich etwas so und so verhält, und ein deflationäres Element, das man beim frühen Wittgenstein das Bestehenselement nennen würde, nämlich das, was der Satz sagt, ist auch der Fall. Die Dinge sind so, wie der Satz es sagt.
(http://www.information-philosophie.de/philosophie/wittgensteinwahrheit.html)
http://www.gavagai.de/themen/HHP68.htm (unter punkt 4: deflationistische
wahrheitstheorien)
Zitat:
Mich würde aber interessieren, ob Du als denkendes, handelndes Wesen in Deinem eigenen Weltbild unterzubringen bist.
ich wüßte nicht, warum "ich" keinen platz in der welt haben sollte.
Zitat:
Die Personen, die solche Weltbilder entwerfen und begründen, erklären sich selbst zu extramundanen Wesen.
gerade das, habe ich ja versucht zu erklären, ist nicht der fall. ich bin ein
-si licet dicendi- intramundanes wesen, welches die welt verstehen will - und
zwar als ein fest in die welt eingebundenes wesen.
Zitat:
Die Welt der Naturwissenschaft ist halt nix für softies
auch wenn es sich um ein vorurteil letzter güte handelt, würde ich dir
darin zustimmen - frei nach platos türbalken: »ageometretos medeis eisito«
(=" keiner, der nichts von geometrie versteht, trete hier ein!" )
- mfg thomas
- III
- Eberhard am Heute, 10:42 Uhr
Hallo allerseits, hallo Thomas (J),
Soll man Sätze als wahr oder falsch bezeichnen?
Wenn man unter einem "Satz" eine grammatisch geordnete Folge von Wörtern
versteht, dann kann ein und derselbe Satz verschiedene Bedeutungen haben, z. B.
weil die Wörter, die in dem Satz verwendet werden, mehrdeutig sind. Der Satz "Sein Ton ist fest" bedeutet in der Töpferwerkstatt etwas anderes als beim
Gesangslehrer.
Dadurch ist es möglich, dass der Satz in der einen Bedeutung wahr ist und
in der anderen Bedeutung falsch ist. Wenn jedoch ein und derselbe Satz sowohl
wahr wie falsch ist, besteht ein logischer Widerspruch.
Deshalb erscheint es mir als sinnvoll, das Wort "wahr" nicht auf den Satz im
engeren Sinne zu beziehen sondern auf den Satz mit einer bestimmten Bedeutung.
Wenn man dies akzeptiert, ist es nicht zulässig, einen mehrdeutigen Satz
als "wahr" oder "falsch" zu bezeichnen. Bevor ich die Frage beantworte, ob ein
bestimmter Satz wahr ist, muss geklärt sein, welche Bedeutung des Satzes gemeint
ist.
Wir bemühen uns deshalb um wahre Aussagen, weil wir Fragen haben, die wir
richtig beantwortet haben wollen. Es ist jedoch nicht immer klar, wie eine Frage
gemeint ist.
Wenn jemand fragt: "Hat es heute geregnet?" und es hat heute in Kairo geregnet,
während in ganz Mitteleuropa kein einziger Tropfen gefallen ist, dann ist es
eher eine Eulenspiegelei zu antworten: "Ja, es hat heute geregnet." Man hat dann
die Frage im Sinne von "Hat es heute irgendwo geregnet?" interpretiert, da sie
keine Ortsbestimmung enthielt.
Andererseits ist es zur Abkürzung der Sätze üblich, auf die Angabe von
Ort und Zeit zu verzichten, wenn die Bestimmung "hier und jetzt" ist. Wenn ich
zu vorgerückter Stunde den Kellner frage: "Bekomme ich noch ein Bier?" und er
sagt: "Ja selbstverständlich", dann fühle ich mich missverstanden - wenn nicht
an der Nase herumgeführt - wenn ich eine viertel Stunde warte und dann frage: "Wann bekomme ich mein Bier, Herr Ober?" und er antwortet: "Morgen bekommen sie
wieder Bier."
Da in der Alltagssprache häufig das "Selbstverständliche" weggelassen
wird, kann man die Frage "Ist diese Aussage wahr?" häufig erst nach
Ausformulierung der Bedeutung sinnvoll stellen, es sei denn, man will die
Spießbürger foppen, indem man sie "beim Wort" nimmt, so wie Eulenspiegel.
Es grüßt Euch Eberhard.
***
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