Ethik-Werkstatt - Volltexte im HTML-Format - kostenlos
-->Übersicht       -->Alphabetische Liste aller Texte       -->Info zu dieser Website       -->Lexikon       -->Startseite
______________________________________________________________________________________________

*** Empfehlung: Nutzen Sie die Suchfunktion Ihres Internet-Browsers! ***

Gemeinwohl und Wohl der Individuen II

(Diskussion bei PhilTalk)

 

PhilTalk Philosophieforen  Praktische Philosophie >> Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsphilosophie >> Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
(Thema begonnen von: Eberhard am 05. Nov. 2005, 14:48 Uhr)



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 05. Nov. 2005, 14:48 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

dies ist die Fortsetzung der Diskussionsrunde über "Gemeinwohl und Wohl der Individuen I" (aufzurufen unter www.philtalk.de/msg/1129452049.htm)

Ich hoffe, dass weiterhin so sachbezogen und produktiv diskutiert wird wie im Teil I.

Allen Diskusssionsteilnehmern meinen Dank (ausgenommen h.s.)!

Eine spannende und kontroverse Diskussion wünscht allen Eberhard.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 05. Nov. 2005, 14:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo urs,

Du fragst: „Ist jede Art von Gemeinschaft nur zu legitimieren, wenn sie auf die Interessen der Individuen zurückzuführen ist?“

Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man das Interesse eines Individuums definiert.

Wenn man unter dem „Interesse eines Individuums“ nur diejenigen Bestrebungen des Individuums versteht, die sich direkt auf sein eigenes Wohlergehen richten, so muss man wohl die Frage verneinen. Dies würde unter anderem bedeuten, dass überall nur nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut!“ gehandelt würde, und dass es deswegen z.B. schnurzpiepe ist, was in 80 Jahren ist, denn dann ist jeder von uns mausetot und sieht sich den Rasen von unten an.

Eine nach diesen Prinzipien arbeitende Wegwerfgesellschaft wäre dann das Einzige, was legitimiert werden könnte, was schwerlich akzeptabel wäre.

Ist deshalb der Ausgangspunkt von den Interessen der Individuen ein Irrtum?

Ich denke nicht. Der Fehler der obigen Konstruktion liegt darin, dass die Interessen der Individuen in Wirklichkeit nicht nur im engeren Sinne eigennützig sind, sondern dass sie weit über ihr eigenes individuelles Leben hinausgehen. Menschen haben Interesse daran, dass über ihr individuelles Dasein hinaus die von ihnen geschätzte Gesellschaft samt ihrer Kultur fortbesteht.

Deshalb wünschen sich die Individuen Nachkommen, fördern sie die nachwachsenden Generationen, machen Vermächtnisse und Stiftungen über ihren Tod hinaus oder opfern sich für die Gemeinschaft auf.

Menschen sind nicht so borniert individualistisch und egozentrisch. Ein Hinweis darauf gibt bereits die Biologie des Menschen: Jedes Individuum trägt in sich einen zweiten Satz Gene, die er an seine Nachkommenschaft vererbt, ohne dass diese Gene bei ihm selber zur Wirkung gekommen wären und ihn geprägt hätten.

Wenn man dies berücksichtigt und den Begriff des Interesses nicht unzulässig verengt, dann sehe ich keine Probleme, Deine obige Frage zu bejahen.

Es grüßt Dich und alle an altmodischen Begriffen wie „Gemeinwohl“ Interessierten Eberhard.




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 05. Nov. 2005, 15:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

ich denke, das ist eine sehr gute Synthese, mit der man leben kann und die mit realem menschlichem Entscheiden und Handeln und seinen Motiven begründet ist.

Ein junger, mehr oder minder legaler Einwanderer aus armen Gegenden kommt zu uns in der Hoffnung, hier besser leben zu können. Aber dazu kommt die Hoffnung, dass er hier eine eigene Familie gründen kann, die eine bessere Zukunft hat als in seiner Heimat. Und dazu kommt die Hoffnung, seine daheim gebliebene Familie finanziell unterstützen zu können, damit die besser leben kann. Und weil das so ist, wird die Reise, wenn irgend möglich, von seiner daheim gebliebenen Familie mitfinanziert. Menschen handeln und entscheiden nun mal so.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 05. Nov. 2005, 18:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,
das geht ja in einem Affentempo weiter!

@ Abrazo (zu #148),
danke für die Zustimmung, dass die Vertragstheorie für das Zusammenwirken zwischen Individuum und Gemeinschaft nicht haltbar ist, weil das Individuum beiden Parteien zugehört (meinem #147).
Deine Bedenken, dass jeglichem Rechtfertigungszweck die Richtung "Ideologie" anhaftet, kann ich nachvollziehen. Ich stimme Dir zu, dass trotzdem der Problematik nachgegangen werden darf, die du wie folgt zusammenfasst: <Man kann der Ethik nicht entfliehen. Und das ist auch zwangsläufig so.>

@ Eberhard (zu #152),
Deine Kritik <Das ist nicht schlüssig> an Abrazo (#148) zielt darauf ab, dass Du Abrazo sagst: "Es gibt doch noch andere Begründungen!" Da magst Du ja recht haben, aber ich bin der Auffassung, dass Abrazos Überlegung doch noch gewürdigt werden sollte! Und zwar wie folgt: "Eine letzte Begründung, die in der wahrnehmbaren Welt liegt" ist hinreichend! Wobei das logische <Hinreichend> gemeint ist, das bekanntlich stärker ist als das logische <Notwendig>. Da sich Deine Argumente um das logisch schwächere drehen, gehe ich nicht darauf ein. Denn:


Falls es also gelingen sollte, eine Begründung in der wahrnehmbaren Welt zu finden, ist das Feld gedüngt (sprich: der Mist geführt) und mit etwas Geduld und Ausdauer wird's auch was zu ernten geben! Diesen Gedankengang verfolgte ich in den Beiträgen in denen ich die arrogante Kurzform <Fundamental-Ethik> kreiert habe. In der Meinung, dass gemeinsame Erlebnisse ein gutes Fundament sind für einen gemeinsamen Willen, habe ich versucht aufzuzeigen, dass solche gemeinsame Erlebnisse in der wahrnehmbaren Welt nicht ausgeschlossen sind. (siehe #115,#121, #123)

@Urs, (zu #151)
Danke für Deine Ausführungen. Ich schnuppere da an persönlichem Bildungsneuland.

Danke & Gruss --- Euer Alltag

p.s.: Abrazo, was heisst <imho>? Habe da offensichtlich eine Bildungslücke!


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 06. Nov. 2005, 02:42 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!



Quote:Wenn du, Urs, das Wort Ethik im Sinne von Ethos = Sitte verwendest, fragt sich, welches Wort du dann für die Grundnormen (z.B. nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen) nehmen willst.



Nach meinem Verständnis wäre eine „Grundnorm“ ein ethisches Prinzip (ein „Grundsatz“), dessen Funktion nur darin besteht, alle einzelnen Normen systematisch miteinander zu verbinden. Berühmtestes Beispiel: Kants kategorischer Imperativ. Die Grundnorm kann einerseits „entfaltet“ werden, indem man daraus weitere regionale Prinzipien ableitet (so gewinnt Kant sein Rechtsprinzip aus einer Anwendung des kategorischen Imperativs auf „äußere Handlungen“), es kann aber auch umgekehrt dazu dienen, vorkommende Normen zu beurteilen.
In einem weniger strengen Sinne besteht auch z.B. unser Grundgesetz aus „Grundnormen“. Ich kann nicht beurteilen, ob seine verschiedenen Paragraphen alle so konsistent sind, dass sie sich aus einem Prinzip ableiten lassen. Aber jedenfalls dient das Grundgesetz bei uns wirklich als Kriterium für die Normenkontrolle.

Die Imperative, die Du als Beispiel für Grundnormen anführst, würde ich keine echten Normen – also „Scheinnormen“ - nennen. Wir haben diesen Punkt schon berührt, als wir über solche Sätze diskutierten wie „Man soll vor der Ehe keinen Sex haben.“ Damals habe ich gemeint, dass eine echte Norm sich an einen bestimmten Kreis von Adressaten wenden muss. Inzwischen (durch Lektüre belehrt) würde ich noch hinzufügen, dass eine Norm sich auch auf eine eindeutige, aber wiederkehrende Situation – ein Situationsschema - beziehen muss.

(Fingiertes, aber realitätsnahes) Beispiel: „Unmittelbare Vorgesetzte und Inhaber höherer Dienstgrade sind militärisch zu grüßen.“ Aus dieser knappen Formel ergibt sich, dass jeder Soldat die (anderswo normierte) Grußformel aussprechen und die dazugehörige Körperhaltung einnehmen soll, wann immer er einem seiner unmittelbaren Vorgesetzen oder einem sonstigen höherrangigen Soldaten - im Dienst - begegnet. Jeder Soldat – gleichgültig, welchen Rang er selbst einnimmt – hat und kennt seine Vorgesetzten und weiß auch, welche Dienstgrade über dem seinen rangieren. Somit ist diese Norm für jeden Soldaten eindeutig verständlich und anwendbar.

Das gilt für „Du sollst nicht töten!“ keineswegs. Für Soldaten im Ernstfall oder für bestimmte Justizbeamte in manchen Bundesstaaten der USA z.B. gehört das Töten zu den Dienstpflichten. Sollen sie sich von diesem Gebot aus dem Dekalog angesprochen fühlen oder nicht? Gelten die Zehn Gebote nur für gläubige Juden und Christen? Unter allen Umständen? Aber auch Israel hat eine Armee. Und in die Koppelschlösser der Wehrmachtssoldaten war eingeprägt: „Gott mit uns!“


Was Du gegen mein Verständnis von „Ethos“ hast, verstehe ich nicht recht - zumal Du selbst immer wieder betonst, dass wir keine isolierten Individuen sind, sondern immer in historisch entstandene und sich verändernde Lebensformen hineingeboren und in ihrem Sinne erzogen werden.


Quote:Denn jede letzte Begründung kann immer nur in der wahrnehmbaren Welt liegen. Was anderes haben wir nicht. Irgendwo müssen also die Begründungen für unsere Werte aufhören und im Hinweis auf eine Tatsache enden, die nicht erdacht werden kann, sondern die sich zeigt: eben der humane ethische Willen in bestimmten konkreten Situationen. Davon kann man alles mögliche ableiten und abstrahieren, er selbst aber ist nicht ableitbar und abstrahierbar.



Eberhard hat dazu schon Kritisches geschrieben, das ich unterstütze. –

Aber es wäre hinzuzufügen: Zwar sind Normen insofern etwas Faktisches, als es an jedem Ort auf der Erde und zu jedem Zeitpunkt irgendwelche anerkannte Normen gibt. Aber die Normen selbst beziehen sich nicht auf Fakten, sondern auf zukünftige Handlungen. Ihre Funktion besteht darin, künftige Handlungen an die bisherige Praxis anzuschließen, also Ordnungsstrukturen in die Zukunft „fortzuschreiben“. Werden Normen geändert - siehe die Gesetzgebung -, so soll mit einer bestehenden Ordnung an bestimmten Punkten ausdrücklich gebrochen werden.

Nun finde ich ziemlich klar, dass eine solche angestrebte Veränderung nicht einfach aus der „wahrnehmbaren Welt“ begründet werden kann, sondern aus menschlichen Bewertungen der Welt, wie sie (bisher) ist. Und das macht darauf aufmerksam, dass auch die bestehende Ordnung nicht „einfach so ist, wie sie ist“, sondern stets in irgendeiner Weise eine gewollte oder nicht gewollte Ordnung ist. Nur erfahren wir bei eingespielten, eingewöhnten Lebensformen nicht immerzu unseren ausdrücklichen Willen oder unsere Bejahung. Es wäre ein absurdes, völlig verkrampftes Leben, wenn wir uns bei jeder noch so kleinen Routinehandlung neu entschieden und uns fragten, ob wir sie „wirklich wollen“. Entscheidung und „Wille“ treten nur auf, wo wir entweder über keine Routine verfügen oder wo wir mit einer Routine nicht einverstanden sind. Und es ist wohl zuzugeben, dass jederzeit der Fall eintreten kann, dass wir mit einer gängigen Praxis nicht einverstanden sind.

Die Gründe für unser Einverständnis oder unsere abweichende Bewertung können vielfältig und schwer durchschaubar sein, aber sie lassen sich nicht schlichtweg aus der „wahrnehmbaren Welt“ ableiten.


So, hier muss ich einfach abbrechen. Ich gehöre ins Bett.

Es grüßt Dich
Urs




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 06. Nov. 2005, 11:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo abrazo,

in Deiner Kritik an den vertragstheoretischen Kriterien für legitime soziale Ordnungen(Hätten freie Individuen im Urzustand einer solchen Ordnung zugestimmt? bzw. Hätte eine solche Ordnung aus einer vertraglichen Übereinkunft freier Individuen hervorgehen können?) schreibst Du:

“Was ist das Gemeinsame zwischen beiden Annahmen? Der Konjunktiv. Das heißt, argumentiert wird mit einer fiktiven Situation. Was begründet eine fiktive Situation? Das Denken. Wer denkt? Ein Subjekt. Also ist eine fiktive Situation immer subjektiv; ich könnte auch sagen: sie entspricht dem Wunschdenken. Damit etwas zu begründen halte ich nun mal für unsauber.“

Diesen Gedankengang kann ich nicht nachvollziehen. Richtig ist, dass eine fiktive Situation etwas von einem Subjekt Erdachtes ist. Aber dass eine erdachte Situation immer dem Wunschdenken entspricht, folgt daraus keineswegs.

Ein Gegenbeispiel kann dies vielleicht am besten demonstrieren.

Wenn ich überlege, ob ich mir für das letzte Geld in meinem Portemonnaie lieber eine Kinokarte oder eine Pizza kaufen soll, dann denke ich mir fiktive Situationen aus, die im Konjunktiv formuliert sind, wie z.B.: „Wenn ich die Kinokarte kaufen würde, dann würde ich erst kurz vor Mitternacht aus dem Kino kommen und hätte inzwischen einen ziemlichen Hunger“ und dergleichen.

Solche Erwägungen verschiedener Möglichkeiten im Konjunktiv sind keineswegs Wunschdenken und ihre Verwendung im Rahmen einer Argumentation führt keineswegs zu logisch unsauberen Begründungen.

Zu der Frage, ob sich die Gleichheit vor dem Gesetz aus der Konstruktion eines freiwilligen Vertragsabschlusses ableiten lässt, schreibst Du:

„Im Rudel verlangt der Mitläufer selbstverständlich nicht die gleichen Rechte wie der Anführer. Er folgt - und dafür erhält er Sicherheit. Willst du behaupten, dass diese Alternative nicht tatsächlich oft gewählt wird?“

Ich halte es ebenfalls für fraglich, ob sich die Gleichheit vor dem Gesetz vertragstheoretisch herleiten lässt. Die Begründung für diesen Zweifel hatte ich ja bereits mit dem Hinweis auf die möglicherweise ungleiche Verhandlungsmacht gegeben.

Denken wir uns mal in die Fabelwelt hinein und nehmen an, dass die Tiere, vom Löwen über den Hirsch bis hin zum Hasen und der Maus, ihren rechtlosen Zustand durch einen Gesellschaftsvertrag beenden wollen. Für den Hasen wäre es sicher eine Verbesserung seiner Lage, wenn er sich gegenüber Wölfen, Hunden u.a. unter den Schutz des Löwen begeben könnte, selbst wenn er dann nicht rechtlich dem Löwen gleichgestellt ist.

Deshalb kann für mich der Vertrag auch nicht der Ursprung allgemeingültiger Normen sein.

Diese Kritik gilt m.E. jedoch nicht für die diskurstheoretische Normenbegründung, zu der ich neige. Bei der Suche nach einem zwangfreien Konsens kann der Löwe seine überlegene Kraft nicht als Argument für Sonderrechte einbringen, denn der Löwe hat ja kein bereits bestehendes Recht, diese Kraft einzusetzen. Auch über den Einsatz seiner Kraft wäre ja ein rein argumentativer, zwangloser Konsens herzustellen.

Deshalb ergibt sich für mich aus der Orientierung aller an einem zwangfreien Konsens die Schlussfolgerung, dass nur solche Normen konsensfähig sind, bei denen die Interessen aller Beteiligten unparteiisch berücksichtigt werden.

Ich ordne solche theoretischen Konstruktionen nicht unter die Rubrik: Was-wäre-wenn Spielchen ein. Du schreibst:

“Was sind einsichtige Argumente, die einer zwanglos nachvollziehen kann? Argumente, die unmittelbar auf die wahrnehmbare Welt verweisen. Tatsachen. … Nicht, wie Mensch und
Welt sein sollen, zählt, sondern wie sie ist.“

Ich sehe die Beziehung zwischen Tatsachen und Normen etwas anders. Für mich ist die Erforschung der Welt, wie sie ist, Aufgabe der empirischen Wissenschaften und hat sich an den Methoden zu orientieren, die für diese Art von Fragen entwickelt wurden. Hier ist nüchterner Realismus angesagt.

Aber aus noch so vielen Tatsachen lässt sich logisch keine einzige Norm ableiten.

Und es gibt zahlreiche Arten von Argumenten, die keine Verweise auf Tatsachen sind. In der gesamten Logik und Mathematik kommen z.B. keine empirischen Argumente vor.

Mit diesen Worten zum Sonntag seid alle gegrüßt von Eberhard.




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 06. Nov. 2005, 13:35 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Alltag, hallo Eberhard!


Alltag hat m.E. hiermit durchaus auf etwas Wichtiges hingewiesen:


Quote:Da jedes Individuum auch Teil der Gemeinschaft ist, besteht doch im voraus bereits ein Abhängigkeitsverhältnis. Dieses (von Natur aus bestehende) Abhängigkeitsverhältnis ist doch stärker als die Bindung, die erst infolge eines Vertrages entsteht. Daher ist doch zu Fragen, ob das Model "Vertrag" dem Problem Gemein- und Individualwohl qualitativ angemessen ist?



Eberhards Antwort darauf ist m.E. auch richtig:


Quote:Dein Argument gegen die vertragstheoretische Begründung der Rechtsordnung trifft nicht, denn die gemeinschaftliche Ordnung wird dort ja erst durch die vertragliche Übereinkunft der Einzelnen hergestellt. Deshalb kann die wechselseitige Abhängigkeit der Individuen in der Gemeinschaft kein Argument gegen die unabhängige Entscheidung der Individuen für den Gesellschaftsvertrag sein.



Aber: Wechselseitige Abhängigkeit besteht zwischen den Individuen nicht erst im Rechtszustand. Die wechselseitige Abhängigkeit innerhalb der Rechtsordnung ist eine Abhängigkeit zwischen Rechtspersonen. Aber wir sind eben nicht nur Rechtspersonen. Um uneingeschränkt geschäftsfähige Rechtspersonen zu werden, sind wir auf viele Voraussetzungen angewiesen, die die Rechtsordnung selbst nicht erschaffen kann. Ich hatte das schon so formuliert, dass das Recht „nicht autark“ sei. Es ist auf Formen der Gemeinschaft angewiesen, die nicht nach dem Modell des freiwilligen Vertrags geformt und entstanden sind.

Zwar zieht ein Rechtsstaat jede Form von Gemeinschaft an sich, schützt oder regelt sie, wenn erforderlich. So bekommen auch ursprünglich nicht „auf dem Rechtsweg“ entstandene Gemeinschaften einen Stellenwert in der Rechtsordnung. So steht nicht nur das unmündige Kind unter rechtlichem Schutz, sondern auch die Familie, Partnerschaften, regionale Lebensformen, Glaubensgemeinschaften, politische Parteien, Gewerkschaften, „Interessengemeinschaften“ usw. Alle diese Zusammenschlüsse haben inzwischen auch eine Rechtsform, aber diese Rechtsform macht nicht ihr „Wesen“ aus, d.h. ist nicht das, was sie entstehen lässt und zusammenhält, sondern nur das, was sie mit der rechtsstaatlichen Ordnung insgesamt verträglich macht. Dass der Staat hier überall regelnd oder schützend eingreifen darf, ist Ausdruck seiner „Souveränität“. Aber ich denke, es ist leicht zu sehen, dass diese Souveränität nicht mit Autarkie verwechselt werden kann, dass also das Recht nur ein gesellschaftliches „System“ neben anderen gesellschaftlichen Systemen ist.

Außerdem gibt es zwischen verschiedenen Staaten, die alle nach dem Modell „Republik“ geordnet sind, doch erhebliche Unterschiede. Unsere föderale „Bundesrepublik“ etwa nimmt sehr stark Rücksicht auf die historisch entstandenen „Länder“, erkennt den Ländern ausdrücklich die „Kulturhoheit“ zu, während Frankreich wegen seiner ganz anders verlaufenen Geschichte viel „zentralistischer“ verfasst ist usw. - Kurz, eine Rechtsordnung ist immer eine Ordnung von etwas, das selbst nicht wieder aus Recht besteht oder aus dem Recht hervorgegangen ist. Oder systemtheoretisch ausgedrückt: Das ausdifferenzierte Rechtssystem kann nur bestehen in Abhängigkeit von und in Beziehung auf eine „Umwelt“, und zwar eine Umwelt, in der es auch andersartige Systeme gibt – wobei diese Systeme keineswegs durch die (räumlichen und rechtlichen) Grenzen der Staaten eingeschränkt sind.


Was bedeutet es, wenn der Staat schützend oder regelnd in gesellschaftliche Prozesse eingreift? Was wird da jeweils „geschützt“ – und wogegen? Doch offenbar nicht nur die Interessen einzelner Individuen, sondern auch die von „Interessengemeinschaften“. Und sie werden dagegen geschützt, dass die Abhängigkeiten, in denen sie sich jeweils befinden, von anderen ausgenutzt werden – damit sie ihre gemeinschaftlichen Interessen ungestört weiter verfolgen können. - So werden nicht nur Kinder gegen ihre Eltern geschützt, sondern auch Betriebsräte gegen die Unternehmensleitungen. Oder es werden Minderheiten (z.B. religiöse) gegen Diskriminierung geschützt oder Mehrheiten gegen die Übermächtigung durch ökonomisch starke Minderheiten.


Fazit: Die Rechtsordnung selbst erkennt an, dass es Gemeinschaften gibt, die jeweils ein eigenständiges „Gut“ anstreben und dabei auch eigenständig verfasst sind, also eigenständige Normen und Bewertungsmaßstäbe haben. Unser „Pluralismus“ ist eben ganz wesentlich ein Pluralismus von Gemeinschaften und Gemeinschaftsformen. Allerdings ist es in unseren „westlichen“ Republiken in der Tat so, dass den Individuen gewisse allgemeine und unveräußerliche Rechte zugestanden werden, die dann im „Konzert“ der Lebensformen letztlich immer Vorrang haben, wenn es zum Konflikt kommt.

Also, ich plädiere ganz entschieden dafür, den Gemeinwohlbegriff so differenziert zu verstehen, dass er sich auf den Pluralismus der Gemeinschaften anwenden lässt. Es kann nicht genügen, nur das Rechtsmodell im Blick zu haben und es zu generalisieren. – Diese Differenzierung verhindert dann allerdings, dass man eine für alle Gemeinschaften gültige „Formel“ aufstellt, nach der sich das Gemeinwohl immer bestimmen lässt.


Es grüßt Euch
Urs




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 06. Nov. 2005, 15:10 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Bezug: #4

Hi, Urs,

ich weiß, dass diese Ansicht weit verbreitet ist, vielleicht sogar die herrschende ist, ich halte sie trotzdem für falsch.

Ich behaupte: jede Begründungskette hat irgendwo ein Ende und das Ende ist eine Tatsache in der wahrnehmbaren Welt. Das gilt genau so für die Ethik.

Wenn ich von Herrn Hund rede, kannst du fragen: was meinst du? Dann kann ich dir den Herrn mit allen Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen beschreiben. Kannste fragen, ob es denn das, was ich beschreibe, überhaupt gibt. Die Fragen kannst du weiter führen bis zu dem Punkt, woher wir denn wissen können, dass es die Welt gibt. Dann sage ich dir, das ist Unsinn, was du da sagst, denn du kannst nicht fragen, ob es die Welt gibt ohne vorauszusetzen, dass es sie gibt. Wenn es die Welt nicht gäbe, könntest du an ihrer Existenz nicht zweifeln. Gut. Aber damit kannst du immer noch an der Existenz von Hunden zweifeln. Wie löst man diesen Zweifel? Nicht, indem man argumentiert, sondern indem man zeigt: siehst du das Objekt da? - Ja. - Das ist ein Hund. Das Ende der Begründungen ist also das, was sich zeigt.

Entsprechend sage ich: das Ende der Begründungen unserer Normen ist das, was sich zeigt, und das nenne ich die Ethik.

Wer an Gott/Götter glaubt, hat damit kein Problem. Denn der sagt, das Ende der Begründungen unserer Normen ist das göttliche Gebot, auf irgend eine Weise an seine Kinder / Diener / Priester / Propheten übermittelt. Problem gelöst.

Wer aber die Existenz eines Göttlichen bezweifelt oder einen Kommunikationsweg, muss sich mit der Begründung der Normen befassen.

Üblich ist, die Normen qua Vernunft zu begründen oder über unsere gesellschaftliche Entwicklung. Das funktioniert aber nur so lange, wie wir unsere Zivilisation als selbstverständlich und als einzige Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens voraussetzen. Sobald wir andere Möglichkeiten sehen, funktioniert das nicht mehr. Es funktioniert spätestens nicht mehr, seit es den Nationalsozialismus gibt, denn der ist eine Alternative.

Der Nationalsozialismus gründet letztlich auf der Biologie, also auf den biologischen Steuerungen, den Gefühlen, und die sind evident. Die kann man wahrnehmen. Den ganzen Bereich Humanität / Ethik / Moral erklärt er zu einer Lüge, insinuiert von den Juden zwecks Selbsterhalt einer ansonsten unterlegenen, nur durch Schmarotzen an anderen Völkern überlebensfähigen Menschenabart. Du sollst nicht töten heißt danach, du sollst die nicht töten, die dich aussaugen und von dir leben. Ein egoistisches Zweckgebot derjenigen, die auf sich gestellt nicht überlebensfähig sind und dazu noch die Weiterentwicklung der Fähigen verhindert, auf dass sie nicht so stark werden, dass sie sich doch über die 'Humanitätslüge' hinwegsetzen können.

Wie gesagt, hier enden die Begründungen in Evidenzen. Evidenzen sind stärker und einleuchtender als Glauben und Vernunft.

Der Schwachpunkt dieser Theorie ist, ist die Humanität eine Lüge oder nicht. Darauf mit der Vernunft, z.B. Kant zu antworten, zieht nicht. Denn die Frage ist, warum soll ich der Vernunft folgen, wenn meine Natur etwas anderes sagt. Also warum soll ich den Kerl nicht umbringen, wenn ich vom Gefühl her der Auffassung bin, dass für uns beide kein Platz auf dieser Erde ist. Ist für den Täter, das Individuum, kein Problem. Wohl aber für die Beobachter. Die reagieren nämlich auf das Ergebnis mit Abscheu und sehen deswegen zu, den Täter dingfest zu machen. Dieser Abscheu aber ist weder logisch noch vernünftig herleitbar, der ist. Der zeigt sich. Der ist evident. Dass er sich zeigt, scheint mir nicht zu einigen Kulturen zu gehören, sondern es scheint mir doch eine allgemein menschliche Eigenart zu sein.

Wenn du nun GG Art. 2 (2) nimmst: "jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" und mich fragst, wie willste dat begründen, würde ich dir entgegnen, weil wir das so wollen. Und wir wollen es deswegen so, weil das zu unserem Wesen als Menschen gehört. Kannste zeigen.

Mir scheint, wir haben mit der Ethik, also den Grundnormen, immer dann ein Problem, wenn wir das Individuum betrachten. Hier verweise ich auf unsere Diskussion über Möglichkeiten: das Individuum hat zwar die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen, aber warum soll es die vernünftige oder die menschliche Alternative wählen, wenn es zur biologischen viel mehr Lust hat und die für ihn auch von Vorteil ist. Wenn er aber diese Alternative wählt, tritt er damit aus der humanen Gemeinschaft aus, denn die lehnt das ab. Das Problem ist also für den Täter nicht die Tat, sondern die Isolation, durch die er auf genau den reinen Individualzustand geworfen wird, von dem manche Moraltheorien überhaupt erst ausgehen. Was mich nun zu der Frage bringt: ist deren Ansatz überhaupt richtig? Ist es überhaupt möglich, Ethik, Moral, Normen zu begründen, ohne den Menschen als vergesellschaftetes Wesen zu betrachten, nicht, weil er sich so entwickelt hat, sondern weil das nun mal zu seinem Wesen gehört?

Die These lautet: Ethik ist eine Eigenart der Menschheit, sie ist evident und zeigt sich in den Situationen, in denen ein Individuum (oder eine Gruppe) davon abweicht. Woraus folgt, je mehr ein Individuum sich als Teil der Menschheit begreift, desto mehr wird es sich im Konfliktfall für die ethische Alternative entscheiden.

Rechtssysteme (codifizierte Normen) werden letztlich aus den ethischen Evidenzen abgeleitet und durch sie begründet. Dass es dabei auch zu Differenzen und Fehlern kommen kann, ist klar - aber vom sozialen Aspekt aus betrachtet zeigt es auch, warum sie notwendig sind. Denn was ethisch verwerflich ist, ist zwar den Zeugen qua Evidenz klar, nicht aber notwendigerweise dem handelnden Individuum. Weswegen man ihm vorher beibringt, was es darf und was nicht.

Wenn wir nun die Gemeinschaft als das Primäre sehen, dann ist sie es, die das Wohl des Individuums einigermaßen garantiert - über die von ihr geschaffenen Normen, begründet letztlich durch die Ethik. Individuen, die dagegen verstoßen, werden von der Gemeinschaft - je nach Schwere der Tat - 'rausgeschmissen. Das würde, unabhängig von dem, was als solches definiert wird, bedeuten, dass auch Individuen oder gar Gruppen, die gegen das Gemeinwohl verstoßen (was immer das Wohl anderer Individuen ist), Gefahr laufen, von der Gemeinschaft abgestoßen zu werden; das könnte dem Interesse solcher Individuen oder Gruppen durchaus widersprechen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 06. Nov. 2005, 17:51 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,

Lieber Urs danke, dass Du den Gedanken, betreffs des Abhängigkeitsverhältnisses von Individuum und Gemeinschaft, nochmals aufnimmst und zugleich eingehst auf Eberhards Gegenargument.

Lieber Eberhard, ich bin auf Dein (soeben angesprochenes) Gegenargument noch nicht eingegangen, weil ich es ganz einfach noch nicht verstanden hatte. Die Erörterungen von Urs bringen mich aber weiter.

@All,
Vielleicht hilft uns ein einschlägiges Beispiel für ein eigenständiges, schützenswertes "Gut" weiter. Ich denke an <Treu und Glaube>. Es ist ein Gut, das sowohl dem Gemeinwohl als auch dem Individualwohl angehört: siehe /1/! <Treu und Glaube> ist also das Fundament für dauerhaftes Zusammenleben.

Nach meinem Verständnis ist <Treu und Glaube> jedoch keine Norm. Denn es wird nicht weiter definiert oder erörtert, sondern als selbsterklärend stehen gelassen. Obwohl oder weil es damit sehr schwammig bleibt, ist es in juristischen Prozessen eines der schlagkräftigsten Argumente. - Ich denke wir können an diesem beispielhaften Bezug zur Praxis, unsere Erwartungshaltung beim Problem <Gemein- und Individualwohl> messen.

Lieber Abrazo, der Bezug zur Praxis ist Teil der wahrnehmbaren Welt, oder?

In Treu und Glaube --- Euer Alltag :-)


/1/ In der CH Verfassung heisst es in:
Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns
1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2 Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig
sein.
3 Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.

Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben
Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 06. Nov. 2005, 19:08 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Tut mir leid, manche Deiner Ansichten sind in meinen Augen so verquer, dass ich an ein paar grundsätzlichen Erläuterungen nicht vorbei komme.



Quote:Das Ende der Begründungen ist also das, was sich zeigt.



Das ist richtig. Aber erstens muss es, damit etwas „sich zeigt“, jemanden geben, dem es sich zeigt. Und zweitens muss das, was „sich zeigt“, keineswegs eine „Tatsache in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“ sein. Es kann auch – wie Eberhard schon sagte - ein abstrakter Sachverhalt sein.

Darum stelle ich richtig: Das Ende der Begründung ist die unmittelbare Einsicht, dass sich etwas so und so verhält.


Wer braucht „Begründungen“ dafür, dass etwas sich so und nicht anders verhält? Jemand, der einen behaupteten Sachverhalt nicht einsieht. Wie hilft man ihm, den Sachverhalt einzusehen? Indem man ihn von einer Einsicht, die er hat, schrittweise zu dem fraglichen Sachverhalt hinführt.

Beispiel: Jemand findet „evident“, dass 1 + 1 = 2, aber nicht, dass 2 + 2 = 4. Wie kann man ihm zeigen, dass auch dieser zweite Satz „evident“ ist? Nun, man sagt z.B.: 1 + 1 = 2; 2 + 1 = 3; 3 + 1 = 4. Hier wird ihm also zuerst gezeigt, wie man durch wiederholte Addition von 1 bis zur 4 kommt. Und nun kann er den Schluss nachvollziehen: „Wenn 1 + 1 = 2 und 2 + 1 + 1 = 4, dann gilt auch 2 + 2 = 4.“
So hat man also den nicht evidenten Sachverhalt 2 + 2 = 4 schrittweise auf den evidenten Sachverhalt 1 + 1 = 2 „zurückgeführt“. Nun „zeigt sich“, dass 2 + 2 = 4.

Halten wir fest:

1. „Evident“ ist ein Sachverhalt nicht „an sich“, sondern immer für jemanden. „Evidenz“ ist also ein Wort für eine Relation zwischen einem Sachverhalt und einem „Subjekt“.

2. Eine Begründung braucht zwar nur derjenige, der etwas nicht unmittelbar einsieht. Aber die Begründung, die man ihm gibt, ist nicht nur für ihn persönlich gültig. Sondern diese Schrittfolge kann jeder nachvollziehen. Darum findet eine Begründung nur dann statt, wenn die „Evidenz“, in der sie endet, eine Evidenz für jedermann ist.

3. „Tatsachen in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“ haben einen kleinen Haken. Denn sinnliche Wahrnehmungen sind immer individuelle Wahrnehmungen, werden also von diesem oder jenem Individuum gemacht, folglich immer mit gewissen Varianzen. Außerdem sind sie flüchtig. Dass ein Blitz da und da eingeschlagen hat, kann ich allein dadurch verpassen, dass ich für eine Sekunde die Augen geschlossen halte. – Was heißt das für das Begründungsproblem? Dass sinnliche Wahrnehmungen nur dann in für jedermann gültige Begründungen eingehen können, wenn sie von jedermann höchstpersönlich nachvollzogen werden könnten. Diese Nachvollziehbarkeit muss unbedingt sichergestellt sein, weil man sonst gar nicht wissen kann, ob etwas eine „Tatsache in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“ ist.

Die Vorkehrungen, die getroffen werden müssen, um die Nachvollziehbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung zu sichern, gehören offensichtlich nicht zu den wahrgenommenen Sachverhalten selbst. Diese Vorkehrungen müssen die erkennenden Subjekte leisten und - untereinander verabreden. Erst wenn sie erfolgreich getroffen sind und wenn alle, die es angeht, sich über den Sachverhalt verständigt haben, dann kann man sagen: „So isses einfach.“ – „Das ist eine Tatsache“. – „Das und das zeigt sich.“ Also: Wenn eine Tatsache „sich zeigt“, dann bedeutet das: sie zeigt sich unter gleichen Bedingungen jedermann immer gleich.


Wenn dies eine zutreffende Erläuterung von „Begründung“ im Allgemeinen ist, dann muss sie auch für die Begründung von Normen gelten.

Nun sagst Du:


Quote:Entsprechend sage ich: das Ende der Begründungen unserer Normen ist das, was sich zeigt, und das nenne ich die Ethik.



Wenn Du meine Erläuterung von „Begründung“ akzeptierst, müsstest Du auch akzeptieren: Eine Norm kann dann als begründet gelten, wenn ihre Begründung von jedem eingesehen werden kann.

Eine Norm gilt ja, wie gesagt, nicht nur für eine einzelne Person, sondern für bestimmte Personen in einer typischen Situation. (Z.B. eine bestimmte Verkehrsregel für das Linksabbiegen: Sie gilt für jeden Verkehrsteilnehmer, der irgendwo links abbiegen will.) Und folglich muss die Begründung mindestens so allgemein sein, dass jeder, der von der Norm betroffen ist, sie nachvollziehen könnte.

Und jene theoretischen Vorkehrungen, die man zu einer solchen allgemeinen Begründung von Normen treffen müsste, würden dann zusammengenommen den Bereich der Philosophie ausmachen, den man gemeinhin „Ethik“ nennt.

Sicher: Normen müssen nicht notwendigerweise philosophisch begründet sein. Sie können ganz unbegründet sein und trotzdem befolgt werden. (Begründungen brauchen ja, wie oben gesagt, immer nur die Uneinsichtigen.) Normen können auch durch göttliche Gebote begründet sein – zumindest für diejenigen, denen ein „Gott will es so.“ genügt. Sie können auch willkürliche Diktate von Tyrannen sein, die mit Gewalt durchgesetzt werden. Und sicher sind Kerker, Folter, Tod sehr nachvollziehbare „Argumente“ für den Gehorsam. Aber es sind nicht die Art von Argumenten, mit denen die Philosophie Normen begründet.

Übrigens „zeigt sich“ ja gerade in diktatorischen Regimes immer wieder, dass viele Menschen sich auch von der Drohung mit Kerker, Folter, Tod nicht zum Gehorsam pressen lassen. Zwar sagt das Regime: „Das ist hier geltendes Gesetz – Vogel friss oder stirb!“, aber die Uneinsichtigen lassen sich von diesem „So ist es einfach!“ offenbar nicht beeindrucken. Ihnen beweist das nix.

Und das macht uns einmal mehr darauf aufmerksam, dass schiere Fakten niemals etwas begründen, sondern immer nur die Einsicht. Und Einsicht lässt sich nicht erzwingen, sie ist immer „spontan“.

Das ist das Schöne an der „vernünftigen Einsicht“. Allerdings ist es immer wieder auch eine Quelle der Frustration, wenn man diskutiert. Man kann sich „den Mund fusselig“ reden – der andere will es einfach nicht einsehen. Dagegen ist man machtlos...


Es grüßt Dich
Urs


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 06. Nov. 2005, 19:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Bezug: #5

Hi,

Eberhard, deine Analogie hinkt insofern, als dass du noch Geld im Portmonee hast. So, wie wir in einer organisierten Gesellschaft leben. Das, was ich in meinem Kontext meinte, war, welche Überlegungen würdest du denn anstellen, wenn du kein Geld im Portmonee hättest. Dann merkt man, wie unsinnig solche Überlegungen sind - denn du bist nun mal nicht in der Situation, und alle Überlegungen, wie du denn jetzt, wo du nicht in dieser Situation wärest, entscheiden würdest, wenn du in dieser Situation wärest, sind nun wirklich fiktiv, da du dir die Situation, über die du nachdenkst, vielleicht noch nicht einmal realistisch vorstellen kannst.

Die Tatsachen zu erforschen ist zweifellos Aufgabe der empirischen Wissenschaften. Aber kann eine Philosophie eine brauchbare und überzeugende Theorie entwickeln, ohne die Ergebnisse der Empirie zur Kenntnis zu nehmen, sie teils kritisch zu durchleuchten, teils, wenn sie der Kritik stand halten, aufzunehmen, auf gemeinsame Prinzipien zurück zu führen bzw. Prinzipien aus ihnen zu entwickeln? Und ist es nicht auch Aufgabe der Philosophie zu prüfen, ob Theorien insofern wahr sind, als dass sie Tatsachen nicht widersprechen?

Wir leben in einer komplizierten organisierten Gesellschaft. Und wir könnten gar nicht leben, weil wir mit nichts zu Potte kämen, wenn wir jede einzelne Handlung daraufhin überdenken würden, was wir denn nun wirklich wollen; mal abgesehen davon, dass das Subjekt, das Individuum sich dabei durchaus irren kann, entweder, indem es die Situation verkennt, oder indem es kurzsichtig seinen persönlichen oder natürlichen Impulsen folgt. Da stimme ich dir also zu. Ich lehne also ganz und gar nicht ab, dass wir Normen im Diskurs und im Konsens entwickeln müssen, im Gegenteil. Ich will aber, dass ein solcher Diskurs auf wahren, evident wahren Grundaussagen aufbaut. Sonst wäre er nämlich sinnlos, weil zum einen eine mögliche Norm tatsachenfremd, irreal wäre, zum anderen dürfte dann wohl kaum ein Konsens erzielt werden können; es könnte immer nur ein Konsens derjenigen sein, die sich die Welt und die Menschen so wünschen, während der, der unter anderen Verhältnissen lebt, ihn als unmöglich und unsinnig ablehnt.

Darum weise ich als Basis eines solchen Diskurses auf zwei imho (= in my humble opinion ;-)) evidente Aussagen hin.

1. Unwahr ist, dass der Mensch von Natur aus frei ist. Er ist den Zwängen unterworfen, die die Biologie zwecks Erhalt seines Lebens vorgibt. Der Mensch ist nur potentiell frei, weil er ein reflexionsfähiges Wesen ist. Wer den freien Menschen will, und das heißt, den Menschen, der zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann, muss dafür sorgen, dass er seine Grundbedürfnisse so befriedigen kann, dass er überhaupt die Muße hat, Entscheidungen kritisch zu überdenken. Wenn das für unsere Verhältnisse nicht zutrifft, so gibt es doch Verhältnisse, in denen die potentielle Freiheit des Menschen keineswegs verwirklicht ist. Wobei mit derartig unfreien Menschen kein freier Konsens zu erzielen ist - will sagen, die werden den Teufel tun, sich an entsprechende Vereinbarungen zu halten. Weil sie das aufgrund biologischer Zwänge gar nicht können.

2. Es gibt eine humane Ethik, die dazu führt, dass bestimmtes individuelles Verhalten von Menschen allgemein rigoros abgelehnt wird. Hier können wir sogar mit den Religiösen in einen Konsens kommen, denn auch wenn Menschen glauben, dass dieses Verhalten aufgrund göttlichen Gebotes abgelehnt wird, so müssen sie doch zugeben, dass Menschen diese Gebote erst einmal für wahr halten müssen, bevor eine Religion entstehen kann - und das liegt nun mal am Menschen. Überhaupt möchte ich hier bei den Religionen wildern: eine Handlung, durch die ein Individuum sich wegen der rigorosen Ablehnung von der menschlichen Gemeinschaft trennt, können wir Sünde nennen.

Mir scheint, was Menschen rigoros ablehnen, ist das Zufügen von Leid, das grundlose Vernichten und Vertrauensbruch (Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Wir akzeptieren z.B. nicht, wenn ein Tier stückweise bei lebendigem Leib gefressen wird, wir akzeptieren nicht, wenn aus Spaß am Feuerchen ein Wald in Brand gesetzt wird und wir akzeptieren es nicht, wenn gelogen, betrogen, bestohlen oder gar hinterrücks gemordet wird (merke den Unterschied zwischen Mord und Totschlag, der meines Wissens auch in allen Kulturen bekannt ist). Dass das Opfer das nicht akzeptiert, ist klar; aber maßgebend sind die unbeteiligten Zeugen des Geschehens, und die akzeptieren das auch nicht. Daraus folgt, im Diskurs zu entwickelnde Normen dürfen diesen sich aus ethischen Entscheidungen bzw. Urteilen ergebenden ethischen Prinzipien nicht widersprechen, widrigenfalls - werden sie nicht akzeptiert.

Und eine staatliche Ordnung, besonders das staatliche Gewaltmonopol, wird nur dann akzeptiert, wenn es diese Normen übernimmt. Eine Exekutive, die Betrug, Diebstahl und Mord je nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nur verfolgt, wenn Betroffene Opfer, nicht aber, wenn sie Täter sind, wird von anderen sozialen Gruppen nicht als rechtmäßige Exekutive anerkannt.

Es ist offensichtlich, dass der Hinweis auf diese beiden Grundaussagen einen Diskurs über moralische Normen nun wirklich nicht überflüssig macht.
:-)

Du schreibst:
Deshalb ergibt sich für mich aus der Orientierung aller an einem zwangfreien Konsens die Schlussfolgerung, dass nur solche Normen konsensfähig sind, bei denen die Interessen aller Beteiligten unparteiisch berücksichtigt werden.

Ich halte dagegen, konsensfähig sind nur solche Normen, die die anscheinend zum menschlichen Wesen gehörende Ethik berücksichtigen. Ich könnte mir vorstellen, dass die unparteiische Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten sich aus der Ethik ergeben könnte, denn die Ethik ist zwar keine Angelegenheit des sündhaft handelnden Individuums, sondern der dieses Handeln (bzw. dessen Ergebnis) beobachtenden Gemeinschaft, deren Urteil über diese Handlung aber offensichtlich dem Schutz jedes potentiell als Opfer betroffenen Individuums dient.

Daraus folgt aber auch, dass Versuche, das Gemeinwohl rücksichtslos über das individuelle Wohl zu stellen, dauerhaft zum Scheitern verurteilt sind, weil sie der humanen Ethik widersprechen, die genau dieses Individuum schützt (sofern es nicht selbst sündhaft handelt).

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 07. Nov. 2005, 00:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

offenbar meinen wir auch mit dem Wort Evidenz unterschiedliches.

Dass 1+1=2 ist, ist für mich ebenso wenig evident, wie dass 2+2=4 ist. Es sind Zeichen, die folglich für etwas stehen, und dass 2+2=4 ist erfasse ich nicht aufgrund der Evidenz, sondern weil ich eine Regel verstanden habe.

Was evident ist, ist, dass zwei Eier anders aussehen als ein Ei. Es ist auch evident, dass 1 anders aussieht als 2, aber wenn ich das feststelle, habe ich damit überhaupt nichts zu dem gesagt, was 1 und 2 bedeuten. Ich muss es noch nicht einmal wissen. Aber dass sie anders aussehen, ist nicht bezweifelbar.

Eine Argumentation kann mir einleuchten. Wenn ich die Reihe 0;1;3;6;10 habe, dann leuchtet mir ein, dass die 15 als nächste Zahl richtig ist, weil ich die Regel verstanden haben, nach der diese Reihe gebildet ist. Aber wir wissen, dass so etwas keineswegs zweifelsfrei ist. Wir können uns nämlich auch in der Regel irren - und dann leuchtet uns eben eine andere Zahl als Fortsetzung ein. Die dann natürlich falsch ist.

Als evident bezeichne ich etwas nur dann, wenn es zweifelsfrei ist.

Was ich wahrnehme, ist zweifelsfrei (nicht zweifelsfrei sind allerdings die damit verbundenen Zusammenhänge; die sind erdacht, also Irrtum möglich). Allerdings ist es subjektiv evident. Von einer objektiven Evidenz kann ich nur ausgehen, wenn etwas intersubjektiv evident ist.

Es gibt intersubjektive Evidenzen, sonst könnten wir nicht sprechen.

Mit dem Satz 'Wasser hat die Formel H2O' könnte ich nichts anfangen, wenn ich nicht wüsste, was mit Wasser gemeint ist. Was eine Formel ist, kann man erklären, was H und O sind, kann man erklären - aber irgendwo sind die Erklärungen zuende, dann ist eine weitere Erklärung nicht mehr möglich, dann muss man zeigen, was man meint.

Mit der Ethik läuft das genau so. Du kannst Normen vernünftig herleiten und begründen, die gut sind. Aber du kannst nicht vernünftig begründen, was gut ist. Du kannst Gegenstände oder Taten nennen, die gut sind, du kannst begründen, warum sie deiner Ansicht nach gut sind, aber du kannst nicht sagen, was gut ist. Die böse Wespe hat dich gestochen, der gute Weihnachtsmann bringt Geschenke - so lernt man gut und böse, wobei man aus dem Kontext weiß, nicht die äußere Beschreibung, sondern die eigene urteilende Empfindung ist gemeint. Und alles andere kommt erst danach. Auch die Kritik am erlernten - z.B. dass die Wespe gar nicht böse ist. Dafür vielleicht die eine oder andere Sache, die einem als gut begebracht wurde.

So weit erst mal.
Nur noch ne kleine Anmerkung: ich kann durchaus einsehen, dass und wie eine Norm begründet ist. Damit muss ich sie aber noch lange nicht akzeptieren. Auch bösartige Normen können vernünftige Begründungen haben, die auch manchem einleuchten.

Gruß



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 07. Nov. 2005, 09:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> Du fragst: „Ist jede Art von Gemeinschaft nur zu legitimieren, wenn sie auf die Interessen der Individuen zurückzuführen ist?“


........ raubtier rudel
in symbiose mit un menschen in sg menschen sied lungen ......

wartend nur darauf menschen beissen zu können
auf jeden fall immer eine im manente be drohung dar stellend

kann auf jeden fall keine ver fassungs ge mäße ordnung dar stellen !

sondern pure menschen ver achtende macht haberei !
und das staat lich lizenzierte !

die durch das zwingende kreieren
von quasi wolfs kindern

weiter hin ihre macht habereien end los per petieren kann .........


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 07. Nov. 2005, 10:33 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Du machst die Beantwortung der Frage, ob Gemeinschaft nur durch Rückgang auf die Interessen der Individuen zu legitimieren sei, davon abhängig, wie man das Interesse des Individuums definiert. Werde mit „individuelles Interesse“ nur das eigene Wohlergehen des Individuums gemeint, dann müsse man die Frage verneinen. Aber so strikt eigennützig seien Individuen in Wirklichkeit gar nicht:


Quote:Der Fehler der obigen Konstruktion liegt darin, dass die Interessen der Individuen in Wirklichkeit nicht nur im engeren Sinne eigennützig sind, sondern dass sie weit über ihr eigenes individuelles Leben hinausgehen. Menschen haben Interesse daran, dass über ihr individuelles Dasein hinaus die von ihnen geschätzte Gesellschaft samt ihrer Kultur fortbesteht.
Deshalb wünschen sich die Individuen Nachkommen, fördern sie die nachwachsenden Generationen, machen Vermächtnisse und Stiftungen über ihren Tod hinaus oder opfern sich für die Gemeinschaft auf.
Menschen sind nicht so borniert individualistisch und egozentrisch. Einen Hinweis darauf gibt bereits die Biologie des Menschen.



Liegt darin aber nicht eine Rückkehr zum aristotelischen Verständnis des Menschen als „zoon politikon“ und zu einer teleologischen Naturauffassung? Der Mensch ist faktisch ein Gemeinschaftswesen, und deshalb streben die menschlichen Individuen von Natur aus die Gemeinschaft als das größere Gut an. Das Ziel („telos“) der Gemeinschaftsbildung ist ihnen von der Natur einbeschrieben (modern gesprochen: ist ihr genetisches Programm). Sie streben also eigentlich immer das Gute an, nur können sie sich fallweise über ihr wahres Interesse irren, und dieser Irrtum ist die Quelle des Bösen, der Sünde, des Streits...

Ich habe ja auch verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Menschen Gemeinschaftswesen sind, und genau mit diesem Argument die Hobbes’schen anthropologischen Voraussetzungen über den Menschen im Naturzustand kritisiert. Und ich denke auch, das „aufgeklärte Eigeninteresse“ der Individuen schließt die Einsicht mit ein, dass es auf die Gemeinschaft zum schieren Überleben und zu seiner persönlichen Selbstverwirklichung angewiesen ist.

Mir scheint aber, dass man an diesem Punkt vorsichtig sein muss, wenn man die neuzeitliche (liberale) Würdigung des Individuums nicht wieder verspielen will. Es ist klar: Irgendwie muss jede Legitimation von Gemeinschaft und Gemeinwohl (und damit implizit auch von allgemein gültigen Normen) zeigen, wie individuelle Interessen mit den Forderungen der Gemeinschaft vermittelt sind. Dem Individuum muss gezeigt werden können, dass die Gemeinschaft nicht „das Andere“, das Fremde, der Zwang, die Unfreiheit ist.

Aber m.E. kommt es hier darauf an, diese Vermittlung nicht sozusagen hinter dem Rücken der Individuen stattfinden zu lassen. Und genau das wäre der Fall, wenn man sie in die Natur verlegt. Dann genügte als Legitimation von Gemeinschaftsforderungen an das Individuum, dass ein Experte ihm sagte: „Mein Guter, was regst du dich auf? Komm schon, eigentlich willst du es doch auch. Es liegt in deinen Genen.“

Das kann es ja wohl nicht sein. Vielmehr besteht das, was wir gesellschaftliche „Freiheit“ nennen, doch darin, dass die Vermittlung von individuellen Interessen und Gemeinschaftsforderungen im Gemeinschaftsleben selbst vollzogen wird. D.h. dass die Individuen mit ihren unterschiedlichen und abweichenden Meinungen daran kompetent beteiligt sein müssen, was bedeutet, dass man ihnen zutraut zu wissen, was für sie persönlich das Gute ist. Und es bedeutet auch, dass diese dauernde Vermittlung in gewisser Weise ergebnisoffen sein muss, so dass die Anpassung nicht immer nur vom Individuum gefordert wird, sondern umgekehrt die Form der Gemeinschaft auch vom Willen der Individuen abhängt, die sie bilden. Und das hätte zur Folge, dass es viele verschiedene Formen von Gemeinschaft gäbe, je nachdem, welche Individuen sich wie zusammenschlössen und wie sie sich gemeinsam weiterentwickelten.

Aus diesen Überlegungen heraus halte ich gerade den Pluralismus der Gemeinschaftsformen für einen (vermittelten) Ausdruck – und für einen Garanten - von individueller Freiheit.


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von metin_oztaskin am 07. Nov. 2005, 12:00 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 11/05/05 um 14:53:55, Eberhard wrote:Hallo allerseits, hallo urs,

Du fragst: „Ist jede Art von Gemeinschaft nur zu legitimieren, wenn sie auf die Interessen der Individuen zurückzuführen ist?“


Ich denke, die Annahmen, dass einer Gemeinschaft nur dann Legitimation, wenn es im Interesse das Individuum ist, ist berechtigt. Da das Individuum die Basis eine Gemeinschaft bildet. Wenn sich das Individuum Wohl fühlt, dann sind die Voraussetzung für den frieden erfüllt und die Gemeinschaft kann weiterexistieren. Das ist irgendwie sehr einleuchten
Ich denke auch, die Tatsache, das es falsche Verständnis, wenn dass Interesse des Individuums so interpretier, dass sie auf persönliche Wohlergeben wert lege und dass es ihnen gleichgültig ist, was nach ihnen geschieht würde gut dargestellten.
Ich möchte dem, noch ein hinzufügen. Wenn das Verständnis, dass sie auf persönliche Wohlergeben wert lege und dass es ihnen gleichgültig ist, was nach ihnen geschieht, richtig währe, dann würde die Menschen auf die Erziehung der Nachkommen nicht soviel Wert lege. Eine gute Erziehung ist wichtig. Ohne gute Erziehung könnte die Menschen der Wert der Zivilisation nicht erkennen. Doch eine gute Erziehung ist nicht einfach, sondern ziemlicht anstrengt und kostspielig. Aber Investition auf eine gute Erziehung ist lohendes Geschäft.
Wie wichtig eine gute Erziehung ist, kann man erkennen, wenn man den Drogenmissbrauch vergegenwärtig. Die meisten Menschen konsumieren, haben keine halt. Sie greifen zur Drogen, weil die Anforderungen des Alltags nicht gewachsen sind und deshalb unglücklich sind. Sie greifen zur Drogen, um die unglücklichen Situation besser zu bewältigen.
Nach meiner Auffassung ist die Interesse nur auf das persönlichen Wohl beschränkt, wenn sich in eine Situation befinden, in dem sich nicht wohl fühlen. In solche Situation ist schwierig umfassend zu denken und der pflichte für die nachkommende Generation bewusst zu werden. In solchen Situation haben die Menschen Fluchtgefühle. Das heiß sie sind daran interessiert aus der unsicheren Situation raus zu kommen.
Mit freundlichen Grüßen
Metin Öztaskin


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 07. Nov. 2005, 12:05 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------


.... das wohl eines wesen
kann immer nur dann be rück sichtigt .........

wenn es sich um ein ver ant wort liches wesen handelt !

solches aber auf dieser welt
ich nirgends finden ..........



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 07. Nov. 2005, 12:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

Hallo Urs,
es wäre ein Missverständnis, wenn meine Ausführungen zu den nicht nur egozentrischen Interessen der Individuen als eine Bestimmung der individuellen Interessen hinter dem Rücken dieser Individuen oder über deren Köpfe hinweg verstanden würde.

Die Bestimmung der Interessen bestimmter Individuen bleibt immer an das Kriterium der allgemeinen Konsensfähigkeit gebunden, und damit an die Zustimmung der betreffenden Individuen. Wer meine Interessen zu formulieren beansprucht, ohne dass ich diese Formulierung einsehen und teilen kann, der verkündet ein Dogma und verlässt damit die Ebene von Argumentation und rationaler Wahrheitsfindung.

Hallo abrazo,
die intuitionistische Ethik-Konzeption, die Du vertrittst, ist mit einer diskurstheoretischen Konzeption vereinbar. Wenn es einen gemeinsamen Satz von intuitiven ethischen Prinzipien gibt, der in der Motivation aller Menschen verankert ist, dann kommt das einer am zwangfreien Konsens orientierten diskurstheoretischen Konzeption entgegen, denn es ist in diesem Fall einfacher, zu einem einsichtig begründeten Konsens über die Normen des Umgangs miteinander kommen. Das, was alle am ehesten gemeinsam wollen können, wäre dann leichter zu ermitteln.

Wenn es diesen allgemeinmenschlichen ethischen Willen gibt, dann müsste er beim Diskurs über Normen des Handelns zum Vorschein kommen, so dass ein praktischer Konflikt zwischen beiden Ansätzen eigentlich ausgeschlossen scheint.

Noch eine Anmerkung zu der Frage, welchen Stellenwert das Individuum in der Verfassung der Bundesrepublik besitzt. Es gibt zwar im Grundgesetz nicht die Formulierung wie in der Erklärung der Menschenrechte, dass jeder das Recht hat, sein eigenes Glück zu verfolgen, aber es gibt im Grundgesetz stattdessen den § 2, der mit dem Satz beginnt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, der den Interessen der Individuen ebenfalls einen hohen Rang einräumt.

In der von alltag dankenswerter Weise eingebrachten Schweizer Verfassung heißt es: „Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen.“ Mir scheint, dass die Eidgenossen den Begriff des „öffentlichen Interesses“ viel selbstverständlicher gebrauchen als die Bundesdeutschen. Im angelsächsischen Raum ist der Begriff des „public interest“ ebenfalls ganz selbstverständlich.

Zum besseren gegenseitigen Verständnis will ich abschließend noch einmal kurz skizzieren, welche Funktion der Begriff des Gemeinwohls für mich hat.

Der Begriff „Gemeinwohl“ (bzw. „Gesamtinteresse“) dient der Anleitung von Entscheidungen und Handlungen im Namen der Gemeinschaft sowie der Orientierung bei der Gestaltung der Verfahren der Normsetzung.

1. Entscheidungen im Namen der Gemeinschaft (z.B. des Regierungschefs eines Staates), sollten sich am Gemeinwohl orientieren.

2. Die Institutionen zur Setzung verbindlicher Normen (z.B. Wahl- und Abstimmungsverfahren, Gerichte, Wirtschaftsordnung) sollten so gestaltet werden, dass deren Resultate dem Gemeinwohl möglichst entsprechen.

Der Begriff hat also seinen Platz innerhalb einer normativen politischen Philosophie.

Da er dort eine zentrale Stellung einnimmt, hat die Art und Weise seiner inhaltlichen Bestimmung erhebliche Konsequenzen.

Dieser begriffliche Bezugsrahmen enthält noch keinerlei Voraussetzungen über die Struktur der Gemeinschaft, die Art der Beziehungen zwischen den Individuen und Gruppen sowie die Art der Sozialisierung des Individuums. Er ist z.B. auch auf nicht-kapitalistische Gesellschaften oder Landkommunen anwendbar.

Wenn man davon ausgeht, dass die Gemeinschaft dem Wohl der Individuen zu dienen hat, dann lässt sich das Gemeinwohl nur auf der Grundlage des Wohls der Individuen bestimmen.

Dies ist vielleicht eine individualistische jedoch noch keine liberale Konzeption.

Dazu gelangt man erst, wenn man weiterhin festlegt, dass die Individuen ihre Interessen selbst formulieren (Mündigkeit), und wenn man Bereiche bestimmt, die den einzelnen Individuen zugeordnet sind und über die sie allein verfügen dürfen (Eigentumsordnung mit Vertragsfreiheit, also Marktwirtschaft).

Wenn man die gemeinsame Gestaltung der Rechtsordnung der gleichgewichtigen Entscheidung der als mündig angesehenen erwachsenen Individuen überlässt, kommt man zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen. Dies Verfahren ist nicht dem politischen Liberalismus entsprungen ist, der historisch immer Gegner des allgemeinen gleichen Wahlrechts war.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von metin_oztaskin am 07. Nov. 2005, 13:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------


on 11/07/05 um 10:33:30, Urs_meinte_Euch wrote:
Aus diesen Überlegungen heraus halte ich gerade den Pluralismus der Gemeinschaftsformen für einen (vermittelten) Ausdruck – und für einen Garanten - von individueller Freiheit.


Es grüßt Dich
Urs


Hallo Urs,
wie soll man diesen Satze verstehen? Meinst du vielleicht, dass es viele Gemeinschaftsformen nebeneinander existieren sollte, damit die individuelle Freiheit garantiert. Wenn du das so meinst, wie ich in der Frage ausgedruckt habe, dann muss ich dir vollkommen recht geben. In eine Gesellschaft müssen mehre Gemeinschaftsformen existieren könnte. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist der Frieden in der Gesellschaft gefährde. In diesem Fall traute den Individuum nicht zu, das aussuchen, was für sie das besten ist.
Wenn im Zusammenleben die Individuen nicht frei sein können, hatte ein solches Zusammenleben keine Existenzrecht. Es ist klar, dass die Menschen nicht allein leben können, aber die Freiheit des einzelne darf nicht unnötige einschränkt werden. Das heiß, wenn man friedliche Zusammenleben, dann wird die Freiheit auf jeden Fall eingeschränkt, da man auf die Andere Rücksicht nehmen muss. Doch dieser Einschränkung können die Menschen akzeptieren, weil sie Einsicht ist. Sie können jedoch nicht akzeptieren, wenn ihnen in jeden Lebensbereiche hinein diktiert.
Deswegen ist Meinungspluralismus eine wichtig Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben Ohne Meinungsvielfalt gibt es keine Frieden im Zusammenleben.
Mit freundlichen Grüßen
Metin Öztaskin



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 07. Nov. 2005, 20:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

zum Verhältnis von Gemeinwohl und Wohl der Individuen.

Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten Staat beschränkt

Auch wenn abrazo mit Gedankenexperimenten (was wäre wenn) seine Probleme hat, will ich mal modellhaft etwas durchspielen.

Nehmen wir an, die Menschheit ist in verschiedenen souveränen Staaten organisiert, die alle das Bestreben haben, sich auszudehnen und deshalb immer wieder Krieg gegeneinander führen. Der jeweilige Sieger vernichtet oder versklavt die Bevölkerung des besiegten Staates.

Dann hängt Wohl und Wehe der Individuen eines bestimmten Staates entscheidend von dessen militärischer Stärke ab.

Wahrscheinlich würde unter diesen Bedingungen Nationalismus, Patriotismus, Heldentod fürs Vaterland vorherrschende Einstellungen sein und man würde nicht auf das Wohl der Individuen schauen, wenn man das Gemeinwohl bestimmen wollte, sondern auf die Bewaffnung und Stärke des Militärs.

Ich frage mich, ob das Verhältnis von Gemeinwohl und Individualwohl tatsächlich in der Weise von außenpolitischen Bedingungen abhängt, wie es hier scheint?

Grüße an alle von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 08. Nov. 2005, 09:33 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> Die Bestimmung der Interessen bestimmter Individuen bleibt immer an das Kriterium der allgemeinen Konsensfähigkeit gebunden, und damit an die Zustimmung der betreffenden Individuen. Wer meine Interessen zu formulieren beansprucht, ohne dass ich diese Formulierung einsehen und teilen kann, der verkündet ein Dogma und verlässt damit die Ebene von Argumentation und rationaler Wahrheitsfindung.


........ wenn nur wenigstens er kannt würde

dass es nicht um konsens gehen kann
sondern um wahr heit !

weil vor 70 jahren gab es auch konsens
vor 400

vor 2000 ....

nur wenn die wahr heit ge hört
kann es eine menschen würde

eine zu kunft geben !

alles andere ist nur katastrophen wieder holung .......


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 08. Nov. 2005, 10:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo,

"Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten Staat beschränkt." Eberhard

Das Verhältnis europäischen Gemeinwohl sowie Individualwohl war, seitdem westeuropäische Staaten aussenpolitisch chauvinistisch-militärisch auftraten, nationalistisch gestimmt. Angenommen, in der sogenannten Globalisierungs-Zeit erscheinen Völkern europäische Staaten aussenpolitisch nicht mehr einseitig-militärisch, innenpolitisch nicht mehr vaterländisch, sondern, im Gegenteil, völkerverbindend. Das besagte Verhältnis besteht auch dann weiterhin, ist auch weiterhin aussenpolitisch bedingt, nun jedoch nicht mehr mit nationalstaatlicher Kriegsorganisation ... , sondern u.a. von global-völkerbindenen Inhalten bestimmt. Nicht mehr soldatisches Heldentum, nationale Kriegswirtschaft ... vielmehr Verständnis und Solidarität mit den Völkern, die den Wohlstand der Industriestaatlichkeit mangeln, könnte die Zielrichtung abgeben, von dem das Verhältnis europäischen Gemeinwohl und Individualwohl bestimmt wird.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 08. Nov. 2005, 13:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten Staat beschränkt



Der Begriff des Gemeinwohls kann sich m.E. auf jede Form von Gemeinschaft beziehen, in die Menschen faktisch eingebunden sind. Das schließt eine globale Anwendung des Begriffs ein, aber es schließt seine universalistische Begründung aus.

Das Problem der universalistischen Normenbegründung liegt darin, dass sie von den konkreten Individuen methodisch abstrahiert. Das wird an Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“ besonders anschaulich. Die Individuen müssen so tun, als ob sie nicht wüssten, wer sie im Unterschied zu den anderen sind. Diese Unterschiede dürfen keine Rolle spielen.

Auch die diskurstheoretische Begründung von Normen, die Du favorisierst, hat dieses Problem. Zugelassen sind ja nur Argumente, die jeder vertreten könnte, die, wie Du sagst, „allgemein konsensfähig“ wären. Der faktische Konsens zwischen faktischen Betroffenen spielt keine Rolle. „Konsensfähigkeit“ ist eine normative Idee, die jeder Beteiligte beim Argumentieren anstreben soll, ohne jemals überprüfen zu können, ob seine faktischen Äußerungen, gerichtet an faktische Gesprächspartner, wirklich allgemein konsensfähig sind.

Bei der Begründung von intersubjektiv geltenden Tatsachenaussagen stellt sich das Problem der Individualität bei den Erfahrungen. Aber hier kommen ganz entscheidend die technischen Fähigkeiten ins Spiel, Erfahrungen so zu manipulieren, dass sie unter gleichen Bedingungen faktisch immer gleich sind. Eine technische Erzwingung von Gleichheit unter menschlichen Individuen ist aber, wo es um eine zwanglose Verständigung gehen soll, weder sinnvoll noch wünschenswert.

Das Mittel, mit dem Individuen gleiches Handeln unter gleichen Bedingungen ermöglichen, sind Normen. Normen können unter Zwang befolgt werden, aber auch mehr oder weniger freiwillig. Freiwillig normenkonform ist Handeln, wenn der Handelnde die Norm für sich akzeptiert – aus welchen Gründen auch immer.

Nun sollen, nach dem Credo der Philosophen, die eine universalistische Normenbegrünung vertreten, Normen nur dann eine „moralische“ Qualität aufweisen, wenn sie mit solchen Gründen gestützt werden können, die ausnahmslos jeder einsehen müsste. Nun ist aber Einsicht nicht erzwingbar. Und somit tritt an dieser Stelle mit systematischer Zwangsläufigkeit das Problem auf, dass jemand „logisch zwingend“ argumentiert, aber die Einsicht des anderen ausbleibt.

Bei Dir, Eberhard, wird in einer ziemlich krassen Weise deutlich, dass Du aus der logischen Zwangsläufigkeit von Argumenten auch die Berechtigung ableiten willst, andere zum konformen Handeln zu zwingen (siehe die Fußnote). Wenn der andere die Begründung der Norm nicht freiwillig einsieht, obwohl das Argument formal korrekt (und somit „wahr“) ist, so ist der Einsatz von Gewalt legitim und geboten.

Hier schlägt die Liberalität, der doch die Freiheit und das Wohl der Individuen so am Herzen liegt, in Zwangsherrschaft über die uneinsichtigen Individuen um. Mir ist klar, dass das Rechtssystem so verfährt, und ich sehe auch ein, dass es vernünftig ist, so zu verfahren. Große Zusammenschlüsse von Individuen, mit reicher Binnendifferenzierung, kommen ohne ein zwangsbewehrtes Recht nicht aus.
Aber ich bestreite energisch, dass das für das Recht charakteristische Verfahren geeignet sei, Moralität schlechthin zu begründen.

Moralisches Handeln – d.h. gemeinschaftsorientiertes Handeln – kommt zustande durch Bildungsprozesse, in denen die Individuen lernen, ihr Handeln und ihre Ansprüche mit dem Handeln und den Ansprüchen der andern abzustimmen. Auch in diesen Lernprozessen spielt Zwang immer wieder eine Rolle, und jeder kennt die Widerstände derjenigen, die lernen sollen, sich zu disziplinieren. Aber immer wieder dreht es sich in diesen Lernprozessen darum, dem Lernenden zur freiwilligen Einsicht zu verhelfen – mit Druck, mit Lockungen und Belohnungen, mit List (Hegel sprach von der „List der Vernunft“), und immer: mit möglichst viel „Spielraum“, mit persönlicher Anteilnahme und Anerkennung der Persönlichkeit des Lernenden.

Mit dem Verständnis dieser Prozesse fängt für mich Moralphilosophie eigentlich erst an - also dort, wo sie für Dich schon aufgehört hat. [1]

Freie Einsicht kommt nur zustande in faktischen Beziehungen zwischen Individuen, und zwar solchen Beziehungen, die den Individuen möglichst viel faktischen Spielraum lassen, sich zu entfalten. Spielraum wofür? Für ihre Eigenheiten. Denn es ist doch plausibel, dass sich Individuen auch im normenkonformen Handeln dann frei fühlen, wenn sie dabei „sie selbst“ bleiben, wenn sie ihre Eigenheiten „einbringen“ und diese auch anerkannt werden.
Ein Begriff von Gleichheit, der sich auf die Abstraktion vom Individuellen gründet, ist dieser Realität nicht angemessen.



(Ich wollte ursprünglich auf das Gemeinwohl zurück kommen, aber der Beitrag ist so schon sehr lang. Ein andermal.)

Es grüßt Dich
Urs



[1] So schreibst Du im Thread „Darf man sich zugrunde richten?“ im Beitrag Nr. 93:


Quote:Für die Moralphilosophie stellt der nicht Konsenswillige kein theoretisches Problem dar, weil er seine Normen ohne den Anspruch auf nachvollziehbare Begründbarkeit vertritt, womit sie wissenschaftlich irrelevant sind. (Was jedoch nicht ausschließt, dass der nicht Konsenswillige weiterhin ein großes praktisches Problem darstellt.)

Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine Bekämpfung kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.



Die „Bekämpfung“ des nicht Konsenswilligen... Das sind Worte, die in einem Zusammenhang mit Moral m.E. nichts zu suchen haben. Hier wird ganz deutlich, dass Dein Verständnis von Moral sich ausschließlich am zwangsbewehrten Recht orientiert.




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 08. Nov. 2005, 15:13 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

Hallo Metin!

Ich glaube, Du hast ziemlich genau verstanden, was ich meinte. Du sagst in Deinen Worten etwas Ähnliches.

Was in unseren europäischen Staaten die Freiheit ganz wesentlich ausmacht, ist der Pluralismus. Und damit meine ich nicht nur einen Pluralismus der Meinungen (jeder darf öffentlich sagen, was er für richtig hält), sondern auch den Pluralismus der verschiedenen Lebensformen.

In einem Rechtsstaat sind alle Individuen vor dem Gesetz gleich. Naja, zumindest sollte es so sein, in Wirklichkeit stimmt das nicht immer.
Z.B. wäre wahrscheinlich jeder normale Bürger in Beugehaft genommen worden, der sich wie Helmut Kohl geweigert hätte, eine Zeugenaussage über kriminelle Handlungen ihm bekannter Personen zu machen. Aber Helmut Kohl ist eben Helmut Kohl, klarer Fall.
Auch die Vorgänge um den ehemaligen Münchener Staatsanwalt, der die Steuerhinterziehung von Max Strauß (Sohn von Franz-Josef Strauß) konsequent verfolgte, zeigen, dass nicht immer gleiches Recht für alle gilt. Denn dieser aufrechte Staatsanwalt erfuhr Druck von politischer Seite, Mobbing von seinen Kollegen und wurde schließlich strafversetzt. Er hat inzwischen eine Initiative von Juristen gegründet, die sich für mehr Unabhängigkeit der Staatsanwälte von politischen Instanzen einsetzt.

Nun gut, in einem Rechtsstaat sind – im Prinzip – alle Individuen vor dem Gesetz gleich. Aber deswegen bleiben sie trotzdem Individuen mit ihren Eigenheiten und Ansprüchen. Und nur, wenn sie diese Eigenheiten auch ausleben dürfen, können sie sich frei fühlen. Ja, ein Rechtsstaat muss auch die vielfältigen Lebensformen seiner Bürger als ein schützenswertes Gut anerkennen.

Außerdem denke ich, dass es gerade das pluralistische „Konzert“ der gesellschaftlichen Lebensformen ist, aus dem freiheitlich und zugleich verantwortlich denkende Staatsbürger hervorgehen. Ein Staat lebt eben nicht vom Recht allein. Er braucht als Staatsbürger solche Individuen, die auch im Sinne des Ganzen denken und handeln können. Und solches Denken und Handeln lernt man nicht in Gerichtsverhandlungen, wo jeder nur um sein persönliches Recht kämpft. Aber auch nicht in einem ökonomischen Handeln, bei dem jeder nur seinen persönlichen Vorteil sucht...


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 08. Nov. 2005, 17:45 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

Du siehst im diskurstheoretischen Ansatz bestimmte Probleme, auf die die ich später eingehen werde.

Zuvor möchte ich jedoch noch deutlich machen, dass ich mit Deiner Interpretation meiner Position nicht einverstanden bin.

Du schreibst:

“Bei Dir, Eberhard, wird in einer ziemlich krassen Weise deutlich, dass Du aus der logischen Zwangsläufigkeit von Argumenten auch die Berechtigung ableiten willst, andere zum konformen Handeln zu zwingen (siehe die Fußnote). Wenn der andere die Begründung der Norm nicht freiwillig einsieht, obwohl das Argument formal korrekt (und somit „wahr“) ist, so ist der Einsatz von Gewalt legitim und geboten.“

Die Fußnote, auf die Du diese Einschätzung stützt, enthält das folgende Zitat von mir:

„Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine Bekämpfung kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.“

Wenn man diesen Satz isoliert betrachtet, liegt tatsächlich die Interpretation nahe, dass der Nicht-Konsenswillige bekämpft werden müsse (obwohl dies nicht gemeint ist und auch so nicht explizit ausgesagt wird).

Dass eine solche Interpretation falsch ist, geht zweifelsfrei aus der folgenden Passage hervor, die kurz vor dem von Dir herangezogenen Satz steht. Dort schreibe ich:

„Wer sich nicht zwangfrei einigen will, der gehört für mich nicht zu den ‚Menschen guten Willens’, Vor ihm muss ich mich in Acht nehmen.

Das bedeutet noch nicht, dass ich ihn als Feind betrachte, den ich unschädlich machen muss. Ich kann aus meiner Sicht seine Interessen mit berücksichtigen und ihm seine Rechte erhalten in der Hoffnung, dass er doch noch einsichtig wird. Diesen Prozess kann ich mit pädagogischen oder therapeutischen Mitteln unterstützen.“

Ich beziehe den schwierigen Weg hin zur konsensorientierten Argumentation hier ausdrücklich mit ein. Dazu gehört z.B. das Erlernen der nötigen Begriffe, die Anwendung der Logik und die Beseitigung von Vorurteilen und emotional verankerten Denkblockaden. Ich erwähne ausdrücklich das pädagogische und das therapeutische Verhältnis zum nicht Konsenswilligen.

Um zukünftige Missverständnis zu vermeiden, werde ich den anstößigen Satz folgendermaßen umformulieren: „Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Die weitere Auseinandersetzung mit ihm kann nicht mehr auf der Ebene der Argumentation erfolgen sondern erfordert praktisches Handeln.“

Dies erstmal vorweg, damit sich hier nichts Falsches verfestigen kann von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 09. Nov. 2005, 00:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Moralisches Handeln – d.h. gemeinschaftsorientiertes Handeln – kommt zustande durch Bildungsprozesse, in denen die Individuen lernen, ihr Handeln und ihre Ansprüche mit dem Handeln und den Ansprüchen der andern abzustimmen.

Bedeutet das, dass unsere Normen sich in gegenseitiger Abstimmung der Individuen untereinander von der Steinzeit bis jetzt entwickelt haben? Dann frage ich allerdings, warum sie sich so etnwickelt haben und nicht anders und warum wir gesellschaftliche Entwicklungen, die uns für uns selbst nicht so geeignet erscheinen (Pol Pot) nicht als Entwicklung in gegenseitiger Abstimmung von Individuen von Gesellschaften ansehen, die nicht unserer Kultur angehören und die man deshalb so lassen sollte wie sie sind.

Wenn aber unsere Normen nicht oder nicht ausschließlich Ergebnis solcher Entwicklungen sind (und warum sonst sollte man sich um Normen bemühen?), dann kannst du doch nicht sagen:

Mit dem Verständnis dieser Prozesse fängt für mich Moralphilosophie eigentlich erst an
Denn was ist es, was da vor sich geht?
Und was wäre die Konsequenz?
Wenn ein achtjähriges Mädchen in der Szene ihrer Mutter beim Haschischdealen hilft, dann lernt sie die Normen dieser Szene, wie du es beschreibst. Aber - da kommt eben wieder die alte Frage: wollen wir das? Und wenn wir es nicht wollen: warum nicht?

Ich stimme Eberhards Bemühen um einen diskurstheoretischen Konsens zu - wenn mir auch dein individualistischer Ansatz nicht so recht gefällt. Aber das mag vielleicht daran liegen, dass ich mehr Vertrauen in den Willen von Gemeinschaften habe, das Individuum zu schützen. Deswegen habe ich wohl weniger Sorge um Totalitarismus. Er ist schlimm genug, aber in meinen Augen eine staatliche Organisationsform, die sich nicht bis in die menschlichen Gemeinschaften hinein durchsetzt.

Ich stimme zu, weil ich nicht sehe, wie man sonst Normen entwickeln und etablieren will. Ist nicht unser Rechtssystem auf einen Grundkonsens angewiesen? Und weicht es nicht überall da auf, wo dieser Grundkonsens nicht mehr gilt, sei es in Subkulturen, sei es aber auch, wo ich im Moment entsprechende Tendenzen sehe, im Konflikt zwischen Wohlhabenden und sehr Wohlhabenden, die sich zur Mehrung ihres Besitzes bei Strafe des Gefressen Werdens von anderen, wenn sie das nicht tun, über bisher geltende Normen hinwegsetzen, und Arbeitslosen, insbesondere Hartz IV-Empfängern, die die ihnen gesetzten Normen nicht mehr als rechtmäßig empfinden und deswegen offenbar vielfach zu torpedieren trachten?

Normen sind doch nur dann Normen, wenn man sich allgemein daran hält. Wenn allgemein anerkannt wird, dass sie richtig sind. Ist das nicht der Fall, dann sind es nur papierne Normen, die nur ein Teil der Gesellschaft lebt, wenn überhaupt. Welche Möglichkeit gäbe es denn, eine allgemeine Gültigkeit zu erreichen, außer dem Konsens?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 09. Nov. 2005, 02:00 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!



Quote:Bedeutet das, dass unsere Normen sich in gegenseitiger Abstimmung der Individuen untereinander von der Steinzeit bis jetzt entwickelt haben? Dann frage ich allerdings, warum sie sich so entwickelt haben und nicht anders und warum wir gesellschaftliche Entwicklungen, die uns für uns selbst nicht so geeignet erscheinen (Pol Pot) nicht als Entwicklung in gegenseitiger Abstimmung von Individuen von Gesellschaften ansehen, die nicht unserer Kultur angehören und die man deshalb so lassen sollte wie sie sind.



Ich wüsste nicht, wie sich unsere Normen anders als durch eine Art von „trial and error“ im Laufe der Geschichte sollten entwickelt haben. Es wurden ja eine Menge von Lebensformen entwickelt, viele sind wieder untergegangen, teils durch äußere Einwirkung, teils wegen innerer Brüchigkeit. Und da „wir“ nun mal Lebewesen mit Vernunft sind, haben immer auch Reflexion, Vernunft und gezielter Gestaltungswille ein Wörtchen mitgesprochen bei diesen Entwicklungen.

Über Pol Pot weiß ich nicht viel. Aber er scheint ja, wie die meisten Unglücksbringer unter der Sonne, im Namen einer Idee gehandelt zu haben. Hitler und die Seinen wollten ja auch nur das Beste für das deutsche Volk. Ich glaube, es gab überhaupt nur sehr wenige Tyrannen, die das Böse taten, weil sie das Böse wollten.

Tiere haben, ihren Artgenossen gegenüber, eine natürliche Tötungshemmung. Menschen haben sie eigentlich auch, aber sie ist überwindbar. Und zwar, wie uns die Sozialpsychologen gezeigt haben, durch Ideen, namentlich durch die feste Überzeugung, im Auftrag des Guten zu handeln. Diese Überzeugung scheint uns zu beflügeln und zu einer besonderen Konsequenz im Umgang mit dem Bösen anzuhalten...



Im Übrigen finde ich es schwer, Deine Position zu verstehen. Einerseits sprichst Du Dich im Namen des Glaubens vehement gegen vernünftige moralische Prinzipien aus, andererseits stimmst Du Eberhard zu, dem es nun ganz ausgeprägt um den Zusammenhang von Wahrheit – Vernunft – Normen geht, und der mit religiösen Autoritäten („Dogma“) nichts anfangen kann. Er setzt auf die Wissenschaft.
Einerseits betonst Du die Vielfalt der verschiedenen Gemeinschaften (z.B. Köln), andererseits siehst Du den erforderlichen Grundkonsens durch „Subkulturen“ gefährdet.

Was mich angeht, so bin ich nicht gegen Konsens. Ich bin nur gegen die Idee eines Konsenses, der die Individualität der Individuen nicht zu integrieren vermag. Ich bin gegen das „abstrakte Allgemeine“, das sich in die Wirklichkeit nur gegen die bzw. auf Kosten der Individualität umsetzen lässt. Diese Linie habe ich von Anfang an verfolgt.

Ich habe in fast jedem Beitrag irgendetwas Zustimmendes zum modernen Rechtsstaat und seiner (im Prinzip) egalitären Begründung gesagt. Aber ich habe immer betont, dass dieses (im Prinzip) egalitäre Recht nicht die einzige Form menschlicher Vergesellschaftung ist und sein kann.

I can’t help it – wir Menschen sind eine Art, die sich aufgrund ihrer art-allgemeinen Anlagen durch eine besondere Individualisierung des Handelns auszeichnet. Und ich bestehe hartnäckig darauf, dass DIESES Allgemeine, das sich IM Individuellen realisiert, nicht durch untaugliche philosophische Konzepte unter den Teppich gekehrt wird. Es gilt, das KONKRETE ALLGEMEINE zu verstehen und anzuerkennen, das jeder von uns auf seine unverwechselbare Weise ist. Dies anerkennen ist für mich gleichbedeutend mit „Humanität“.

Die universalistische Normenbegründung dagegen muss schon wegen ihres Ansatzes vor einem großen Teil der menschlichen Wirklichkeit die Augen verschließen. Diese Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, geht sie nichts mehr an. Wie könnte das deutlicher ausgedrückt werden als durch Rawls’ „veil of ignorance“? Oder durch Eberhards Satz, die Aufgabe der Moralphilosophie sei da beendet, wo der nicht Konsenswillige identifiziert sei?


Es grüßt Dich
Urs


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 09. Nov. 2005, 02:10 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
PS.

Zur Erinnerung zitiere ich mal, wie Du damals auf Ebehards Beitrag geantwortet hast, aus dem ich oben zitiert habe:


Quote:(Eberhard) Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert

(Abrazo) Um Himmels willen, Eberhard, denk mal daran, was du da sagst!
Wir dürften nicht den jeweiligen Kontext aus den Augen verlieren. Es gibt die nicht konsenswillige Einzelperson und die nicht konsenswillige Subkultur innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft. Es gibt aber auch andere nicht konsenswillige, Gruppen, die Millionen Menschen umfassen, nämlich Angehörige anderer Kulturen und Staaten. Soll es die Konsequenz der Moralphilosophie sein, zu ihnen Kontakte abzubrechen, ggf. Kriege zu führen? Das kann dann keine Moralphilosophie sein.

In der Theorie klingt das alles ja recht nett. Auch die Sache mit dem Verzichten auf eigene Interessen. Aber wie sieht das bitte in der Praxis aus?



Es ist wirklich nicht einfach, Deine Position zu verstehen...

:-)

Es grüßt Dich
Urs


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 09. Nov. 2005, 09:57 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------


....... warum wohl ....... ?

propagiert ihr immer jede krank heit ........ ?
aber keine weis heit ?

>>>> weil ihr alle ......

für die massen krank heit un be zahl bare kranke !
wie euere vor fahren vor 70 jahren auch !

damals wurde auch die größte krank heit
zum an führer er nannt !

wie heute auch ..........

wurde der krankeste arzt
in die höchsten ränge er hoben !

wie heute auch .........

es ist also nicht
dass ihr nicht weise !

auch nicht
dass ihr keinerlei krank heits empfinden !

ihr habt eine richtige ein bildung
auf euer massen krank sein .........

und deshalb ver steht einen homo sapiens nicht !



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 09. Nov. 2005, 11:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

Du schreibst:

“Wir Menschen sind eine Art, die sich aufgrund ihrer art-allgemeinen Anlagen durch eine besondere Individualisierung des Handelns auszeichnet. Und ich bestehe hartnäckig darauf, dass DIESES Allgemeine, das sich IM Individuellen realisiert, nicht durch untaugliche philosophische Konzepte unter den Teppich gekehrt wird. Es gilt, das KONKRETE ALLGEMEINE zu verstehen und anzuerkennen, das jeder von uns auf seine unverwechselbare Weise ist. Dies anerkennen ist für mich gleichbedeutend mit „Humanität“.

Die universalistische Normenbegründung dagegen muss schon wegen ihres Ansatzes vor einem großen Teil der menschlichen Wirklichkeit die Augen verschließen. Diese Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, geht sie nichts mehr an.“

Mit diesen Sätzen erweckst den Eindruck einer unzulässigen Gleichmacherei durch Ansätze wie z.B. die Diskurstheorie.

Dabei erscheint es so, als wollten derartige Konzeptionen die unverwechselbare Individualität der Menschen verschwinden lassen („unter den Teppich kehren“).

Dazu sind zwei Richtigstellungen nötig.

Zum einen ist nicht das ganze Leben durchmoralisiert und durchnormiert. Moral und Recht betreffen nur einen begrenzten Ausschnitt unseres Lebens. Weite Bereiche sind – zum Glück – fern aller Pflichten und Rechte. Der ganz individuelle Reiz von Leonardos Mona Lisa, die Freude an einem lustigen persönlichen Erlebnis, mein besonderes Verhältnis zu meinen Eltern, die Charakteristika meiner persönlichen Handschrift usw. usf. all diese inviduelle Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch diese beeinträchtigt werden. Ins Blickfeld der Moralphilosophie können nur moralisch relevante Eigenheiten der Individuen gelangen, und das sind m.E. vor allem solche, die zu Konflikten mit anderen führen können.

Zum Zweiten. Es ist in der Tat so, dass moralische und rechtliche Normen gewöhnlich von der spezifischen Identität der Individuen abstrahieren:
- In der christlichen Moral ist ganz allgemein vom „Nächsten“ die Rede,
- Kants Kategorischer Imperativ richtet sich an jedes beliebige Individuum,
- die Menschenrechte sollen für alle Menschen gelten,
- dem Utilitarismus geht es nur um das größte Glück als solchem, unabhängig davon, wessen Glück das ist usw.

Dies ist nun kein Zufall sondern ergibt sich aus dem Zweck, dem diese Normen dienen sollen, nämlich eine allgemein akzeptable Regelung des Umgangs miteinander zu schaffen.

Dieser Zweck kann meines Erachtens nur dann erreicht werden, wenn diese Regelungen unabhängig davon formuliert und angewendet werden, um welche Person oder Gruppe es gerade geht. Damit Normen allgemein akzeptabel sein können, müssen sie deshalb „personunabhängig“ formuliert sein.

Umgekehrt schafft eine singuläre Norm (also eine Vorschrift, die nur einen bestimmten individuellen Fall regelt) ein „Präjudiz“ für alle anderen, gleich gelagerten Fälle.

Wer die Einzelfallentscheidung billigt, der muss auch für alle andern Fälle, auf die dieselbe Beschreibung zutrifft wie auf den Einzelfall (also gleichartige Fälle), eine entsprechende Entscheidung billigen.

Abschließend noch zwei Punkte:

Die Herstellung einer Situation der Ungewissheit als Mittel zur Verhinderung eigeninteressierten Urteilens und Handelns und damit zur Erleichterung eines Konsens, ist keineswegs ein Mittel zur Gleichmacherei der Individuen. Diese Konstruktion kann man z.B. praktisch anwenden, wenn es um die Aufteilung eines Erbes auf 3 gleichberechtigte Erben geht. Man bildet zuerst einvernehmlich 3 möglichst gleichwertige Teile und lost erst danach diese Teile unter den 3 Erben aus.

Außerdem möchte ich den mir zugeschriebenen Satz: „die Aufgabe der Moralphilosophie sei da beendet, wo der nicht Konsenswillige identifiziert sei“ in seinen argumentativen Zusammenhang stellen, damit hier keine Missverständnisse entstehen (z.B. dass dies die einzige Aufgabe sei o.ä.).

Der zitierte Satz bezieht sich auf das Problem der Auseinandersetzung mit jemandem, der für die von ihm vertretene Norm allgemeine Geltung und Befolgung verlangt und der sich dabei auf intersubjektiv nicht nachvollziehbare Argumente stützt.

Die vorrangige Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft ist es in diesem Fall, die behauptete fehlende intersubjektive Nachvollziehbarkeit (und damit Konsensfähigkeit) einer solchen Position nachvollziehbar zu begründen. Mehr zu verlangen, etwa die Widerlegung seiner Ansichten oder gar die Herbeiführung der Einsicht des Betreffenden in die Falschheit seiner Ansichten, wäre der Situation nicht angemessen.

Die daran anschließenden Fragen, wie man psychologisch, pädagogisch, therapeutisch, taktisch oder politisch mit einem nicht Konsenswilligen umgeht, der seine Norm dogmatisch vertritt und Befolgung verlangt, überschreiten die Grenzen der Moralphilosophie. Dazu muss man z.B. die sozialpsychologischen Forschungen zu Vorurteilen, Einstellungsänderungen, Verinnerlichung von Normen etc. heranziehen.

In der Hoffnung, möglichen Missverständnissen zumindest etwas entgegengewirkt zu haben, grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 09. Nov. 2005, 13:41 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Wir haben unterschiedliche Auffassungen von der Aufgabe der philosophischen Ethik.

Du beschränkst Ethik auf normative Ethik, wobei Normen Dich interessieren als Regelungen für mögliche Konflikte.
Mich interessieren die „Bedingungen der Möglichkeit“ von moralischem Handeln insgesamt. Es geht mir also nicht nur um die Frage, wie Menschen handeln sollen, sondern wie sie gemeinschaftlich handeln können, ohne dabei ihre individuelle Freiheit einzubüßen.
Denn was nützt es zu wissen, wie Menschen handeln müssten, um für Gerechtigkeit auf der Welt zu sorgen, wenn man nicht weiß, ob und wie die Verwirklichung möglich ist, und was Menschen – Gruppen oder Individuen – konkret dazu beitragen können.



Quote:All diese individuelle Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch diese beeinträchtigt werden. Ins Blickfeld der Moralphilosophie können nur moralisch relevante Eigenheiten der Individuen gelangen, und das sind m.E. vor allem solche, die zu Konflikten mit anderen führen können.



Es kann der Philosophie in der Tat nicht darum gehen, die ganze individuelle Vielfalt auf Begriffe zu bringen. Wohl aber kann sie nach den allgemeinen Bedingungen fragen, unter denen Individuen moralisch handeln. Und sie kann, über Analyse und Begründung hinaus, auch jene „praktischen Probleme“ ins Auge fassen, die eine rein normative Ethik ausklammert.



Quote:Dieser Zweck [= eine allgemein akzeptable Regelung des Umgangs miteinander zu schaffen] kann meines Erachtens nur dann erreicht werden, wenn diese Regelungen unabhängig davon formuliert und angewendet werden, um welche Person oder Gruppe es gerade geht. Damit Normen allgemein akzeptabel sein können, müssen sie deshalb „personunabhängig“ formuliert sein.



Normen müssen „allgemein akzeptabel“ sein, ja. Und sie müssen so weit unabhängig von den Personen formuliert sein, dass sie für jede Person in einer bestimmten typischen Situation gelten können.

Es fragt sich aber, wie weit man hier die Allgemeinheit versteht. Meine Antwort: Es genügt die Allgemeinheit der faktisch Betroffenen. Es ist unnötig – und auch gar nicht zweckdienlich -, jede Norm universell begründen zu wollen. Die Gründe müssen einsichtig sein für jeden, der von einer Norm betroffen sein kann.


Wenn die Heiratsregeln bei den Kwakiutl vom Ehemann verlangen, dass er einen Brautpreis an die Eltern zu entrichten hat, so bin ich davon nur betroffen, wenn ich eine Kwakiutl heiraten will. Und sollte dies der Fall sein (man weiß ja nie, was alles passieren kann), werde ich nicht anfangen, mit den Eltern meiner Braut über die rationale Begründung dieser Norm zu diskutieren, sondern ich werde diesen Brauch respektieren oder – sollte der Preis mein Vermögen übersteigen – die Braut bei Nacht und Nebel entführen (ihr Einverständnis und ihre leidenschaftliche Liebe vorausgesetzt). Da aber Heiratsregeln keine Regeln zur Verhinderung von Heiraten sind, werden die Eltern schon keinen Preis verlangen, den kein Mensch bezahlen kann...
Es würde mich auch keine Verbiegung meiner selbst kosten, diesen Brauch zu respektieren. Alle liebenden Eltern auf der Welt möchten sicher sein, dass der künftige Mann ihre Tochter nicht unglücklich macht. Sie möchten als Eltern respektiert werden, sie möchten auch spüren, dass mir viel an ihrer Tochter liegt – lauter nachvollziehbare Motive, die hinter so einer Regel stehen mögen. Für mich, der ihre Tochter liebt, ist sie wie ein Geschenk; warum sollte ich den Eltern nicht ein Gegengeschenk machen?

Ich habe dieses Beispiel ausgewalzt, um zu zeigen: Wenn man sich auf Menschen handelnd einlässt, mit ihnen kommuniziert, sich in ihre Lage versetzt – dann wird ihr Handeln verständlich, dann lässt sich in der Regel (nicht immer, ich weiß) ein gemeinsamer Weg finden. – Diese faktische Kommunikation ist etwas ganz anderes als die Beurteilung einer kuriosen Heiratsregel nach universellen Prinzipien, die ein Philosoph fernab und unbeteiligt am Schreibtisch vornehmen mag.

Und nach allem, was wir über Konflikte zwischen Menschen und Völkern wissen, ist es in der Regel so, dass Abstraktionen - wie Vorurteile, Entdifferenzierungen, Generalisierungen - Konflikte auslösen oder verschärfen. Jeder Streit nimmt sofort an Schärfe zu, wenn es nicht nur um die Bereinigung der konkreten Sache geht, sondern „ums Prinzip“.

Die treibende Kraft moralischen Handelns liegt also darin, dass Menschen konkret miteinander umgehen, sich streiten und einigen, nicht in der Verordnung universeller Normen, die präventiv jeden Streit vermeiden sollen. Das ist eine Einsicht der praktischen Menschenkenntnis, die von wissenschaftlichen Generalisierungen nicht aufgewogen werden kann. Und da es in der Ethik um das konkrete Handeln konkreter Individuen geht, verfehlt die Ethik ihre Aufgabe, wenn sie sich auf Prinzipien zurückzieht.



Es grüßt Dich
Urs





--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 09. Nov. 2005, 17:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo urs,

Du schreibst:

„Es ist unnötig – und auch gar nicht zweckdienlich -, jede Norm universell begründen zu wollen. Die Gründe müssen einsichtig sein für jeden, der von einer Norm betroffen sein kann.“

Da bin ich mit Dir einer Meinung. Eine Norm muss erstmal nur für diejenigen konsensfähig sein, von denen die Befolgung der Norm verlangt wird. Wenn irgendwelche Individuen oder Gruppen sich selber bestimmte Verhaltensregeln geben, so habe ich damit solange kein Problem, als diese Regeln nicht auch von mir befolgt und akzeptiert werden sollen. Insofern bin auch ich kein Anhänger universalistischer Prinzipien.

Deine Formulierung geht über den Kreis der Adressaten einer Norm noch hinaus und verlangt die Konsensfähigkeit der von einer Norm Betroffenen.

Dies ist insofern richtig, als eine Norm zwar für die Adressaten akzeptabel sein kann, aber nicht für Dritte, die von der Befolgung der Norm betroffen sind. Ein extremes Beispiel wären z.B. die Normen einer Mafia, die nur für deren Mitglieder gelten („Zeugen sind sofort für immer zum Schweigen zu bringen“).

Die potentiellen Zeugen wollen keineswegs erschossen werden, so dass durch die Befolgung der internen Norm ein Konflikt mit Außenstehenden geschaffen wird.

Die internen Normen stellen keine akzeptable Lösung dieses Konfliktes dar, im Gegenteil, sie erzeugen ihn erst. Wenn es um die inhaltliche Richtigkeit einer Norm geht, die einen bestimmen Konflikt regeln soll, so müssen alle am Konflikt Beteiligten zustimmen können

Abschließend noch einige Klarstellungen zum „moralischen Diskurs“ also zur Rolle der konsensorientierten, zwangfreien Argumentation bei der Beantwortung normativer Fragen (Wie soll ich handeln?).

Neben der Ebene des von praktischen Handlungszwängen entlasteten wissenschaftlichen Streits der Gelehrten um inhaltlich richtige Normen muss es noch die Ebene der verbindlich gesetzten Normen geben, wenn eine soziale Kooperation und Koordination erfolgen soll.

Warum reicht die Ebene der inhaltlichen Diskussion um das Für und Wider der normativen Alternativen nicht aus?

Die Diskussion darüber, welches die am ehesten gemeinsam akzeptierbare Normalternative ist, muss kein definitives Resultat haben. Selbst wenn es einen „ausdiskutierten Konsens“ gibt, so kann dieser mit neuen Argumenten jederzeit wieder in Frage gestellt werden.

(Insofern ist die Befürchtung unbegründet, dass aus dem Diskurs Philosophen-Könige hervorgehen könnten, die sich „im Besitze der Wahrheit“ wähnen und ein Zwangsregime errichten.)

Weil der an inhaltlicher Richtigkeit orientierte Diskurs kein praktikables Verfahren der Normsetzung ist (er muss kein definitives Resultat erbringen, er berücksichtigt weder Termindruck noch Entscheidungskosten), bedarf es daneben der ausdrücklichen Normsetzung. Dies kann durch die konkrete Auslegung einer heiligen Schrift oder der überlieferten Traditionen durch einen autorisierten Priester geschehen, dies kann auch durch eine Abstimmung in einer gesetzgebenden Versammlung geschehen.

Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Ebenen, die nicht zugunsten einer Ebene entschieden werden kann: Der Mehrheitsbeschluss ist zwar inhaltlich falsch aber er bleibt nichtsdestoweniger verbindlich.

Meines Erachtens ist die Berücksichtigung dieser beiden Ebenen (einerseits die durch Argumente begründete inhaltliche Richtigkeit einer Norm und andererseits die durch Verfahren - also institutionell - erzeugte Verbindlichkeit einer Norm) außerordentlich wichtig für das Verständnis des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.

Damit schließt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 09. Nov. 2005, 17:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Urs:
Quote:Und nach allem, was wir über Konflikte zwischen Menschen und Völkern wissen, ist es in der Regel so, dass Abstraktionen - wie Vorurteile, Entdifferenzierungen, Generalisierungen - Konflikte auslösen oder verschärfen. Jeder Streit nimmt sofort an Schärfe zu, wenn es nicht nur um die Bereinigung der konkreten Sache geht, sondern „ums Prinzip“.


Genau so ist es, bravo Urs, dies gilt auch für die Freiheit "als Prinzip"
Moral und Freiheit sind immer relativ.
Aber täuschen wir uns nicht, welche unglaublichen Handlungen und Baudenkmäler (Dom) hat der Mensch nur auf Grund seiner irrealen Hirngespinste vollbracht.
Salve
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 09. Nov. 2005, 23:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

wie wäre es, theoretische Überlegungen zur Normenfindung mal an einem praktischen Beispiel auszuprobieren (geklaut aus einer anderen Diskussion)?

Problem:
Das BVerfG hat heute über § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz verhandelt, also über die Befugnis der Bundeswehr, entführte Flugzeuge, von denen man ausgehen muss, dass sie "gegen das Leben von Menschen eingesetzt" werden sollen, auch dann abzuschießen, wenn sich darin (unschuldige) Besatzungsmitglieder und Passagiere befinden. Die Bf. (ua Burkhard Hirsch und Gerhart Baum) argumentieren zum einen, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden dürfe (obwohl Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ja unter einfachem Vorbehalt steht) und dass die Tötung Unschuldiger auch zur Rettung anderer die Menschenwürde verletze, weil die Unschuldigen zu bloßen Objekten staatlicher Opportunität gemacht würden. Die Bf. gehen wohl davon aus, dass eine Tötung Unschuldiger in Friedenszeiten immer menschenwürdewidrig sei. Aber auch sie erkennen an, dass die Täter selbst getötet werden dürfen. Auch sie meinen also, dass das Lebensrecht über die Menschenwürde hinausreiche, wenn auch nicht weit. Der Bundesinnenminister hat unter anderem argumentiert, dass die Unschuldigen im Flugzeug ja ohnehin bald tot seien. Gleichzeitig hat er bestritten, dass in dieser Erwägung ein Abwägen von Leben gegen Leben liege.

Antwort:
Der Erste Senat des BVerfG hat bereits in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 -- 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 -- ausdrücklich klargestellt, dass folgende (jeglicher militärischen Gewalt zugrunde liegende) Denk- und Handlungsweise mit der Verfassung nicht vereinbar sei:

"Die pauschale Abwägung von Leben gegen Leben, die zur Freigabe der Vernichtung der vermeintlich geringeren Zahl im Interesse der Erhaltung der angeblich größeren Zahl führt, ist nicht vereinbar mit der Verpflichtung zum individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens. "

BVerfGE 39, 1 ff - Dem kann man nur zustimmen und fragt sich, wie dann noch militärische Gewalt in staatlichem Auftrag zulässig sein soll.
Wer nachliest, findet des Rätsels Lösung: Es ging um die Verfassungsmäßigkeit der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.

Gemeinwohl, Individualwohl, Ethik, alles drin.
Und nu?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 10. Nov. 2005, 02:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Ein wichtiger Punkt meiner Kritik an einer rein normativen Ethik ist der Umstand, dass Normensysteme nicht „autark“ sind. Normen, deren Aufgabe in der Regelung von Konflikten besteht, setzen offenbar ein gesellschaftliches Zusammenleben voraus. Und damit es Individuen gibt, die überhaupt imstande sind, ihre Interessen mit „allgemein konsensfähigen Argumenten“ zu vertreten, ist eine gewisse, nicht ganz anspruchslose Sozialisation der Individuen nötig. Denn argumentierende Subjekte fallen nicht vom Himmel, wenn sie gerade für einen Normendiskurs gebraucht werden, es muss sie schon geben. Und mir scheint, dass eine Morallehre, die im Namen der Vernunft auftritt, die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit reflektieren sollte.

Das Recht begrenzt und schützt seinem Wesen nach Freiheitsspielräume, es sorgt für die Verträglichkeit individueller oder gemeinschaftlicher Interessen mit den Interessen anderer. Wie die rechtlich begrenzten Freiheitsspielräume genutzt werden, dazu schweigt das Recht. Wie Menschen die Kompetenz erwerben, ihre Freiheitsspielräume sinnvoll zu nutzen, ohne dabei mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, lässt sich aus Gesetzbüchern so wenig lernen wie aus Büchern über diskurstheoretische Normenbegründung.

Dabei liegt es im Interesse des Rechtssystems, dass es von den Bürgern nicht zu stark beansprucht wird. Wenn nämlich jeder kleine Nachbarschaftskonflikt, jeder Streit zwischen Mietern und Vermietern vor Gericht ausgetragen würde, würde das System zusammenbrechen. Es ist aber in Deutschland schon seit Jahrzehnten so, dass die Justizbehörden von der schieren Masse der zu bearbeitenden Fälle erdrückt werden. Die Gefängnisse sind überfüllt. Das macht deutlich: Das Rechtssystem ist keine Institution zur Erziehung von Staatsbürgern, im Gegenteil, wer erst einmal im Gefängnis angekommen ist, der wird dort allenfalls für eine Kriminellenlaufbahn „sozialisiert“.
(Gleichzeitig klagen die staatlichen Schulen über die zunehmenden Sozialisationsdefizite bei den Schülern. Und immer wieder wird gesagt, dass die Schulen keine elementare Erziehung leisten können.)

Ein Blick auf Frankreich und die dort ausgebrochenen Jugendkrawalle sollte ebenfalls deutlich machen, dass Normensysteme für den Konfliktfall nicht genügen, um ein friedliches und befriedigendes Zusammenleben der Bürger zu ermöglichen. Die Menschen, die da nun ihrer Frustration, ihrer Hoffnungslosigkeit gewaltsam Ausdruck verleihen, wurden vom Staat buchstäblich an den Rand gedrängt und sich dort selbst überlassen. Man hat sich mehr für die Ausbildung der Eliten interessiert. Und ein Innenminister, der dieses Problem in Kategorien der Hygiene (konkret: Reinigung der Straßen vom Abschaum) formuliert und es nur mit staatlicher Zwangsgewalt bekämpft, zeigt doch, wie ohnmächtig im Grunde ein Denken in rein rechtlichen Kategorien hier ist.

(Auch dieser Innenminister hat gewiss die "nicht Konsenswilligen als solche identifiziert". Es ist ja auch nicht so schwer, Gewalttätige als solche zu erkennen. Frage ist aber: Wie bekommt man konsenswillige Bürger, die argumentieren und friedlich protestieren statt durch Gewalt auf sich aufmerksam zu machen?)

Kurz: Normen für den Konfliktfall kommen eigentlich immer zu spät.

Die Frage nach dem Gemeinwohl weist nach meinem Verständnis in die Richtung, aus der die Defizite einer rein normativen Ethik ausgeglichen werden könnten. Denn das „Wohl“ der Individuen oder der Gemeinschaft ist ein positiver Begriff. Er bezieht sich gerade auf das, was von der normativen Ethik ausgespart wird – nämlich auf das gute Leben der Individuen und Gemeinschaften sowie die Voraussetzungen, die sie dazu brauchen.


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 10. Nov. 2005, 09:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> “Wir Menschen sind eine Art, die sich aufgrund ihrer art-allgemeinen Anlagen durch eine besondere Individualisierung des Handelns auszeichnet.


.... auch mafiosie sind sehr unter schied lich !



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 10. Nov. 2005, 13:35 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Ich komme zur weiteren Verdeutlichung noch einmal auf diese Deine Sätze zurück:


Quote:Zum einen ist nicht das ganze Leben durchmoralisiert und durchnormiert. Moral und Recht betreffen nur einen begrenzten Ausschnitt unseres Lebens. Weite Bereiche sind – zum Glück – fern aller Pflichten und Rechte. (...) All diese individuelle Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch diese beeinträchtigt werden.



Nun hatte ich zuvor gesagt, ich sei gegen die „Idee eines Konsenses, der die Individualität der Individuen nicht zu integrieren vermag.“ Und ich denke: Weite Bereiche „nicht tangieren“ und „nicht beeinträchtigen“ – also nicht berücksichtigen oder sich selbst überlassen – ist etwas anderes als sie „integrieren“.

Deine Sätze beschreiben sehr treffend die Funktionsweise des liberalen Rechts: Es eröffnet und begrenzt Freiheitsspielräume, die von den Rechtspersonen in eigener Verantwortung genutzt werden können. Es schreibt nicht vor, wie die Bürger ihre Freiheit nutzen sollen, sondern zeigt nur negativ die Grenzen ihrer Freiheit auf und droht für den Fall der Grenzüberschreitung mit Zwang.

Dieses Modell – ich lege hiermit ein weiteres Bekenntnis zum Rechtsstaat ab („...und aus dem Keller drang das dumpfe Dröhnen der Bartaufwickelmaschine...“) – dieses Modell hat seine unbestreitbaren Vorzüge, die keiner von uns mehr missen möchte oder könnte. Nur, es basiert auf Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann. Es rechnet nämlich mit Bürgern, die ihre Freiheit aktiv wahrnehmen und die Verantwortung für ihr Handeln tragen können – also mit selbständigen Subjekten, die ein gewisses Maß an Normen schon verinnerlicht haben müssen und ihr Leben friedlich und befriedigend gestalten können.

Mit Massen von abhängigen Proletariern, Arbeitslosen, Drogen- oder Konsumsüchtigen und unmündig Gläubigen ist kein liberaler Staat zu machen. Dieser Gedanke stand ja hinter der sozialdemokratischen Idee des Sozialstaats und der Arbeiterbildung: Man sah ein: Die Staatsbürger, die selbständig für ihre Rechte eintreten und ihre gewonnene Freiheit zum eigenen Wohl nutzen können, müssen erst noch herangebildet werden. Und dieser Gedanke ist bis heute wahr, wenn auch in der Politik gegenwärtig nicht „en vogue“. Man predigt „Deregulierung“ und „Selbstverantwortung“ und verkleidet mit diesen schönen Begriffen: „Jeder möge selbst sehen, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle.“ Die Konsequenzen, die dieses politische Denken mittelfristig haben wird, zeichnen sich z.B. gerade in Frankreich ab oder an den Stacheldrahtzäunen, die Spanien um seine afrikanischen Enklaven hochgezogen hat oder ...



Eine normative Ethik, wie Du sie favorisierst, fasst dies alles unter „praktische Probleme“ zusammen, die bestenfalls einen Anhang zur eigentlichen Aufgabe bilden. Dagegen behaupte ich, dass eine so begrenzte Moralphilosophie sich blind macht für die notwendigen Voraussetzungen ihres Funktionierens. Der Umstand, dass diese Voraussetzungen reale sind – nämlich aus dem faktischen, historischen Zusammenleben von Menschen bestehen -, ist ein Problem nur dann, wenn man keine Kategorien ausbildet, die differenziert genug sind, um diese Voraussetzungen theoretisch zu erfassen. Ohne solche Differenzierung fallen in der Tat Begriffe/Normen/Prinzipien einerseits und die kontingente Wirklichkeit andererseits schroff auseinander.

Dass eine vernünftige - und mit dem liberalen Rechtsstaat sehr wohl vereinbare - Ethik möglich ist, die allgemeine Normen oder Prinzipien mit der kontingenten, historischen Wirklichkeit zusammenbringt, dafür gibt es Beispiele von Aristoteles bis zu Charles Taylor (oder noch jüngeren Philosophen).

Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von metin_oztaskin am 10. Nov. 2005, 15:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------



on 11/06/05 um 19:56:48, Abrazo wrote:Bezug: #5

Hi,

Eberhard, deine Analogie hinkt insofern, als dass du noch Geld im Portmonee hast. So, wie wir in einer organisierten Gesellschaft leben. Das, was ich in meinem Kontext meinte, war, welche Überlegungen würdest du denn anstellen, wenn du kein Geld im Portmonee hättest. Dann merkt man, wie unsinnig solche Überlegungen sind - denn du bist nun mal nicht in der Situation, und alle Überlegungen, wie du denn jetzt, wo du nicht in dieser Situation wärest, entscheiden würdest, wenn du in dieser Situation wärest, sind nun wirklich fiktiv, da du dir die Situation, über die du nachdenkst, vielleicht noch nicht einmal realistisch vorstellen kannst.

Die Tatsachen zu erforschen ist zweifellos Aufgabe der empirischen Wissenschaften. Aber kann eine Philosophie eine brauchbare und überzeugende Theorie entwickeln, ohne die Ergebnisse der Empirie zur Kenntnis zu nehmen, sie teils kritisch….



Wie soll man die Aussage dieses Abschnitt verstehen. Das es schwierige ist bzw. unmöglich ist, denjenigen zu verstehen, die kein Geld haben. Ich denke, an dieser Feststellung ist etwas wahr dran. Die Möglichkeit der Empathie ist begrenzt, das heiß, man kann nicht ganz in dem Empfindungen des Armen versetzen. Wenn es nicht, das also die Möglichkeit der Empathie nicht begrenzt wäre, dann währe der Frieden im Zusammenleben noch sicher. Der Frieden zu Zusammenleben wird deshalb ständig bedroht, weil es gegenseitigem Verständnis mangelt bzw. fehlt. Die Möglichkeit die Empathie wird noch durch die Tatsache vermindert, weil die Menschen keine gemeinsamen Ziele haben. Also solche Ziele, dessen Verwirklichung die meisten Menschen wollen. Wenn die Menschen gemeinsame Ziele hätten, dann ist die Möglichkeit sich in die Lage der Anderen, das Fremde zu versetzen. Dieser These wird durch die Erfahrung bestätige, dass sich die Menschen solidarisieren, wenn es zur einer Naturkatastrophe gekommen ist. Das fand damals als es in Iran als zur einen Erdebeben gekommen ist, da hat die USA sofort geholfen. Obwohl Iran und USA im politische Leben verfeinden sind. Oder neulich als in Pakistan Erdebeben war, da hat Indien zur Hilfe gegriffen. Ich will mit diesem Aussagen deutliche machen, dass sich die Mensche eher vertragen können, wenn sie gemeinsam Ziele.
Im nächsten abschnitt kommen die Feststellung „Die Tatsachen zu erforschen ist zweifellos Aufgabe der empirischen Wissenschaften. Aber kann eine Philosophie eine brauchbare und überzeugende Theorie entwickeln, ohne die Ergebnisse der Empirie zur Kenntnis zu nehmen, sie teils kritisch zu durchleuchten, teils, wenn sie der Kritik standhalten“.
Welche Tatsache soll die empirische Wissenschaft erforschen? Ich währe dir dankbar, wenn du mir dieser Sätze erläutert würdest!


Quote:Wir leben in einer komplizierten organisierten Gesellschaft. Und wir könnten gar nicht leben, weil wir mit nichts zu Potte kämen, wenn wir jede einzelne Handlung daraufhin überdenken würden, was wir denn nun wirklich wollen; mal abgesehen davon, dass das Subjekt, das Individuum sich dabei durchaus irren kann, entweder, indem es die Situation verkennt, oder indem es kurzsichtig seinen persönlichen oder natürlichen Impulsen folgt.
.




Es ist für mich sehr einleuchten, dass man gar nicht weitere kommt, wenn man jeden einzelne Schritt überdenken kann. In einer komplizierten Gesellschaft, in der wir leben, ist Routine notwendige. Durch die Routine wird das leben in der komplizierten Gesellschaft erleichtert. Schaffen frei Räume für andere Entscheidung, die für das Zusammenleben wichtige sind. Aber man muss aufpassen, dass durch die Routine das zusammenleben erstarte wird
Es ist auch sehr einleuchten, das sich die Menschen irren können. Aber hier stelle sich für mich die Frage, in welche Situation die Menschen sich Irren können, also in sicheren oder bedrohten Situation. Ich meinen in bedrohte Situation neigen die Menschen zur Irrtum, weil ihr Horizont darauf beschränkt, die eigene Haut zu retten.
Habe ich dich richtige verstanden, dass du die Normen an hand einer Diskussion ermittelt willst, aber mit der Bedingung, dass die Aussage evident sein muss. Auch dieser Forderung ist einleuchten. Wenn dieser Forderung nicht erfüllt ist, dann sind die entwickelten Normen tatsachenfremde(wirklichkeitsfremd). Und solche Einleuchtenderweise nicht befolgte


Quote:1. Unwahr ist, dass der Mensch von Natur aus frei ist. Er ist den Zwängen unterworfen, die die Biologie zwecks Erhalt seines Lebens vorgibt. Der Mensch ist nur potentiell frei, weil er ein reflexionsfähiges Wesen ist. Wer den freien Menschen will, und das heißt, den Menschen, der zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann, muss dafür sorgen, dass er seine Grundbedürfnisse so befriedigen kann, dass er überhaupt die Muße hat, Entscheidungen kritisch zu überdenken.
.


.
Im nächsten Anschnitt schreibst du, die Aussage „die Menschen sind frei“ unwahr. Es ist schwer dieser Tatsache zu akzeptieren, weil es gegen die allgemeine Vorstellung sprechen. Doch nach deiner Schilderung wird deutlich, wie du zur dieser Feststellung kommt. Es ist währe, die Menschen haben die Möglichkeit zur frei handeln, aber können nicht immer frei handeln. Sie können nur dann frei handeln, wenn ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind. Das heiß also, sie können solche Verhältnisse nicht stimmen, in den die Grundbedürfnisse nicht gewährleisten ist. Wenn die Menschen solche Verhältnisse, wie sie gerade beschrieben sind, zu stimme würde, dann würde sie wahrscheinlich gegen ihre Natur sprechen. Ohne die Erfüllung der Grundbedürfnisse können die Menschen nicht Leben und das spricht gegen die Natur. So weit ich weiß, ist in der Natur darauf gerichtet, sich zur erhalten. Das ist wahrscheinlich der biologische Grund für die Schmerzen, wenn die Familie keine Nachwuchs bekommen, weil sie die Anforderung der Naturgesetze haben. Doch das wird den meisten, die von diesem Schicksal betroffen sind, nicht bewusst.
Die Feststellung, dass die Menschen frei sind, unwahr ist wird klar, wenn man sich die Tatsache im einzelne überlegt.


Quote:2. Es gibt eine humane Ethik, die dazu führt, dass bestimmtes individuelles Verhalten von Menschen allgemein rigoros abgelehnt wird. Hier können wir sogar mit den Religiösen in einen Konsens kommen, denn auch wenn Menschen glauben, dass dieses Verhalten aufgrund göttlichen Gebotes abgelehnt wird, so müssen sie doch zugeben, dass Menschen diese Gebote erst einmal für wahr halten müssen, bevor eine Religion entstehen kann - und das liegt nun mal am Menschen.




Einige individuelle verhalten werden rigoros, also ohne Annahmen, abgelehnt, weil sie gegen den ethischen Empfinden stoßen. Hier bringst du zum Ausdruck, das man in diesen Punkt eine religiösen Konsens erzielen. Ich möchte dieser Feststellung umkehren und fragen, ist eine Glaubensanschauung bzw. Weltanschauung zu verwirklichen, die sich gegen die Natur des Menschen richtet? Ich denke, diese Frage ist ziemlich theoretische, denn solche Anschauungen, wie sind oben erwähnen sind, nicht zu verwirklichen, weil solche Anschauungen gegen die Natur sprechen
Kann man aus der Tatsache, dass alle individuelle verhalten(Morde und Lüge und grundlosen Vernichten der Natur) abgelehnt werden, erschließen, dass die Menschen ihren Wesen gut sind. Solche Verhalten, die ohne Ausnahmen abgelehnt, werden verursache, weil die Menschen ihre Wesen vergessen. Das heiß, die Bedingungen fehlen, die notwendige sind, damit sich die Menschen ihre Wesen gerecht zu verhalten, sprich friedlich sein.
Abrazo, ich habe mich intensive mit deine Beitrag auseinander gesetzt, und einige Überlegung bzw. Fragen dazu geschrieben. Ich würde mich freuen, wenn du mir sagen könntest, ob ich deine Beitrag richtige interpretiert habe.
Mit lieben Grüssen
Metin Öztaskin


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 10. Nov. 2005, 17:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

vorweg zu abrazo: mir scheint es an dieser Stelle wichtiger, die Kontroverse über das Verständnis von Moralphilosophie fortzusetzen. Ich bitte da um Dein Verständnis.

Urs, Du bemängelst Defizite einer (normativen) Ethik, die sich auf die Frage konzentriert, wie Menschen handeln sollen bzw. welche Institutionen der Normsetzung angewendet werden sollen.

Eine solche Theorie setze vieles voraus. Z.B. setze die diskurstheoretische Begründung voraus, dass es Individuen gibt, die konsensorientiert argumentieren können. Diese Voraussetzungen, die den Diskurs erst möglich machen, müssten als "Bedingungen der Möglichkeit", die Theorie anzuwenden, mitreflektiert werden.

Da ich derartiger Kritik immer wieder begegne, will ich etwas grundsätzlicher darauf eingehen.

Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten will.

Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich.

Erst wenn man zeigen kann, dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer solchen Frage einen methodischen Fehler dar. (So ist z.B. für die Beantwortung der Frage, wie man eine irrationale heftige Angst vor dem Benutzen von Fahrstühlen beseitigen kann, vorweg die Beantwortung der Frage notwendig, in welcher Situation diese Angst zum ersten Mal aufgetreten ist.)

Ein Kritiker müsste also aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik sehe ich noch nicht.

Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass es mir nicht nur um rechtsförmige Normen geht, sondern um die Möglichkeit, inhaltlich für oder gegen vorgeschlagene Normen zu argumentieren.

Dass eine Gesellschaftsordnung auf der Angst vor rechtlichen Sanktionen nicht dauerhaft aufgebaut werden kann, sondern dass die Mehrheit der Menschen auch von der Richtigkeit dieser Ordnung überzeugt sein muss, ist unbestritten. Man kann nicht hinter jeden Menschen einen Polizisten stellen. Und selbst wenn man dies könnte: Wen soll man hinter den Polizisten stellen?

Urs, Du schreibst:

"Das 'Wohl' der Individuen oder der Gemeinschaft ist ein positiver Begriff. Er bezieht sich gerade auf das, was von der normativen Ethik ausgespart wird – nämlich auf das gute Leben der Individuen und Gemeinschaften sowie die Voraussetzungen, die sie dazu brauchen."

Ich sehe keinen Grund, warum diese Fragestellung nicht verfolgt werden könnte. Eine normative ethische Theorie ist da keineswegs ein Hindernis. Umgekehrt wird eine solche Ethik wahrscheinlich bald gebraucht werden, nämlich dann, wenn man sich uneinig ist, worin denn ein "gutes" Leben der Gemeinschaften besteht.

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 10. Nov. 2005, 18:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!



Quote:Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten will.
Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich. Erst wenn man zeigen kann, dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer solchen Frage einen methodischen Fehler dar.
Ein Kritiker müsste also aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik sehe ich noch nicht.



Meine Kritik ist keine Kritik an Deiner Methode, sondern eine an Deiner eingegrenzten Fragestellung. Und selbstverständlich kann man Fragestellungen kritisieren – z.B. als unangemessen oder zu eingegrenzt. Natürlich ist es Dir - wie jedermann - unbenommen, nur die Fragen zu stellen, die Du wichtig findest. Aber wenn unser Thema das Wohl der Individuen und das Wohl der Gemeinschaft ist, dann kann im Rahmen einer solchen Diskussion doch diskutiert werden, mit welchen Fragestellungen man dem sachlichen Problem beikommt.

Niemand verlangt von Dir, Deine Fragestellungen zu rechtfertigen. Niemand verlangt von Dir, einem Diskussionspartner Rede und Antwort zu stehen. Und selbstverständlich wäre es auch ein Ergebnis der Diskussion, wenn einfach zwei verschiedene Auffassungen von Moralphilosophie nebeneinander vertreten werden.




Quote:Ich sehe keinen Grund, warum diese Fragestellung nicht verfolgt werden könnte. Eine normative ethische Theorie ist da keineswegs ein Hindernis.



Dass eine normative Theorie ein Hindernis für eine Ethik des „guten Lebens“ sei, habe ich auch nicht behauptet. Ich sprach nur davon, dass die Beschränkung auf eine normative Ethik unzureichend sei, und zwar im Hinblick auf die realen gesellschaftlichen Probleme, bei deren Bewältigung philosophische Ethik und Sozialphilosophie helfen sollten (wie begrenzt ihre Möglichkeiten dabei auch immer sein mögen).




Quote:Umgekehrt wird eine solche Ethik wahrscheinlich bald gebraucht werden, nämlich dann, wenn man sich uneinig ist, worin denn ein "gutes" Leben der Gemeinschaften besteht.



Das kann gut sein. Allerdings lässt uns das Recht – wie Du selbst sagst - ja große Spielräume, innerhalb derer viele verschiedene Formen von Gemeinschaft – als Ausdruck gemeinsam genutzter Freiheit – möglich sind. Das geht von der Familie über den Sportverein, den Weltladen, das Technische Hilfswerk... bis zur Religionsgemeinschaft und zur politischen Partei. Alle diese Gemeinschaften streben ein je eigenes gemeinsames Gut an, dessen Verwirklichung auch zum „guten Leben“ der Mitglieder beiträgt. Auch erfüllen solche Gemeinschaften eine wichtige sozialintegrative Funktion – besonders bei Jugendlichen.
Selbstverständlich wären Gemeinschaften zur Förderung des Frauenhandels und der Prostitution mit dem Recht nicht vereinbar; auch könnte man nur sehr bedingt von einem „guten Leben“ der Beteiligten sprechen...


Es Grüßt Dich
Urs




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 10. Nov. 2005, 23:01 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

was Du eine Ethik des guten Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen Bedürfnisse abhandeln.

Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt, wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen. Die Frage:_ Was ist ein "gutes" bzw. "bedürfnisgerechtes" Leben? verdient eine eigene Diskussionsrunde.

Es grüßt Dich und alle andern Eberhard.

p.s.: Ich werde wegen einer Reise in den nächsten Tagen nur begrenzt aktiv sein können.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 10. Nov. 2005, 23:16 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Metin,

krasses Beispiel: einer hat ein Kind. Und überlegt nun, wie hätte ich meinen letzten Urlaub verbracht, wenn ich kein Kind hätte. Wie kann er das wissen? Dann hätte er ganz andere Interessen, würde anders denken und fühlen - und hätte ein ganz anderes Leben geführt. Wie also will er diese Frage auch nur einigermaßen richtig beantworten können?

Das beantwortet auch gleich die Frage nach der Empathie. Die ist m.E. nur begrenzt möglich. Ich kann nicht sagen, wie einer denkt und fühlt, der in einer anderen Gesellschaft, in einer anderen Umgebung, in einem anderen Klima und mit einer anderen Sprache aufgewachsen ist. Weil ich dies alles nicht kenne. Ist aber nicht so schlimm, denn ich kann mit ihm reden und er kann es mir sagen, bzw. wir können im Gespräch versuchen, uns gegenseitig zu verstehen.

Für sehr wichtig halte ich dein Argument von den gemeinsamen Zielen. Mit deiner Beobachtung hast du meiner Ansicht nach recht. Das ist etwas, was wir vielleicht in unserer Normendiskussion vernachlässigt haben. Verlangen gemeinsame Normen nicht, dass wir gemeinsame Ziele haben? Müsste man also, bevor man über Normen diskutiert, sich nicht erst einmal über die Ziele einig werden?

Ich beziehe das mal auf die Flugzeugabschussdiskussion. Wenn unsere Gesellschaft die Verfassung akzeptiert und deswegen das Ziel hat, wesentliche Inhalte und Sinn zu erhalten, dann könnten wir uns auf eine Norm einigen, die dieses Ziel erfüllt - und darauf hin arbeiten. Denken wir aber nicht an ein gemeinsames Ziel, dann sind wir geneigt, nach unseren privaten Zielen zu entscheiden - und die dürften verschieden sein.

Welche Tatsache soll die empirische Wissenschaft erforschen
Die empirischen Wissenschaften = die Erfahrungswissenschaften. Z.B. Physik, Biologie, Soziologie. Solche Forschungen sind natürlich nicht Aufgabe der Philosophie. Aber sie wäre doch in lächerlicher Weise weltfremd, wenn die Ergebnisse solcher Forschungen sie nicht kümmern würden!

die Normen an hand einer Diskussion ermittelt willst, aber mit der Bedingung, dass die Aussage evident sein muss.
Evident ist für mich nur das, was unmittelbar einleuchtet, also letztlich die Daten, die ich wahrnehme (auch die inneren Wahrnehmungen). Normen müssen nicht evident sein, sonst bräuchten wir sie ja gar nicht zu entwickeln, denn dann wüssten wir, was in dieser oder jener Situation zu tun wäre. Was ich meine ist, dass solche entwickelte Normen stringent, also lückenlos auf Evidentes, und damit meine ich den ethischen Willen, rückführbar sein müssen. Gut, bei schlichten Spielregeln, wie Stopp-Zeichen in roter oder blauer Farbe, ist das nicht nötig. Aber bei allen moralischen Normen meine ich schon, sonst überzeugen sie nicht und wir bekommen keinen Konsens. Und schon gar nicht dürfen Normen dieser grundlegenden Ethik widersprechen. Auch hierfür das Beispiel Flugzeugabschuss: die Verfassungsklage hat ja die Begründung, dass das beanstandete Gesetz unserem Grundgesetz widerspricht, wenn man es analysiert.

ist eine Glaubensanschauung bzw. Weltanschauung zu verwirklichen, die sich gegen die Natur des Menschen richtet?
Setze statt Natur Wesen ein. Denn Natur ist Biologie, und die Biologie hat nichts dagegen, z.B. eine Frau zu vergewaltigen, wenn Mann gerade Lust hat und sie haben will. Der humane Mensch hat etwas dagegen, der ist es, der sich das selbst verbietet.
Ich denke nicht, dass Religionen, die dem Wesen des Menschen entgegen standen, zu Massenbewegungen geworden sind. Sie wurden eben nicht geglaubt oder nur von sehr wenigen. Die Menschen früher werden so viel dümmer als wir heute nicht gewesen sein. Und wir belächeln ja auch die zahllosen neuen 'Propheten' mit ihren selbstgebastelten Religionen, die häufig sehr hübsch romantisch klingen, aber bei genauerer Betrachtung ganz erhebliche Schwächen in der Ethik aufweisen. Die dürften früher auch belächelt worden sein. Religionen, die zu Massenbewegungen wurden, müssen schon was anderes aufgewiesen haben als hübsche (oder, je nachdem, grauslige) Geschichtchen.

Ich hoffe, ich konnte deine Fragen damit beantworten bzw. deine Überlegungen bestätigen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 11. Nov. 2005, 00:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Normativ oder nicht normativ,
das war hier die Frage.

Wenn sich alle an den einfachen Satz halten könnten:

"Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andren zu"

wären keine dicken Gesetzesbücher notwendig.

Sie sind aber notwendig.
Und da das Leben so vielschichtig ist, scheint mir jede Suche nach einer normativen Ethik suspekt und im Sinne von Urs eben auch einschränkend.
Diese normative Ethik a la Kant ist es doch, die die nach Freiheit schreiende Jugend Ethik sofort mit Altruismus gleichsetzen und ablehnen lässt, weil sie sich in ihr nicht glaubt ausreichend entfalten zu können.

Gerade die Verschiedenheit der Interessen macht einen strikten Kanon ethischen Verhaltens gleich einem Küchenrezept, wie bei vielen Religionen, immer unbefriedigend.

So hat denn unser lieber Aristoteles ganz auf einen solchen Kanon verzichtet und vereinigt statt dessen ethisches Verhalten mit persönlichem Glücksstreben!
Wie überaus aktuell,
das nenne ich einen grossen Geist.
Salve
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von JustEndlessWaves am 11. Nov. 2005, 01:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 11/10/05 um 17:15:37, Eberhard wrote:Hallo allerseits,


Da ich derartiger Kritik immer wieder begegne, will ich etwas grundsätzlicher darauf eingehen.

Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten will.

Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich.

Erst wenn man zeigen kann, dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer solchen Frage einen methodischen Fehler dar. (So ist z.B. für die Beantwortung der Frage, wie man eine irrationale heftige Angst vor dem Benutzen von Fahrstühlen beseitigen kann, vorweg die Beantwortung der Frage notwendig, in welcher Situation diese Angst zum ersten Mal aufgetreten ist.)

Ein Kritiker müsste also aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik sehe ich noch nicht.

Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass es mir nicht nur um rechtsförmige Normen geht, sondern um die Möglichkeit, inhaltlich für oder gegen vorgeschlagene Normen zu argumentieren.

Dass eine Gesellschaftsordnung auf der Angst vor rechtlichen Sanktionen nicht dauerhaft aufgebaut werden kann, sondern dass die Mehrheit der Menschen auch von der Richtigkeit dieser Ordnung überzeugt sein muss, ist unbestritten.



Hallo Eberhard, [user]

ich bin mir nicht sicher, ob ich das Geschriebene von dir angemessen interpretiere. Fast scheint es, als strebtest du eine Vermittlung antiker Glückstheorien mit der habermasschen Diskursethik an. Allerdings könnte ich mich dahingehend auch täuschen. [ruffle]
Dein Beispiel mit den "Polizisten", das ich jetzt hier aus Übersichtsgründen nicht zitiere, lässt vermuten, dass die "Diskurse der Macht" anderen ethischen Vorstellungen unterworfen sind als der Idealzustand eines herrschaftsfreien Diskurses. Vielleicht wäre ja auch einmal zu überdenken, in welchen diskursiven Zusammenhängen eine "Konsensfähigkeit" gegeben ist?

Gruß,[balloon]
Just

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 11. Nov. 2005, 09:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------


..... also konsens beim homo catastrophicus ?

ist so ähn lich wie bei den stech mücken !

die würden auch nie im traum
mit mir diskutieren wollen .........


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 11. Nov. 2005, 13:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Hallo Urs,

was Du eine Ethik des guten Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen Bedürfnisse abhandeln.
Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt, wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen. Die Frage:_ Was ist ein "gutes" bzw. "bedürfnisgerechtes" Leben? verdient eine eigene Diskussionsrunde.



Meinen unwirschen Ausfall bitte ich zu entschuldigen. Ich nehme ihn zurück (und habe ihn also gelöscht). Im Sinne einer produktiven Fortsetzung der Diskussion ist es wohl besser, ich erkläre kurz, was ich - im Anschluss an die aristotelische Ethiktradition - mit einer Ethik des "guten Lebens" meine. (Kommt später)

Sicher verdiente die Gegenübsterstellung von normativer Ethik und ("eudaimonistischer") Strebensethik einen eigenen Thread. Aber da das Gemeinwohl-Problem damit eng zusammenhängt, können wir diesen Punkt nicht aussparen.


Mit Bitte um Entschuldigung grüßt Dich
Urs











--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 11. Nov. 2005, 14:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Hallo Urs,

was Du eine Ethik des guten Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen Bedürfnisse abhandeln.
Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt, wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen.



Das ist ein Missverständnis. Denn eine Ethik des „guten Lebens“ will ja gerade die Fähigkeit des Menschen befördern, seine Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern sie auch zu beherrschen. Diese aktive Fähigkeit der Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung ist es im Grunde, was Aristoles die menschliche „arete“ nennt, und was mit „Tugend“ nur missverständlich auf Deutsch wiedergegeben wird. Die „eudaimonia“ – ebenfalls mit „Glück“ nur missverständlich zu übersetzen – ist die dauerhafte „Wohlgestimmtheit“ oder „Verfassung“ desjenigen Menschen, der seine verschiedenen Bedürfnisse und Bestrebungen zu einer gewissen harmonischen Einheit integriert hat und diese Einheit auch gegenüber den Wechselfällen des Lebens aufrecht erhalten kann – der sich also von glücklichen und unglücklichen Umständen bis zu einem gewissen Grade unabhängig zu machen weiß. Dass eine solche, auf eigener Leistung beruhende „Wohlgestimmtheit“ auch von dem Gefühl der Freude oder lustvollen Erfüllung begleitet wird, ist klar. Aber diese „Glücksgefühle“ sind eben nicht das Wesentliche. Vielmehr ist derjenige, der unkontrolliert und gierig nur nach immer neuen Glücksgefühlen strebt, alles andere als „sittlich vortrefflich“ und „glücklich“ im Sinne eines guten, gelingenden Lebens.

Das Missverständnis, dem die „eudämonistsche“ Ethik heute oft ausgesetzt ist, geht auf Kant zurück und hängt mit dem gewandelten Naturverständnis der Neuzeit eng zusammen.

Aristoteles hatte ein von der Biologie geprägtes Naturverständnis, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung des Lebewesens und seine funktionale „Ganzheit“ („Organismus“) steht. Und im Sinne einer solchen, sich entwickelnden „Ganzheit“ und „Integration“ betrachtet er auch das erfüllte Leben des Menschen. Da der Mensch rationale „Seelenteile“ hat, die ihn spezifisch von Tieren und Pflanzen unterscheiden, kann das Leben des einzelnen Menschen nur dann „naturgemäß“ und für ihn selbst „erfüllend“ sein, wenn darin die rationalen Seelenteile dauerhaft die Führung über die anderen Teile haben. („Führung über“ ist allerdings gemeint als sinnvolle Anordnung und Integration, nicht als tyrannische Diktatur oder gewaltsame Unterdrückung durch Askese.) Ein Mensch, der das zustandebringt, ist selbstbestimmt und „glücklich“, sprich er ist ein „Mensch“ im vollen Sinne.

In der Neuzeit wurde die Physik zu einer Wissenschaft von der unbelebten Natur. Zielstrebige Entwicklung, organische Integration sind in ihren mechanistischen Kategorien nicht mehr denkbar. Und das wirkt sich radikal z.B. in Hobbes’ Anthropologie und der Schilderung des Menschen im „Naturzustand“ aus. Menschen werden als isolierte Individuen (= „Atome“) angesetzt, die von Natur aus nur auf nackte Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung aus sind – nicht auf die Entfaltung eines kohärenten, in sich stimmigen Lebens. Ihre rationalen Anlagen entfalten dabei eher fatale Wirkung. Denn die Fähigkeit der Umsicht und Voraussicht löst beim Individuum eine dauernde Besorgnis um seine Zukunft aus. Den Menschen macht daher, wie Hobbes treffend sagt, schon sein zukünftiger Hunger hungrig. Diese Sorge entfesselt und entgrenzt also das Streben nach Macht und Vermögen, so dass das menschliche Individuum im Naturzustand eine gierige, getriebene Bestie ist. Sie kann nur durch äußere Gewalt – die souveräne „Staatsgewalt“ und ihre Normen eben – in Schach gehalten werden...

Das mag als Skizze genügen.


Ich finde es offensichtlich, dass der aristotelische Ethik-Ansatz nach wie vor aktuell ist. Denn jedem Menschen stellt sich die Aufgabe des gelingenden Lebens – also einer in sich stimmigen Lebensführung, die mit den individuellen Anlagen und gesellschaftlichen Gegebenheiten gestalterisch umgehen kann und das Beste daraus zu machen weiß. Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“ wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt. Aber ein Blick auf unsere Gesellschaft zeigt, dass sie keineswegs einfach vorausgesetzt werden kann, sondern immer wieder aufs Neue erworben werden muss. Und offenbar kann der Einzelne diese Fähigkeit auch nicht allein erwerben, er ist dabei auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen, in der er lebt.


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 12. Nov. 2005, 00:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

was ist hier eigentlich die Norm?

Wir werden in eine Gemeinschaft hinein geboren und wachsen in ihr auf. Unser ganzes Leben ist auf das Leben in einer Gemeinschaft hin ausgerichtet; wir haben eine Sprache und die wäre völlig unnötig, wenn wir primär allein lebende Individuen wären. Zu sagen, die Individuen hätten einen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen, ist also schon deswegen falsch, weil sie einen solchen Vertrag ohne Sprache gar nicht hätten abschließen können. Der Mensch ist also dem Wesen nach tatsächlich ein zoon politikon.

Wenn wir nun von Individuen ausgehen bei unseren Überlegungen, dann gehen wir nicht von dem aus, was ist, sondern von dem, was sein soll. Wir machen das Dasein des Individuums zu einer Norm. Und weil wir diesen Fehler machen, uns von den Tatsachen zu lösen, bekommen wir mit unseren Überlegungen Schwierigkeiten. Denn wie sollen wir von einem tatsächlich nicht bestehenden Zustand aus - nämlich, dass der Mensch primär ein Individuum sei - einen tatsächlich bestehenden Zustand - nämlich, dass der Mensch ein zoon politikon ist - begründen?

Wir haben die Sorge, dass, wenn es um das Gemeinwohl geht, Willen und Bedürfnisse des Individuums hintan gestellt werden könnten. Ist öfter mal vorgekommen, die Sorge ist also berechtigt.

Allerdings: wieso interessieren die Bedürfnisse des Individuums überhaupt, wenn der Mensch doch ein zoon politikon ist?

Wenn wir uns die grundlegenden Prinzipien der Moral anschauen, also das, was ich den evidenten ethischen Willen nenne (z.B. nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen), stellen wir fest, dass die sich alle auf ein Individuum beziehen. Ich brauche kein Gebot, mich nicht zu töten, mich nicht zu belügen, mich nicht zu bestehlen; das wäre unsinnig. Hier geht es immer um den anderen. Also behaupte ich: es ist nicht das Individuum, das seine Rechte und seine Freiheit garantiert, sie eventuell in einen Vertrag einbringt, sondern es ist die Gemeinschaft, die sie garantiert.

Daraus folgt, eine Gemeinschaft, die so verfasst wäre, dass sie die individuellen Bedürfnisse und Rechte nicht garantiert, widerspricht der humanen Ethik. Weil das der Fall ist, kann es hier zu keinem Konsens kommen, denn Normen, die der humanen Ethik widersprechen, sind nicht konsensfähig.

Das Gemeinwohl kann also aus ethischen Gründen nur so bestimmt werden, dass es das Wohl aller zu ihr gehörenden Individuen ist. Andernfalls ist der Konsens ausgeschlossen.

Wenn wir vom Individuum ausgehen, müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie denn das Individuum leben will oder leben soll. Wir müssen dies positiv definieren. Gehen wir von der Gemeinschaft aus, müssen wir uns nur Gedanken um die negative Definition machen, d.h. wie darf das Individuum nicht leben, weil dies der Gemeinschaft schaden würde. Alles andere überlassen wir ihm selbst.

Urs beschreibt nun den Begriff glückliches Leben im Zusammenhang mit dem Individuum. Hm. Mir würde so ein Leben nicht gefallen. Es wäre mir zu privat. Und außerdem kommt die Gemeinschaft, mit der ich leben will, gar nicht darin vor, höchstens als eine Art Bedrohung, vor der ich mich schützen muss. Ist dir, Urs, aufgefallen, dass in deinem Modell selbst die Gruppen privat sind? Selbst die Parteien in sich abgeschlossene soziale Gruppen, in denen man seinen gemeinsamen Neigungen fröhnt? Und wo ist die Regierung? Wo das Parlament? Wo das politische Engagement, die Einflussnahme, die Mitbestimmung? Es sieht mir danach aus, als ob das alles auf einer anderen Ebene wäre, mit der das private Individuum gar nichts zu tun hat. Aber wer ist dann derjenige, der über Staat und Gesellschaft bestimmt?

Aber etwas anderes beschreibt er damit für das Individuum: nämlich ein Ziel. Sein Lebensziel sei ein glückliches Leben. Könnte aber auch die Gemeinschaft ein Ziel haben? Oder wäre eine primär aus Individuen bestehende Gemeinschaft überhaupt in der Lage, sich ein Ziel zu setzen?

Und wer soll denn dem Individuum seine Freiheitsrechte garantieren? Die Normen? Nun, wer die Freiheitsrechte des Individuums abschaffen will, schafft auch diese beiseite.

Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“ wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt.
Das stimmt, Urs. Nur dass ich da nichts Negatives bei finde. Wenn du aber eine Norm setzen willst, wie das glückliche Leben des Individuums sein soll, dann lässt du ihm doch im Endeffekt weniger Freiheit als der, der es voraussetzt.

Das heißt: lässt (!) nicht eine normative Ethik, die sich auf das Gemeinwohl beschränkt und die auf den Prinzipien der humanen Ethik basiert, dem Individuum letztlich mehr Freiheit?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 12. Nov. 2005, 09:45 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------


... wie könnte ein mit glied ....... ?

eines raub tier rudels

über das wohl er gehen einer menschen ge mein schafft

disktutieren können ?



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 12. Nov. 2005, 12:49 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,

Zurückschauend, kann man mit Fug und Recht sagen: Die Fülle der Beiträge hier sind ein Brainstorming. Heutzutage steht in aller Regel ein Brainstorming am Anfang eines Projekts. Ich möchte ausnahmsweise beim Neudeutsch bleiben und damit einige weitere Mosaiksteinchen beisteuern. Gemäss dem Projektmanagement folgt dem Brainstorming die Ausformulierung der Vision, der Fernziele und des Auftrags sowie die Erörterung der Mittel, der Randbedingungen usw. Dann geht es von der Konzeptphase über zur Planung und Umsetzung usw.

Bevor man sich aber dieser Arbeitsflut hingibt, schaut man sich besser noch kurz um: Es könnte ja sein, dass bereits was Pfannenfertiges vorliegt, das man sich, obwohl der Hunger dadurch nicht gestillt wird, als Zwischenverpflegung zu Gemüte führen kann. Daher Frage ich: Was ist denn beim Thema/Projekt <Gemein- und Individualwohl> Vision, Fernziel, Auftrag?

Auf der Zunge liegt mir jedoch eine noch drängendere Frage: An wen richtet sich denn das Produkt, das Ergebnis des Projekts <Gemein- und Individualwohl>? Ich mein da gibt es nur eine Antwort: An alle Mündigen! Und da sich das Brainstorming immer auch um Staat und Gesetz drehte, sind damit gewiss die Wähler und Wählerinnen gemeint, respektive die Abstimmenden, falls zu Sachgeschäften Stellung zu nehmen ist. Aber auch die übrigen Einwohner. Das Produkt, das ja nichts anderes sein kann als ein Text, muss also von jedermann konsumiert werden können! Das bedeutet, dass der Text selbsterklärend, verständlich und attraktiv sein muss. Der härteste Test ist (wie könnte ich bei meiner Herkunft etwas anderes behaupten) die Volksabstimmung!

So und nun kehre ich zurück zur Frage am Ende des zweiten Abschnitts: Was ist denn Vision, Fernziel, Auftrag? Als Antwort schlage ich vor, die Präambel der Verfassung oder des Grundgesetzes als Vision, Fernziel und Auftrag zu lesen. Beispielsweise:

Präambel
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das ....volk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht,
und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung
.......

Mit dem fett Gedruckten wollte ich deutlich machen, dass es hier offensichtlich um Auftrag und Fernziele geht, sowie insgesamt um eine Vision, also um den fernen Stern, der angepeilt wird. Übrigens mit dem ersten Satz der Präambel wird meiner Meinung nach einzig und allein deutlich gemacht, dass Mensch Grenzen anerkennt, z.B.: DIE Wahrheit nicht für sich gepachtet zu haben.

Danke & Gruss --- Euer alltägliches Mosaiksteinchen ;-) ;-) ;-)


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 12. Nov. 2005, 13:42 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!


Quote:Wenn wir vom Individuum ausgehen, müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie denn das Individuum leben will oder leben soll. Wir müssen dies positiv definieren. Gehen wir von der Gemeinschaft aus, müssen wir uns nur Gedanken um die negative Definition machen, d.h. wie darf das Individuum nicht leben, weil dies der Gemeinschaft schaden würde. Alles andere überlassen wir ihm selbst.



Diese beiden Perspektiven, denke ich, schließen einander nicht aus, sondern sie ergänzen sich Und das liegt daran, dass zu den persönlichen Zielen des Individuums auch solche gehören, die es mit anderen Individuen teilt, die also schon gemeinschaftliche Ziele sind. Und was einer Gemeinschaft schadet, hängt jeweils auch vom Selbstverständnis dieser Gemeinschaft ab, d.h. davon, welche Ziele diese Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt.

Eine universalistische normative Ethik wie die von Eberhard vertretene lässt jedoch die Frage nach den individuellen oder gemeinschaftlichen Zielen („Werten“, „Gütern“) insgesamt außen vor. Sie befasst sich nur mit der Form des Verfahrens, durch das Normen im Fall des Zielkonflikts von den Betroffenen gefunden werden sollen. Sie ist also eigentlich eine „Meta-Ethik“.

Meine These hierzu ist, dass der Begriff des Gemeinwohls sich gar nicht auf die Ebene der Form bezieht, sondern auf die Ebene der gemeinschaftlichen Ziele. Er meint also das, was eine Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt und was sich von einem isolierten Individuum gar nicht verwirklichen ließe.

Grundsätzlich müssten sich also eine Ethik der Ziele und eine Meta-Ethik nicht ins Gehege kommen. Was ich an Eberhards Konzept kritisiere, ist die Beschränkung von Ethik auf Meta-Ethik. Eine Meta-Ethik bekommt m.E. ein – so und so bestimmtes – Gemeinwohl gar nicht erst in den Blick. Ihr Universalismus ist eben erkauft durch ihren Formalismus.

Einer der Gründe, den ich gegen diese Beschränkung einwende, ist dieser: Die Meta-Ethik beansprucht, unparteilich zu sein, und zwar gerade deshalb, weil sie sich mit keinem bestimmten Ziel – sei es eines Individuums, sei es einer Gemeinschaft – identifiziert. Die Anwendung des von der Meta-Ethik postulierten Verfahrens aber, behaupte ich, wird faktisch niemals unparteilich sein können. Sie ist gewissermaßen ein Verfahren für Wesen aus einer anderen Welt, nicht für die wirklich existierenden Menschen.



Quote:Ist dir, Urs, aufgefallen, dass in deinem Modell selbst die Gruppen privat sind? Selbst die Parteien in sich abgeschlossene soziale Gruppen, in denen man seinen gemeinsamen Neigungen frönt? Und wo ist die Regierung? Wo das Parlament? Wo das politische Engagement, die Einflussnahme, die Mitbestimmung? Es sieht mir danach aus, als ob das alles auf einer anderen Ebene wäre, mit der das private Individuum gar nichts zu tun hat. Aber wer ist dann derjenige, der über Staat und Gesellschaft bestimmt?



Was verstehst Du unter „privat“? Ein gemeinnütziger Verein oder gar eine Partei gestalten doch gewisse Teile des gesellschaftlichen Lebens, d.h. sie bestimmen aktiv darüber mit, wie das Leben der Gesellschaft ist und sein soll. Sicher, es sind Zusammenschlüsse von „Privatleuten“, aber durch den Zusammenschluss hören diese doch auf, nur Privatleute zu sein.

Die Mitglieder eines Vereins mögen ganz verschiedenen Berufen angehören und für sich und ihre Familien jeweils unterschiedliche Interessen verfolgen. Wenn aber ein Vereinsmitglied als Vereinsmitglied spricht, spricht er eben im Interesse des Vereins, d.h. aller Vereinsmitglieder. Die Vereinigung im Namen eines gemeinsamen Interesses zieht also gewissermaßen eine neue Ebene in der komplexen Interessenstruktur jedes einzelnen Mitglieds ein, und diese ist für jedes Mitglied gleich. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft macht also die „Privatleute“ in einer bestimmten Hinsicht gleich. Und wirkt so auf die Individuen zurück und verändert ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Ziele.

Die Gemeinschaft greift also zunächst einmal schon gestaltend in das Leben ihrer Mitglieder ein und kann, je nachdem, sich darüber hinaus auch zum Ziel machen, über ihre Grenzen hinweg Einfluss zu nehmen – durch Anwerbung neuer Mitglieder, durch öffentliche Verbreitung ihres Programms, durch tätige Hilfe usw.

Da wir alle in der einen oder anderen Weise „Mitglied“ sind, ist die Vorstellung eines völligen Privatlebens eigentlich unrealistisch.

Wenn Du fragst: „Und wo ist der Staat?“ dann verhältst Du Dich gewissermaßen wie der Oxford-Besucher in Gilbert Ryles Beispiel (Du erinnerst Dich an den „Ich, Person, Subjekt“-Thread): Man zeigt ihm verschiedene Colleges, Bibliotheken, Verwaltungsgebäude, bis er irgendwann ungeduldig fragt: „Schön und gut, aber wo ist jetzt die Universität? Warum zeigt man mir nicht endlich die Universität?“
:-)


Quote:(Urs) Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“ wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt.

(Abrazo)Das stimmt, Urs. Nur dass ich da nichts Negatives bei finde. Wenn du aber eine Norm setzen willst, wie das glückliche Leben des Individuums sein soll, dann lässt du ihm doch im Endeffekt weniger Freiheit als der, der es voraussetzt.
Das heißt: lässt (!) nicht eine normative Ethik, die sich auf das Gemeinwohl beschränkt und die auf den Prinzipien der humanen Ethik basiert, dem Individuum letztlich mehr Freiheit?



Natürlich macht eine Ethik des „guten Lebens“ keine inhaltlichen Vorschriften darüber, welche Ziele die Menschen anstreben sollen. Aber sie nimmt die Probleme des Zusammenlebens aus der Perspektive des handelnden Individuums in den Blick, das bestimmte Ziele – wichtigere und langfristigere oder unwichtigere und kurzfristige – verfolgt. Die dabei auftretenden Probleme sind nun nicht unabsehbar verschieden, sondern haben eine gewisse Typik, die sich aus der Struktur des Lebens jedes Einzelnen ergeben.

Und so ermöglicht diese Art von Ethik es ihrem Adressaten, mit diesen bekannten „Klippen“ umzugehen, sich darauf einzustellen – kurz: aus der Erfahrung anderer zu lernen. Diese Ethik verfolgt somit einen „Bildungsauftrag“, sie greift unterstützend ein in den Prozess der „Sozialisation“, den jedes in Gemeinschaften lebendes Individuum ohnehin durchlaufen muss, wenn es seine Interessen verfolgt bzw. sein Lebensglück sucht. Sie hilft ihm also dabei, die Perspektive der Gemeinschaft in die eigene Perspektive zu integrieren.

Begrenzt eine solche Hilfe beim Durchschauen praktischer Problemfelder die Freiheit des Individuums? Ich würde eher sagen, ihr Sinn liegt gerade darin, ihm seine Freiheitsspielräume vor Augen zu führen und sie im Sinne seiner fundamentalen Interessen („Lebensglück“) zu nutzen.


Es grüßt Dich
Urs




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 12. Nov. 2005, 23:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

dass zu den persönlichen Zielen des Individuums auch solche gehören, die es mit anderen Individuen teilt, die also schon gemeinschaftliche Ziele sind.

Ist es nicht so, dass die persönlichen Ziele des Individuums zumeist von der/den Gruppen, denen es angehört, bestimmt sind?

Und was einer Gemeinschaft schadet, hängt jeweils auch vom Selbstverständnis dieser Gemeinschaft ab, d.h. davon, welche Ziele diese Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt.

Zustimmung. Dat is relativ.

Eine universalistische normative Ethik wie die von Eberhard vertretene lässt jedoch die Frage nach den individuellen oder gemeinschaftlichen Zielen („Werten“, „Gütern“) insgesamt außen vor. Sie befasst sich nur mit der Form des Verfahrens, durch das Normen im Fall des Zielkonflikts von den Betroffenen gefunden werden sollen. Sie ist also eigentlich eine „Meta-Ethik“.

Meine These hierzu ist, dass der Begriff des Gemeinwohls sich gar nicht auf die Ebene der Form bezieht, sondern auf die Ebene der gemeinschaftlichen Ziele. Er meint also das, was eine Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt und was sich von einem isolierten Individuum gar nicht verwirklichen ließe.


Das ist ein schwieriges Kapitel. Die Bestimmung der Verfahrensform halte ich durchaus für wichtig. Es ist die Frage, wie müssen Normen überhaupt beschaffen sein, damit sie konsensfähig sind. Nehmen wir die Pazifismus-Norm. Keine Gewalt, auch im Falle kriegerischer Aggression soll man gewaltlos Widerstand leisten. Diese Norm ist nicht konsensfähig, weil sie einer in einer bestimmten Kultur gewachsenen Überzeugung universale Gültigkeit verschaffen will - was mit dem heiligen Verteidigungskrieg der Moslems kollidiert. Woraus folgt, dass solche universalen Normen auf etwas anderem basieren müssen als auf einer speziellen Kultur. Und das macht die 'Meta-Ethik' wiederum wichtig und interessant, nämlich mit der Frage, worauf könnten sie dann basieren.

Gehören nicht die gemeinschaftlichen Ziele ebenfalls, was die Frage betrifft, welche überhaupt möglich sind, zur 'Meta-Ethik'?

Die Meta-Ethik beansprucht, unparteilich zu sein, und zwar gerade deshalb, weil sie sich mit keinem bestimmten Ziel – sei es eines Individuums, sei es einer Gemeinschaft – identifiziert.

Die Frage nach den Zielen ist problematisch. Einerseits stimme ich Metin zu: eine Gruppe kann sich konstituieren, aber auch renovieren und erheblich festigen und stärken durch das gemeinsame Ziel. Andererseits, wenn wir uns mit universalen Normen befassen wollen, das wären dann Menschheitsnormen. Und welches Ziel hat die Menschheit? Hier würde ich eine Diskussion verweigern und sagen, beschränken wir uns erst mal darauf, das Beständige zu sichern, also das, was Menschen zu allen Zeiten und an jedem Ort brauchen und wollen (und damit meine ich auch kulturelles). Dann liegt das Ziel in den gegenwärtigen menschlichen Möglichkeiten - wobei die Ethik sich natürlich auch damit auseinander setzen müsste, welche Möglichkeiten sind akzeptabel und welche nicht.

Die Anwendung des von der Meta-Ethik postulierten Verfahrens aber, behaupte ich, wird faktisch niemals unparteilich sein können. Sie ist gewissermaßen ein Verfahren für Wesen aus einer anderen Welt, nicht für die wirklich existierenden Menschen.

Berechtigter Einwand. Ist aber letztlich die Frage, ob es eine zum Wesen des Menschen gehörende allgemeine Ethik gibt. Wenn ja, wäre ein solches Verfahren imho auch möglich. Natürlich würde eine solche Ethik nicht die kulturspezifischen Eigenarten berühren.

So, und der Rest kommt morgen - ich geh jetzt ins Bett.
Ciao!


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 13. Nov. 2005, 23:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Urs,

zweiter Teil.
Du hast geschrieben:


Allerdings lässt uns das Recht – wie Du selbst sagst - ja große Spielräume, innerhalb derer viele verschiedene Formen von Gemeinschaft – als Ausdruck gemeinsam genutzter Freiheit – möglich sind. Das geht von der Familie über den Sportverein, den Weltladen, das Technische Hilfswerk... bis zur Religionsgemeinschaft und zur politischen Partei. Alle diese Gemeinschaften streben ein je eigenes gemeinsames Gut an, dessen Verwirklichung auch zum „guten Leben“ der Mitglieder beiträgt. Auch erfüllen solche Gemeinschaften eine wichtige sozialintegrative Funktion – besonders bei Jugendlichen.

Das klingt mir zu privat. Wo bleibt da die Politik? Die Frage nach dem Gemeinwohl ist ja eine politische Frage - und es ist eine Frage, bei der das Privatwohl des Parteimitgliedes durchaus auch in den Hintergrund treten kann. Nach meiner Erfahrung gibt es gar nicht mal so wenige einfache Parteimitglieder, die feststellen, dass es ihnen so gut geht, dass sie eigentlich noch etwas abgeben könnten.

Auch die ehrenamtlichen Tätigkeiten sollte man nicht unterschätzen. Es gibt nicht wenige, die gerne ihre Privatinteressen dafür zurückstellen. Natürlich haben sie Freude an ihrer Tätigkeit. Aber die Freude schöpft daraus, dass sie anderen helfen, nützlich sein, bei ihnen etwas verbessern können (ich habe gerade eine einfache Frau im Kopf, die irgendwie per Zufall dazu gekommen ist, sich in einem Krankenhaus ehrenamtlich um allein stehende Schwerkranke zu kümmern). Also ist nicht nur der Mensch ein zoon politikon, auch seine individuellen Interessen können durchaus auf das Gemeinwohl hin ausgerichtet sein - so dass ich mich frage, ob die derzeitige extreme Individualisierung in der Gesellschaft tatsächlich 'artgerecht' ist, oder ob sie nicht eher einer Ideologie folgt, nach der das räuberische Individuum sowohl als Arbeitskraft als auch als Konsument die besten Gewinne verspricht (was will man auch wirtschaftlich mit einem Individuum anfangen, dass sozial gebunden, also immobil ist und kostenlose Arbeit für andere leistet).

für sich und ihre Familien jeweils unterschiedliche Interessen verfolgen.

Wenn ich mir vergegenwärtige, wie Menschen in meiner Umgebung handeln, dann kann ich nicht finden, dass sie dabei ständig die Interessen für sich und ihre Familien verfolgen. Es ist nicht so, dass die sozialen Gruppen in unserer Gesellschaft ausschließlich Interessenverbände sind, die sich zusammen geschlossen haben, um gemeinsam ihre Privatinteressen besser vertreten zu können. Ich behaupte: es gibt durchaus eine interessierte Basis in der Gesellschaft, die an Eberhards Normendiskurs teilnehmen würde.

Wenn Du fragst: „Und wo ist der Staat?“

Ich denke hierbei aber an etwas anderes. Ich denke an zahllose Bürger, die "den Staat" als Gegner ansehen, als aufgeblähten Fresssack, mit dem sie überhaupt nichts zu tun haben, der ihnen immer nur Geld weg nimmt und seinen Protagonisten zuschanzt, ohne das Geld im Sinne des Gemeinwohles auszugeben und zu verteilen. An "den Staat" der "Bonzen", in dem man zwar ab und zu mal wählen gehen kann, aber doch irgendwie nicht so richtig. An Bürger, die Staat und Gemeinwohl nicht zur Deckung bringen wollen und können.

Diese Ethik verfolgt somit einen „Bildungsauftrag“, sie greift unterstützend ein in den Prozess der „Sozialisation“, den jedes in Gemeinschaften lebendes Individuum ohnehin durchlaufen muss, wenn es seine Interessen verfolgt bzw. sein Lebensglück sucht.

Und hier wiederum, Urs, dieses 'Lebensglück' muss erst einmal möglich sein. Ist das möglich bei Kindern aus Problemfamilien? Ich bestreite das. Das einzige, was ihnen möglich ist, ist, sich kurzzeitig ein paar Krümel vom Kuchen widerrechtlich anzueignen. Z.B. indem sie einem Gleichaltrigen aus besseren Verhältnissen die Jacke oder das Handy abziehen.

Erziehung, Bildung, gute Sozialisation sind eine feine Sache. Aber hier halte ich die universalistische normative Ethik insofern für überlegen, als dass solche universalen Normen überhaupt erst die Voraussetzung dafür schaffen, dass Erziehung, Bildung und Sozialisation allgemein möglich sind. Was nützt dir denn das Ziel des guten Lebens, wenn es für viele aufgrund ihrer Lebensbedingungen gar nicht zu erreichen möglich ist?

Wie sie das gute Leben jeweils sehen, das kann man mit unterschiedlichen Gruppen diskutieren und wird jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aber es muss doch erst mal die Basis dafür geschaffen werden, dass solche Diskussionen überhaupt möglich sind - und dazu gehören die materiellen Voraussetzungen ebenso wie die Grenzziehung zwischen den unterschiedliche Gruppen, von denen jede im Zweifelsfalle behauptet, allein das richtige gute Leben verwirklichen zu wollen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 14. Nov. 2005, 09:44 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> Gemäss dem Projektmanagement folgt dem Brainstorming die Ausformulierung der Vision, der Fernziele und des Auftrags sowie die Erörterung der Mittel, der Randbedingungen usw.



..... das ist doch kinder leicht alles vor her zu sagen !

eine katastrophe wird mit der andern katastrophe konkurieren
die katastrophen gruppierung zu ver herr lichen ..........

konsens !

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 14. Nov. 2005, 19:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

Nach einigen Tagen Abwesenheit versuche ich den – inzwischen erheblich weitergesponnenen – Faden wieder aufzunehmen. Du schreibst (am 11.11.) :

"Eine Ethik des 'guten Lebens' will … die Fähigkeit des Menschen befördern, seine Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern sie auch zu beherrschen." Ziel ist ein Mensch, "der seine verschiedenen Bedürfnisse und Bestrebungen zu einer gewissen harmonischen Einheit integriert hat und diese Einheit auch gegenüber den Wechselfällen des Lebens aufrecht erhalten kann – der sich also von glücklichen und unglücklichen Umständen bis zu einem gewissen Grade unabhängig zu machen weiß."

Wenn ich dich richtig verstehe, so geht es in dieser Passage um spezielle Interessen des Individuums, die sich auf die Formung seiner eigenen Person richten, also um Ziele der Selbsterziehung. Das heißt, dass das Individuum, um dessen Wohl es geht, in seiner Persönlichkeit nicht als gegeben angesehen wird, sondern selber etwas Veränderliches darstellt.

Diesen Punkt halte ich für wichtig, weil er die spezifisch menschliche Fähigkeit zum Bezug auf sich selbst einbringt. Allerdings können die Ziele der Selbsterziehung dem Individuum nicht als fertige Ideale vorgegeben werden. Diese Ziele müssen vom Individuum selber gewollt werden. Das Individuum muss selber ein Interesse an dieser Entwicklung haben. Nur unter dieser Bedingung wird durch den Erwerb dieser Fähigkeiten sein Wohl auch wirklich gefördert.

Es stellt sich die Frage: Wie ist das mit den Fähigkeiten, die vorhanden sein müssen, damit ein Individuum überhaupt seine "echten" Interessen (einschließlich seiner Interessen an der Entwicklung und Reifung der eigenen Persönlichkeit) erkennen kann? Kann man das Interesse an der Fähigkeit zur klugen, fehlerfreien Bestimmung der eigenen Interessen immer voraussetzen? Muss dieses Interesse immer als gegeben angenommen werden? Oder speist sich die Motivation zur Rationalität aus den schlechten Erfahrungen mit unreflektierter Bedürfnisbefriedigung?

Gewöhnlich wird das Interesse an der eigenen Rationalität offenbar vorausgesetzt. Wenn einem Individuum dies Interesse fehlt, so wird es für unmündig erklärt und das Verhältnis zu ihm wird offen als ein (fürsorgliches) Herrschaftsverhältnis verstanden.

Soviel erstmal von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 14. Nov. 2005, 21:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Zitat: Eine Katastrophe wird mit der andern Katastrophe konkurieren die Katastrophengruppierung zu verherrlichen. /homo_sapiens, 14.11.05 09:44 Uhr/

:-) Lieber homo_sapiens,
Es ist doch nicht die Frage, ob es Katastrophen gibt - Es gibt solche, da sind wir uns einig -, sondern Frage ist, wie mit Katastrophen umzugehen ist.
Manchmal ist das kinderleicht: In katastrophenträchtigen Situationen soll man nicht nur kein Öl ins Feuer werfen, sondern womöglich Energie entziehen.



Zitat: Und hier wiederum, ... dieses 'Lebensglück' muss erst einmal möglich sein. Ist das möglich bei Kindern aus Problemfamilien? Ich bestreite das. /Abrazo, 13.11.05 23:21 Uhr/

:-) Hallo Abrazo,
mit viel Geduld ist es nicht selten, doch möglich, meist indem man Energie herausnimmt.


Zitat: Wenn ich dich richtig verstehe, so geht es in dieser Passage um spezielle Interessen des Individuums, die sich auf die Formung seiner eigenen Person richten, .... /Eberhard, 14.11.05 19:50 Uhr/

:-) Hallo Eberhard,
Ich möchte Deinen Gedanken noch etwas zuspitzen: Was ist das Ziel der Erziehung? Angesichts dieser Frage, verwirft man schnell die Hände und wendet sich ab. Ich meine auf diese Frage eine zustimmungsfähige Antwort geben zu können: Das Ziel der Erziehung ist es, jemanden so zu erziehen, dass er sich selbst erziehen kann.

Für viele darf das nur eine Teilantwort sein, weil für sie die Richtung fehlt. Aber genau damit hat so manche Individualkatastrophe angefangen.

Du fragst: <Kann man das Interesse an der Fähigkeit zur klugen, fehlerfreien Bestimmung der eigenen Interessen immer voraussetzen? Muss .... ? Oder speist sich ....?> Und ich denke: Ach wie sind diese Fragen doch normenträchtig! Um alles in der Welt! Wie und wann soll einer etwas lernen, ohne "Versuch und Irrtum".

Danke & Gruss --- Euer fürsorglicher Alltag

P.S.: Irgendwie hat doch das noch mit dem Thema zu tun, oder?


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von metin_oztaskin am 15. Nov. 2005, 00:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Dieser ist eine Reaktion auf die Antworten #22

Hallo Urs,
ich möchte mich für deine Reaktion bedanke. Ich habe mich habe darüber sehr gefreute, dass ich deine Worten richtig verstanden habe. Ich finde, es sollte selbstverständliche sein, dass mehr Lebensformen friedlich nebeneinander existieren. Es sollte deshalb selbstverständliche sein, weil die Menschen großen Wert auf ihre Individuelle legen. Staatsformen, die auf dieser Realität nicht achten, sind zum scheitern verurteilt. Wenn die Menschen ihren Leben nach eigene Vorstellung nicht gestalten können, dann sind sie mit ihren Situation nicht zufrieden. Solche Menschen, die mit ihrer Situation unzufrieden sind, neigen extremen Verhaltens. Mit anderen Worten, wenn man den Freiheitsanspruch unnötige einschränkten, neigen die Menschen zur extremen Verhalten, also zu solche verhalten, ohne darüber nachzudenken, ob sie mit solchen verhalten das erwünschten Ziele erreichen können. Ähnliche sie nach meiner Auffassung mit der Meinungsfreiheit aus.
Ich denke auch, wenn man den Menschen vertraut und ihnen die notwendige Freiheit gewähren, nach werden sie nicht zur extremen Verhalten neigen, also zur solchen verhalten, die die friedliche Koexistenz bedrohen. Ich komme zur eine solchen Meinung, weil ich denke, die meisten Menschen wissen, dass sie nicht ohne die Gemeinschaft nicht existieren können, Es kommt hinzu, das die Menschen mit der gegenwärtigen Situation zufrieden sind, können einige Opfer bringen. Menschen, die mit der Situation unzufrieden sind, können nicht verantwortliche handeln, das heißt gemeinschaftsorientiertes handeln. Die Sätze kannst du vielleicht als Reaktion auf die folgende Aussage betrachtet. Ein Staat lebt eben nicht vom Recht allein. Er braucht als Staatsbürger solche Individuen, die auch im Sinne des Ganzen denken und handeln können. Und solches Denken und Handeln lernt man
Das heißt die Individuum können nur dann Ganzheitliche denke und handeln, wenn sie mit herrschende Situation zufrieden sind. Die Menschen handeln nur dann unverantwortliche und neigen zur extremen Verhalten, wenn die herrschende unerträglich ist, wie oben zum Ausdruckt gebrach.
Ich finde, es ist ebenso wichtig, dass jedes Individuum in Rechtstaat vor dem Gesetze gleich ist. Also jeder sollte für eine Straftat gleiche Strafe bekommen. Keine Mensch dürfe bevorzug werden. Ich denke, dieser Tatsache das jedes Individuum in Rechtstaat vor dem Gesetze gleich sind, ist etwas Fundamentales für friedliches Zusammenleben. Das ohne die Gleichheit friedliches Zusammenleben auf dauert nicht funktionieren.
Es ist im Prinzip auch richtig dass die Person, der sich durch seine Tätigkeit am Staat verdienst erworben hat (im unseren Fall Helmut Kohl und Beugehaft), auch nach gleichen Gesetzen urteilte werde,
aber die Menschen urteilen subjektiv. Will sagen, sie gehen bei dem Urteile nicht strengen nach dem Gesetze, obwohl es so sein müsste, sondern berücksichtigen bei ihrer urteilenden Tätigkeit seine Verdienste. Es stellt sich die Frage, wem die Last zu rechten, dem Urteilende und den Verurteilen? Ich würde dieser Last der Urteilenden zu rechten, weil der Urteilende nicht objektiv ist. Dieser Last würde nur dann den Verurteilten fallen, wenn er Privilege beanspruche würde.
Obwohl das Verhalten beider Parteien Menschliche ist. Welche Richter könnten einen Mensch, der sich durch seine Leistung an der Gemeinschaft viele Verdienst erworben hat, gleich wie Dieb, der dem Staat nur zu last gefallen, verurteilen. So eine Richter würde total unmenschliche wird. Und welcher Mensch auf seine Privilege verzichtet, die er durch seine Leistung am Staat erworben hat.

Mit lieben Grüssen
Metin Öztaskin


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 15. Nov. 2005, 09:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> Lieber homo_sapiens,
Es ist doch nicht die Frage, ob es Katastrophen gibt - Es gibt solche, da sind wir uns einig -, sondern Frage ist, wie mit Katastrophen umzugehen ist.
Manchmal ist das kinderleicht: In katastrophenträchtigen Situationen soll man nicht nur kein Öl ins Feuer werfen, sondern womöglich Energie entziehen


........ warum dann ?

macht ihr noch so treu propaganda
für euere katastrophen ver einigung ?

anstatt end lich mit der realität kontakt auf zu nehmen !

>>>>>> weil ihr im sumpfe ver sunken
noch nicht ein mal mehr hand lungs fähig !

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 15. Nov. 2005, 11:43 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

es scheint mir angebracht zu sein, sich erst einmal darauf zu besinnen, was ein Gemeinwesen überhaupt ist. Wodurch wird es umschlossen? Da haben wir bei einem Verein die Mitgliederschaft. Die Mitglieder sind im Vereinsregister eingetragen und können sich meist auch als solche ausweisen. Es handelt sich also um eine klar definierte und begrenzte Menge. Das gleiche gilt für eine Gesellschaft, die einen Staat bildet. Ihr Mitgliedsausweis ist der Personalausweis.

In jedem Verein gibt es eine Minderheit, die sich engagiert oder die mit dem Verein bestimmte Privatinteressen durchzusetzen trachtet. Die Mehrheit zählt zu den Mitläufern oder gar Karteileichen. Sie gehören dem Verein zwar an, weil sie ihn wichtig finden, ihn unterstützen möchten oder sich im Notfall Vorteile durch die Unterstützung des Vereins erhoffen, beschränken sich aber ansonsten auf die Zahlung der Mitgliedsbeiträge.

Üblicherweise dominieren die Engagierten. Sie bilden Flügel und Parteien, raufen sich miteinander und sind auch wissensmäßig, sowohl was Sachthemen betrifft, als auch, was Informationen über Interna betrifft, allen anderen Mitgliedern weit überlegen.

Den übrigen Vereinsmitgliedern macht das nach dem Motto 'lass andere arbeiten' so lange nichts aus, wie ihre Interessen nicht vernachlässigt werden, ja, so lange, wie sie überhaupt noch als vorhanden wahrgenommen werden. Denn es kann vorkommen, dass die Dominierenden gar nicht mehr merken, dass es da auch noch andere Vereinsmitglieder gibt. Was nicht selten dazu führt, dass der Verein zerbricht.

Beziehen wir das auf den Staat. Auch da gibt es zweifellos dominierende Gruppen, die zumeist der bürgerlichen Lebensform angehören. Wenn ich mir einige Äußerungen hier anhöre, habe ich den Verdacht, dass es da noch andere, nicht bürgerliche Vereinsmitglieder gibt, wird übersehen. Das zeigt sich, wenn vom Thema Erziehung und Enkulturation die Rede ist. Die liberalen bürgerlichen Erziehungsmaßstäbe werden absolut gesetzt. Es wird nicht beachtet, dass die keineswegs allgemein als richtig anerkannt sind. Schon in kleinbürgerlichen Kreisen kann man mit Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung nicht viel anfangen; gefragt ist Anpassung, und zwar bis hinein in die unmittelbare persönliche Umgebung, und das Erziehungsziel ist ganz klar, dem Nachwuchs durch eben diese Anpassung zu ermöglichen, ein Leben auf möglichst sicherer materieller Grundlage zu führen. Hier ist eine Erziehung zur Selbsterziehung nicht gefragt, denn diese bietet die Gefahr, dass zum Einen das Individuum die Sicherheit aufgibt, die die materielle Grundlage bietet, dass das Individuum sich zum anderen von den sozialen Verpflichtungen löst, die den Lebensverlauf in seiner sozialen Gruppe bestimmt und von deren Einhaltung alle abhängig sind. Das Ergebnis eines solchen Verhaltens wäre wahrscheinlich Rausschmiss und Diskriminierung.

Wir können also von denen, die nicht die sichere materielle Basis des Bürgertums haben, nicht erwarten, dass sie sich für das Ziel der Verwirklichung bürgerlicher Freiheiten überhaupt interessieren. Ich komme eben immer wieder darauf zurück, dass die materielle Lebenswirklichkeit die Basis für die Humanisierung des Menschen ist. Das heißt, wenn in einer Gemeinwohldiskussion Konsens über die Förderung der Humanität bestehen sollte, dann folgt daraus notwendig, dass es im Sinne des Gemeinwohls ist, die materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen und dass es sinnlos ist, ohne die Schaffung der materiellen Voraussetzungen Humanität zu predigen und damit ein hehres Ziel an die Decke zu hängen, das mangels Vorhandensein von Leitern der größte Teil derer, die im Predigtsaal versammelt sind, auch nicht ansatzweise erreichen können.

Was folgt daraus, wenn man auf die herrlichen Geschenke weist, die jedermanns Ziel sein sollten - und übersieht, dass nur die ihrer habhaft werden können, die sich eine Leiter beschaffen können? Die anderen werden die Leitern zerbrechen. Und zwar schon dann, wenn sie merken, dass sie von den tollen Sachen nur ein paar Brosamen nach Gusto der Besitzenden abkriegen. Dies wird um so eher der Fall sein, wenn die Leiterbesitzer gar nicht mehr sehen, dass da unten etliche Leute herum krauchen, von denen sie behaupten, dass die leider nicht wollen, während sie in Wirklichkeit nicht können.

Fazit: wenn wir von Gemeinwohl reden wollen, müssen wir erst einmal feststellen, von welcher Gemeinde wir überhaupt reden - und wer alles dazu gehört. Sonst brauchen wir nämlich gar nicht erst mit einem Bemühen um einen Konsens anzufangen, denn unsere Vorschläge werden möglicherweise gar nicht konsensfähig sein. Vorstellungen von dem, was für das Individuum gut und richtig ist, werden in den meisten Fällen nicht konsensfähig sein, denn wenn die Gemeinde nicht definiert ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich hierbei um den Vorschlag handelt, eigenen Gruppennormen zur Allgemeingültigkeit zu verhelfen; als solche sieht man sie an, weil man gar nicht zur Kenntnis genommen hat, dass die Gemeinde nicht nur aus der eigenen Gruppe besteht.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 15. Nov. 2005, 17:10 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

Ich will noch einmal darlegen, in welchen Zusammenhängen ich die Fragen nach dem Wohl der Individuen und dem Gemeinwohl sehe.

Die Theorie der rationalen Entscheidung bemüht sich um die Beantwortung der Frage, welche Handlungen eines Subjektes dessen Wohl am besten verwirklichen. Es wird nach einer „klugen“ Entscheidung gesucht, die das Subjekt nicht bereuen muss.

Die Ermittlung der in diesem Sinne besten Entscheidung stellt an das Subjekt (bzw. dessen Ratgeber) folgende Anforderungen:

- es muss in der Lage sein, empirische Daten zu erfassen, um die Ausgangssituation in ihren entscheidungsrelevanten Aspekten richtig und möglichst vollständig zu beschreiben,

- es muss Wissen über empirische Regelmäßigkeiten besitzen, um die zu erwartenden Konsequenzen der möglichen Handlungsstrategien zu erkennen,

- es muss die Wahrscheinlichkeiten der zu erwartenden Konsequenzen abschätzen und bei der Entscheidung berücksichtigen können,

- es muss sich seiner verschiedenen Ziele bewusst sein und diese Ziele gewichten können, um die zu erwartenden Konsequenzen nach diesen Kriterien bewerten zu können.

Weil eine nach diesen Kriterien durchdachte Entscheidung einen Aufwand erfordert, der je nach Zeithorizont und Detailliertheit der Berechnungen auch sehr hoch sein kann, bedarf es gleichzeitig eines Überblicks über die Angemessenheit des betriebenen Entscheidungsaufwands.

Wenn ich ein Auto kaufe ist z.B. ein höherer Aufwand bei der Entscheidungsfindung gerechtfertigt als beim Kauf eines Rasierapparates.

Die Entscheidungskosten sind auch einer der Gründe, warum Individuen für wiederkehrende Typen von Situationen und Entscheidungen bestimmte Grundsätze oder Prinzipien ausbilden, nach denen sie gewohnheitsmäßig handeln. Die einmal gefundenen Entscheidungen gelten dann nicht nur für eine bestimmte Situation sondern für eine ganze Klasse gleichartiger Entscheidungssituationen.

Insofern das Subjekt in einer Welt mit anderen Akteuren lebt, die ebenfalls ihre Ziele verfolgen, muss es deren Handeln in seine Überlegungen mit einbeziehen. Das Handeln mehrerer Akteure, die unabhängig voneinander ihre Interessen verfolgen, wird modellhaft von der Spieltheorie untersucht. Das Resultat dieser Analysen sind Empfehlungen hinsichtlich der für einen Akteur besten Handlungsstrategie.

Die Frage, die ich stelle, unterscheidet sich von dieser Perspektive insofern, als ich voraussetze, dass die Individuen eine gemeinsame Entscheidung finden wollen. Sie wollen als Gemeinschaft handeln und stehen damit vor der Frage: Was ist die für uns alle beste Entscheidung? Welche Entscheidung entspricht am besten dem allgemeinen Wohl?

Dies beantwortet auch die Frage von Abrazo: Die Theorie des Gemeinwohls bezieht sich auf alle Kollektive, die in bestimmten Bereichen einheitlich handeln und die für alle Einzelnen, aus denen sich das Kollektiv zusammensetzt, geltende Normen aufstellen.

Mir geht es also um die Beantwortung der Frage, welche Entscheidungen, Normen und Handlungen das Gemeinwohl verwirklichen, wobei ich unter "Gemeinwohl" etwas verstehe, das von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft trotz unterschiedlicher und miteinander im Konflikt befindlicher Interessen akzeptiert und gemeinsam gewollt werden kann.

Abschließend noch ein Wort zur Begrifflichkeit: Ich würde in Bezug auf die skizzierte Fragestellung nicht von "Meta-Ethik" sprechen, da unter Metaethik üblicherweise die sprachanalytische Untersuchung ethischer Aussagen verstanden wird. Die Metaethik untersucht normative Sätze, sie behauptet selber aber keine Normen. Im Unterschied dazu dient die skizzierte Theorie des Gemeinwohls der normativen Regelung des Handelns angesichts unterschiedlicher Interessen der Individuen.

Es grüßt alle an normativen sozialen Fragen Interessierte Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 16. Nov. 2005, 09:49 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> es scheint mir angebracht zu sein, sich erst einmal darauf zu besinnen, was ein Gemeinwesen überhaupt ist. Wodurch wird es umschlossen?



........ von einem ring von raub tieren ?

wird eine ge meine schafft um schloßen !

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 16. Nov. 2005, 11:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

" ... wenn wir von Gemeinwohl reden wollen, müssen wir erst einmal feststellen, von welcher Gemeinde wir überhaupt reden - und wer alles dazu gehört. Sonst brauchen wir nämlich gar nicht erst mit einem Bemühen um einen Konsens anzufangen, denn unsere Vorschläge werden möglicherweise gar nicht konsensfähig sein." Abrazo & Hund

Wenn das nicht auf provinzieller Vereinsebene verbleiben soll, scheint mir wichtig, nicht nur die Gruppen, mit denen sich Gemeinwohl und Individualwohl entfaltet, sondern auch die jeweiligen Strukturen dieser Gruppen zu berücksichtigen und herauszustellen. In welchem Verhältnis stehen etwa gesellschaftliche Gruppen die religiös strukturiert sind, zu gesellschaftlichen Gruppen die ihre praktischen Regeln nicht über Religion finden, für die Religion nicht das Entscheidene ist? Was bedeutet das, etwa für den Begriff des Allgemeinwohles? Einleitend, dazu:

Nach Fukuyama ist mit der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie die Geschichte an ihren Endpunkt angekommen. Die Entfaltung von Naturwissenschaft und Technologie, in Verbund mit Ökonomie, führe notwendigerweise zu liberaler Demokratie. Die Rationalität der Weltgesellschaft "basiere auf den Prinzipien technologischer Funktionalität und ökonomischer Effizens ebenso wie auf dem politischen Diskurs freier, mit Selbstbewusstsein ausgestatteter Bürger."

Dagegen liesse sich fragen, ob nicht auch die in Europa wurzelnde Demokratie mit dem Scheitern des Kommunismus und dem politischen Umbruch in Osteuropa zu ihren Ende gekommen ist? Und wenn ja, ob dann nicht ebenfalls abendländische Metaphysik, monotheistische Religion und die damit manifestierenden Moralen zu ihren Ende gekommen? Wenn nicht, welche Aufgabe übernehmen diese im favorisierten Rahmen der Rationalität der Weltgesellschaft. Was bedeuten dann Metaphysik, Philosophie ... bei der Definition des Allgemeinwolhes? Die seit 1789 institualisierte Demokratie, Volk und Nationalstaat, geben jedenfalls seit der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie nicht mehr den Rahmen der ökonomischen Unternehmungen Europas ab, an dem sich europäische Bürger orientieren. Westeuropäische Bürger finden ihre Freiheit nicht mehr mit ihren angestammten politischen Ordnungsgefüge; europäische Nationen werden, süd- mittel- und nahosteuropäische Innenpolitik wird nicht mehr von jener Nationalstaatlichkeit begrenzt und entgrenzt, die sich mit der kapitalistischen Expansion Westeuropas (Kolonialisierung, Weltriege) entfaltete. Die Bürger der liberalen Weltdemokratie "seien lediglich juristische Personen mit Rechten und Pflichten. Sie befinden sich in einem abstrakten Raum mit zunehmend ungewissen territorialen Grenzen. ... Es wird unerheblich sein, ob Privatunternehmen oder Verwaltungsbeamte eine Norm durchsetzen. Die Norm wird nicht mehr Ausdruck der Souveränität (etwa Religion, Metaphysik, p.) sein, sondern einfach ein Faktor, der Ungewissheit reduziert, ein Mittel zur Senkung der Transaktionskosten, indem sie die Transparenz der sozialen Interaktionen erhöht." Recht wird "reduziert auf einen Regelkodex und nur durch den täglich erbrachten Beweis seiner Funktionsfähigkeit legitimiert." Diese sozioökonomische Abstraktheit ist jene des Pragmatismus, da diese aus allem anderen resultiert, jedoch nicht, etwa aus monotheistischer Religion oder aus, weniger aktuell, Institutionen territiol begrenzter Staatlichkeit. Unterschiede somit Identität manifestieren sich nicht mit der Rationalen Norm us-amerikanischer und europäischer ökonomisch-kapitalischer Expansion, sondern mit jenem Bereich der beispielsweise als Glauben auftritt, d.h. mit Religionen (weltweit als Polytheismus) und entsprechenden Moralen. Dieser Bereich bietet Prinzipien, welche die, etwa von abendländischer Metaphysik, Kant ... entgrenzte Rationale Logik gesellschaftlicher Vernetzung somit auch liberale Demokratie nicht hergibt.

Nach Huntigton "eroberte der Westen die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Werte oder seiner Religion, ... sondern durch seine Überlegenheit in der Anwendung organisierter Gewalt ... Um die Kultur des Westens bei schrumpfender Macht des Westens zu bewahren, sei es ... unter anderem nötig, die technologische und militärische Überlegenheit des Westens über andere Kulturen zu behaupten. ... weil sie das mächtigste Land des Westens sind, falle diese Aufgabe überwiegend den USA zu."

Das Gesellschaft Zusammenhaltene ist nach Fukuyama und Huntigton also nicht Religion, abendländische Metaphysik sowie die damit auftretenden Moralen und Diskurse, auch nicht europäische Nationalstaatlichkeit, sondern die Rationalität liberaler Weltgesellschaft. Mit den "Prinzipien technologischer Funktionalität und ökonomischer Effizens" auftretend übernehme die liberale Weltdemokratie jene Sinnstiftung, die bisher in Europa monotheistische Religion, Metaphysik ..., aber auch Nationalstaatlichkeit, Patriotismus ... für sich in Anspruch nahm, Normen der Gesellschaft zu favorisieren. Sollten derartige Veränderungen struktureller Zusammenhänge nicht ebenfalls berücksichtigt werden, wenn die Frage nach dem Verhältnis Gemeinwohl sowie Individualwohl diskutiert wird? Wenn sich Identität von gesellschaftlichen Gruppen etwa über Religion und nicht über liberale Demokratie verzeitigt, sollte bei der Behandlung der Frage nicht vernachlässigt werden, die Strukturen dieser Gruppen näher zu bestimmen? Denn die mit der liberalen Demokratie expandierende Normativität findet ihre Begrenzung mit jenen gesellschaftlichen Gruppen, denen nicht institualisierte Diskurse der Maßstab der Freiheit sind. Das gilt ebenso für die Innen- wie auch der Aussenpolitik verschlankter Staatlichkeit im sogenannten globalen Zeitalter.

"Mir geht es also um die Beantwortung der Frage, welche Entscheidungen, Normen und Handlungen das Gemeinwohl verwirklichen, wobei ich unter "Gemeinwohl" etwas verstehe, das von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft trotz unterschiedlicher und miteinander im Konflikt befindlicher Interessen akzeptiert und gemeinsam gewollt werden kann." Eberhard

Was akzeptieren denn die unterschiedlichen Mitglieder einer Gesellschaft die, religiöse Identität und liberale Normativität favorisieren, als Gemeinwohl? Was ist denn überhaupt das Gemeinwohl der von diesen Ausrichtungen geprägten Gesellschaft im sogenannten globalisierten Kapitalismus? Sollte nicht erst diese Frage behandelt werden, bevor von Entscheidungen, Normen und Handlungen, mit denen Gemeinwohl verwirklicht werden soll, die Rede sein kann?

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 16. Nov. 2005, 11:57 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

Ich will meine Skizze zur Funktion des Begriffs "Gemeinwohl" noch etwas detaillierter ausführen.

Mehrere Einzelne, die eine Gemeinschaft bilden und gemeinsam handeln, stehen vor der Frage: Was ist die für uns alle gemeinsam beste Entscheidung? Oder kürzer: Welche Entscheidung entspricht dem allgemeinen Wohl?

Diese Frage wird gestellt unter der Annahme, dass diejenige Entscheidung, die dem allgemeinen Wohl entspricht, für alle Einzelnen normativ gilt und von diesen zu respektieren ist.

Wenn dies für den Einzelnen jedoch mehr sein soll als eine Forderung nach Gehorsam und Unterordnung, so muss das allgemeine Wohl so bestimmt werden, dass es auch allgemein konsensfähig ist.

An diesem letzten Satz scheiden sich gewöhnlich die Geister und ich gebe zu, dass der Begriff der „allgemeinen Konsensfähigkeit“ eine Reihe zum Teil noch unbefriedigend beantworteter Fragen aufwirft.

Zum einen handelt es sich um einen Möglichkeitsbegriff: die Zustimmung aller Einzelnen muss möglich sein, sie muss nicht tatsächlich stattgefunden haben.

Dagegen wird der Einwand erhoben, dass dies kein brauchbares Kriterium ist, denn man kann praktisch allem zustimmen, wenn die Zustimmung darin besteht, bei einer bestimmten Frage ja zu sagen, die Hand zu heben oder auf einem Zettel etwas anzukreuzen.

Dieser Beliebigkeit stehen jedoch bestimmte allgemeine Annahmen über den Menschen entgegen, die meist nicht explizit gemacht werden sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. So wird angenommen, dass kein Individuum einer Alternative zustimmt, zu der es andere verfügbare Alternativen gibt, die für das betreffende Individuum besser sind, die also seinem individuellen Wohl mehr entsprechen.

Die tatsächliche Zustimmung kann sinnvoller Weise kein Kriterium dafür sein, ob eine bestimmte Alternative dem Allgemeinwohl entspricht oder nicht. Wenn Individuum A sich aus Zeitmangel, aus Desinteresse oder weil es die ganze Argumentation nicht versteht noch gar nicht die Frage vorgelegt hat, ob es der Alternative x zustimmt oder nicht, dann kann die fehlende Zustimmung von A kein inhaltliches Argument gegen dagegen sein, dass Alternative x dem Gemeinwohl entspricht.

Wie man sieht, ist die Konsensusfähigkeit, um die es hier geht, nicht dasselbe wie ein Abstimmungsverfahren nach dem Prinzip der Einstimmigkeit.

Aus der Argumentation über das allgemeine Beste ergeben sich Überzeugungen der Individuen hinsichtlich des Gemeinwohls, jedoch bewegen sich diese Überzeugungen auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit.

Dies ist noch nicht automatisch auch das sozial Verbindliche. Dazu bedarf es besonderer institutioneller Aktivitäten.

So können die Überzeugungen der Individuen unterschiedlich bleiben, weil z.B. mehrere Ansichten zum Gemeinwohl rational vertretbar sind aufgrund unterschiedlicher empirischer Annahmen über die Auswirkungen bestimmter Handlungen.

Die inhaltliche Diskussion darüber, ob eine bestimmte Norm dem Gemeinwohl entspricht, kann deshalb auch stellvertretend geführt werden, indem man in Bezug auf die Interessenlage von Einzelnen oder Gruppen bestimmte Annahmen macht.

Dies entschärft etwas die von Abrazo betonte Problematik, dass es Lebensverhältnisse gibt, unter denen sich ein Mensch derartige Fragen weder stellen will noch kann.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 16. Nov. 2005, 21:38 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ich hatte geschrieben, dass der Begriff des allgemeinen Wohls eine normative Bedeutung für das Handeln der Einzelnen hat. Das, was dem allgemeinen Wohl dient, ist grundsätzlich zu verwirklichen, auch wenn es dem Einzelnen keinen Vorteil bringt sondern für ihn eine Einschränkung bedeutet.

Ich hatte jedoch die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen gemacht:

Erstens der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit.

Hier ist der inhaltliche argumentative Streit angesiedelt, ob ein bestimmtes gemeinsames Handeln dem allgemeinen Wohl dient oder nicht. Dabei treten all die Probleme auf, die auch bei der Entscheidungsfindung zum eigenen Wohl eine Rolle spielen (Prognose von Folgewirkungen, Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten, Bestimmung des Bereichs der verfügbaren Alternativen, Gewichtung und Abwägung von Interessen u.a.m.). Hinzu kommen die besonderen Probleme einer kollektiven Entscheidung, insbesondere die interpersonale Gewichtung und Abwägung von Vor- und Nachteilen für die Einzelnen.

Zweitens der Ebene der sozialen Verbindlichkeit.

Hier wird der „endlose Streit der Gelehrten“ verlassen und es werden „Nägel mit Köpfen“ gemacht. Angesichts eines konkreten Problems wird eine einzelne Entscheidung oder eine generelle Norm als verbindlich „gesetzt“. Dazu müssen Verfahren der Normsetzung institutionalisiert werden (Regierungen, Gerichte, Eigentumsrechte, Befehlsbefugnisse, Entscheidungsgremien, Verträge etc.). Die Verfahren der Normsetzung greifen dabei auf die inhaltlichen Diskussionsergebnisse zurück und stehen weiterhin unter dem Anspruch der Gemeinwohlorientierung.

Die Bestimmung des Gemeinwohls geschieht nach diesem Verständnis auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit. Die Probleme des praktischen Handelns (Zeitdruck, beschränkte Ressourcen, Informations- und Entscheidungskosten) spielen keine Rolle. Die theoretische Diskussion geschieht also „handlungsentlastet“.

Das Gemeinwohl ist zwar der Orientierungspunkt des individuellen Handelns und der verfahrensmäßigen Normsetzung, aber den Überzeugungen der Einzelnen vom Gemeinwohl kommt keine unmittelbare Verbindlichkeit für das Handeln zu. Dazu bedarf es eines kollektiven Entschlusses.

Ohne die Unterscheidung zwischen den zwei Ebenen der inhaltlichen Richtigkeit und der sozial gesetzte Verbindlichkeit und ohne Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen beiden Ebenen kann m.E. keine brauchbare normative Theorie des Gemeinwohls entwickelt werden.

Ich bitte um Nachsicht für diese zugegebenermaßen recht abstrakt geratenen theoretischen Erörterungen und hoffe auf eine Konkretisierung anhand von Beispielen.

Bis dann grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 17. Nov. 2005, 10:29 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> Mehrere Einzelne, die eine Gemeinschaft bilden und gemeinsam handeln, stehen vor der Frage: Was ist die für uns alle gemeinsam beste Entscheidung? Oder kürzer: Welche Entscheidung entspricht dem allgemeinen Wohl?



........ zum be ant worten dieser ..........

müßtet ihr zu erst wahr heits fähig sein !

und nicht dumm zertifiziert
wie es ver langt über all ............

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 18. Nov. 2005, 10:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ich gehe einmal von einer Gemeinschaft aus, die im Sinne des Gemeinwohls handeln will.

Angenommen, es würde innerhalb dieser Gemeinschaft immer wieder zu Konflikten kommen, weil sich Mitglieder der Gemeinschaft durch Lärm in ihrer Nachtruhe gestört fühlen.

Weiterhin sei angenommen, dass allen Mitgliedern ein ungestörter Nachtschlaf wichtiger ist als die Möglichkeit, zu nächtlicher Zeit Tätigkeit nachzugehen, die mit lauten Geräuschen verbunden sind. Das heißt, dass es für alle besser wäre, wenn die nächtliche Ruhe eingehalten würde.

In diesem einfach gelagerten Fall könnte man sagen, dass die Einhaltung einer solchen Norm dem Gemeinwohl entspricht, weil sie für alle besser ist als der ungeregelte Zustand.

Da die Menschen zwar verschieden sind, aber da es auch vieles gibt, was allen Menschen gemeinsam ist, gibt es zahlreiche Regelungen, die für alle einzelnen vorteilhaft sind. In diesem Fall – auch nur in diesem Fall – lässt sich das Gemeinwohl durch die Anwendung der Goldenen Regel bestimmen: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“

Diese Regelungen, die unter normalen Bedingungen und in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle dem Wohle aller Einzelnen und folglich auch dem Wohle der Allgemeinheit dienten, machen den Grundbestand der üblichen, von Generation zu Generation weitergegebenen Moral aus. In traditionellen Gesellschaften, in denen der Einzelne noch abhängiger war von seiner sozialen Umgebung, reichte für die Durchsetzung solcher Normen die moralische Verachtung der Mitmenschen gegenüber demjenigen, der diese Normen verletzte. Ein besonderer Apparat von Polizei, Gerichten und Strafvollzugsanstalten war dort nicht nötig, wo jeder jeden kannte und wo jeder auf sein soziales Ansehen achten musste, weil davon sehr viel für ihn abhing.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 18. Nov. 2005, 11:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> ich gehe einmal von einer Gemeinschaft aus, die im Sinne des Gemeinwohls handeln will.


......... diese welt ist aber eine ge meine schafft
wo es um das ge meine wohl geht !

wie unten be schrieben >>>>>>>>>

da frau gar nicht menschen würdig leben will
und dahin gehend mit mann co operieren

sondern ein arbeits lager trottel
mit dem andern konkurieren
ihren jahr tausend lang ver wöhnten wahn sinn

zu be glücken !

und ein quasi kgb agent mit dem andern konkurieren
damit ja keine menschen würde auf kommt

deshalb es keine öffent lich wahr heit
keine wirkliche philosophie
keine sinn volle zukunfts ge staltung geben ........

nur end loses perpetieren ihres wahn sinns
also eine einzige katastrophe !

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 18. Nov. 2005, 23:11 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Eberhards #58 stimme ich zu.

Philoschall, die Thesen Huntingdons und Fukuyamas kann man imho getrost auf den Müll werfen. Nach wenigen Jahren hat sich erwiesen, dass die USA das meist gehasste Land der Erde sind, als Kultur ein Negativbeispiel für eine Entwicklung, die man auf keinen Fall einschlagen möchte - und auch die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen, hat sich als äußerst begrenzt erwiesen. Mit anderen Worten: eine Seifenblase.

die Zustimmung aller Einzelnen muss möglich sein

Dieser kleine Halbsatz erscheint mir sehr wichtig. Was heißt, die Zustimmung muss möglich sein?

Nehmen wir als Beispiel unser Grundgesetz. Es ist von einer kleinen Gruppe entwickelt und niedergeschrieben worden und von einer weiteren kleinen Gruppe beschlossen worden. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der dem Grundgesetz nicht zugestimmt hätte. Einwände kamen stets aus formalistischer Richtung: es sei nicht in einer Volksabstimmung abgesegnet worden. Nie aber inhaltlicher Art. Das Grundgesetz war also zum Zeitpunkt, als es niedergeschrieben wurde, offenbar ein Normenkatalog, zu dem Zustimmung möglich war. Das hat eine Konsequenz: eine Ablehnung im Konsens erscheint mir unmöglich.

Vergleichen wir das mit Huntingdon und Fukuyama, oder auch mit dem islamischen Staatsideal. Ich will nicht ausschließen, dass die Zustimmung zu diesen Vorstellungen in einer Gesellschaft möglich ist. Global aber ist sie unmöglich. Global könnte eine 'Zustimmung' nur mit Gewalt erreicht werden, doch auch das ist so gut wie ausgeschlossen.

Daraus folgt die These, dass ein entwickelter Normenkatalog nur dann das Papier wert ist, auf dem er steht, wenn die Zustimmung zu diesem Normenkatalog in der sozialen Gruppe, für die er gelten soll, grundsätzlich möglich ist. Die Möglichkeit der Zustimmung kann man aber m.E. nicht von den individuellen Interessen abhängig machen (jedenfalls nicht bei größeren sozialen Gruppen), vielmehr ist sie abhängig von der Vereinbarkeit eines solchen Normenkataloges mit den im Zustimmungsbereich als gültig oder wahr angesehenen bestehenden Normen und Werten.

So wird angenommen, dass kein Individuum einer Alternative zustimmt, zu der es andere verfügbare Alternativen gibt, die für das betreffende Individuum besser sind, die also seinem individuellen Wohl mehr entsprechen.


Setzt diese Auffassung nicht voraus, dass das Individuum keine Gemeinschaftsinteressen hat - und ist nicht diese Auffassung falsch? Läuft nicht der politische Streit eher in die Richtung, welche Alternative besser für die Gemeinschaft ist und ist nicht das individuelle Interesse daran relativ unbeteiligt, taucht nur auf in der Berücksichtigung der Interessen aller unter dem behandelten Aspekt gleichartiger Individuen?

Ich bitte um Nachsicht für diese zugegebenermaßen recht abstrakt geratenen theoretischen Erörterungen und hoffe auf eine Konkretisierung anhand von Beispielen.


Nö. Wieso? Is doch auch so klar.
Ich sehe allerdings Probleme in dem Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher Richtigkeit (hm) und sozialer Verbindlichkeit. Denn: wie kann diese inhaltliche Richtigkeit behauptet werden?

Denken wir mal an den Ausdruck 'politisch nicht durchsetzbar'. Gemeint ist damit eine Norm, die als inhaltlich richtig erkannt ist, die aber nicht befolgt wird. Woraus ich schließe, dass sie weder konsensfähig noch richtig ist.

Jetzt doch ein praktisches Beispiel: das Hundegesetz. Wird bei uns in weiten Teilen nicht befolgt. Das heißt, die Junkie-Hunde sind weiterhin leinenlos in Gesellschaft ihrer Herrschaft auf der Domplatte anzutreffen, in den Vororten laufen Herr und Hund weiterhin ohne Leine über die Bürgersteigen und in Grünanlagen und Stadtwald läuft kaum ein Hund angeleint herum. Das zu unterbinden ist aussichtslos. So viele Kontrolleure kann die Stadt gar nicht einstellen - und Anzeigen aus der Bevölkerung gibt's so gut wie gar nicht, weil es die nicht stört. Wir haben hier also eine von einer Vielzahl Experten als inhaltlich richtig entwickelte Norm, die in etlichen Teilen mangels Zustimmung nicht durchsetzbar ist. Man sollte sich also keine Illusionen machen: eine theoretische inhaltliche Richtigkeit muss nicht notwendigerweise auch praktisch als inhaltlich richtig anerkannt sein. Dann nämlich, wenn die Prinzipien, aufgrund derer die Normen entwickelt wurden (hier: größere Hunde sind potentiell gefährlich), in der Gesellschaft für falsch befunden werden (Quatsch, der is nich gefährlich, den kennen wir doch).

Also weitere These: es ist nur sinnvoll, Normen zu entwickeln, die bereits auf allgemein anerkannten Prinzipien beruhen (womit wir im Grunde wieder bei meiner Behauptung des Vorhandenseins eines zum Wesen des Menschen gehörenden ethischen Willens wären - gut, betrifft nicht notwendigerweise die Hunde :-), wohl aber etliche andere Normenkomplexe).

Diese Regelungen, die unter normalen Bedingungen und in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle dem Wohle aller Einzelnen und folglich auch dem Wohle der Allgemeinheit dienten, machen den Grundbestand der üblichen, von Generation zu Generation weitergegebenen Moral aus.

Hier möchte ich ein Problem nur andeuten: sind diese Regelungen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienten, nicht abhängig von der Lebensform der Allgemeinheit? Ich denke hier an die alle-Jahre-wieder-kehrende Diskussion, ob und warum an Karfreitag und Allerheiligen die Discos geschlossen sein müssen - noch vor paar Jahrzehnten eine völlig undenkbare Diskussion.

Grüße

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 19. Nov. 2005, 09:49 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> Mit anderen Worten: eine Seifenblase.


...... und europa hat noch nicht ein mal seifen blasen !

es hat absolut gar nichts
wie nur von jeder weis heit emanzipierte xx

die total den ver stand ver loren !

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 19. Nov. 2005, 20:29 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

"Philoschall, die Thesen Huntingdons und Fukuyamas kann man imho getrost auf den Müll werfen. Nach wenigen Jahren hat sich erwiesen, dass die USA das meist gehasste Land der Erde sind, als Kultur ein Negativbeispiel für eine Entwicklung, die man auf keinen Fall einschlagen möchte - und auch die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen, hat sich als äußerst begrenzt erwiesen. Mit anderen Worten: eine Seifenblase." Abrazo & Hund

Abrazo, leider stellst Du das Unwichtigste aus meinem Beitrag - mit einer Wertung auf die ich nicht eingehen werde - heraus. Wichtiger, und das versuchte mein letzter Beitrag, ist die von Eberhard gestellte Frage nach Gemeinwohl und Individualwohl in Zusammenhänge zu bringen, die von Dir hier bereits angesprochen worden.

"Hier möchte ich ein Problem nur andeuten: sind diese Regelungen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienten, nicht abhängig von der Lebensform der Allgemeinheit?" Abrazo & Hund

"Lebensform der Allgemeinheit?" ?

Die Zusammenführungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft auf staatsrechtlich begrenzter Räumlichkeit, deren unterschiedlich strukturierte Lebensausrichtungen nicht mehr ausschließlich durch Nationalstaatlichkeit organisiert werden, bedingt einen gravierenden Begriffswandel des Politischen, der auch bei der Behandlung des Gemeinwohles berücksichtigt werden kann. Theorie, demokratisches Ideal: Politische Repräsentanten transnationalen Staatsgefüges sowie deren "nationale" Wählerschaften sind Träger jener transnationalen Gesetzlichkeit, mit der das herausgestellt wird, was allen Menschen ihr Gemeinsames ist. Transnationale Gesetzlichkeit, d.h. nicht mehr (nur) im Rahmen des Nationalstaates auftretende Gesetzlichkeit gibt die Regel gesellschaftlicher Handlungen her. Politische Repräsentanten, da diese nicht mehr kulturelle Unterschiede zum Maß gesellschaftlicher Handlungen erheben, setzen sich ins Vermögen, Recht auf veränderter Grundlage zu definieren und zu praktizieren: Transnationales Recht sowie das "nationale" Handeln ist stimmig, wenn nicht mehr die kulturellen Unterschiede der Zusammengeführten das Auschlaggebende darstellen. Dass den "nationalen" Repräsentanten Gemeinsame, eben dass die Gleichheit verbürgende transnationale Recht, gibt die Richtlinie "nationalen" Handels ab. - Die Frage nach dem Allgemeinwohl verschiebt sich; auschliesslich im Rahmen von Nationalstaatlichkeit kann diese nicht mehr beantwortet werden. Dass von kultureller Vielfalt, dass von bisheriger bürgerlicher Nationalstaatlichkeit abstrahierte, d.h. das transnationale Recht soll jene Rechtsordnung darstellen, mit der "nationale" Gesellschaft geformt wird.

Der Alltag, gesellschaftliche Lebenspraxis, lehrt das genaue Gegenteil: Unterschiede der auf staatlich begrenzter Räumlichkeit sich "begegnenden" Lebensweisen werden von ihren Trägern herausgestellt; die Zusammengeführten entfalten sich nicht in jenem globalen Rahmen bürgerlich verschlankter Staatsgesetzlichkeit, mit dem die rechtliche Gleichheit der Menschen jenseits von "nationalen" 'Eigenschaften' favorisiert wird. Folge des nicht von diesen Trägern mitgetragenen globalen Ideals: Mit einem Schlagwort bezeichnet; gesellschaftliche Parallelwelten entstehen, denen mit von transnationaler Gesetzlichkeit bedingter, d.h. verschlankter Staatlichkeit, etwa mit Bildungsprogrammen, begegnet wird. Dass Interesse jener gesellschaftlichen Gruppen erreicht nicht mehr jene liberal-global ausgegebene Gleichheit, die bereits seit Jahrhunderten staatsrechtlich-formal, jedoch im Rahmen der Nationalstaatlichkeit ausgegeben und jene Interessen vermochte zu integrieren, bezw. nationalstaatlich auszugrenzen. Jede dieser gesellschaftlichen Gruppen erhebt den Anspruch, ihr Interesse sei das Richtige, mit dem Allgemeinwohl favorisiert wird. Solange derart strukturierte gesellschaftliche Gruppen liberale Gesetzlichkeit - und im sogenannten globalen Zeitaler wird das nicht mehr gelingen - nicht auf die Ebene ihres absolutgesetzten Individualwohles heruntergezogen, solange wird dieses Einzelinteresse auch nicht als rechtlich-verbindliches Gemeinwohl umgesetzt und praktiziert. Dass Verabsolutieren des Individualwohles wird jedoch auch dann praktiziert, wenn deren Träger das von ihnen favorisierte Gemeinwohl weder im Rahmen des "nationalen", noch im Rahmen des globalen Rechts vermögen durchsetzen. Die im "Nationalen" verbleibende mannigfaltige Konstruierung zwecks Ab- und Ausgrenzung, die nationalistische Herabsetzung des Menschen zum "Anderen" verbleibt innerhalb des Alltäglich-Moralischen, d.h. die Macht die hier gesellschaftlich geübt wird, vermag nicht mehr die "national-verbindliche" Rechtstaatlichkeit - da diese verschlankt auftritt - erreichen, dass Naturrecht vermag auch nicht - und diesen schon gar nicht - den Handlungsspielraum globaler Rechtsordnung erreichen.

Dass zeigt, dass Gemeinwohl ohne der Lebensform der Allgemeinheit, Theorie bleibt. Zeigt aber auch, dass, wenn verabsolutierte Einzelinteresse herrschen, wenn Naturrecht herrscht, kein Allgemeinwohl umgesetzt wird. Allgemeinwohl wird in der repräsentativen Demokratie umgesetzt, da die von unterschiedlichen Interessengruppen getragenen demokratischen Parteien aufgetreten. Dieser bürgerlich-demokratische Staatsaufbau vermag, da hier unterschiedlich ausgerichtete gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind, Allgemeinwohl organisieren. Die bürgerliche Volks-Parteien-Praxis somit das damit demokratisch sich manifestierende Allgemeinwohl (deren staatliche Institutionen ... ) wird ausser Kraft gesetzt, wenn verschlankte Staatlichkeit bezw. wenn globales Recht aufgetreten, bezw. wenn das (gegen politische Theorie ala Abrazo - Hund kann nichts dafür) was als Volk ausgegeben wird, ethisiert wird.

Bürgerliches Staatswesen, mit in Wählerschaften verankerten Volksparteien auftretend, vermag sich demokratisch legitimieren, vermag jedoch Wandlungen vollziehen, mit der demokratische Rechtsstaatlichkeit - wie bereits in Deutschland von 1933 bis 1945 vollzogen - ausser Kraft gesetzt wird. Die Rede vom Gemeinwohl tritt als Schein, als repräsentative Demokratie zersetzendes Gerede auf: Das ausgegebene Individualwohl, nicht mehr ausschließlich über Nationalstaatliches, etwa Parteiwesen formiert, wird an jenes globale Ideal gekoppelt, deren Inhalt sich des Politischen entledigt zeigt, dass Welt-Marktgesetzlich strukturiert, "nationale" Handlungen regelt.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 19. Nov. 2005, 21:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

vorweg eine Anmerkung: Soviel ich weiß, haben 1949 im Parlamentarischen Rat die Vertreter der Kommunisten und der Bayernpartei dem Grundgesetz nicht zugestimmt.

Zu Deinen Einwänden: Ich halte daran fest, dass eine Norm nur dann „richtig“ (und das heißt: richtig für alle) sein kann, wenn auch alle dies einsehen können. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Individuen nicht nur „egoistische“ Interessen haben.

Ich will dies jedoch hier nicht weiter vertiefen, in der Hoffnung, dass das, was ich meine, im Folgenden noch etwas klarer wird.

In meinem letzten Beitrag hatte ich den Fall (Schutz der Nachtruhe) erörtert, bei dem die Einhaltung einer Norm für alle Mitglieder besser ist als ein nicht geregeltes Verhalten. Das Gemeinwohl entspricht in diesem Fall dem Wohl aller Einzelnen (weil sich alle in einer annähernd gleichen Lage befinden und alle annähernd gleiche Interessen haben).

Eine Regelung kann nach meinem Verständnis jedoch auch dann dem Gemeinwohl entsprechen, wenn diese Regelung nicht für alle Einzelnen mit einer Steigerung ihres Wohlergehens verbunden ist, sondern für bestimmte Einzelne auch eine Verringerung ihres Wohlergehens bedeutet.

Es lassen sich hier die verschiedensten Regelungen denken: Z.B. ist das allgemeine Recht, private PKWs zu fahren, für Menschen, die kein Auto besitzen, eher nachteilig. Ähnliches gilt für das allgemeine Recht, Hunde zu halten.

Ich will als Beispiel die Entscheidung über den Standort einer Mülldeponie nehmen, die für die Anwohner immer mit Lärm- und Geruchsbelästigung verbunden ist. Dabei nehme ich einmal an, dass eine zentrale Mülldeponie grundsätzlich für alle besser ist als die Entsorgung des Mülls durch die einzelnen Haushalte. Aber für diejenigen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft die zentrale Deponie errichtet wird, bedeutet dies eine Verschlechterung ihres Wohlergehens.

Welcher Standort entspricht nun am ehesten dem Gemeinwohl? Eine Antwort hierauf könnte lauten: Derjenige Standort für die Mülldeponie entspricht am ehesten dem Gemeinwohl, bei dem möglichst wenig Menschen von deren unerwünschten Auswirkungen betroffen sind.

Ich will hier nicht auf alle denkbaren Komplikationen einer solchen Entscheidung eingehen. Ich will nur demonstrieren, dass im Sinne des Gemeinwohls auch eine Abwägung zwischen Vorteilen für bestimmte Individuen und Nachteilen für andere Individuen erforderlich sein kann.

Über die methodischen Probleme einer solchen Abwägung (u. a. ist dazu ein interpersonaler Nutzenvergleich nötig) bin ich mir im Klaren. Trotzdem halte ich eine solche Anwendung des Gemeinwohlbegriffs für sinnvoll und unverzichtbar.

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.

p.s.: Hallo Philoschall, da ich größte Schwierigkeiten habe, Dich und insbesondere Deine Kritik an meinen Vorstellungen zu verstehen, sehe ich mich auch außerstande, auf Deinen Beitrag sinnvoll einzugehen. Schade.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 20. Nov. 2005, 00:03 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
hallo Philoschall
Salve!


Quote:Dass Interesse einer gesellschaftlichen Gruppe setzt sich verabsolutierend über jene liberale Gleichheit, die bereits staatsrechtlich-formal ausgegeben wurde und wird. Jede dieser Gruppen erhebt den Anspruch, ihr Interesse sei das Richtige, sie vertrete DIE Wahrheit - wenn dieser Anspruch noch erhoben wird - mit dem Allgemeinwohl favorisiert wird.



das ist soweit ja noch in Ordnung, solange man sich, der erlaubten Durchsetzungsmittel bedient. Demokratisches Mehrheitsrecht ergibt zwangsläufig auch Ablehnung von Minderheitswillen.


Quote:Diese Verabsolutierung von Einzelinteressen wird jedoch auch dann praktiziert, wenn deren Träger das von ihnen favorisierte Gemeinwohl nicht als allgemeines, d.h. als verstaatlichtes Recht durchsetzen können.



genau das ist undemokratisches Verhalten und genau hier ist die Wurzel der jahrelangen berechtigten Einwanderungsdebatten. Demokratie muss wehrhaft bleiben und auf ihrem staatlichen Gewaltmonopol beharren. Das Ideal einer multikulturellen Toleranz führt zu ihrem Gegenteil, nämlich zur Einschränkung der persönlichen Freiheit. "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt".


Quote:vermag jedoch jene Wandlung ins niedrig Dämonische vollziehen, mit der nicht mehr liberale Rechtsstaatlichkeit, sondern Unrecht - welches Unrecht nicht als dieses, da im Gewand der Moral ... des "Allgemeinwohles" verkörpernd auftretend - ins "Recht" gesetzt wird. Die Rede vom Gemeinwohl tritt als Schein, als bürgerliche Demokratie zersetzendes Gerede auf.



Der Spruch: "der Klügere gibt nach" begründet ja u.U. die Herrschaft der Dummheit, nach der Emanzipation der Doofen erfolgt ja die Emanzipation der Bösen und man wundert sich schon gelegentlich dass gegen allgegenwärtige Maffia weniger unternommen wird als gegen den Falschparker.
Du sprichst hier vom gesetzlichen Minderheitsschutz ohne den jede Demokratie sicher wertlos ist. Rechtstaatlichkeit im Sinne der Gewaltenteilung ist das einzige was mir hierfür einfällt.
Ich sehe die Integration von Minderheiten allerdings als bewältigungsbares Problem an, die Geschichte hat es vielfach gelehrt.
Ich bin fest überzeugt, dass militärische Kriege prinzipiell überlebt sind und von ökonomischer Macht ganz abgelöst werden.
Gruss
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 20. Nov. 2005, 10:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ich habe diese Diskussionsrunde bewusst unter der Rubrik „Politische Philosophie“ angesiedelt und nicht unter der Rubrik „Ethik“. Es geht mir hier um das Gemeinwesen, das Gemeinwohl, den Gemeinsinn – alles Worte, die etwas angestaubt klingen, die aber ein höchst zeitgemäßes Problem ansprechen: das Verhältnis der Einzelnen mit ihren spezifischen Interessen zur Allgemeinheit und den Institutionen, die diese Allgemeinheit verkörpern.

Dabei könnte der Eindruck entstehen, als sei das Wohl eines Menschen allein von äußeren Gegebenheiten abhängig, vom Handeln der anderen und von der Verfügung über Sachen.

Dieser Ansicht bin ich jedoch nicht. Meiner Meinung nach hängt die Zufriedenheit eines Menschen zum großen Teil von ihm selber, oder genauer, von seinem Verhältnis zu sich selber ab. Es gibt Menschen, die praktisch alles haben, was man sich so wünschen kann, und die trotzdem griesgrämig und ewig unzufrieden durchs Leben gehen. Und es gibt Menschen, die von schweren Schicksalsschlägen getroffen sind oder denen es nach üblichen Maßstäben „schlecht geht“, und die trotzdem nicht verlernt haben, sich an den schönen Dingen unserer Welt zu freuen.

Dabei spielen die grundlegenden Einstellungen zu sich selber und zu den Mitmenschen eine wichtige Rolle.

Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der sich Ziele setzt (oder sich von andern setzen lässt), die er niemals erreichen kann, der von sich auf Gebieten besondere Leistungen erwartet, wo seine Fähigkeiten und Begabungen eng begrenzt sind, und der sich keine Ziele setzt und keine Projekte verfolgt, die seinem Leben Sinn geben und ihm eine innere Befriedigung vermitteln können.

Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der mit tief sitzenden Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen herumläuft, deren frühkindliche Herkunft aus mangelnder Mutterliebe oder Vaterliebe er nie bewusst aufarbeiten konnte.

Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der aufgrund böser Erfahrungen mit Menschen in einen misstrauischen Egoismus flüchtet.

Solche Deformationen der eigenen Person tauchen alles in ein freudloses Grau.

Wenn es einem Menschen dann gut geht, wenn sein Leben so ist, wie er es sich wünscht, so kann dies Wohlergehen nicht nur durch die Befriedigung der vorhandenen Wünsche verbessern.

Man kann dies Ziel auch dadurch erreichen, dass man sich mit diesen Wünschen auseinandersetzt, sie auf ihre Entstehung hin überdenkt, sie daraufhin prüft, ob die damit assoziierten Befriedigungen tatsächlich eintreten, ob man sich damit nicht neue Probleme schafft etc. Wer sich so von manchen Eitelkeiten und fixen Ideen frei gemacht hat, lebt zufriedener und ist weniger abhängig von anderen und von den Wechselfällen des Lebens.

Auch wenn diese Bedingungen eines zufriedenen Lebens nicht im Mittelpunkt dieser Diskussionsrunde stehen, sollte man sie im Hinterkopf behalten.

In der Hoffnung, dass die Sonne das Novembergrau noch durchbricht, grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 20. Nov. 2005, 23:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?

aber sag mir bitte auch, was die geantwortet haben

Philoschall, ich bin nicht interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 21. Nov. 2005, 01:14 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 11/20/05 um 23:27:29, Abrazo wrote:Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?

aber sag mir bitte auch, was die geantwortet haben

Philoschall, ich bin nicht interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert.



Äh - ich aber, wir leben nun mal hier in Deutschland.
Philoschall ist der beste!
si tacuisses.......
Salve
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 21. Nov. 2005, 10:07 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
> "Hier möchte ich ein Problem nur andeuten: sind diese Regelungen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienten, nicht abhängig von der Lebensform der Allgemeinheit?"



........ weil wenn sie nur ge mein ........

dann ist eine er hebung zum konsens
zur besseren organzation
das schlimmste

das dieser welt passieren kann !

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von MultiVista am 21. Nov. 2005, 16:01 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Statt Euphemismus - (gr. »Schönrederei«), der: beschönigender, dabei oft irreführender Ausdruck. – Berühmte Euphemismen sind z.B. »verscheiden« für »sterben«, »Friedenstruppe« für »übermächtige Invasionsarmee« oder »Endlösung der Judenfrage« für »systematische Ermordung möglichst aller Juden«. Oft verfolgt der Gebrauch von Euphemismen propagandistische Ziele...

sollte das Streben des Einzelnen und das der GEMEINSCHAFT zu einem Ziel erklärt werden... > GLÜCK!


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 21. Nov. 2005, 22:30 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

es gibt zwei Dinge, die mir in dieser Diskussion nicht gefallen.

A: die Beschränkung auf die deutsche/europäische/abendländische Sicht, die dann automatisch auf die ganze Menschheit bezogen wird, als könnten wir voraussetzen, dass unsere Lebens- und Denkart für alle Menschen verbindlich sei. Das ist m.E. unphilosophisch. Tatsache ist, dass Menschen in unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen leben und dass unsere Kultur und Lebensform nur die einer Minderheit ist, eine unter vielen, die sich selbstverständlich dem kritischen Dialog mit anderen Kulturen und Lebensformen zu stellen hat und dabei auch in Kauf nehmen muss, dass nicht alles so wahnsinnig toll und vorbildlich ist, wie manche es sehen, dass es durchaus auch berechtigte Kritik geben kann. Wer dazu nicht bereit ist, verweigert den Diskurs mit dem Ziel, einen friedlichen Konsens zu erreichen.

B: der extreme Individualismus, der zwar von vielen Abendländern als großartige Errungenschaft hoch geprisen wird, den ich aber dennoch durchaus für kritikwürdig halte. Extremer Individualismus heißt, es wird ignoriert, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das außer seinem persönlichen Wohlergehen noch jede Menge anderer Wünsche, Ziele und Interessen hat. Wer dies ignoriert, ignoriert einen wesentlichen Teil menschlichen Wollens und Strebens.
---------------------------------------------------------

Du, Eberhard, sprichst von der Nachtruhe als Norm. Aber warum soll sie eine Norm sein? Das ist doch wohl nur dann nötig, wenn unsere Lebensform dies begründet. Wenn wir tagsüber arbeiten, nachts schlafen und am Wochenende frei haben, dann sind es letztlich diese Bedingungen, die die Norm sachlich begründen. In Kulturen, in denen ein Großteil der Aktivitäten bis in die späte Nacht verlegt werden, müssten die Normen ganz anders aussehen. Und auf Schichtarbeiter wird, da sie (noch) in der Minderheit sind, auch nicht viel Rücksicht genommen; geht auch gar nicht, weil man dann nicht mehr die Waschmaschine laufen lassen oder seinen Rasen mähen könnte.

Daraus folgt: die Voraussetzung für das Abfassen einer Norm ist der Wille, eine Norm zu errichten. Wie die dann ausgestaltet wird, folgt eher sachlichen Gründen. Die philosophische Frage - und das ist die Frage nach dem Gemeinwohl - ist doch die, warum wir überhaupt solche Normen wollen sollten. Da kommen wir, fürchte ich, mit dem Individualismus letztlich nicht unendlich weiter. Denn denkbar wäre auch zu sagen, wir brauchen keine solche Norm, wen der Krach stört, der soll sich doch auf eigene Kosten die Wohnung schallisolieren. Dann haben wir das sich von sozialen Bindungen und Verantwortungen isolierende Individuum, das Soziales nur noch als individuelles, von Fall zu Fall zu befriedigendes Bedürfnis begreift und auf das Gemeinwohl pfeift - sofern es sich nicht auf übergreifende Verwaltungsaufgaben beschränkt, wie die Ausgabe von Personalausweisen und die Instandhaltung von Autobahnen. Die Frage ist, ob wir das wollen.

Die Frage nach der interpersonellen Nutzenabwägung ist demgegenüber zweitrangig. Nicht, weil sie unwichtig wäre - im Gegenteil, ich denke, auch damit sollte sich die Philosophie befassen - sondern weil sie nur dann sinnvoll ist, wenn man sich erst mal für das Vorhandensein von Gemeinwohldenken und Gemeinwohlzielen entschieden hat.

Das Thema Zufriedenheit würde ich gerne vertagen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie tatsächlich so große Bedeutung für das Individuum hat. Hier erinnere ich an Faust, der eine Ahnung von möglicher Zufriedenheit erst bekam, als er an die eventuelle Trockenlegung eines Sumpfes dachte, während die Lemuren sein Grab gruben - und deswegen dem Mephisto doch noch abgeluchst wurde. Ist auch deutsches Denken, allerdings aus einer anderen Zeit, und das war vielleicht nicht die schlechteste.

"Ach, sprach er, die größte Freud ist doch die Zufriedenheit." Das stammt wieder aus einer anderen Zeit, dem Biedermeier, und Wilhelm Busch ließ es Lehrer Lämpel sagen, kurz bevor - rumms - seine Pfeife los ging.

Auch das Ziel Zufriedenheit erscheint mir also hinterfragenswert.

Gruß



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 22. Nov. 2005, 00:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteienander!

Nicht Desinteresse, sondern das "wirklich wahre Leben" hat mich abrupt aus dieser Diskussion gerissen. Mal sehen, ob ich mich wieder hineinarbeiten kann. Allerdings wird meine Zeit zum Philosophieren in den nächsten Wochen begrenzt sein, es gibt viel zu tun - u.a. so etwas Kafkaeskes wie "Umzugsvorbereitungen auf dem Lande"...
:-)

Grüß Euch!
Urs




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von homo_sapiens am 22. Nov. 2005, 10:32 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

..... was tun ?

wenn andere bürger nicht menschen würdig leben wollen
sondern raub tierisch ..........

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 23. Nov. 2005, 09:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

zu Deinen Kritikpunkten:

Woran machst Du die unzulässige Übertragung unserer Denkweise auf die ganze Menschheit fest? Ich lasse mich gerne von Menschen anderen Kulturen belehren, aber deswegen muss ich nicht von vornherein meine eigenen begründeten Ansichten aufgeben.

Deiner Ansicht, „dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das außer seinem persönlichen Wohlergehen noch jede Menge anderer Wünsche, Ziele und Interessen hat“ kann ich nur zustimmen und habe ich selber ausgeführt.

Die Diskussion über die Belastung zukünftiger Generationen durch unsere heutige Lebensweise geht zum Beispiel über diesen individuellen Egoismus hinaus.

Das Gebot der Nachtruhe war für mich nur ein für jedermann zugängliches Bespiel, um ein bestimmtes Verhältnis zwischen Gemeinwohl und individuellem Wohl zu diskutieren. Dass es Lebensformen geben kann, in denen eine andere Regelung des Schlafbedürfnisses im Interesse der Menschen liegt, ist unbestritten.

Die Frage nach dem Gemeinwohl ist Deiner Meinung nach die, warum wir überhaupt solche Normen wollen sollten.

Wenn die Frage gestellt wird: „Soll die Nachruhe geschützt werden?“, so ist die Antwort: „Wir brauchen keine solche Norm! Wen es stört, der soll sich selber vor Lärm schützen“ selber eine Norm, denn was nicht verboten ist, ist erlaubt. Jeder kann dann um Mitternacht zu seinem Geburtstag Böller und Raketen anzünden so viel er will.

Warum sollten wir dies nun verbieten?

Meine Antwort: Die Freude der Wenigen am Feuerwerk wiegt die Schlafstörungen (trotz Ohrstopfen) der Vielen nicht auf, insbesondere wenn praktisch jeden Tag jemand aus dem Wohnblock Geburtstag hat. Die Freigabe ist keine Norm, die dem allgemeinen Wohl entspricht.

Warum soll man überhaupt nach dem Gemeinwohl fragen und die Regeln des Zusammenlebens danach gestalten?

Meine Antwort: Weil wir - ob wir es wollen oder nicht – uns immer gegenseitig in die Quere kommen werden (schon als sexuelle Wesen mit starken Interessen am andern Geschlecht) und weil es mir besser erscheint, nicht per Fausthieb oder per Furcht vor dem drohenden Fausthieb zu entscheiden, wer jeweils bestimmt, wo es lang geht und wer zuerst geht.

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 24. Nov. 2005, 22:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
"Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?" Abrazo & Hund

"das" ? Wovon redest du?

"Philoschall, ich bin nicht interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert." Abrazo & Hund

Nein? Wenn das nicht eine leere Behauptung bleiben soll, bitte jene politische Philosophie, die nicht "ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert" ist, darstellen. Vielleicht ist es möglich, diesen Gedankengang dabei zu berücksichtigen?: "B: der extreme Individualismus, der zwar von vielen Abendländern als großartige Errungenschaft hoch geprisen wird, den ich aber dennoch durchaus für kritikwürdig halte." Dass wird sicherlich der Diskussion "Gemeinwohl und Wohl der Individuen" förderlich sein.

Gruß
philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 25. Nov. 2005, 13:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

" ... ich aber, wir leben nun mal hier in Deutschland." delfi

Die Verabsolutierung von gesellschaftlichen Einzelinteressen im Rahmen liberaler Rechtsstaatlichkeit zeigte sich in Deutschland bereits in den Jahren 1933 -1945 mit dem Nationalsozialismus. In dieser Zeit manifestierte sich eine Problematik, die auch heute noch gegeben ist und, die u.a. wichtig bei der Behandlung des Allgemeinwohles ist. Die seit 1918 in Deutschland ausgegebene Politik gewährte die formal-rechtliche Gleichheit der Staatsbürger. Dass Interesse der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen entfaltete sich jedoch nicht im Rahmen der gesellschaftlichen Praktizierung des formalen-Rechtes der Liberalen Demokratie. 1933 wurde jenes Einzelinteresse ins "Staatsrecht" gesetzt, dass, auf Antidemokratisches, etwa Rassentheorie, Einheitspartei ...sich stützend, vermochte als Allgemeininteresse des deutschen Volkes aufzutreten. Bis 1945 wurde die deutsche Gesellschaft als "Volksgemeinschaft" ausgebaut, in der jene gesellschaftlichen Interessengruppen "rechtlich" ausgegliedert wurden, die auf der Ebene des Weimarer Parlamentarismus versuchten Politik durchzusetzen, die bis 1918, da die monarchistische Staatsform herrschte, nicht praktiziert werden konnte.

Politische Parteien sind personell und inhaltlich von den jeweiligen Interessen bestimmt. Pauschal formuliert: Diejenigen, welche die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, da diese besitzend, verteidigen (lassen). Diejenigen, welche an den Einrichtungen der Privaten Eigentumsordnung, etwa dem Parlamentarismus, als Gestaltende mit dem Anspruch teilnehmen, die Ausgestaltung der Gesellschaft nicht auschließlich den Kräften des Marktes zu überlassen, sondern Gesellschaft als soziales Gemeinwesen auszubauen. Parteibildungen, deren Programatik nicht aus dem Haben und der parlamentarischen Teilnahme an diesem Ordnungsgefüge resultiert, sondern aus dem Begehren daran teilzunehmen bezw. diese Ordnung zu stürzen und in ihrem Interesse zu formen. Erstere Parteibildung ist die liberale, zweitere die Sozialdemokratische, in der dritten werden sich jene finden, die als Opposition auftreten.

Politische Theorie, die mit dem Anspruch auftritt, nicht nur "auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert" zu sein, könnte sich beispielsweise von der Frage bewegen lassen, in welchen Allgemeinformen gesellschaftliche Interessen sich organisieren, deren Leitbild nicht der bürgerliche Individualismus ist.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 25. Nov. 2005, 20:30 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 11/25/05 um 13:59:22, philoschall wrote:......Diejenigen, welche die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, da diese besitzend, verteidigen (lassen).
(=liberal)......

Diejenigen, welche an den Einrichtungen der Privaten Eigentumsordnung, etwa dem Parlamentarismus, als Gestaltende mit dem Anspruch teilnehmen, die Ausgestaltung der Gesellschaft nicht auschließlich den Kräften des Marktes zu überlassen, sondern Gesellschaft als soziales Gemeinwesen auszubauen.
(=sozialdemokratisch)



hi, philoschall, ich vermisse eine Wertung deiner politischen Analyse:
die Einteilung in besitzend und nicht besitzend ist mir einfach zu klassenkämpferisch, sie wird der Realität unserer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft nicht gerecht. Diese Arbeitsteilung ist gleichzeitig auch eine Wissensaufteilung, -aufspaltung (Fachidioten). Keiner weis mehr alles, was jedoch das Selbstbewusstsein von Politikern in ihrem Nichtwissen nicht entschuldigt. Die Arbeitsteilung ist andererseits der deutlichste Ausdruck von Abhängigkeit und kollektivem Charakter des Spezies Mensch. Für mich ist es schwer nachvollziehbar dass dieser abhängige Teil im geäusserten Selbstverständnis des westlichen Bürgers (Individualismus) gerade zu geleugnet, ausgeklammert und verdrängt wird. Im Streben zur Selbstverwirklichung oder Emanzipation von allem und jedem wird das unabhängige Individuum verherrlicht, das nicht existiert.
Alle idealen Vorstellungen von extremem Liberalismus müssen vor dem Hintergrund dieser Begrenztheit individuellen Wissens und der damit verbundenen realen Abhängigkeiten scheitern.
Ich sehe ganz pragmatisch die völlig unverzichtbare Notwendigkeit einer staatlichen Ordnungsmacht (egal ob "rechts- oder links-orientiert") in der Aufstellung und Überwachung von Regeln, die verhindert, dass das Ende der "Produktionskette" also der Kunde oder Privatbürger nicht beschädigt wird. Das hört sich vielleicht etwas "technisch" an, aber der augenblickliche "Fleischskandal" zeigt was ich meine. Staatliche Ordnungsmacht meint hier weniger aktuelle Politik, die wird in ihrer Bedeutung m.E. stark überschätzt, sondern der ganze Unterbau mit sinnvollen Regeln etwa des Nahrungsmittel- Arzneimittel- und Produkt-Haftungsrechtes. Ein völlig freier Markt würde zu massenhafter Vergiftung und anderem des "Konsumenten" führen, der ja gar nicht mehr alleine wissen kann was gut oder schlecht für ihn ist.
Die Sicherheit, die der anonyme Staat dem einzelnen gewähren muss und auch gewährt, ist wiederum in seiner notwendig generalisierenden Betrachtung immer lückenhaft und es ist ja oft wie ein Hase und Igel-Spiel wenn der (schlechte) Gesetzgeber seiner mit heisser Nadel gestrickten neuen Gesetzte wegen unvorhergesehenen "Nebenwirkung" ständig nachbessern muss.
Es ist daher die technologisch fortgeschrittene Industriegesellschaft alleine, die eine sehr kompetente staatliche Ordnungsmacht erfordert. In weniger entwickelnder Ländern ist diese ins Detail gehende Regelung zunehmend entbehrlich, weshalb möglicherweise Überlebenshilfe noch stärker in kleinen Gemeinschaften, insbesondere im Familienverbund zu leisten ist.
Man könnte aus dieser Sicht beim modernen Industriestaat von einem Übergang familiärer Gemeinschaftsfunktionen auf den anonymen Staat sprechen. Ich sehe in dieser soziokulturellen Diskrepanz die Hauptschwierigkeit einer allumfassenden globalen Verhaltensethik. Mit der Feststellung "wir leben nun mal hier in Deutschland" meine ich also mehr den strukturellen kulturtechnischen Differenzierungsgrad als "nationale Charaktereigenschaften", die es sicher noch zusätzlich gibt.
Ich erinnere mich gerne an die letzte hier in Deutschland stattfindende Weltausstellung "Expo 2000" in Hannover.
Was mich hier fasziniert hat, war ausschliesslich der ferne Osten mit einer viel weniger individualistischen Selbstdarstellung trotz reichlichem Einsatz moderner Technologie. Sie erschienen mir viel glücklicher. Dies spricht für meine Bevorzugung für stärkere menschliche Bindungsbereitschaft. Aber ich weiss, dass ich damit hoffnungslos ausserhalb des "Trends" liege.

Salve

[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 26. Nov. 2005, 20:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo delfi und Interessierte,

" ... die Einteilung in besitzend und nicht besitzend ist mir einfach zu klassenkämpferisch, sie wird der Realität unserer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft nicht gerecht." delfi

Die von mir hier vorgetragene Einteilung wird erst dann klassenkämpferisch ausgedeutet, wenn das Interesse derjenigen politischen Interessengruppe, welche den gegebenen Zustand revolutionär stürzen will, favorisiert wird. Diese Ausdeutung der parteipolitischen Sphäre ist lediglich eine von mehreren, die diese Einteilung ermöglicht. Realität ist, dass die Produktionsmittel privatwirtschaftlich organisiert sind, dass die vom Lohnabhängigen geleistete Arbeit entsprechend geregelt wird. Mit den Parteiengefüge vollzieht sich Politik im öffentlichen Raum der Medien ..., - die Organisation der Wirtschaft dagegen bleibt diesem Raum entzogen.

"Für mich ist es schwer nachvollziehbar dass dieser abhängige Teil im geäusserten Selbstverständnis des westlichen Bürgers (Individualismus) gerade zu geleugnet, ausgeklammert und verdrängt wird. Im Streben zur Selbstverwirklichung oder Emanzipation von allem und jedem wird das unabhängige Individuum verherrlicht, das nicht existiert."

Die von Dir sogennannte "Abhängigkeit" wird nicht "geleugnet, ausgeklammert und verdrängt." Diese ist vielmehr die materialistische Grundlage der Dynamik der Demokratie, mit der auch die Anhänger liberaler Demokratie auftreten, denen die von ihnen ausgegebenen Abhängigkeiten gar keine sind. Dass bürgerlich-verabsolutierte Individuum ist die theoretische Ausrichtung - der Ausgangs und Endpunkt, der Dreh- und Angelpunkt der bürgerlichen Emanzipation von der mittelalterlichen Feudalherrschaft bis heute - mit der die Praxis der Privatwirtschaftsordnung einhergeht. Mit dieser Ausrichtung werden immer noch Ideen favorisiert, die der von dieser Privatwirtschaftsordnung geschaffenen Wirklichkeit der Alltagspraxis, etwa des Staatsbürgers als Konsument des Warenmarktes, entgegenstehen. Die Annahme, dass jeder Staatsbürger im Sinne des liberal ausgegebenen sich tatsächlich verwirklichen soll, beruht auf der weitverbreiteten Fehleinschätzung, deren Ideengehalt im Politischen für bare Münze zunehmen. Die Einlösung der verabsolutierten Idee des bürgerlichen Individualismus wäre nicht nur die Besiegelung der Abschaffung der politischen Parteien. Klappern gehört zum Handwerk.

Der von Dir angeführte freie Markt und deren angedeuteten Wirkungen auf den Staatsbürger als Konsument lässt sich im Sinne des Verbrauchers nur regeln, wenn der Staat einen "Unterbau mit sinnvollen Regeln etwa des Nahrungsmittel- Arzneimittel- und Produkt-Haftungsrechtes." organisiert. Dass sind Züge jener postmodernen Industriestaatlichkeit, der einer Politik geblieben ist die vor dem Umbau der Wirtschaft resignierend, den industriell-vergesellschafteten Staatsbürger als Konsumenten favorisiert - darauf reduziert? Diese Verbraucher-Staatspolitik ist eine postmoderne Spielart mit der die parteipolitischen Interessen von Volksparteien und Oppositionsparteien so bedingt werden, dass diese ausser Gefecht gesetzt werden. Nicht parteipolitische Einzelinteressen tragen zur Ausgestaltung der Gesellschaft bei, diese werden von Marktgesetzlichkeit sowie "verschlanker Staatlichkeit" ausgeblendet.

"Es ist daher die technologisch fortgeschrittene Industriegesellschaft alleine, die eine sehr kompetente staatliche Ordnungsmacht erfordert. In weniger entwickelnder Ländern ist diese ins Detail gehende Regelung zunehmend entbehrlich, weshalb möglicherweise Überlebenshilfe noch stärker in kleinen Gemeinschaften, insbesondere im Familienverbund zu leisten ist." delfi

Global auftretende Konzerne lassen sich die Grundlagen für die Umsetzung ihrer privatwirtschaftlichen Interessen in den Industriegesellschaften mittels "verschlankter Politik" schaffen. In weniger industriell entwickelten Gesellschaften wird der im Westen weiterhin ausgebenene verabsolutierte Individualismus ebenfalls favorisiert. Die praktische Aufgabe, die diese Idee im Politischen erfüllt ist jene, die im Abendland seit der bürgerlichen Revolution favorisiert wird: nicht-bürgerliche Lebensweisen im Namen der Gleichheit ..., getragen von priviligierten Gesellschaftsschichten, aufzulösen. Abendländische Postmoderne versucht das in aussereuropäischen Ländern einzuholen, damit die Kolonialisierung überholend, was bereits im Abendland seit Jahrunderten staatspolitisch praktiziert wird: nicht-demokratisierte Gesellschaft im Sinne der Privatwirtschaft umzubauen.

"Man könnte aus dieser Sicht beim modernen Industriestaat von einem Übergang familiärer Gemeinschaftsfunktionen auf den anonymen Staat sprechen. Ich sehe in dieser soziokulturellen Diskrepanz die Hauptschwierigkeit einer allumfassenden globalen Verhaltensethik."

Ist aussereuropäisch das umgesetzt, was bereits mit dem verabsolutierten Individualismus in den Industriegesellschaften seit Jahrhunderten demokratisch praktiziert wird, würde dort ebenfalls die oben vorgetragene Einteilung gesellschaftlicher Interessen und deren parteipolitischer Organisierung greifen. Weder die Wirtschaftsorganisierung in USA noch Asien weisen jedoch die gesellschaftlichen Muster auf, die etwa mit dem abendländisch-individualisierten Parteiengefüge aufgetreten. Nicht auszuschliessen, dass die seit der Neuzeit im Abendland aufgetretene Wirtschaftsorganisierung den öffentlichen Raum der Industrievergesellschaftung so ausgestalten lässt, dass der Staat im Rahmen globaler Marktgesetzlichkeit bereits entindivudalisierte Züge praktizierte. Die ALLTÄGLICHE LEBENSPRAXIS DER VIELEN - in der der theoretisch verabsolutierte Individualismus eine andere Funktion erfüllt, als dieser für deren Wenigen Protagonisten erfüllt - wurde in Deutschland bereits von 1933 bis 1945 entindividualisiert. Die ENTINDIVIDUALISIERUNG DER VIELEN wird bereits in den Industriegesellschaften seit längerem mit dem Rückbau der sozialen Marktwirtschaft praktiziert. Mit der Demontage die dem öffentlichen Gemeinwesen dienenden staatlichen Strukturen, geht die Entindividualisierung süd- und mitteleuropäischer Massen-Vergesellschaftung einher. Die süd- und mitteleuropäische Annäherung an jene aussereuropäischen Vielen und nahosteuropäischen Vielen des EU-Wirtschaftsraumes deren "Bindungsfähigkeit" nicht aus Parteiengefüge resultiert, deren individuelle Entfaltung mit der repräsentativen Demokratie sich nicht manifestiert, ist auf dem Weg gebracht. Die "Bindungsfähigkeit" der süd- und mitteleuropäischen Vielen wurde bereits nachhaltig umgepolt: diese resultiert zunehmend aus der von der Sozialstaatlichkeit entkernten Wirtschaftsorganisierung, die den Gewendeten nun als Glied der von dieser Wirtschaftsordnung bedingten Schicksalsgemeinschaft erscheinen lässt. Öffentliche Normen sozialen Gemeinwesens, in der weite Gesellschaftsschichten sich wiederfanden, werden im Sinne der Privatisierung demontiert; industrielle Gesellschaften werden entindividualisiert, wenn deren öffentliche Strukturierungen privatisiert werden, wenn staatliche Regelung auf den "Nachtwächterstaat" reduziert wird, der im Inneren die Ruhe und Ordnung organisierend, auftritt. Wäre die "Hauptschwierigkeit einer allumfassenden globalen Verhaltensethik" - jedenfalls von der Seite des EU-Wirtschaftsraumes! - überwunden, wenn der Industriestaatlichkeit gelungen, die süd-, mittel- und mitteleuropäischen Vielen so mitzunehmen, dass diese Mitträger des "verschlankten Staates" geworden? Mit diesem praktischen Entindividualisierungsprozess Süd- und Mitteleuropas geht der Liberalismus bereits jenen Weg der Annäherung, der für die Vielen des EU-Wirtschaftsraumes die Ankoppelung an den nicht erst zu entindividualierenden Gesellschaftsraum aussereuropäischer Wirtschaftsstandorte, etwa jenes Chinas, bedingt.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27. Nov. 2005, 00:14 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

also, ich hab doch extra für dich einen dicken Strich zwischen meine allgemeinen Bemerkungen und meine Bemerkungen auf dein Posting gemacht! :-)

Irgendwie scheinen wir an einem toten Punkt angekommen zu sein. Ich kann sagen, wir leben in einer bestimmten Lebensform, die, damit sie funktioniert, bestimmte Sachzwänge zur Folge hat, wie die ungestörte Nachtruhe. Das kann jeder vernünftige Mensch einsehen - nur, ist das ein Thema der Philosophie?

Die Sache lässt mich unbefriedigt zurück. Vielleicht verstehe ich auch nicht richtig, was du willst.

Aber vielleicht führt das Stichwort Sachzwang weiter. Lassen wir uns vielleicht von Sachen zwingen, die wir selbst geschaffen haben und die uns eigentlich gar nicht zwingen können? Könnte es eventuell sein, dass der Sachzwang das Gemeinwohl ersetzt, so dass es deswegen - scheinbar - unmodern geworden ist?

Sachzwang ist eine Frage der Notwendigkeit. Gemeinwohl eine Frage des Willens. Wenn ich mich Sachzwängen unterworfen sehe, ist mein Willen belanglos.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von karobra am 27. Nov. 2005, 12:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
[quote author=Abrazo
Sachzwang ist eine Frage der Notwendigkeit. Gemeinwohl eine Frage des Willens. Wenn ich mich Sachzwängen unterworfen sehe, ist mein Willen belanglos.

Gruß[/quote]

Hallo Abrazo!
Könnte es nicht auch genau umgekehrt sein? Denn: Sachen haben keinen Willen, wohl aber Personen. Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt. Wenn solche Sachzwänge viele oder alle betreffen, muss über sie in einem demokratischen Rechtsstaat Konsens vorhanden sein. Unrechtmäßiger Zwang ist nicht akzeptabel.
Daher gibt es "Sachzwänge", denen man sich widersetzen kann und muss, z.B. durch Wahrnehmung des Petitionsrechts. Fazit: Sachzwang ist keineswegs immer eine "Frage der Notwendigkeit".
Und Gemeinwohl ist nicht nur eine "Frage des Willens". Wenn alle nur noch auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, geht das Gemeinwohl zum Teufel, wird wieder der Mensch zum Wolf des Menschen ("homo homini lupus"), gibt es gar keinen
Rechtszustand mehr.
Folglich ist es eine zwingende Notwendigkeit, sich nicht nur um das eigene Wohl, sondern auch um das der Gemeinschaft (auch z.B. der Gemeinschaft der Völker) zu kümmern. Dabei ist der Wille des Einzelnen nicht immer unbedingt förderlich. Denn der Mensch ist nun mal ein egoistisches Wesen, das allerdings nicht umhin kann, irgend eine Balance von Egoismus und Altruismus (und sei es aus egoistischen Gründen!) herzustellen bzw. zu akzeptieren. Welche Probleme damit verbunden sein können, habe ich dargestellt in:
www.information-philosophie.de/philosophie/robraethik.html
MfG
k.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27. Nov. 2005, 13:49 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi karoba,

Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt.
Das kann man generell nicht sagen (Flüssigkeit aufnehmen zu müssen ist ein Sachzwang, der aber weder bewusst noch willentlich hergestellt wurde), aber sehr oft. Das Problem, auf das ich abziele ist, den natürlicherweise bestehenden Sachzwang vom hergestellten zu unterscheiden.

Wenn ich sage, in unserer Lebensform wird tagsüber gearbeitet, dann ist die Einhaltung der Nachtruhe ein Sachzwang. Dass sie das ist hängt aber ab von der Lebensform. Andere Lebensformen ziehen andere Sachzwänge nach sich; im Verhältnis zur Lebensform ist der Sachzwang hier also eine abhängige Variable.

Problematisch wird die Sache dann, wenn eine Gesellschaft abhängige und unabhängige Variable verwechselt. Dies ist imho bei Wirtschaftsfragen der Fall. Die Wirtschaft wird oft als quasi vom Menschen unabhängige Wesenheit begriffen, deren Sachzwängen der Mensch unterworfen ist wie dem Wetter.

Ich halte nicht viel davon sich zu überlegen, wie es denn sein sollte, ohne erst mal zu prüfen, wie es denn ist. Was ist, sind vielfach Denkfehler. Dinge, die für selbstverständlich gehalten werden (wir müssen uns wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen), die gar nicht selbstverständlich sind, sondern von bewussten oder unbewussten (tradierten) Willensentscheidungen abhängig sind, die man erst mal ans Tageslicht befördern muss. Tut man das nicht, muss man nämlich mit der Reaktion rechnen, is ja ganz nett, was du da sagst, bloß, die Verhältnisse, die sind nicht so.

In diesem Zusammenhang ist imho auch der extreme Individualismus zu sehen; da sehe ich mich gar nicht so weit entfernt von Philoschall. Humankapital besteht aus einer Menge von Individuen, die mehr oder minder beliebig zwecks Produktivität einsetzbar sind. Tatsächlich sind sie das nicht, weil sie in einen sozialen Kontext eingebunden sind. Hier dem wirtschaftlichen Sachzwang Priorität einzuräumen führt zu nicht-artgerechter Menschenhaltung.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von karobra am 27. Nov. 2005, 22:44 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
[quote author=Abrazo link=board=politik;num=1131198516;start=75#86 date=11/27/05 um 13:49:44]Hi karoba,

Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt.
Das kann man generell nicht sagen (Flüssigkeit aufnehmen zu müssen ist ein Sachzwang, der aber weder bewusst noch willentlich hergestellt wurde), aber sehr oft. Das Problem, auf das ich abziele ist, den natürlicherweise bestehenden Sachzwang vom hergestellten zu unterscheiden. ... <

Einverstanden! Aber: Was sind denn nun die "natürlicherweise bestehenden Sachzwänge"? Die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme halte ich nicht für einen "Sachzwang", sondern für einen Trieb, der einem elementaren körperlichen Bedürfnis des Menschen entspricht. Ein Trieb ist nicht einfach eine "Sache". Ob die Natur überhaupt "Zwang" ausübt, wage ich zu bezweifeln. Die Natur ist, wie sie ist, d.h. wie sie sich in Jahrmilliarden der Evolution entwickelt hat. Hier den eher bürokratischen Terminus "Sachzwang" zu verwenden, halte ich nicht für adäquat, auch wenn gelegentlich z.B. statt vom 'Harndrang' vom 'Harnzwang' die Rede ist... [grin]

Im Übrigen, wie gesagt, durchweg (d.h.: größtenteils) einverstanden!
MfG
k.



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 27. Nov. 2005, 23:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Ist die Nachtruhe ein philosophisches Thema? Wohl kaum, aber es ist ein philosophisches Thema, wenn es um die Frage geht, wie man für oder gegen eine bestimmte Regelung oder auch Nicht-Regelung zum Schutz der Nachtruhe argumentieren kann.

Ich habe ja Dein Beispiel aufgegriffen. Du hattest jahrelang unter dem fröhlichen Treiben in der Mensa nebenan zu leiden. Die Studenten hatten Spaß an ihren Feten und Du wolltest schlafen.

Es gab einen Widerspruch zwischen dem, was für die Studenten gut war, und dem, was für Dich gut war. Die philosophische Frage ist: Wie können Menschen mit dem (guten) Willen zur Einigung in einem solchen Fall argumentieren?

Was ist angesichts der miteinander nicht zu vereinbarenden Willensinhalte das gemeinsame Interesse? Welche Lösung des Konflikts entspricht einem Gemeinwohl, das auch allgemein akzeptabel, also konsensfähig sein sollte?

Es grüßt Dich und die ganze Runde Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27. Nov. 2005, 23:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

Die philosophische Frage ist: Wie können Menschen mit dem (guten) Willen zur Einigung in einem solchen Fall argumentieren?

Vielleicht müssten wir noch mal auf den guten Willen zurück gehen. Wenn einer sagt, ich bin für Liberalität, jeder hat die Freiheit, seine Behausung schalldicht zu machen und jeder hat das Recht, zu lärmen wie er will: können wir dann tatsächlich von mangelndem guten Willen zur Einigung sprechen? Wenn einer sagt: will ich nicht, mag ich nicht, gefällt mir nicht, ok. Aber wenn einer sagt, ich vertrete andere Grundprinzipien?

Was ist angesichts der miteinander nicht zu vereinbarenden Willensinhalte das gemeinsame Interesse?
Unter welchen Voraussetzungen können wir überhaupt davon ausgehen, dass es bei nicht zu vereinbarenden Willensinhalten ein gemeinsames Interesse gibt?
Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 28. Nov. 2005, 00:40 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, karoba,

Die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme halte ich nicht für einen "Sachzwang", sondern für einen Trieb, der einem elementaren körperlichen Bedürfnis des Menschen entspricht.
Ist m.E. eine Frage der Perspektive. Für das dürstende Individuum ist Durst ein Gefühl, der Drang zu trinken Trieb oder was auch immer.
Für das Wasserwerk ist die Beschaffung von Trinkwasser ein Sachzwang, der z.B. dazu führt, dass der Betrieb nicht ohne Not und Ersatz liquidiert werden kann.
Ebenso ist die Beschaffung von Wasser für einen Staat ein Sachzwang, dem er sich nicht entziehen kann.

Die Natur zwingt nicht? Insofern nicht, als dass sie keine selbständig agierende Wesenheit ist. Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der Tod. Und ich halte es für ausgesprochen nützlich, wenn man alle anderen tatsächlichen oder scheinbaren Zwänge an diesen natürlichen Zwängen misst; das relativiert nämlich.

Auf Literatur und Poesie nehme ich in der Philosophie keine Rücksicht. Wir nennen etwas so und ich gucke mir an, was das ist, das wir so nennen. Wenn ich dabei feststelle, etwas ist gleich, dann weise ich auch mit dem gleichen Namen auf die Gleichheit hin.

Woraus sich dann die nicht uninteressante Frage ergibt, wieso wird die 'Freisetzung' von Arbeitskräften ebenso zwingend genannt wie die Beschaffung von Zelten für Pakistan?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 28. Nov. 2005, 11:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

wenn jemand eine Position vertritt hinsichtlich der Frage, wie ein bestimmter Konflikt zu regeln ist, und

wenn er diese Position gegenüber beliebigen anderen –also allgemein – vertritt, und

wenn er diese Position nicht nur behauptet sondern sich dem Anspruch stellt, diese Behauptung durch intersubjektiv nachvollziehbare und übernehmbare Argumente einzulösen (was bedeutet, dass er für die von ihm behauptete Position Gründe hat, die er den andern mitteilen kann und die für die andern ebenfalls Gründe sind),

dann kann man ihm den „guten Willen“, den Willen zur zwangfreien Einigung, zum argumentativen Konsens nicht absprechen.

Aus diesem Willen zur Einigung, zur Orientierung auf den Konsens lassen sich nun Kriterien für die Güte der Argumente gewinnen, indem man jeweils fragt: Kann dies Argument dazu beitragen, den Konsens zu erreichen oder bekräftigt es nur den Konflikt?

Beispiele für konsensuntaugliche Argumente der Feten-Befürworter wären z. B.:

“Der alte Griesgram gönnt uns ja nur nicht unseren Spaß“ (Motivunterstellungen gehen auf die Argumente des andern nicht ein, sondern „unterlaufen“ sie),

“Uns bringt die Fete Spaß – und das ist für uns das Entscheidende“ (Egozentrische Prinzipien verhindern einen Konsens),

Beispiele für konsensorientierte und deshalb geeignete Argumente der Feten-Befürworter wären:

“Solche Feste bedeuten uns sehr viel. Hier kann man sich kennen lernen und es sind zugleich die festlichen Höhepunkte des Uni-Lebens. Zum Beginn und zum Abschluss eines Semesters, also vier Mal im Laufe eines Jahres müsste das deshalb für die Anwohner zumutbar sein.“

“Denken Sie doch mal zurück, wie das war, als sie selber jung waren! Dann verstehen sie uns vielleicht etwas besser. Wir machen das doch nicht, um zu provozieren oder um Sie zu ärgern. Wenn man tanzen will, dann muss die Musik schon eine gewisse Lautstärke haben.“

Während sich diese Argumente auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit bewegen, gibt es andere Argumente, die sich auf diesen inhaltlichen Streit nicht einlassen, sondern die auf der Ebene der Verbindlichkeit von Normen argumentieren, die von anerkannten Institutionen gesetzt sind.

Ein Beispiel für diese Art der Argumentation wäre:
„ Sie wissen doch, dass gemäß geltender Lärmschutzverordnung nach 22:00 Uhr Uhr ruhestörender Lärm zu unterlassen ist.“

Ein solches Argument setzt die Anerkennung der bestehenden Verfahren der Normsetzung voraus.

Gegen ein solches Argument, das sich auf der Ebene verbindlich gesetzte Normen bewegt, ist es deshalb auch unzulässig, rein inhaltlich von den Interessen der Beteiligten her zu argumentieren und zu fragen, ob es in diesem speziellen Fall richtig ist, die Fortsetzung der Fete zu gestatten oder nicht.

Normsetzende Verfahren sind gerade deswegen notwendig, weil der inhaltliche Konsens häufig nicht – oder zumindest nicht rechtzeitig – erreicht wird.

Deshalb kann man die Verletzung einer verbindlich gesetzten Norm auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass man diese Norm für inhaltlich (sachlich) falsch halte.

Allerdings kann man die Verfahren der Normsetzung, also die Verfassung der Gesellschaft, ebenfalls in Frage stellen. Dabei muss man sich jedoch darüber klar sein, dass eine solche Haltung erheblich Konsequenzen hat, die letztlich bis zum offenen Bürgerkrieg gehen können.

Mit Grüßen an die Runde Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 28. Nov. 2005, 11:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo und Interessierte,

"Ich halte nicht viel davon sich zu überlegen, wie es denn sein sollte, ohne erst mal zu prüfen, wie es denn ist. ... In diesem Zusammenhang ist imho auch der extreme Individualismus zu sehen; da sehe ich mich gar nicht so weit entfernt von Philoschall. Humankapital besteht aus einer Menge von Individuen, die mehr oder minder beliebig zwecks Produktivität einsetzbar sind. Tatsächlich sind sie das nicht, weil sie in einen sozialen Kontext eingebunden sind. Hier dem wirtschaftlichen Sachzwang Priorität einzuräumen führt zu nicht-artgerechter Menschenhaltung." Abrazo

Das wirtschaftliche Interesse ist das Auschlaggebende; dieses Interesse gibt seit der bürgerlichen Revolution die, u.a. politisch-theoretischen Vorgaben für die gesellschaftlichen Felder ab, auf dem auch die Frage nach Sachzwang sowie menschlichen Willen - solange nicht, etwa in philosophisch-theoretischen Diskursen der Willensfreiheit verblieben wird - zum Austrag kommt. Mit der Entfaltung abendländischer Naturwissenschaft, der damit verbundenen Technisierung auch der Arbeitswelt wird die industriale Ausgestaltung der betreffenden Gesellschaften praktiziert, deren (soziologische) Ausgestaltung beispielsweise mit der Anwendung oben angeführter Einteilung greif- somit begreifbar wird.

Wirtschaftliches Interesse ist nicht daran orientiert, soziale Kontexte in ihrem jeweiligen Dasein zu belassen und zu akzpetieren - das ist aufgrund der bürgerlich-technischen Expansion und des abendländisch-politisch-theoretischen Ideengehaltes, des in mannigfaltigen Formen auftretetenden verabsultierten Individualismus, ausgeschlossen. Ausser- sowie Innereuropäische Lebensweisen, die nicht der bürgerlichen Existenz entsprechen, werden, u.a. mit politisch-theoretischen Vorgaben - deren Ideen stets um den verabsolutierten Individualismus kreisen - so geformt, dass diese, da in dem Sog des wirtschaftlichen Interesses gezogen, verwertbar werden. Liberale Demokratie ist die politische Ausgabe derjenigen wirtschaftlichen Interessengruppe, die, auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftretend, jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert, die mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen.

Der von Abrazo angeführte Begriff des Sachzwanges trifft die Sache - wie ich meine - nicht genau genug. Den wirtschaftlichen Interessengruppen ist das, dass anderen gesellschaftlichen Interessengruppen als Sachzwang (Ohnmacht) erscheinen vermag, alles andere als Notwendigkeit: die Verfügbarkeit über die Produktionsmittel, der damit gegebene Gestaltungsspielraum (Macht), lässt den menschlichen Willen - jedenfalls in der ökonomisch-soziologischen Sphäre - als Relativen auftreten. Bürgerliche Gesellschaft wäre nicht, wenn Menschen - um Abrazos Begriff aufzunehmen - artgerecht vermögen zu leben.

"Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der Tod. Und ich halte es für ausgesprochen nützlich, wenn man alle anderen tatsächlichen oder scheinbaren Zwänge an diesen natürlichen Zwängen misst; das relativiert nämlich." Abrazo

Ja! Jedoch, diese Nützlichkeit ausgeben, bleibt ohne Einsicht in die Lebensnotwendigkeit somit auch ohne Erkenntnis und Wissen, etwa von Selbstverständlichkeiten wie den westlichen Verabsolutierungen des Denkens sowie des Handelns als menschlich-grandiose Irrtümer, lediglich Schall und Rauch. Aber immerhin, die Richtung stimmt - philosophische Rodungsarbeiten sind hier zu favorisieren.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 28. Nov. 2005, 16:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Kurze, aber elementare Überlegung zum Begriff des „Zwangs“. Du schreibst:


Quote:Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der Tod.



Das leuchtet mir nur bedingt ein. Denn nur in extremen Lagen wird die Befriedigung elementarer Bedürfnisse zum„Zwang“. So z.B. die Nahrungszufuhr während einer Hungersnot oder für einen Menschen im Hungerstreik oder einen Magersüchtigen. Normalerweise aber ist das Essen kein Zwang, sondern eine Lust. Selbst eine Sucht kann, wenn sie sich in einem kontrollierbaren Rahmen hält, als Lust erfahren werden. Siehe den Werbespruch „Ich rauche gern“ - den ich übrigens voll unterschreiben könnte, obwohl ich mir keine Illusionen über meine Nikotinabhängigkeit mache.

Aber ich bin ja auch „nahrungssüchtig“ und – seit der Entfernung meiner Schilddrüse vor vielen Jahren – „süchtig“ nach einer täglichen Dosis von 125 Mikrogramm Thyroxin. Außerdem bin ich ein totaler „Junkie“, was grünen Tee angeht; schon oft hab ich morgens, mit der ersten dampfenden Tasse „Temple of Heaven“ in der Hand, gebrummelt: „Ohne Tee ist das ganze Leben ein Dreck!“
:-)


Ist das Wachstum für eine dem Sonnenlicht entgegenwachsende Pflanze ein Zwang? Ist es für heranwachsende Kinder ein Zwang, „groß“ zu werden? Nein, es ist ihr eigener, sehr starker Wunsch und Antrieb.
Ist es für den Radfahrer ein Zwang, das Gleichgewicht zu halten? Nur für den Anfänger, der es noch nicht richtig kann. Sind Grammatikregeln Zwänge? Nur für den, der sie nicht beherrscht. Ist das Verbot des Diebstahls ein Zwang? Nur für den, der nie gelernt hat, das Eigentum anderer Menschen zu achten. Ist es für den Autofahrer ein Zwang, auf der rechten Fahrbahn zu fahren, um den Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr zu vermeiden? Wohl nur für einen schwachsinnigen oder betrunkenen Fahrer...

Und so weiter.

Es hängt also offenbar vom Standpunkt bzw. vom Bezugssystem ab, ob die Einwirkung einer Kraft, ob ein Bedürfnis oder eine Regel als „Zwang“ bestimmt werden kann oder nicht. D.h. es gibt hier eine wichtige Pluralität von möglichen Standpunkten.
Welchen von den verschiedenen möglichen Standpunkten nimmst nun Du ein, wenn Du lebensnotwendige Bedürfnisse grundsätzlich als Zwänge einordnest?

Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29. Nov. 2005, 22:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

soweit so gut, Eberhard, aber:

Kann dies Argument dazu beitragen, den Konsens zu erreichen oder bekräftigt es nur den Konflikt?

Setzt dies nicht etwas voraus, nämlich einen wie immer gearteten gemeinsamen Hintergrund? Ein gemeinsames Weltbild?
Nimm ein anderes Beispiel. Nimm den Karfreitag. Der ist bei uns im heiligen Köln ein stiller Feiertag, das heißt, es gibt keine Kneipe, keine Disco und kaum was anderes als Parzival in der Oper. Sind viele natürlich nicht mit einverstanden. Wie willst du da argumentieren? Als Gegenargument kommt letztlich immer nur heilig, heilig, das heißt, das ist Glaubenssache. Kann man einem Gläubigen wirklich Konsensunwilligkeit unterstellen? Er sieht die Sache eben so. Und meint, seine Sicht sei wahr und alles andere falsch.

intersubjektiv nachvollziehbare und übernehmbare Argumente
Da sagt dir der Evangelikale, du musst dein Herz für Jesus öffnen, dann erkennst du die Wahrheit genau so wie ich und meine Glaubensbrüder.

In Sachen Notwendigkeit von Normen stimme ich dir zu. Allerdings:
Deshalb kann man die Verletzung einer verbindlich gesetzten Norm auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass man diese Norm für inhaltlich (sachlich) falsch halte.

Das stimmt nun nicht so ganz. Wenn es so wäre, gäbe es heute immer noch den Schwulenparagrafen. Man kann gegen Normen genau so mit vernünftigen Argumenten angehen wie gegen jede andere Behauptung auch (fragt sich natürlich, je nach Gesellschaftsform, wie einem das bekommt).

Und auch Verfassungen und Staatsformen sind im Laufe der Geschichte veränderlich. Es gibt da nichts stabiles. Auch deswegen sage ich ja, vor einer Diskussion über spezielle Normen müsste eruiert werden, ob es nicht kultur- und geschichtsunabhängige allgemeine Normen der Humanität gibt.

Was alles die Notwendigkeit von Normen nicht in Frage stellt.

Mir ist nur die Basis nicht tragfähig genug. Wenn wir für unsere Gesellschaft Normen entwickeln wollen, auf der Basis von dem, was uns selbstverständlich und richtig erscheint, dann geht das natürlich. Aber diese Normen gelten dann eben nur für unsere Gesellschaft. Sie sind also beliebige, keine absoluten Normen. Die praktische Gefahr, die ich sehe ist, dass wir dazu neigen, solche im innergesellschaftlichen Diskurs gefundenen Normen absolut zu setzen - und das gibt erst recht Konflikte.

Deswegen sage ich auch, auf der Basis unserer Verfassung wollen wir das so. Mag sein, dass andere Gesellschaften das anders wollen, ist ihr gutes Recht, aber wir wollen das nun mal so.

Das ist zwar praktikabel, aber unbefriedigend. Nimm die Todesstrafe. Sagen wir, bei uns ist die abgeschafft, die USA sehen das anders, ist ihr gutes Recht, kann man ebensogut auch so machen?

Oder würde eine islamische Gesellschaft sagen, in Deutschland ist die Prostitution als Beruf legalisiert worden, wir in unserer Gesellschaft wollen das nicht, aber man kann das ebenso gut auch anders machen?

Und damit zurück zum Liberalismus. Würden wir sagen: heute noch verbieten wir das nächtliche Lärmen, aber man kann das ebensogut auch anders machen und jeden seinen eigenen Lärmschutz zahlen lassen, wenn wir mal mehrheitlich liberal werden?

Ich denke, da steckt noch ein Konfliktpotential drin, das man erst mal klären müsste.

Denn der Weg der Normenfindung im Diskurs selbst, da kann ich im Moment keine Probleme erkennen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29. Nov. 2005, 22:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Philoschall,

gegen deine Analyse habe ich kaum etwas einzuwenden. Allerdings mahne ich, auf die innewohnende Gefahr zu achten:

Marx war kein Ethiker. In dem Sinne, dass er sich mit Ethik nicht befasste; er setzte eine bestehende allgemeine humane Ethik voraus. Was seine missratenen Epigonen dazu brachte, sich ebenfalls nicht mit Ethik zu befassen und dabei den gleichen Weg gingen, wie alle Orthodoxen und Esoteriker: die Theorie verselbständigt sich zu einer inhumanen Ideologie. Sein muss das nicht.

Setzt man allerdings, wie er, die humane Ethik voraus und kritisiert von dieser Basis aus die bürgerlichen Ideologien, so ist dies m.E. eine sehr wertvolle und klärende Sicht.

Den wirtschaftlichen Interessengruppen ist das, dass anderen gesellschaftlichen Interessengruppen als Sachzwang (Ohnmacht) erscheinen vermag, alles andere als Notwendigkeit
Das sehe ich nicht so. Unternehmer, die ihre Mitarbeiter entlassen, tun das nicht selten mit sehr ungutem Gefühl, sehen sich aber von der wirtschaftlichen Lage gezwungen. Der Wesenheit Wirtschaft (die ja tatsächlich keine Wesenheit, sondern menschliches Handeln ist) fühlen sie sich genau so unterworfen wie ihre entlassenen Opfer. Es ist m.E. ein Fehler zu denken, Ideologien würden gemacht, produziert. Das kann in Grenzen manchmal sein, aber im Kern werden sie nicht gemacht, sondern entstehen - als Fortentwicklung angenommener Selbstverständlichkeiten. Nicht: der Mensch soll ein unabhängiges, mobiles Individuum werden, sondern der Mensch wird ein unabhängiges mobiles Individuum. Das ist der evolutionäre Lauf der Dinge. Ist natürlich Ideologie - wird aber als Wissenschaft gesehen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29. Nov. 2005, 23:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

Denn nur in extremen Lagen wird die Befriedigung elementarer Bedürfnisse zum"Zwang".
Dass es uns hier in Deutschland (zumeist) gut genug geht, dass wir diesen Zwang nicht spüren, heißt nicht, dass er nicht besteht. Er kann jederzeit wieder auftreten - teilweise ist er das beim Schneefall und Stromausfall im Bergischen. Da wird die Notwendigkeit von Wärme für das Überleben durchaus schon wieder als Zwang erlebt.

Ist es für heranwachsende Kinder ein Zwang, „groß“ zu werden? Nein, es ist ihr eigener, sehr starker Wunsch und Antrieb.
Da sind wir schon fast beim Problem Willensfreiheit. Werden sie groß, weil es ihr Wille ist, oder haben sie den Willen, weil sie darauf programmiert sind, groß zu werden?

Es hängt also offenbar vom Standpunkt bzw. vom Bezugssystem ab, ob die Einwirkung einer Kraft, ob ein Bedürfnis oder eine Regel als „Zwang“ bestimmt werden kann oder nicht. D.h. es gibt hier eine wichtige Pluralität von möglichen Standpunkten.

Ist es nicht so, dass ich (mal vom Fahrradbeispiel abgesehen, da würde ich doch lieber von Lernen sprechen) etwas nur dann als Zwang empfinde, wenn es meinem Willen entgegen steht? Aufs Klo zu müssen empfinde ich nur dann als Zwang, wenn ich von der Veranstaltung nichts verpassen will. Arbeiten um Geld zu verdienen ist dann ein Zwang, wenn ich lieber etwas anderes machen möchte. Und atmen betrachte ich dann als Zwang, wenn ich lieber tauchen möchte.

Ebenso verhält es sich mit gesellschaftlichen Zwängen. Kopftuchtragen betrachten wir als Zwang - etliche Musliminnen machen das aber gewollt und freiwillig.

Ich bin dafür, Zwang oder nicht Zwang lieber von objektiven Gründen abhängig zu machen als vom subjektiven Empfinden.

Womit ich nicht sage, dass es nicht eine hoch interessante Frage ist, was man unter welchen Bedingungen als Zwang empfindet und was nicht - interessant auch für unsere Fragestellung nach Normen im Zusammenhang mit dem Gemeinwohl.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 30. Nov. 2005, 11:02 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

ich komme wohl nicht umhin, mich mit Deiner Art zu formulieren etwas genauer auseinanderzusetzen, denn ich finde es reichlich anstrengend, immer wieder - und oft vergeblich, nach dem genauen Sinn Deiner zum Teil sehr umfangreichen Beiträge zu suchen.

Ich nehme mal eine zentrale Passage aus Deinem letzten Beitrag.

Dort schreibst Du:

“Liberale Demokratie ist die politische Ausgabe derjenigen wirtschaftlichen Interessengruppe, die, auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftretend, jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert, die mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen.“

Ich kann mit diesen kunstvoll verschrobenen Sätzen leider wenig anfangen und ich frage mich, wie es anderen dabei geht. Ich habe von der zitierten Passage zwar den atmosphärischen Eindruck, dass darin irgendeine Kritik an der liberalen Demokratie steckt, aber was genau mit diesen Sätzen gesagt wird, bleibt mir unklar.

Fangen wir mit der „liberalen Demokratie“ an. Was verstehst Du darunter? Was versteht man darunter? Meine Frage an Dich: Bedeutet „liberale Demokratie“ für Dich ein politisches System, in dem es ein allgemeines gleiches Wahlrecht gibt? Ich vermute, dass dem so ist.

Dem steht aber entgegen, dass das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht auf dem Programm der Liberalen gestanden hat, sondern vor allem von den Sozialdemokraten (für die Arbeiter) und den Frauenrechtlerinnen (für die Frauen) erkämpft wurde und deshalb in Deutschland erst 1918 und gerade nicht von einer liberalen Partei eingeführt wurde.

Die liberale Demokratie ist nun bei Dir „die Ausgabe einer wirtschaftlichen Interessengruppe“. Was das heißen soll, ist mir unklar. Ich kenne zwar die Ausgabe einer Zeitung („ .. in der gestrigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung konnten man lesen …“), aber dass politische Programme wie die liberale Demokratie „ausgegeben“ werden, erscheint mir sprachlich etwas eigenwillig und nicht sehr geglückt.

Mit der „wirtschaftlichen Interessengruppe“ meinst Du wohl die „Kapitaleigner“ und „Unternehmer“, also diejenigen, die Marx als „Bourgeoisie“ oder „Kapitalistenklasse“ bezeichnet und die umgangssprachlich als „Fabrikbesitzer“ bezeichnet werden.

Diese Begriffe sind für mich wesentlich aussagekräftiger, denn eine „wirtschaftliche Interessengruppe“ sind auch die Gewerkschaften oder die Bauernverbände, aber die meinst Du offenbar nicht.

Entsprechendes gilt für Deinen Begriff des „wirtschaftlichen Interesses“, womit du offenbar auch nur das Interesse der Kapitalisten/Unternehmer meinst, obwohl die Beschäftigten bzw. die Lohnarbeiter natürlich ebenfalls wirtschaftliche Interessen haben.

Du nennst die Interessengruppe nicht direkt, sondern bezeichnest sie als diejenige Gruppe, „die jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert.“

Mit „jenen Veränderungen“ ist offenbar die weiter oben angesprochene „Technisierung der Arbeitswelt“ und die „industriale Ausgestaltung der betreffenden Gesellschaften“ gemeint,

Aber „verschleiern“ die Fabrikbesitzer die Technisierung? Eher zeigen sie doch voll Stolz ihre Maschinen, mit denen so viel schneller und billiger produziert werden kann.

Haben die Fabrikbesitzer die Technisierung der Arbeitswelt und die industrielle Ausgestaltung der Gesellschaft „kultiviert“?

Die Fabrikbesitzer können eigentlich auch nicht gemeint sein, denn denen geht es vorrangig nicht um die Kultivierung der Maschinerie sondern um deren Rentabilität.

Außerdem soll die wirtschaftliche Interessengruppe „auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftreten“. Was kann damit gemeint sein? Welche Ideen werden da in die Politik herabgezogen? Handelt es sich bei dem Geist oberhalb der Politik um die Philosophie?

Schließlich sprichst du davon, dass die gesellschaftlichen Veränderungen "mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen“. Dabei meinst Du mit „industrial“ offenbar „industriell“ und mit „verzeitigen“ vielleicht „verwirklichen“ oder „verbreiten“, vielleicht aber auch etwas anderes.

Da all diese Fragen nach der genauen Bedeutung offen bleiben, kann ich mich nur unter Schwierigkeiten mit Deinen Beiträgen auseinandersetzen. Sie zeigen zwar eine deutliche politische Richtung, aber es mangelt nach meinem Eindruck bei allem stilistischen Anspruch an begrifflicher Klarheit und logischer Stringenz der Argumente. Und das ist schade

meint Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 30. Nov. 2005, 12:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

vorweg: Ich finde es immer schade, wenn Philosophen an der Wirksamkeit vernünftiger Argumente zweifeln oder darauf verzichten, an deren besserer Wirksamkeit zu arbeiten. Wer sonst als die Philosophen wäre eher für diese Aufgabe zuständig?

Auf meine Aufforderung, nach intersubjektiv nachvollziehbaren und übernehmbaren Argumenten zu suchen, entgegnest du: „Da sagt dir der Evangelikale, du musst dein Herz für Jesus öffnen, dann erkennst du die Wahrheit genau so wie ich und meine Glaubensbrüder.“

Willst Du diese Pseudoargumentation auf eine Stufe stellen zum Beispiel mit den Intersubjektivitätskriterien der Erfahrungswissenschaften, wo genau angegeben wird, welche Wahrnehmungen man macht, wenn man eine bestimmte Versuchsanordnung durchführt oder wenn man sich an einen zeiträumlich bestimmten Ort begibt?

Als rational denkender Mensch muss ich den Evangelikalen doch zurückfragen: „Was meinst Du denn mit der Bildersprache ,das Herz für Jesus öffnen’?“

Wenn er den Anspruch auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Begründung erhebt, dann muss der Evangelikale Handlungen angeben, deren Ausführung jedem möglich ist und deren Ausführung sich unabhängig vom behaupteten Resultat (dass der Betreffende die christliche Wahrheit erkennt) intersubjektiv übereinstimmend feststellen lässt.

Andernfalls handelt es sich um ein Pseudoargument.

Denn wenn man zum Ergebnis kommt: „Ich kann die christliche Wahrheit nicht erkennen“, dann sagt der Schlaumeier: „Dann hast Du eben Dein Herz noch nicht genügend weit für Jesus geöffnet.“

Nach diesem Muster lassen sich beliebig abstruse und einander widersprechende Theorien „begründen“, was zur Konsequenz hat, dass es sich eben um keine Begründung von Erkenntnis handeln kann. Denn beliebige Antworten sind gar keine Antwort.

Außerdem darf der Evangelikale dabei selbstverständlich nicht dasjenige bereits zur Voraussetzung machen, was gerade strittig ist (die Überzeugung von der Wahrheit der christlichen Lehre).

(Fortsetzung folgt.)

Erstmal tschüs sagt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 30. Nov. 2005, 21:46 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

Ich finde es immer schade, wenn Philosophen an der Wirksamkeit vernünftiger Argumente zweifeln
Ich zweifle aber daran. Ich bin gezwungen, daran zu zweifeln, weil mich das die Lebenspraxis gelehrt hat.

oder darauf verzichten, an deren besserer Wirksamkeit zu arbeiten.
Das folgt nicht. Aber daran arbeiten heißt erst mal zu erkennen, dass ich da mit meinen üblichen rationalen Argumenten nicht durch komme. Und dann muss ich überlegen, welche anderen Wege vielleicht möglich wären. Ich neige dazu zu sagen, sie interpretieren meine Worte nach ihrem Weltbild. Wenn ich verstanden werden will, muss ich ihr Weltbild ändern. Ein Weltbild kann ich aber nicht im Diskurs ändern, das kann ich nur dann ändern, wenn ich auf Widersprüche zeige, auf Widersprüche in den Daten, wo etwas anders geglaubt wird, als es tatsächlich und nicht ignorierbar ist - wenn man darauf hingewiesen wird. Ich kann ihm den Widerspruch nicht erklären, das nützt nichts. Er muss sich ihm zeigen. Das geht nicht von jetzt auf gleich.

Argumente im Diskurs haben dann keinen Sinn, wenn sie auf Daten basieren, die der andere nicht oder so nicht hat. Das ist für mich das Hauptproblem, auf das ich in dieser oder jener Form immer wieder zurückkommen muss.

Als rational denkender Mensch muss ich den Evangelikalen doch zurückfragen: „Was meinst Du denn mit der Bildersprache ,das Herz für Jesus öffnen’?“

Dat darfste nich machen. Dann kriegste ne endlose Predigt, in die er sich bis zur totalen Kommunikationsunfähigkeit hinein steigert.

Andernfalls handelt es sich um ein Pseudoargument.
Und? Eberhard? Auf wievielen Pseudoargumenten basierten kollektiver Mord und Totschlag?
Ich habe nicht das geringste gegen vernünftige Argumente einzuwenden. Auch nicht das geringste gegen deine Methoden, deren Klarheit ich schätze. Aber ich sage, schau dir die Lebenspraxis an: das reicht nicht. Es reicht mir und es reicht dir und allen vernünftigen Leuten, mit denen man so zu tun hat.
Aber das ist im Zweifelsfalle nicht die Mehrheit.

Zu meinen Lieblingsmetaphern gehört der den Vögeln predigende Franz von Assisi. Das war ja nicht Tierliebe. Das war eine Demonstration dafür, dass er genau so gut den Vögeln predigen könne wie seinen Landsleuten; die seien genau so wenig in der Lage, zuzuhören und zu verstehen.

Was nützt es, wenn alles, was du sagst, vollkommen richtig ist, aber niemand versteht es? Nicht von den Worten und Verknüpfungen, sondern von der Bedeutung, vom Sinn her?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 30. Nov. 2005, 22:38 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,

"Meine Frage an Dich: Bedeutet „liberale Demokratie“ für Dich ..." Eberhard

Auch noch den Letzten auf dem Planeten Erde zum Wählen mobilisieren, damit dieser demokratisiertes Glied privatwirtschaftlicher Grossunternehmung wird.

"Dem steht aber entgegen, dass das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht auf dem Programm der Liberalen gestanden hat, sondern vor allem von den Sozialdemokraten (für die Arbeiter) und den Frauenrechtlerinnen (für die Frauen) erkämpft wurde und deshalb in Deutschland erst 1918 und gerade nicht von einer liberalen Partei eingeführt wurde." Eberhard

Bis 1914 waren in Deutschland Träger dieser Forderungen nicht, oder nur unwesentlich an der Regierungsbildung, an der politischen Ausgestaltung der deutschen Gesellschaft beteiligt. Die grossbürgerlichen und die junkerlichen Kräfte in Deutschland verhinderten dieses bis 1918, als auch in Deutschland demokratischer Liberalismus eingeführt wurde. Die u.a. während des Bestehens des Preussenstaates geformte Parteiprogramatik der Sozialdemokratie Deutschlands sowie Ideen des bereits ausserhalb Deutschlands praktizierten Liberalismus schliessen sich nicht aus.

"Die liberale Demokratie ist nun bei Dir „die Ausgabe einer wirtschaftlichen Interessengruppe“." Eberhard

Wie die Sozialdemokratie im Rahmen bürgerlicher Expansion auftauchende Ideen -manchmal, wie in Deutschland von 1871-1918 auf Umwegen- auf ihre Fahne geschrieben, so weisen andere politische Parteien ebenfalls typische Merkmale auf, mit denen parteipolitische Unterschiede gegeben sind. Parteibildungen in Europa sind (noch) der Ausdruck dafür, dass deren aktiven Träger im Namen gesellschaftlicher Einzelinteressen auftreten, die im Sinne ihrer jeweiligen Parteiprogramatik auf der Ebene der Parlamente versuchen Gesellschaft auszugestalten. Wie das Beispiel von 1918 zeigt, gab erst die liberalistische Favorisierung den politischen Boden in Deutschland ab, auf dem deutsche Bürger vermochten demokratisch-parteipolitisch-parlamentarisch aufzutreten. Nicht nur das antipluralistische deutsche Bürgertum musste sich jedoch von jenen antidemokratisch-junkerlichen Kräften lösen, die mit Beendigung des ersten Weltkrieges kapitulierten, mit denen dasselbe Bürgertum zuvor Deutschland als innere Schicksalsgemeinschaft formierte dessen Wohl von einer imperalistischen Aussenpolitik der militärischen Eroberung von geographischen Gebieten abhängig sei, die westliche Wirtschaftsinteressengruppen bereits kolonialistisch eroberten. Der Auflösung der zum imperialistischen Militarismus heruntergewirtschaften deutschen Monarchie (unter Kaiser Wilhem II) folgte jedoch beispielsweise nicht, dass das deutsche Volk zusammen mit der deutschen Sozialdemokratie sich seine politischen Formen gab. Jenes politische System, d.h. die liberale Demokratie wurde in Deutschland eingeführt, mit der amerikanische sowie französische und englische Wirtschaftsinteressen bereits ihre Globalunternehmungen beispielsweise auf europäischen Boden, nach innen, d.h. innenpolitisch europäisch-nationalistisch sowie aussereuropäisch, d.h. aussenpolitisch-kolonialistisch praktizierten. Deutsches Großbürgertum, von 1871 bis 1918 mit den antidemokratischen Junkern im Verbund, deutsches Großbürgertum 1918 mit der Einführung der westlich liberalen Demokratie in Deutschland nicht nur von der Einflußnahme des Wirtschaftsinteresses Westeuropas und den USA unmittelbar, sondern auch von der nun auf der Ebene des Weimarer Parlamentarismus auftretenden in der deutschen Sozialdemokratie organisierten Arbeiterschaft konfrontiert, ließ die deutsche Gesellschaft seit 1918 abermals zu einer, nun antibolschewistischen Schicksalsgemeinschaft formieren, die ab 1933 politisch von der NSDAP geführt wurde .............

"Du nennst die Interessengruppe nicht direkt, sondern bezeichnest sie als diejenige Gruppe, „die jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert.“ ... Aber „verschleiern“ die Fabrikbesitzer die Technisierung? ... Haben die Fabrikbesitzer die Technisierung der Arbeitswelt und die industrielle Ausgestaltung der Gesellschaft „kultiviert“? ... Die Fabrikbesitzer können eigentlich auch nicht gemeint sein, denn denen geht es vorrangig nicht um die Kultivierung der Maschinerie sondern um deren Rentabilität." Eberhard

Mit der Anwendung neuzeitlicher Technik, mit der seit der bürgerlichen Revolution sich vollziehenden privatwirtschaftlichen Aneignung der Produktionsmittel vollzog sich jener Umbau westlicher Gesellschaften, der sich auch dadurch kennzeichnen lässt, dass die Arbeitskraft des abendländischen Menschen aus dem feudalherrschaftlichen Ordnungsgefüge des religiös ausgerichteten Mittelalter genommen wurde: um Arbeitskraft industriell ... zu verwerten. Mit diesem Produktionsumbau verändern sich nicht nur die Arbeitsverhältnisse; die Staatspraxis passt sich ebenfalls dem mit der Expansion der Grossbürgerlichen Unternehmung gegebenen gesellschaftlichen Umbau an. Staatlichkeit wird zum Ordnungsgefüge jener bürgerlichen Kräfte, die bis heute im Besitz der Produktionsmittel sind, welche bürgerliche Staatlichkeit den Parlamentarismus abgibt, auf deren Bühne diejenigen auftreten, die den Besitzstand parteipolitisch verteidigen (Liberale), die, mit Gesellschaftsreformen auftretend, diesen Besitzstand unangetastet lassen (Volksparteien, demokratische Oppositionparteien). Der bürgerliche Staat, politische Parteien treten mit Ideen auf, mit denen die jeweiligen Wählerschaften umworben werden. Diese Ideen, mit der bürgerlichen Expansion Westeuropas industriell ... seit 1918 auch in Deutschland zur Wirkung kommend, können nationalistisch und/oder internationalistisch ausgerichtet sein; diese Ideen werden favorisiert um die Nicht-Besitzenden Bürger mit ihren jeweilig zugestandenen wirtschaftlichen Interessen auf dem kapitalistischen Kurs "mitzunehmen". Mit in der parteipolitischen Sphäre auftretenden Ideen wird Kultivierung jener Gesellschaften betrieben, die vom privatwirtschaftlichen Einsatz der Technik bedingt sind. Menschliche Handlungen vollziehen sich in der bürgerlich-politischen Sphäre als zivilisierte; jene Bürger dürfen nun medial glänzen, die verstehen, Einzelinteresse, etwa derjenigen die nicht über Produktionsmittel verfügen, als Allgemeininteresse erscheinen zu lassen.

"Außerdem soll die wirtschaftliche Interessengruppe „auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftreten“. Was kann damit gemeint sein? Welche Ideen werden da in die Politik herabgezogen? Handelt es sich bei dem Geist oberhalb der Politik um die Philosophie?" Eberhard

Bürgerliche Staatlichkeit tritt mit Verfassungen auf, in der Geistiges, etwa das vom abstrahierenden Denken entworfene Ideal der praktischen Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, verankert ist. In der Sphäre der praktischen Politik, und hier besonders vollzieht sich menschliches Handeln jedoch so, dass dieses vom abstrahierenden Denken selten bewegt wird. Dass Einzelinteresse, in dessen Vermögen steht, als Allgemeininteresse zu erscheinen, bleibt, wenn unterschiedliche politische Parteien vermögen aufzutreten, demokratischer Faktor. Wird die praktisch-demokratische Ausrichtung zurückgenommen fällt das parteipolitische Kräftespiel. Der Liberalismus verliert seine demokratische Favorisierung die mit den unterschiedlichen sowie entgegengesetzten Parteibildungen gegeben ist. Globalisierendes Besitzstandsinteresse setzt sich ins Vermögen antidemokratisch aufzutreten; Staat als "Nachtwächterstaat", d.h. im Inneren als Garanten der bürgerlichen Ruhe und Ordnung, aussenpolitisch als Sicherung ihrer wirtschaftlichen Interessen auftreten zu lassen. Die auf dem Papier vom geistiges Ideal inspirierte politische Verfassung, die bürgerlich-formale Staatsrechtlichkeit als geistiger Hintergrund des gesellschaftlichen Nicht-Zustandes, die bürgerliche Idee der politisch zu verwirklichenden Gleichheit der unterschiedlichen Menschen vor dem Staatsgesetz ist -wird menschliche Ungleichheit von jenem Globalverwertungsinteresse bedingt, dessen Macht nicht aus demokratisch-parteipolitischen Kräftespiel resultiert- ausser Kraft gesetzt. Dass vom philosophisch-abstrahierende Denken inspirierte politische Sein vermag dem verabsolutierten kapitalistischen Verwertungsinteresse der Postmoderne ebensowenig etwas entgegensetzen, wie Denken dem verabsolutierten religiösen Wahn des europäischen Mittelalters vermochte etwas entgegenzusetzen. Philosophie bleibt. Wandel wird sich in jener praktischen Sphäre wieder vollziehen, in der geistige Grundlagen des menschlichen Strebens stets vermischt mit verabsolutierten Intesssen auftreten.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen IIEs ist m.
Beitrag von philoschall am 01. Dez. 2005, 11:06 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

ich teile den von Dir vorgetragenen Gedanken, dass statt Ethik, wird Theorie des gesellschaftlichen Einzelinteresses absolut gesetzt -etwa derjenigen welche den Begriff der Arbeiterklasse oder derjenigen welche die privatwirtschaftlich angeeigneten Produktionsmittel verabsolutieren, gewinnt dieses verabsolutierende Theoretisieren, gewinnt dieses Technik-Fetischisierte Handeln Macht im Staatsbereich, verselbstständigt sich somit das gestalterische Handlungsvermögen über Gesellschaft- alles andere favorisiert wird. Allerdings gibts nicht nur Theorie-Fetischisten mit staatspolitischen Machtanspruch auf der Linken, diese finden sich ebenso auf der politischen Rechten (Stichwort: Konservative Revolutionäre, erstmals in der Weimarer Republik aufgetreten). Gegenwärtige Politik tritt unter Rahmenbedingungen auf, die der späten Phase der ersten Einführung liberaler Demokratie in Deutschland ähnlich sind: Verordnung eines rigiden Sparkurses der öffentlichen Haushalte, Privatisierung zuvor Staatlich Verwalteten, hohe Arbeitslosigkeit ... - in der davon geprägten staatspolitischen Sphäre gewannen sogenannte konservative Revolutionäre Einfluss auf die deutsche Gesellschaft, welcher Einfluss 1933 zur parlamentarischen Demontage ihren Beitrag leistete.

"Es ist m.E. ein Fehler zu denken, Ideologien würden gemacht, produziert. Das kann in Grenzen manchmal sein, aber im Kern werden sie nicht gemacht, sondern entstehen - als Fortentwicklung angenommener Selbstverständlichkeiten. Nicht: der Mensch soll ein unabhängiges, mobiles Individuum werden, sondern der Mensch wird ein unabhängiges mobiles Individuum. Das ist der evolutionäre Lauf der Dinge." Abrazo

Siehe hierzu meine Ausführungen an Eberhard (Beitrag 100) Danke.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 01. Dez. 2005, 20:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

die zentrale Frage ist: Kann es eine konsensfähige, am Allgemeinwohl orientierte Politik und Gesetzgebung geben angesichts von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Weltbildern, Wertordnungen und Interessen?

Kann es eine gemeinsame, konsensfähige Politik geben für Gesellschaften, die aus Katholiken und Protestanten, Christen und Muslimen, Gottgläubigen und Atheisten, Iren und Schotten, Flamen und Wallonen, Kapitaleignern und Lohnempfängern, aus Deutschstämmigen und Türkischstämmigen, aus Weißen und Farbigen, aus Frauen und Männern, aus Jungen und Alten besteht?

Wie weit reicht angesichts derartiger Unterschiede oder Gegensätze eine „vernünftige“ Argumentation, die allgemein akzeptabel ist?

Nehmen wir das konkrete Beispiel von Abrazo: Wie können Christen und Nichtchristen, die um einen Konsens im Sinne des Allgemeinwohls bemüht sind, argumentieren, wenn es um die Öffnung von Diskotheken am Karfreitag geht, also dem Tag, an dem die Christen der Hinrichtung Jesu gedenken und der als der höchste Feiertag der Christenheit gilt.

Wie müssten Karl Fromm und Heinz Gottlos argumentieren?

F: Diskotheken und ähnliches dürfen am Karfreitag nicht öffnen, denn Tanzvergnügungen sind mit der Trauer um die Kreuzigung Jesu nicht vereinbar, der als Gottes Sohn mit diesem Opfergang die Sünden der Menschen auf sich genommen hat.

G: Das sind doch religiöse Phantasien, die ich als nüchtern denkender Mensch nicht akzeptieren kann. Diese Argumentation kann doch nur ein gläubiger Christ akzeptieren. Da wir hier aber um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen bemüht sind, sind Argumente, die ein religiöses Glaubensbekenntnis zur Prämisse haben, ungeeignet.

F: Wollen Sie so tun, als gäbe es keine christliche Religion? Wollen Sie alles ignorieren, was wir vom christlichen Glauben aus zu sagen haben? Das wäre ja das Ende der freien Religionsausübung.

G: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass Ihre Argumentation für Nicht-Christen nicht nachvollziehbar ist und deshalb ungeeignet ist für die Bestimmung einer Politik, die dem allgemeinen Wohl entspricht.

F: Sie vergessen, dass wir ein Land mit abendländisch christlicher Kultur und Tradition sind, woraus folgt, dass die christlichen Feiertage zu respektieren sind.

G: Es mag ja sein, dass in der Vergangenheit das Christentum unsere Kultur geprägt hat und dass die Christen auch heute noch die Mehrheit der Bevölkerung darstellen. Aber Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es einen erheblichen Prozentsatz von Nicht-Christen gibt, wie mich. Aber davon ganz abgesehen: die Frage, wie viele Menschen einer bestimmten Weltanschauung anhängen, ist für die Lösung unseres Problems nicht von entscheidender Bedeutung. Dadurch, dass sich die Christen in der Mehrheit befinden, wird ihr Weltbild nicht richtiger. In anderen Gesellschaften befinden sich die Christen z.B. in der Minderheit.

F: Soll das heißen, dass der Charakter des Karfreitags, in dem die zahlreichen Christen in diesem Land um das Leiden des Mensch gewordenen Gottessohns trauern, einfach ignoriert werden kann, weil es keine wissenschaftliche Begründung des christlichen Glaubens gibt?

G: Das folgt aus dem, was ich gesagt habe, noch nicht. Ich sage nur, dass die Schließung der Diskotheken nicht für mich und auch nicht für die Allgemeinheit auf diese Weise nachvollziehbar begründet werden kann,

Ich bin mir wohl bewusst, dass es in diesem Land viele Menschen gibt, die christlichen Glaubens sind. Aber es gibt eben auch Nicht-Christen und für diese ist ihre Begründung nicht akzeptabel.

F: Sie fordern also, dass die christlichen Gemeinden in ihrer Trauer und ihren Gottesdiensten mit dem lautstarken Rummel von Rockkonzerten, Bundesligaspielen, Straßenfesten, Flohmärkten oder Tanzveranstaltungen gestört und belästigt werden dürfen? Von Respekt vor dem, was heilig ist, haben Sie wohl noch nie etwas gehört!

G: Was Ihnen heilig ist, ist anderen vielleicht nicht heilig. Aber ich teile Ihre Forderung, dass die Trauer und die Gefühle von Menschen respektiert und nicht durch lärmende Fröhlichkeit gestört werden sollten. Und dies gilt für religiöse Gefühle genauso wie für andere Gefühle. Dass derartige Verletzungen von Gefühlen etwas Unerwünschtes sind, kann wohl von jedermann nachvollzogen werden.

F: Na also, sie scheinen langsam zu begreifen!

G: Nicht zu voreilig. Für mich folgt daraus nur, dass den Christen eine ungestörte Feier des Karfreitags zu gewähren ist. Das heißt aber zugleich, dass Aktivitäten und Veranstaltungen, die niemanden stören, der dies nicht will, zugelassen werden müssen, sei es ein Radiosender mit Tanzmusik, ein Fernsehsender mit einer Komödie, sei es eine Diskothek fernab von der Stadt oder ähnliches.

Mit diesem kleinen Beispiel konsensorientierter Argumentation grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 01. Dez. 2005, 23:29 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Philoschall,

konstruiere mir doch mal bitte diesen Satz nach den üblichen grammatikalischen Regeln, denn ich bin dazu leider nicht in der Lage:

ich teile den von Dir vorgetragenen Gedanken, dass statt Ethik, wird Theorie des gesellschaftlichen Einzelinteresses absolut gesetzt -etwa derjenigen welche den Begriff der Arbeiterklasse oder derjenigen welche die privatwirtschaftlich angeeigneten Produktionsmittel verabsolutieren, gewinnt dieses verabsolutierende Theoretisieren, gewinnt dieses Technik-Fetischisierte Handeln Macht im Staatsbereich, verselbstständigt sich somit das gestalterische Handlungsvermögen über Gesellschaft- alles andere favorisiert wird.


Zum anderen vermisse ich bei dir leider klare Aussagen über das Subjekt. Du beschreibst - aus deiner Sicht - Vorgänge, oft mit Analogieschlüssen, die ich nicht akzeptiere (wenn eine Katze mit dem Schwanz wedelt, ist sie kein Hund), machst aber keine zumindest für mich erkennbaren Angaben darüber, wer der Urheber oder was die Ursache dieser Vorgänge sein soll. Dadurch fehlt mir die Stringenz in deiner Argumentation, sie erscheint mir wie zusammenhangloses Stückwerk. Und mit irgendwelchen obskuren Mächten kann ich nichts anfangen. Also nenne doch bitte Ross und Reiter: wen oder was meinst du mit den Mächten?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 01. Dez. 2005, 23:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

Da wir hier aber um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen bemüht sind, sind Argumente, die ein religiöses Glaubensbekenntnis zur Prämisse haben, ungeeignet.


Darauf würde Herr Fromm antworten:
Selbstverständlich sind wir um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen bemüht. Wir sind immer diejenigen, die auf die Nichtchristen zugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen trachten. Wir wissen, dass Nichtchristen die Bedeutung des Karfreitags nicht verstehen und bemühen uns darum und beten und hoffen, dass sie das einmal begreifen. Aber Sie können von uns doch nicht verlangen, dass wir tatenlos zusehen, wenn egoistische, einzig ihrem persönlichen Vergnügen folgende Menschen die Mahnung und die Erinnerung an die göttliche Wahrheit öffentlich in Vergessenheit zu bringen trachten!

Du setzt einen Konsens zwischen unterschiedlichen Interessen von Individuen voraus. Genau darum geht es solchen Leuten aber nicht. Es geht ihnen nicht darum, ihren Glauben ungestört privat zu leben, sondern es geht ihnen darum, eine ihrer Ansicht nach allgemeingültige Wahrheit zu achten und möglichst zu verbreiten, die weit über individuellen Interessen steht, für die individuelle Interessen überhaupt nicht relevant sind.

Wobei in politischen Strömungen oft genug die gleichen Absichten zu finden sind.

Im Grunde handelt es sich hier um eine Interpretation des Gemeinwohls, wonach das Gemeinwohl Vorrang hat vor den jeweiligen individuellen Interessen, weil diese nur momentan, lustbetont und ohne Blick auf Zukunft und Ziel des Ganzen wahrgenommen werden. Insofern sie dies nicht sehen, sehen sie damit auch nicht ihre eigenen tatsächlichen Interessen. Vulgo: das Individuum ist im Zweifelsfalle ein ahnungsloser, hin- und hergeworfener Dummkopf, über dessen Aussagen man mit gütigem, verständnisvollem Lächeln hinweg geht.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 02. Dez. 2005, 09:02 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

als Heinz Gottlos las, was Karl Fromm Dir zum Karfreitag gesagt hat, schrieb er an Karl Fromm:

Sehr geehrter Herr Fromm,

ich freue mich, dass Sie mit mir das Ziel teilen, einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen in Bezug auf die Gestaltung des Karfreitags zu erreichen.

Wenn man aber diese Einigung wirklich will, dann kann man nicht für eine bestimmte Position allgemeine Geltung verlangen, ohne diese allgemeine Geltung auch mit allgemein nachvollziehbaren Argumenten einsichtig begründen zu können. Eine solche Argumentation ermöglicht keinen Konsens, sondern verhindert ihn.

Wenn Sie folglich auf der allgemeinen Geltung Ihrer christlichen Position bestehen, wenn diese Position auch für mich gelten soll, obwohl es für diese Position keine allgemein nachvollziehbare und überprüfbare Begründung gibt, dann war ihr anfängliches Bekenntnis zur vernünftigen Einigung nur Augenwischerei, ein Lippenbekenntnis, das Sie nicht ernsthaft gemeint haben.

Zum Vorschein kommt bei Ihnen ein nicht zu begründendes autoritär gesetztes Dogma, dem sich alle unterzuordnen haben.

Eine Wahrheit, die nicht einsichtig ist, ist von der Unwahrheit nicht zu unterscheiden.

Eine selbsternannte Rechtgläubigkeit schafft keinen Konsens.

Solche Orthodoxie ist gegenüber den anders Denkenden nicht mehr als eine Aufforderung zu gehorchen.

Wenn Sie das nicht wollen sondern einen vernünftigen, auf nachvollziehbaren Argumenten aufgebauten Konsens, dann überdenken Sie bitte Ihre Position in dieser Frage noch einmal.“

Hat Heinz Gottlos damit Recht?

fragt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 02. Dez. 2005, 12:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

Abrazo an Eberhard: "Was nützt es, wenn alles, was du sagst, vollkommen richtig ist, aber niemand versteht es?"


Eberhard an philoschall: "Du vermisst bei der Fragestellung den historischen Kontext und Du befürchtest, dass ohne diesen Kontext die zentralen Begriffe im Dunkeln bleiben müssen.

Diese Befürchtung teile ich nicht, denn Begriffe wie Gemeinwohl, Wohl der Individuen, Gesamtinteresse oder Einzelinteresse haben bereits umgangssprachlich eine mehr oder weniger bestimmte Bedeutung, und es hindert uns niemand daran, diese Begriffe - falls nötig - noch schärfer zu definieren." Eberhard (Teil 1, Antwort 2)

Dass erinnert mich an David Hume: Es gab und wird keinen Staat geben der durch einen ursprünglichen Vertrag des Volkes entstanden ist, bezw. entstehen wird. Nach Hume entsteht Staat - im Zusammenhang mit dem Staat sind nicht nur Begriffe wie Gemeinwohl, Einzelinteresse ... zu behandeln - durch physische Gewalt: diese zwinge das Volk erst zur nachträglichen Anerkennung der Herrschaft. Diese nachträgliche Anerkennung durch die (Volks)Menge nennt Hume "stillschweigende Zustimmung", die er vom historisch verstandenen Vertrag (ich glaube Hume argumentiert gegen Locke) unterscheidet. Nicht um die Legitimierung irgend eines Staates geht es Hume, sondern um Favorisierung der Loyalität der Bürger, mit der die physische Gewaltanwendung stabilisiert wird: Allgemeine Interessen und Bedürfnisse des Volkes müssen berücksichtigt werden, und zwar hinsichtlich Reformen der Verfassung des Staates. Vertragstheorie ist nicht historisch orientiert, die Entstehungsgeschichte eines Staates sowie historisch orientierte Kritik wird nicht favorisiert. Entscheidend ist hier (wie auch bei Kant) anderes: die ideelle bezw. normative Komponente, mit der die Legitimität einer Rechts- und Staatsauffassung öffentlich bestätigt werden soll. Diese ideelle Vertragstheorie setzt den universalen Anspruch vorraus, dass jeder der Vertragsteilnehmer sein Naturrecht aufgibt, dass er bei seiner Verfolgung des Zieles, seiner Selbsterhaltung, die Rationalisierung seiner Interessen im Rahmen der Staatsgesetze, der Insititutionen, praktiziert.

Diese normative Vertragstheorie - ich geh hier mal davon aus, Eberhard ist ein Vertreter dieser Theorie - arbeitet also mit einem Menschenbild, dass die Bürger nur dann Vernünftige sind, wenn diese den Naturzustand aufgeben, damit diese ihren Strebenszustand, den juridisch-politischen Zusammenhang rational erfassen. Wenn das, was hier von Eberhard immer wieder vorgetragen wird, alles richtig sein soll, dieses aber niemand versteht -ausser denen die dieses Menschenbild denken und dieses favorisieren- kann hier wohl etwas nicht richtig sein. Ich meine, dass dieser Rationalität ihre Grenzen von der Lebenspraxis aufgezeigt werden. Nicht unwichtig wird sein, in welchem Verhältnis die Rationalität der normativen Vertragstheorie sich zu Religion positioniert. Politische Theorie könnte bei der Berücksichtigung der Lebenspraxis, dass Selbsterhaltung selten die vernünftige Rationalisierung der Interessen aufweisst, davon ausgehen, die anthropologischen Grundlagen der hier favorisierten Rationalität zu reflektieren. Angenommen, dass Naturrecht ist identisch mit dem Gesetz der Natur. Naturrecht, nicht Naturzustand!, d.h., nicht, beispielsweise "ein VORPOLITISCHER Kriegszustand (Hobbes, p.), der mit der (Be-) Gründung eines juridisch-politischen Zustandes aufgehoben wird." Dann gibt es "keine Spannung zwischen naturrechtlicher und naturgesetzlicher Norm, freilich auch keine aufhebende Synthese beider. Eine normative Dynamik, die jedes Individiuum zur spontanen Übertragung des Naturrechtes verpflichten würde, ist also nicht zu finden."

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03. Dez. 2005, 00:05 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

da meine Antwort der Server gefressen hat, beschränke ich mich auf das Zitat von Augustinus (Bekenntnisse):

Wie kannst du nur, verführte Seele, deinem Fleische folgen? Kehre um, so wird es dir folgen. Was du fleischlich wahrnimmst, ist Stückwerk. Das Ganze bleibt dir verborgen, an dessen Teilen, die du allein vor Augen hast, du dich gleichwohl erfreust. Aber auch wenn deines Fleisches Sinn imstande wäre, das Ganze zu fassen, wenn er nicht selbst dir zur Strafe in einem Teil des Universums die ihm zukommende beschränkte Rolle spielen müsste, würdest du wollen, dass das heute Gegenwärtige vorüberginge und du am All um so größere Freude habest. Auch die Worte, die man spricht, vernimmst du ja mit demselben Fleischessinn und willst nicht, dass die Silben stehen bleiben, sondern dahin eilen und anderen Platz machen, damit du das Ganze vernehmest. So ist's immer mit allen Teilen, daraus ein Ganzes besteht. Die Teile, aus denen es besteht, können nicht alle zugleich sein. Alle zusammen, wenn man sie in ihrer Gesamtheit wahrnehmen kann, erfreuen mehr als die einzelnen. Aber hoch über ihnen steht, der sie alle gemacht hat, er selbst, unser Gott, der nicht entweicht, weil nichts an seine Stelle treten kann.

Mit anderen Worten: Herr Fromm könnte damit argumentieren, dass du als beschränkter Mensch gar nicht in der Lage bist zu erkennen und zu entscheiden, was richtig, wahr und gut ist.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 03. Dez. 2005, 11:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Herr Fromm ist sehr gebildet, wie ich sehe. Er zitiert sogar die Kirchenväter, um die Position des Herrn Gottlos anzugreifen. Der alles zermalmende geistige Hammerschlag ist die Feststellung, dass Heinz Gottlos „als beschränkter Mensch gar nicht in der Lage ist zu erkennen und zu entscheiden, was richtig, wahr und gut ist“.

Kleiner Mann was nun?

Aber Heinz Gottlos gibt sich noch keineswegs geschlagen, sondern sendet an die Adresse von Karl Fromm folgende E-Mail:

“Sehr geehrter Herr Fromm,

dass Sie meine Argumente mit dem Hinweis auf meine Beschränktheit entkräften wollen, habe ich nicht ohne eine gewisse Betroffenheit zur Kenntnis genommen.

Ihnen muss dabei doch klar sein, dass eine solche pauschale Unmündigkeitserklärung kein Argument innerhalb einer konsensorientierten Diskussion sein kann, weil sie gleichzeitig einer derartigen Diskussion die Grundlage entzieht.

Das erklärte Ziel eines Konsenses ist damit aufgekündigt, denn jedes von mir vorgebrachte Argument kann von Ihnen jetzt mit dem Hinweis entkräftet werden, dass ich in meiner Beschränktheit nicht in der Lage sei, zu erkennen was wahr und gut ist. Das ist natürlich das Ende jeder vernünftigen, erkenntnisorientierten Diskussion.

Sie müssen sich also entscheiden: Entweder Sie bleiben bei unserm gemeinsamen Ziel eines allein durch Argumente zu erreichenden Konsenses oder Sie geben offen zu, dass es Ihnen nur um die Durchsetzung Ihrer religiösen Vorschriften geht.

In diesem Fall verlassen Sie die Ebene der argumentativen Auseinandersetzung und begeben sich auf die Ebene der machtbezogenen Auseinandersetzung, wo nicht Argumente sondern Druckmittel und Sanktionsmöglichkeiten zählen.

Ich hoffe, dass Sie, Herr Fromm, unter diesem Gesichtspunkt Ihre Diskussionsstrategie noch einmal überdenken und zu einer nachvollziehbaren Argumentation zurückkehren. Ansonsten muss ich Ihre Berufung auf die allgemeingültige Wahrheit und Ihr Bekenntnis zum Ziel eines Konsenses bezeichnen als das, was es ist: ein leeres Wortgeklingel, dass die nackte Forderung auf Unterwerfung unter ein Dogma nur unvollkommen verbergen kann.

Mit freundlichen Grüßen Ihr Heinz Gottlos.“

Soweit die E-Mail an Herrn Fromm. Wie mir Herr Gottlos erzählte, ist ihm die Strategie der pauschalen Unmündigkeitserklärung nicht nur von religiöser Seite bekannt. Auch andere Weltanschauungen „argumentieren“ damit.

Ein Beispiel ist der Marxismus („Als Teil der Bourgeoisie bist Du in Deinem Denken der Ideologie Deiner Klasse verhaftet, denn das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Dir muss das Verständnis für die Wahrheit des wissenschaftlichen Sozialismus verschlossen bleiben!“. Auch die Psychoanalyse eignet sich für diese Diskussionsstrategie. („Sie können mir über Ihre Motive erzählen, was sie wollen. Entscheidend für ihr Handeln bleiben die in ihr Unterbewusstsein verdrängten Triebmotive“.)

Mit Grüßen an alle Interessierten schließt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03. Dez. 2005, 14:30 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

In diesem Fall verlassen Sie die Ebene der argumentativen Auseinandersetzung und begeben sich auf die Ebene der machtbezogenen Auseinandersetzung, wo nicht Argumente sondern Druckmittel und Sanktionsmöglichkeiten zählen.


Genau das wird Herr Fromm tun. So, wie es seine Vorfahren getan haben und so, wie seine Verwandtschaft in aller Welt, ob religiös oder nicht, auch da stimme ich dir zu, es heute noch tut. Bekanntermaßen sind Argumente, die auf der Vernunft beruhen und den friedlichen Konsens zum Ziel haben, dagegen wirkungslos. Vernünftige Argumente deswegen, weil ja die Zuverlässigkeit der menschlichen Vernunft generell abgestritten wird. Vgl. Paulus: und der Friede Gottes, welcher höher ist denn jede Vernunft ... der Friede ist das Ziel. Doch der Weg dorthin rechtfertigt das Gemetzel.

Ich war noch ein Kind, da faszinierte mich eine große Briefmarke aus der DDR (damals noch Sowjetzone genannt), darauf ein tapferer Streiter mit dem üblichen Blick in die weite Ferne; darunter: kämpft für den Frieden in der Welt. Ich betrachtete das als Widerspruch: für den Frieden kann man nicht mit Streitzeug in der Hand kämpfen.

Dieser Widerspruch zieht sich durch all diese Ideologien. Vor dem hehren Ziel in ferner Zukunft wird das Leben in der Gegenwart belanglos. Doch Leben findet in der Gegenwart statt. Das kann man nicht nachholen. Vertrösten is nich. Tatsache.

Wir haben hier also zunächst mal ein Zeitproblem.

Nehmen wir mal das psychologische Phänomen der Rechthaberei an. Ich kann dir zwar nicht beweisen, dass ich Recht habe, aber die Zukunft wird diese Beweise liefern, dessen bin ich gewiss - und für diese Zukunft kömpfe ich. Die Gewissheit entstammt aber nicht der Zukunft. Sie entstammt Vergangenheit und Gegenwart. Die Frage ist, welcher Vergangenheit und welcher Gegenwart? Also: wie konstruiert sich so ein Weltbild?

Ich denke, Marx liefert hier durchaus brauchbare Ansätze - vorausgesetzt, man entkleidet ihn seiner missratenen Epigonen. Marx war Antiidealist und Antiideologe. Den Arbeiter sah er deswegen als Motor des Fortschrittes an, weil gerade der keine Ideologie habe und den wissenschaftlichen Materialismus betrachtete er als ideologieunabhängige Alternative. "Das Sein bestimmt das Bewußtsein", dieser Kernsatz zielt auf die Daten ab, die logisch zu einem zusammenhängenden Weltbild konstruiert werden. Diese Weltbilder sind, je nach den von der jeweiligen Lebensform bestimmten Daten, selbstverständlich verschieden. Und führen zu verschiedenen Interpretationen neuer Daten und zu verschiedenen Entscheidungen. Auch wenn Marx ein sehr früher Vogel war, der viel gemistet hat, die Flugrichtung stimmt imho.

Wer ungefähr das gleiche Weltbild hat, wird eine Konsensmöglichkeit finden. Bei stark unterschiedlichen Weltbildern aber wird ein solcher Konsens schwierig bis unmöglich. Ein Problem, das nach einer Lösung verlangt.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 03. Dez. 2005, 21:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

offenbar sind Herrn Fromm die Argumente ausgegangen und Herr Gottlos hat überzeugend demonstriert, dass die Position des Herrn Fromm nicht allgemein einsichtig begründbar ist. Wenn Herr Fromm trotzdem für seine Position allgemeine Geltung verlangt (und am Karfreitag kein Fernsehsender eine Komödie bringen darf), dann fordert er Gehorsam, dann appelliert er nicht an Einsicht.

Dies Ergebnis ist schon etwas wert, denn diejenigen, die sich in einer Machtstellung befinden und ihre Normen den andern aufzwingen, hängen sich dabei gerne ein Mäntelchen der Rechtfertigung um und stehen nicht gerne nackt da (weshalb diese Machthaber besonders empfindlich gegen Kritikfreiheit und Meinungsfreiheit sind). Keine Gewaltherrschaft mag gern als das erscheinen, was sie ist.

Wenn Du schreibst, dass ein vernünftiger, auf Argumenten beruhender Konsens umso leichter herzustellen ist, je ähnlicher die Weltbilder sind, dann widerspreche ich Dir nicht. In einer Gruppe wird man umso leichter zu einer gemeinsamen, von allen getragenen Entscheidung zum Wohle der Gruppe kommen, je einiger sich die Gruppenmitglieder zumindest über die tatsächliche Lage, in der sie sich befinden.

Worauf es mir ankommt ist die Aussonderung von Scheinargumenten, die nur vortäuschen, dass es ihnen um das geht, was allgemein gültig ist und deshalb auch allgemein einsichtig sein sollte. Es kommt darauf an, diejenigen Argumente herauszuarbeiten, die uns dem Konsens über das, was zum Wohle der Allgemeinheit ist, näher bringen.

Mit einem Gruß zum 2. Advent schließt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03. Dez. 2005, 23:37 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

Herr Fromm gibt auf?

Schau dir den Irak-Krieg mit allem drum und dran an. Herr Fromm gibt mitnichten auf. Herr Fromm lässt dich am ausgestreckten Arm verhungern.

Was nützt es dir, Herrn Fromm nachzuweisen, dass seine Argumente aus deiner Sicht (!) Scheinargumente sind? Das interessiert ihn nicht, weil er deine Sicht für falsch hält.

Keine Gewaltherrschaft mag gern als das erscheinen, was sie ist.
Nun, sie will sich als das darstellen, wofür sie sich hält: als Kampftruppe zur Durchsetzung des Ideals des Guten in der Zukunft.

Es gibt ein rudimentäres gemeinsames Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein - und nur auf dieser Basis wird es möglich sein, Scheinargumente auch als Scheinargumente einleuchtend nachzuweisen.

Der ach so unmoderne Herr Descartes kann uns da weiter helfen: und wenn ich nicht fähig wäre, auch nur einen Fitzel Wahrheit über die Welt und ihre Zusammenhänge zu erkennen, wenn ich mich in allem täuschen, über alles irren würde, so könnte ich mich darin nicht irren, dass ich bin. Und zwar hier und jetzt. Gleich, welche Ideologie er anbetet, ich glaube nicht, dass hier irgend einer dem Konsens widersprechen würde.

Ich werde morgen früh beim Kerzenscheine einen zweiten Lebkuchen für dich mit verputzen! ;-)

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 04. Dez. 2005, 11:03 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Halllo Abrazo,

ich hoffe, die Lebkuchen haben gut geschmeckt.

Dass Herr Fromm seine Absicht aufgibt, die eigene Position durchzusetzen, habe ich auch nicht erwartet. Aber er hat offensichtlich aufgehört zu argumentieren, weil er gemerkt hat (und andere haben es auch bemerkt), dass er seine Position gegenüber Herrn Gottlos nicht begründen kann.

Du entgegnest:

“Was nützt es dir, Herrn Fromm nachzuweisen, dass seine Argumente aus deiner Sicht (!) Scheinargumente sind? Das interessiert ihn nicht, weil er deine Sicht für falsch hält.“

Das erinnert mich an eine Situationen, die ich schon häufiger erlebt habe. Nachdem ich ausführlich mit jemandem diskutiert habe und nachdem sich dessen Position als völlig unhaltbar gezeigt hat, kommt als letztes „Argument“ gegen meine Position schließlich der Satz: „Das ist DEINE Meinung!“, so als hätte es die vorangegangene Diskussion überhaupt nicht gegeben.

Der Andere hat zwar recht damit, dass es sich um dabei um meine subjektive Meinung handelt, aber es ist NICHT NUR meine Meinung, die ich vertrete, sondern nach der abgelaufenen Diskussion habe ich auch gute Gründe, diese Meinung für richtig zu halten und ich kann den Anspruch auf deren allgemeine Geltung rechtfertigen. Darin besteht nach erfolgter Diskussion der entscheidende Unterschied zwischen meiner und seiner Meinung. Mit dem Satz: „Das ist DEINE Meinung“ versucht der Andere nun, diesen Unterschied wieder zu verwischen.

Die Situation stellt sich so dar. Jede Meinung ist die Meinung eines Subjektes und insofern subjektiv. Jede Meinung enthält aber allein dadurch, dass sie vom Betreffenden für richtig gehalten wird, den Anspruch auf allgemeine Geltung. Das entscheidende Problem ist festzustellen, welche der verschiedenen Meinungen diesen Anspruch zu recht enthält, welche Ansicht „allgemeingültig“ ist.

Die soziale Institution, auf der allgemeine Geltungsansprüche in Bezug auf bestimmte Behauptungen geprüft werden, ist die Diskussion (Diskurs, Streitgespräch, Disput, Erörterung etc.).

In einer Diskussion werden die verfügbaren Argumente für und wider eine strittige Behauptung zusammengetragen und auf ihre eigene Richtigkeit geprüft. Außerdem wird geprüft, inwiefern diese Argumente den Anspruch auf allgemeine Geltung der strittigen Behauptung stützen oder untergraben.

Zu den Grundregeln der Diskussion gehört, dass nur solche Diskussionsbeiträge Argumente sein können, die auch für die andern Diskussionsteilnehmer nachvollziehbar (teilbar, übernehmbar) sind.

Diese Regeln der Argumentation, die man nicht bestreiten kann, ohne dass man sie dabei bereits selber in Anspruch nimmt, stellen meiner Meinung nach einen allgemein tragfähigen Ausgangspunkt unseres Denkens dar.

Aber ich schließe nicht aus, dass man auf dem von Dir skizzierten Weg ebenfalls zu brauchbaren Ergebnissen kommt.

Noch ein Letztes. Wenn Herr Fromm die Ebene der Diskussion völlig verlässt und sich auf etwas beruft, das „höher ist denn alle Vernunft“, dann argumentiert er nicht mehr, dann geht es ihm nicht mehr um “allgemeingültig oder nicht“, sondern dann geht es nur noch um wirkungsvolle „Menschenfischerei“. (In den Philtalk-Foren bewegen sich ja immer etliche dieser Spezies, die etwas Höheres als Vernunft anzubieten haben und deren „Argumente“ dann auch entsprechend kläglich ausfallen.) Wenn diese Gurus und Apostel nach ihrer Absage an die Vernunft dann noch von Wahrheit, Erkenntnis oder Wissen reden, dann fällt das unter die Rubrik „Etikettenschwindel“.

Mit diesen unchristlichen Gedanken verabschiedet sich Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 04. Dez. 2005, 12:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

"Es gibt ein rudimentäres gemeinsames Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein - und nur auf dieser Basis wird es möglich sein, Scheinargumente auch als Scheinargumente einleuchtend nachzuweisen." Abrazo

Alle Menschen werden aufbegehren, wenn sie zu einem Verhalten gezwungen werden, dass mit dem Streben der Selbsterhaltung unverträglich ist. Selbsterhaltung ist ein Prinzip, dass jedem Individuum seine Verhaltensweise vorgibt. Da jedes Individuum in seinem Zustand strebt zu verharren, da sich die Macht dieser Selbsterhaltung vollzieht BEVOR bestimmte individuelle Handlungen, BEVOR bestimmte politische Maßnahmen gerechtfertigt werden, stellt dieses Streben nur den "prinzipiellen Ansatz" dar - der jedoch missachtet wird, wenn die im juridisch-politischen Zusammenhang praktizierte Vernunft sich zur Unvernunft verkehrend vollzieht.

Was kann von einem Individuum verlangt werden, ohne dass dieses Prinzip verletzt wird? Bezüglich jenen Vielen, denen die konsequente Rationalisierung der Interessen hinsichtlich des Gemeinwohls nicht gegeben ist, deren Strebenszustand nicht von der Vernunft, vielmehr von ihrer Motivation, etwa Religion über den Staat zu stellen, geleitet ist. Diese Vielen verharren ebenso im Strebenszustand wie die Wenigen, die absolutgesetzte, etwa religiöse Ansprüche hinsichtlich des Staates, im Rahmen einer staatlichen Rechtsordnung abweisen (lassen).

Heute wenig Zeit, bis später.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 04. Dez. 2005, 14:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 12/03/05 um 23:37:03, Abrazo wrote:...
Es gibt ein rudimentäres gemeinsames Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein ...



:-) Hallo allseits,

Das ist noch nicht die ganze Aufgabenstelleung. (Wie bei Differentialgleichungssystemen braucht es noch Randbedingungen, sonst gibt es unendlich viele Lösungen). Welche Randbedingungen muss die Lösung/Antwort erfüllen?

Danke & Gruss --- Euer sphärischer Alltag


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 04. Dez. 2005, 22:48 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

klar haben die Lebkuchen geschmeckt. Aber auch nur, weil ich aufgrund zunehmener räuberischer Überfälle inzwischen ein Blech pro Woche kalkuliere - damit ich auch was abkriege [indifferent]

Zu den Grundregeln der Diskussion gehört, dass nur solche Diskussionsbeiträge Argumente sein können, die auch für die andern Diskussionsteilnehmer nachvollziehbar (teilbar, übernehmbar) sind.

Frage: wann sind sie das?
Hier kommt das rudimentäre gemeinsame Weltbild ins Spiel. Was aufgrund gleicher Konstitution gleich erkennbar ist, ist auch gleich nachvollziehbar.

Gleich ist bei uns allen die Fähigkeit der Wahrnehmung. Egal, was wir wie und mit welchem Sinn wahrnehmen, wir nehmen nur das wahr, was sich von seinem Hintergrund unterscheidet. Das wahrgenommene Objekt ist also ungleich seinem Hintergrund. Ergebnis dieser Überlegung: die Logik.

Wer ihr widerspricht, spielt wie mit Murmeln mit bedeutungslosen Sätzen herum, die deswegen eben nicht mehr nachvollziehbar sind, steigt aus dem Dialog aus und monologisiert. Typisch übrigens für unsere Esoteriker. Weswegen sie sich auch so relativ ungerne in Esoterikforen aufhalten: wird auf Dauer irgendwie langweilig, wenn jeder für sich so vor sich hin monologisiert; geht man lieber Philosophen nerven.

Das ist die Ebene der Verknüpfungen; gleich ist aber ebenfalls die Ebene der Wahrnehmungsdaten.

Wenn ich sage, guck mal da, ein Baum, und du sagst, ja, dann sind wir uns darüber einig, dass da ein Baum ist.

Wenn ich frage: hast du den Baum vor dem Rathaus gesehen? Und du sagst: ja, dann sind wir uns darüber einig, dass vor dem Rathaus ein Baum zumindest stand.

Wenn ich aber sage, guck mal den Keim, da wächst ne Eiche und du sagst, ne, das wird ein Walnussbaum, dann sind wir uns darüber nicht einig. Und wenn wir nicht in der Lage sind, anhand wahrnehmbarer Tatsachen festzustellen, ob das nun ne Eiche oder ein Walnussbaum wird, dann werden wir uns darüber auch nicht einigen.

So, wie wir uns nicht über Wiedergeburt und Jenseitsglaube einigen können. Daten, über die wir uns einigen können, sind immer nur gegenwärtige oder - mit Einschränkungen - vergangene, niemals aber zukünftige. Ereignisse in der Zukunft können wir kalkulieren, anhand gegenwärtiger oder vergangener Daten und ihrer logischen Verknüpfungen. Aber es bleiben immer erdachte und damit möglicherweise irrige Prognosen, es sind keine Daten. Sie mit Daten gleich zu setzen, ist unredlich. Hier ist ein Konsens im Zweifelsfalle nicht möglich.

Philoschall sagt:

Alle Menschen werden aufbegehren, wenn sie zu einem Verhalten gezwungen werden, dass mit dem Streben der Selbsterhaltung unverträglich ist. Selbsterhaltung ist ein Prinzip, dass jedem Individuum seine Verhaltensweise vorgibt.

'werden aufbegehren' ist eine Prognose. Er begründet sie mit dem Prinzip der Selbsterhaltung. Nun bin ich bereit, von Sokrates über Pater Maximilian Kolbe über Selbstmordattentäter bis hin zum ganz normalen Selbstmörder jede Menge Beispiele anzuführen, die nicht diesem Prinzip folgen. Damit ist imho die Prognose nicht konsensfähig (nebenbei bemerkt: den Ausdruck 'strebt zu verharren' verstehe ich als logischen Widerspruch).

Daraus folgt: wer den Konsens will, muss willens und bereit sein, seine Kalkulation auf Wahrnehmbares logisch zurückzuführen. Klingt harmloser als es ist - wenn wir an den Konstruktivismus denken.

Wenn wir Vernunft als logische Folge und logisches Folgen dem biologisch programmierten Ziel Überleben verstehen, dann gibt es etwas, was höher ist als die Vernunft: nämlich die humane Ethik. Denn der ethische Wille bietet eine alternative Enscheidungsmöglichkeit zur biologisch programmierten Entscheidung, und die ist vernünftig. Allerdings ist der ethische Wille subjektiv wahrnehmbar. Und da es im Laufe der Geschichte sehr viele Menschen gab, die diesen Willen offenbarten, ist er intersubjektiv wahrnehmbar; nicht für alle, doch für mehr als einen. Da er wahrnehmbar ist, ist er ein Datum, mit dem man wiederum logisch kalkulieren kann. So stellt sich mir die Frage, was ist mit dem 'höher als jede Vernunft' gemeint, wenn das von mir eben gesagte nicht gemeint ist, wie es ja offenbar der Fall ist, wenn gesagt wird, der Mensch könne nichts Wahres erkennen. Denn Wahrnehmungen sind immer wahr. Selbst der Schizophrene kann sich nicht darin irren, dass er die Stimmen, die er hört, hört; irrig ist nur die von ihm erdachte Zuordnung.

Damit erst mal Schluss.
Das imho nun folgende Problem bezüglich der Normendiskussion wäre die Frage, inwieweit wir auf dieser Basis zu einem Willenskonsens kommen könnten.

Gruß

P.S. @ Alltag: was sind die Randbedingungen von Peanos Axiomen?

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 05. Dez. 2005, 13:06 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

Abrazo schreibt: "Nun bin ich bereit, von Sokrates über Pater Maximilian Kolbe über Selbstmordattentäter bis hin zum ganz normalen Selbstmörder jede Menge Beispiele anzuführen, die nicht diesem Prinzip folgen. Damit ist imho die Prognose nicht konsensfähig."

Ein Beispiel steht hier bereits für Viele. Die individuelle Handlung, etwa des Sokrates den Schierlingsbecher zu trinken, verletzt dieses "Prinzip" nicht. Sokrates, seine individuelle Handlung der Selbsttötung ist lediglich (ohnmächtiger) Teil-Ausdruck des individuellen sowie gemeinsamen Selbsterhaltungsstrebens der menschlichen Gattung. Die individuelle Handlung der Selbsttötung ist im Zusammenhang der Biographie, des Umfeldes der Selbsttötung zu betrachten. Sokrates beispielsweise besuchte Mitbürger unter freien Himmel, um mit ihnen auf seine Art über die Dinge zu diskutieren, die ihm wichtig waren. Auch wenn ihm zur Last gelegt wurde, dass er, da er seine Mitbürger verunsichere, dass er mit öffentlichen Diskussionen gegen bestehende Staatsgesetze handelt, wird er davon ausgegangen sein, im Sinne des griechischen Allgemeinwohls zu handeln. Wird das eigene, als gerecht beurteilte Handeln von anderen vergesellschaften Individuuen jedoch derart bestimmt, dass dieses in Selbsttötung umschlägt, bewirkt diese individuelle Handlung nicht die Beendigung des Naturrechts: dass "Prinzip" des menschlichen Selbsterhaltungsstreben bleibt unangetastet. Zugestanden, mehrere Individuuen beschliessen ihre kollektive Selbsttötung, wie etwa von Sekten vollzogen, deren Mitglieder in ihrer Handlung von inadäquaten Ideen bewegt, beispielsweise den Zeitpunkt des Weltunterganges zu kennen - auch mit dieser vergesellschafteten Handlung der Selbsttötung bleibt das Naturrecht der menschlichen Gattung bestehen. Verhielte sich dieses anders, dass mit der individuellen oder fanatisch-gemeinsamen Handlung der Selbsttötung dass menschliches Selbsterhaltungsstreben ausser Kraft gesetzt wird, könnten wir beispielsweise hier nicht schreiben.

Wie abwegig und absurd dein Hinweis ist, zeigt sich schlagend, wenn er im juridisch-politischen Kontext, bei der Behandlung der Frage nach Allgemeinwohl, betrachtet wird. Bei der (Be) Gründung von Gemeinwohl vom Interesse der Selbsttötung ausgehen, steht derart der Vernunft entgegen, dass die öffentliche Favorisierung dieses individuellen und dieses fanatisch-gemeinsamen Handelns das Aufbegehren der nicht-fanatisierten Menschen, d.h. denen die nicht völlig der Logik ledig, folgen wird. Wer diese Logik nicht teilt, erweisst sich bei der (Be) Gründung der Frage nach Gemeinwohl als nicht konsesfähig, da von ihm der Lebenspraxis Verkehrendes favorisiert wird. Keine Regel ohne Ausnahme. Mit diesen ohnmächtig-individuellen und ohnmächtig-fanatischen Gruppenverhalten zeigt sich lediglich die vergesellschaftete Verkehrung des Selbsterhaltungstrebens der menschlichen Gattung, deren Individualisierung, als vernünftige und/oder unvernünftige sich vollziehend, vom empirischen Ausnahmefall der Selbsttötung nicht angetastet.


"Was aufgrund gleicher Konstitution gleich erkennbar ist, ist auch gleich nachvollziehbar. Gleich ist bei uns allen die Fähigkeit der Wahrnehmung." Abrazo

Zustimmung. Die Fähigkeit der Wahrnehmung ist Kennzeichen (nicht nur) des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens. Dass Denken des V o r g e s t e l l t e n der Dinge, z.B. die Aussage, dass Haus A von Haus B 500 Meter entfernt ist, entspricht nicht notwendigerweise dem Wissen von dieser Entfernung das mit mathematischen Ordnungssystem gegeben ist, sondern (zunächst) der körperlichen, d.h. des Menschen sinnlicher Auffassung der Objekte A und B und der damit gegebenen sinnlichen Auffassung der Entfernung. Mit der in der Sinnenerfahrung verbleibenden Urteilskraft ist jedoch nicht grundsätzlich das Urteil der Falschheit gegeben. Irrtümer der Sinnenerfahrung beruhen beispielsweise darauf, dass die Entfernung zwischen A und B nicht in ihrer, von den mannigfaltigen Vorstellungen sich distanzierenden, etwa mathematischen Ordnungsgesetzlichkeit erfasst werden. Irrtum ist der Mangel des adäquaten Denken wahrgenommener Ausdehnung, d.h. Dinge. Die in der Sinnenwahrnehmung verbleibende Urteilskraft kann von der Entfernung zwischen Objekt A und Objekt B, da Wahrgenommenes nicht in das adäquat Gesetzliche Denken gekommen, keine vom inadäquaten Wissen völlig bereinigte Aussage leisten.

Entscheidend ist jedoch nicht die von dir angeführte Gleichheit. Entscheidend ist hier das Ordnungssystem, mit dem die mit dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben gefundenen und ins Denken erhobenen Sinnesdaten zwecks Lebenspraxis geordnet wurden und werden. Und hier gibt es gravierende (graduelle!) Unterschiede des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens, mit dem das innerhalb der westlichen Kultur zur Entfaltung gekommene mathematisch-technische Ordnungssystem lediglich als eines von unterschiedlichen sowie entgegengesetzten Ordnungssystemen aufgetreten. Bevor das mit dem Globalanspruch aufgetretende us-amerikanische und westeuropäische Denken und Handeln tiefgreifend Kulturen vermochte zu beeinflussen, leisteten bereits Bezugssysteme Ordnung der mit dem menschlichen Körper gegebenen Sinnenerfahrung zwecks Lebenspraxis, die mit, etwa theoretischer Auseinandersetzung von Erkenntnistheorie gewonnenen Resultaten oder den industriell-vergesellschafteten Resultaten von Naturwissenschaft nicht vergleichbar sind. Wird hier nicht Bescheidenheit, die Verrelativierung des Verabsolutierten us-amerikanischer sowie westeuropäischer Selbstverständlichkeiten geübt (was mit den Begriffen Humane Ethik bezeichnet werden könnte), verkommt dann nicht die Rede, beziehungsweise die Auseinandersetzung mit der mit dem menschlichen Körper gegebenen Gleichheit als Voraussetzung der Behandlung von Gemeinwohl zum Gerede?

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 05. Dez. 2005, 21:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 12/04/05 um 22:48:44, Abrazo wrote:....was sind die Randbedingungen von Peanos Axiomen?



:-) Hi Abrazo,

Zählen lernt man seit eh und jeh und wo auch immer durch die widerholte und regelmässige Bewegung der Finger. Diese Lebenspraxis ist die Randbedingung der Peanos Axiome, die in der Sprache der Logik nichts anderes beschreiben als "zählen". Beim Lesen der Peanos Axiome - ich habe sie im Duden Lexikon gefunden - lernt man nicht "zählen" sondern die Sprache der Logik.

Die Logik fusst auf ein derartig rudimentäre gemeinsame Lebenspraxis (Weltbild) und erfreut sich grosser beliebtheit, weil wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben.

Führt uns die Logik deshalb zum Gemeinwohl und Individualwohl? Ich denke, nein, denn es fehlt noch etwas: Die Vorstellung, dass es eine Lösung geben muss, die transparent, nachvollziehbar, konsistent, komplet und daher korrekt ist.

Du sagst "Dahin müssen wir zurück." Ja! Zurück zu der Quelle aus der diese Vorstellung sprudelt. Wenn wir diesen Quellort kennen, können wir vermutlich auch verstehen, dass die Bedingung der Möglichkeit von Gemeinwohl (trotz Individualwohl) gegeben ist. Alsdann können wir vermutlich die eigene Ideologie loslassen und uns auf die Basis des Grundkonsens einlassen.

Können wir uns vorstellen, dass dieser Quellort phänomenologischer Natur ist und beispielsweise durch (logisches) denken ortbar ist? Und zwar für Jederman, in jedem Alter, allerorts und seit eh und jeh, /1/! --- Danke & Gruss --- Euer randbedingte Alltag

/1/ Dieser Satzinhalt ist die Randbedingung!

Post script: Die Wellengleichung ist unter den komplizierten Differentialgleichung eine der bekannten und anschaulichen. Ihre Lösungen sind Wellen. Ob Pfeiffton oder Geigenklang, Wasserwellen oder Tsunami, Paukenschlag oder Erdbeben, wird einzig und allein durch die mathematisch zu formulierenden Randbedingungen (inklusive Materialeigenschaften) bestimmt. --- Übertragen auf die Philosophie (nicht die Esotherik) entsprechen die Randbedingungen der Lebenspraxis (ohne sie ist Alpraum, Wahn usw. statt Philosophie)



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 05. Dez. 2005, 23:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Philoschall, du sollst Abrazo nicht interpretieren.

1.
Unbestritten ist Selbsterhalt eines der zentralen Prinzipien biologischer Programmierung. Mensch hat aber die Möglichkeit, selbst dazu alternativ zu entscheiden. Damit verbinde ich keine Bewertung, ich stelle nur fest, dass es so ist.

Wer nun Selbsterhaltung als oberstes Prinzip für den Menschen zementieren will, zementiert damit kein humanes, sondern ein biologisches Prinzip. Das halte ich grundsätzlich für gefährlich.

2.
Wahrnehmen ist nicht denken. Zwischen Wahrnehmen und Entfernungen feststellen liegen etliche Schritte, angefangen damit, dass man erst einmal darüber nachdenken muss, was eine Entfernung eigentlich ist und dass man sie mit anderen Entfernungen vergleichen kann.

3.
'Ordnungssystem' ist mir ein zu schwammiger Begriff. Wer ordnet was wonach?
Was die Kulturen betrifft, so mache ich darauf aufmerksam, dass ihre Bedeutung verschieden ist.
Nach dem Niedergang des Römischen Reiches kam in der alten Welt ne Zeit lang gar nichts, denn Europa versank in mittelalterlicher christlicher wissensfeindlicher Dogmatik. Ab dem 7. Jahrhundert kamen die Araber und die von ihnen eroberten und geprägten Regionen zur Blüte und pflegten und entwickelten die Wissenschaften. Europa begann erst im 13. und 14. Jahrhundert wieder zu erwachen, entscheidend dazu beigetragen hat der Einfluss islamischer Kultur und Wissenschaft. Während die islamische Welt langsam wieder einschlief, nicht zuletzt unter der religiösen Orthodoxie, die sich verbreitete, begann Europa eben diese religiöse Orthodoxie abzuwerfen und neu zu denken. Wie's weiter geht, weiß ich nicht - auf jeden Fall sind Momente der Dekadenz wie weiland zu römischen Zeiten in der westlichen Welt (in diesem Sinne ist Nordamerika ein Ableger Europas) schon lange zu beobachten. Auch aus historischen Gründen halte ich den Eurozentrismus für fehlerhaft.

Und der Begriff Gemeinwohl ist in anderen Kulturen noch sehr lebendig.

@ Alltag:
Zählen lernt man seit eh und jeh und wo auch immer durch die widerholte und regelmässige Bewegung der Finger. Diese Lebenspraxis ist die Randbedingung der Peanos Axiome, die in der Sprache der Logik nichts anderes beschreiben als "zählen".
Ich fürchte, da wirst du eine Menge Mathematiker und Logiker gegen dich haben. So einfach ist das nicht.

Die Logik fusst auf ein derartig rudimentäre gemeinsame Lebenspraxis (Weltbild)
Umgekehrt wird ein Schuh draus: unsere Weltbilder fußen auf der Logik. Denn die Logik ist keine Erfindung, sondern eine Entdeckung.

Ohnehin bin ich der Ansicht, dass wir nicht das, was entwickelt wurde (Differentialgleichung z.B.) auf das anwenden können, woraus es sich entwickelt hat. Das Vorher-Nachher sollte man imho schon unterscheiden.

Gruß


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 06. Dez. 2005, 13:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

"1.
Unbestritten ist Selbsterhalt eines der zentralen Prinzipien biologischer Programmierung. Mensch hat aber die Möglichkeit, selbst dazu alternativ zu entscheiden. Damit verbinde ich keine Bewertung, ich stelle nur fest, dass es so ist.

Wer nun Selbsterhaltung als oberstes Prinzip für den Menschen zementieren will, zementiert damit kein humanes, sondern ein biologisches Prinzip. Das halte ich grundsätzlich für gefährlich." Abrazo

Eberhard begrüsst hier öfters alle an Politischer Theorie Interessierten. Ich grüsse heute mit folgenden Ausführungen zurück. Hume gelingt mit seiner Kritik an historisch begründeter Vertragstheorie -es gibt keinen und wird keinen Staat geben, der durch einen sogenannten ursprünglichen Vertrag des Volkes entstanden und entstehen wird- den empirisch begründeten Nachweis, dass Staat als Ausdruck physischer Gewalt vom Volk bereits vorgefunden wird, dass es darum geht, dass Bürger, soll Staat nicht als pure Gewaltherrschaft auftreten, Staat nachträglich, mit stillschweigender Zustimmung, anerkennen. Nicht die bereits vorgefundene physische Gewalt, nicht bereits vorgefundener Staat soll legitimiert werden, nicht diese mit physischer Gewalt gegebene Einrichtung soll aufgrund von Moral, mit einem "neuen", gewaltfrei abzuschließenden Gesellschaftsvertrag, aufgelöst werden. Die allgemeinen Interessen und Bedürfnisse des Volkes sollen ausreichend berücksichtigt werden; dass Recht ist weder auf die absolute Legitimierung des bestehenden Staates und seiner Verfassung noch auf Revolution angewiesen. Hume favorisiert die ausreichende Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse des Volkes hinsichtlich R e f o r m e n d e r V e r f a s s u n g. Auch Kant setzt auf d i e s e Berücksichtigung: er favorisiert den Vertrag als normative I d e e. Die jeweilige juridisch-politische Verfassung soll vermittels dieser I d e e ständig zu Gunsten der Bürger verpflichtet werden; soziale Dynamik zur ständigen Verbesserung des politischen Systems ohne Anspruch auf Revolutionen wird favorisiert. Dass jeder Vertragsteilnehmer auf sein eigenes Naturrecht völlig bezw. teilweise verzichtet, ist universale Vorraussetzung auch deutscher ideeller Vertragstheorie. Hinsichtlich angelsächsischer Philosophie, beispielsweise Hobbes: Im Naturzustand besitzt jeder Mensch Naturrecht, welches bei ihm eine vorstaatlich-provisorische Rechtfertigung der Freiheit des Menschen ist, zu seiner Selbsterhaltung alles zu tun, was dazu tauglich zu sein scheint. Im Naturzustand entstehen aus dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben nach Hobbes jene Konflikte, die gelöst werden müssen: Die Lösung erfolgt dadurch, dass die Menschen ihr Naturrecht suspendieren, dieses einer allen gemeinsamen Autorität übertragen, mit der die Verhältnisse der Individuen zueinander geregelt werden. Dass Ziel des menschlichen Selbsterhaltungsstreben ist nach Hobbes die normative Bindung des Menschen, die dann gelungen ist, wenn er konsequent Rational sich erhalten will. Dass Naturrecht des Menschen wird hier gewissermaßen aufgehoben, wenn menschlichen Selbsterhaltungsstreben gelungen Rational die Interessen zu verfolgen, wenn damit eine höherrangige Norm sich herausgebildet.

Wenn die Selbsttötung, beispielsweise des Sokrates ebensowenig Unrecht ist, wie die staatsrechtliche Auslegung seiner Ankläger Recht ist - wenn also sowohl die individuelle Handlung, etwa die des Sokrates wie auch das im Namen des Staatsrechtes begründete Urteil der Ankläger als Ausdruck des Naturrechtes genommen werden - : wie kann dann, wenn also jeder vergesellschaftete Mensch wie im Naturzustand soviel Recht besitzt wie er Macht bezw. Ohnmacht besitzt, jene mit der ideellen Vertragstheorie favorisierte wie auch mit der Hobbeschen Aufhebung favorisierte Vertragsgesetzlichkeit überhaupt wird auftreten können, deren Rechtsbegriffe für sich beanspruchen im Gegensatz zu dem Machtbegriff zu stehen? Doch wohl unter der Voraussetzung, dass Bürger, bezüglich Hobbes, die konsequente Verfolgung der Rationalisierung der Interessen praktizieren, dass Bürger, bezüglich Kant, die Interessen geleitet von normativer Idee (Moral) praktizieren.

Und die alltägliche Lebenspraxis? Was lehrt diese, berücksichtigend ideelle Vertragstheorie sowie Hobbescher Aufhebung und Rationalität? Verfolgen die Bürger die Interessen denn wenigstens Rational, d.h. plangemäß und konsequent oder, hinsichtlich ideeller Vertragstheorie sogar mit normative Idee (Moral), mit der Höherrangige (!), die, vom angenommenen Naturrecht des Menschen sich im Diesseits (er!)lösende (Welt!)Gesellschaft sich manifestieren soll? Muss der Politischen Theorie Westeuropas -hier Frankreich ausser Acht lassend- angesichts des alltäglichen Strebenszustandes des sogenannten Volkes (in demokratisierten Gesellschaften immerhin Souverän) ihre Unternehmung nicht selber als Seifenblase, als Luftnummer, erscheinen? Wem nützen gebetsmühlenartig vorgetragene gut gemeinte Appelle an jene die schlagend beweisen, dass Interessen nicht konsequent Rational verfolgt werden. Diese Litanei wird sich auch nicht ändern, bevor die alltägliche Praxis des Selbsterhaltungsstreben der politischen Theorie nicht als jenes Streben begrifflich aufgegangen, dass vorallem anderen dem verhaftet bleibt, dass von angeführter Politischer Theorie v ö l l i g unzureichend berücksichtigt wurde und wird: dass mit dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben stets gegebene (Spannungs)Verhältnis Vernunft und Affektivität. Politische Theorie, die s o z i a l e Dynamik der Affekte des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens im juridisch-politischen Zusammenhang hervorhebend, vermag einen anderen Zugang zum Verständnis des vergesellschafteten Menschen leisten. Dazu gehört jedoch (abermals) nicht nur theoretisch Selbstverständlichstes, d.h. politischer Theorie wie auch Philosophie betreffend, als nicht nur Unzureichendes, sondern als die Lebenspraxis Verkehrendes zu begreifen.

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 06. Dez. 2005, 18:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

wann sind Argumente für andere (also intersubjektiv) nachvollziehbar?

Behauptungen darüber, wie die Welt beschaffen ist, können durch intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmungen der Individuen – in Verbindung mit logischen Schlussfolgerungen - bestätigt werden. Deshalb sind Sätze wie; „Ich sehe das Leuchten des Stoffes nicht nicht, das die Theorie T voraussagt“ geeignete Argumente. Hier gilt Deine Feststellung: Wer den Konsens will, muss willens und bereit sein, seine Kalkulation auf Wahrnehmbares logisch zurückzuführen.

Für normative Behauptungen darüber, wie Amtsinhaber handeln sollten, wenn sie dem Gemeinwohl verpflichtet sind, reicht jedoch das Kriterium der logischen Widerspruchsfreiheit und der übereinstimmenden Wahrnehmungen nicht aus.

Dazu müssen Willensinhalte bzw. Interessen der Beteiligten, Urteile über die relative Größe der Vor- und Nachteile für die verschiedenen Interessengruppen herangezogen werden, und die sind nicht direkt beobachtbar oder empirisch messbar.

Hinzu kommt das Prinzip der unparteiischen Berücksichtigung aller Betroffenen, ohne das kein Konsens erreichbar ist.

Ich sehe eine Möglichkeit zur Einschätzung der Interessenlage eines andern grundsätzlich dadurch gegeben, dass ich mich – wenn es geht real, und wenn das nicht geht, zumindest vorstellungsmäßig - in die Lage des andern hineinversetze und versuche, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu beurteilen.

Menschen haben diese Fähigkeit zum Nachempfinden, zur Empathie, zur Identifkation mit anderen. Wäre dem nicht so, dann gäbe es keine Belletristik und keine Schauspielkunst. Und die meistgestellte Frage in unserer Gesellschaft (Wie geht es Dir?) wäre sinnlos.

Es grüßt Dich und alle Interessierte Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 06. Dez. 2005, 23:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,


on 12/06/05 um 18:50:17, Eberhard wrote:Ich sehe eine Möglichkeit zur Einschätzung der Interessenlage eines andern grundsätzlich dadurch gegeben, dass ich mich – wenn es geht real, und wenn das nicht geht, zumindest vorstellungsmäßig - in die Lage des andern hineinversetze und versuche, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu beurteilen.

Menschen haben diese Fähigkeit zum Nachempfinden, zur Empathie, zur Identifkation mit anderen. Wäre dem nicht so, dann gäbe es keine Belletristik und keine Schauspielkunst. Und die meistgestellte Frage in unserer Gesellschaft (Wie geht es Dir?) wäre sinnlos.



Das funktioniert nicht. Vergiss es.

Um dir etwas vorstellen zu können, musst du es erlebt haben. Was du nie erlebt hast, kannst du dir auch nicht vorstellen. So wie ein Blinder sich nicht die Farbe vorstellen kann.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich ein Junkie ohne Stoff fühlt, nicht, wie sich einer fühlt, der gerade verhaftet wird, nicht, wie eine Prostituierte sich bei der Arbeit fühlt. Und da dieses für ihr Leben wesentlich ist, kann ich mir nicht vorstellen, wie ihr Leben ist.

Ich kann mich auch nicht in körperlich und geistig Behinderte hinein fühlen, nicht in Hungernde, nicht in Erdbeben- und Tsunami-Opfer, nicht in Iraker und Palästinenser, die mit Krieg leben müssen.

Ich denke es ist wichtiger zu wissen, dass man genau das nicht kann: sich ein Leben vorstellen, von dem man nichts kennt. Dann versucht man es nämlich gar nicht erst - und trifft dann auch keine falschen Entscheidungen.

Auch viele Amerikaner haben sich vorgestellt, wie sich die Iraker über ihren siegreichen Einmarsch freuen.

Wenn wir wissen wollen, wie andere Leute leben und was sie am dringendsten brauchen, müssen wir sie fragen.

Und ansonsten bleibt das Übliche: wahrnehmbare Tatsachen feststellen und logisch kombinieren.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Familie im pakistanischen Erdbebengebiet lebt. Ich weiß aber anhand der Tatsachen, dass sie schneegeschützte Unterkünfte brauchen. Und wenn sie nicht in die Täler hinab, sondern in ihren Bergen bleiben wollen, dann weiß ich, dass es sich als Menschen um vernunftbegabte Wesen handelt und dass sie dafür möglicherweise vernünftige Gründe haben; welche, das muss ich erfragen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 07. Dez. 2005, 17:13 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Deine rigorose Verneinung der Möglichkeit, sich in einen andern Menschen vorstellungsmäßig hineinzuversetzen und so seine Interessenlage nachzuvollziehen, erscheint mir etwas überzogen.

Wenn ich nicht nur auf mein individuelles Wohl bedacht bin, sondern auch das Wohl der anderen mit berücksichtigen will, so muss ich wissen, was dem andern wohl- oder wehtut, was ihm größere Freude und was ihm geringere Freude macht, was ihm größere Schmerzen und was ihm geringere Schmerzen bereitet.

Zum einen kann ich an seinen Wahlhandlungen, seinen Präferenzen, ablesen, was ihm lieber ist: Ich sehe z. B., dass er sich lieber dort aufhält, wo es warm und trocken ist, als dort, wo es kalt und nass ist. Natürlich kann ich ihn auch fragen, was ihm lieber ist, welche Probleme ihn am meisten belasten oder die Erfüllung welcher Wünsche ihm am wichtigsten ist.

Ich denke, dass keine unüberwindlichen Hindernisse bestehen, über solche Feststellungen zum Wohlergehen eines Menschen zu einem Konsens zu kommen.

Man kann auch Vergleichen zwischen dem Wohlergehen eines Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten anstellen indem man fragt: Wird Person A durch eine bestimmte Veränderungen besser oder schlechter gestellt? Durch die Beschreibung der jeweiligen Lebensbedingungen und anhand von Äußerungen des Betreffenden über seine Lage gelangt man so zu intertemporalen Vergleichen des Wohlergehens und Urteilen wie: Früher ist es mir einmal besser ergangen als heute.

Schwieriger ist es schon, das Niveau des Wohlergehens verschiedener Menschen oder Gruppen miteinander zu vergleichen, etwa wenn man sagt: So gut wie du möchte ich es auch einmal haben! Oder: Den Beamten des Öffentlichen Dienstes geht es wesentlich besser als den Beschäftigten in der Privatwirtschaft.

Bei solchen interpersonalen Vergleichen zwischen dem Wohlergehen verschiedener Individuen und Gruppen muss man abwägen zwischen verschiedenen Gütern und deren Bedeutung für die betreffenden Menschen, wie etwa Sicherheit des Arbeitsplatzes und Höhe des Arbeitseinkommens.

Aber muss man selber schon einmal arbeitslos geworden sein, um einschätzen zu können, was die Sicherheit des Arbeitsplatzes für einen Menschen bedeutet? Haben wir nur für etwas Verständnis, wenn wir es selber einmal erlebt haben? Kann uns der Andere nicht auch durch seine Schilderungen eine Vorstellung vermitteln von seiner Lage und den daraus resultierenden Interessen (Zielen, Wünschen, Nöten, Problemen)? Sehen wir es einem Menschen nicht an, ob er sich glücklich oder hundeelend fühlt?

Gehört es nicht zu den wesentlichen Elementen der sozialen Intelligenz, dass man abschätzen kann, wie einem andern zu Mute ist, wenn diesem bestimmte Dinge widerfahren oder wenn man ihm bestimmte Dinge zumutet? Kann ich Mitleid nur mit demjenigen haben, in dessen Lage ich mich selber schon einmal befunden habe?

Dass man sich vor voreiligen Schlüssen von sich auf andere hüten muss – insbesondere wenn es sich bei den andern um Angehörige eines andern Kulturkreises handelt – ist davon unbenommen.

Es grüßt Dich und alle Zaungäste dieser Runde Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am Vorgestern, 21:55 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen allgemeinem Wohl und individuellem Wohl ist es wohl sinnvoll, zwischen zwei Arten von Problemen zu unterscheiden:

Zum einen gibt es den Fall, dass sich Individuen oder Gruppen in der Verfolgung ihrer Ziele behindern: die einen wollen schlafen und die andern wollen feiern. Hier bedarf es m.E. einer Abwägung zwischen den Interessen, die betroffen sind, um ein zugleich verpflichtendes und akzeptables Gemeinwohl zu bestimmen.

Zum andern gibt es den Fall, dass durch gemeinsame Anstrengungen Verhältnisse geschaffen werden, die allen zugute kommen. Beispiele hierfür sind Deiche, die alle vor Sturmfluten schützen, Impfungen, die für alle das Ansteckungsrisiko verringern, Polizei, die für alle mehr Sicherheit vor Überfällen schafft, Erfindungen, die neue Arbeitsplätze für alle bieten, eine Währung, deren stabile Kaufkraft allen zugute kommt usw. usf.

in der Ökonomie spricht man hier von „öffentlichen Gütern“, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann: wenn es einen Deich gibt, dann schützt er alle, und nicht nur diejenigen, die ihn errichtet haben oder die dafür bezahlt haben.

Vom individuellen Standpunkt aus ist es natürlich am vorteilhaftesten, zwar den Schutz des Deiches in Anspruch zu nehmen, sich aber um die Beteiligung an den Kosten seiner Erstellung zu drücken. Ein solches Verhalten nennt man auch Trittbrett fahren oder härter Schmarotzen.

Hier liegt es im allgemeinen Interesse, dass sich alle, die von der Erstellung eines Gutes einen Vorteil haben, auch an den anfallenden Kosten beteiligen. Würde es diese Verpflichtung nicht geben, so würde dies sicherlich nicht akzeptabel für diejenigen sein, die sich für die andern mit abrackern.

Wenn man von „Gemeinsinn“ spricht, ist häufig der zweite Fall der Beteiligung an den Kosten öffentlicher Güter gemeint. Insofern hatte Urs Recht, wenn er betonte, dass nicht nur der Konflikt zwischen Individuen mit nicht zu vereinbarenden Zielen das Konzept eines Gemeinwohls erforderlich macht.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am Vorgestern, 23:19 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

lasst mich zuerst auf Beitrag #122 eingehen.
Empathie schreiben wir ja uns Menschen zu. Ich möchte das mal bisschen auseinander pflücken.

Klar ist, dass wir empirisch feststellen, also zählen, messen, wiegen können, wie die Bedürfnisse von Menschen befriedigt sind. Wenn Mensch soundsoviel Kalorien zum Leben braucht, aber einiges weniger bekommt, dann können wir feststellen, das ist zu wenig. So wird Mensch nicht auf Dauer funktionsfähig bleiben. Ist klar, können wir abhaken.

Dann gibt es die soziale Sorge. Ist nichts spezifisch menschliches, kennt das Viehzeug auch. Katzen verteidigen ihre Jungen, Elefanten warten bei ihren Toten, ob die nicht vielleicht doch wieder lebendig werden (vielleicht, bis sie anfangen zu stinken und damit nicht mehr wie Elefant sind), und Herr Hund reagiert auf das Quäken meines Handys nach Stromnachschub so aufgeregt sorgenvoll, dass er mich sogar nachts um drei aus dem Bett schmeißt, wenn ich vergessen habe, es an die Steckdose anzuschließen. Offenkundig betrachtet er das Quäken als Notruf eines Lebewesens. Desgleichen Mütter von Kleinkindern. Wenn das Kleine hinfällt und sich weh tut, wird nicht überlegt, da wird hoch gehoben und getröstet.
Allerdings betrifft diese soziale Sorge offenbar nur die eigenen Angehörigen (ob Familie, Clan oder Rudel), die anderen sind ausgeschlossen. Und es ist wohl auch nicht das, was wir mit Empathie meinen.

Ich denke, die spezifisch menschliche Empathie hat die gleiche Ursache wie andere spezifisch menschliche Phänomene: die Reflexion (ich komme immer wieder auf die Basisprinzipien zurück, aber ich schließe daraus, dass sie wohl tragfähig sind, da letztlich alles ineinander greift). Ich kann nicht nur reflektieren, was ich mache, sondern auch, was ich fühle. Ich kann nicht nur Schmerz empfinden, ich kann auch sagen "ich habe Schmerzen", das also reflektieren. Genau so kann ich reflektieren, dass ich mich wohl fühle. Und mir Ursachen dafür ausdenken.

Wenn ich ein Lachen höre, ist das ein Signal dafür, dass da etwas lustiges passiert. Geh'n wir hin. Ich weiß aber, wie ich mich fühle, wenn ich lache, und was mein Lachen auslöst, ein Witz, ein Scherz, eine lustige Situation. Mit diesem aus der Reflexion gewonnenen Wissen geht das Lachen anderer über die Signalwirkung hinaus: es hat für mich eine Bedeutung. Denn ich gehe davon aus, dass die sich genau so fühlen und in etwa aus den gleichen Gründen lachen wie ich. Und damit unterscheiden wir uns von den Tieren. Indem wir über unsere eigenen Gefühle wissen und um ihre Ursachen, bekommen die uns bekannten Signale anderer Menschen und Tiere eine Bedeutung. Wir können sie interpretieren. Damit können die von außen erkennbaren Gefühle anderer zu unseren eigenen werden.

Berichte über Hungerkatastrophen haben meist eher intellektuelle Bedeutung. Wir erkennen qua Vernunft, dass da Mangel ist, der behoben werden sollte. Filmberichte aber zeigen uns die von den betroffenen Menschen ausgehenden Signale, deren Bedeutung wir interpretieren. Wir können sie nicht richtig interpretieren, denn wir haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man verhungert. Also interpretieren wir das hinein, was wir kennen: Angst, Sorge, Not, Schmerzen, Hilflosigkeit usw. Das mag zwar so nicht ganz stimmen, geht aber in die richtige Richtung (und außerdem is dat ejal, ob die Leute wissen, wie Verhungernde sich fühlen, Hauptsache, sie spenden).

Daraus folgt aber, dass wir nur die Bedeutungen in Signale hinein interpretieren können, die wir von uns selber kennen. Oder: in ein fremdes Signal interpretieren wir uns Bekanntes hinein. Das kann schon mal zu fatalen Irrtümern führen. In der Regel aber sind die Signale von Leid und Wohlbefinden klar und eindeutig unterscheidbar.

Im Gegensatz zur sozialen Sorge ist dieses Erkennen der Bedeutung von Signalen nicht auf die eigene Gruppe beschränkt, sondern umfasst mindestens alles, was aussieht wie Mensch - wenn man Mensch sein will. Denn offenbar ist es genau so gut möglich, sich auf die soziale Sorge zu beschränken und sich alle Fremden gar nicht erst gründlich anzugucken. Das scheint es aber auch in anderen Bereichen zu geben, z.B. vernünftiges Denken gegen 'Bauchdenken'; ich vermute, zum Menschsein muss man sich entscheiden.

Wenn das so wäre, hätten wir allerdings mit dem Konsens ein Problem. Wenn ich im Winter nen vollgesoffenen Alki im Schnee liegen sehe, sehe ich natürlich zu, ihn da wegzuschaffen; er könnte ja leicht erfrieren. Zumindest muss er schwer auskühlen, auch wenn er das im Suff nicht merkt; ich weiß nämlich, wie Kälte sich anfühlt. Wer aber biologisch denkt, kann problemlos sagen: was geht mich der Kerl an? Hab ich nix mit zu tun und ihn liegen lassen. Wie soll da ein Konsens möglich werden? Gut, wir haben eine Norm, die unterlassene Hilfeleistung unter Strafe stellt. Aber die ist nicht im Konsens entstanden.

Damit Schluss, damit ich die Argumentationen nicht zu stark vermische.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am Gestern, 23:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Du schreibst, dass man spezifisch menschlich reagieren kann (wozu es eines Entschlusses bedarf) und sich um den Hilflosen im Schnee kümmert, oder dass man biologisch reagiert und sich nicht um den Hilflosen kümmert. Du fragst, wie da ein Konsens möglich sein soll.

Ich denke, dass eine moralische und sogar eine rechtliche Norm, die jeden angesichts einer schweren akuten Notlage eines andern Mitglieds der Gesellschaft zur Hilfeleistung verpflichtet, konsensfähig ist.

Eine solche Regel kostet den Einzelnen gelegentlich vielleicht eine Stunde Zeit (Benachrichtigung des Rettungswagens etc.) aber sie gibt ihm zugleich eine große Sicherheit, dass ihm selber ebenfalls das Leben gerettet wird, wenn er einmal verunglückt – was ja nicht auszuschließen ist.

Es grüßt Dich und alle an Problemen der einsichtigen Begründung moralischer und rechtlicher Normen Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am Heute, 00:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

nur scheinbar eine ganz einfache Sache.

Die Möglichkeit eines freiwilligen umfassenden Konsenses in dieser Sache bestreite ich. Es wird genügend Menschen geben, die der Auffassung sind, der hat sich selber mutwillig in diese Notlage gebracht, der ist keiner Hilfe wert.

Was du dagegen anführst, sind Vernunftsgründe nach dem Prinzip do ut des. Was ich mich nun frage ist, inwiefern die Vernunft so einen Konsens faktisch erzwingen kann? Und inwieweit nicht vernünftige Menschen eben mit Hilfe der Vernunft einen Konsens erzwingen, der frei nie zustande kommen würde? Und - inwieweit dieser Zwang unverzichtbar ist?

Unangenehme Fragen, finde ich.

Ich denke an das Verbot der Todesstrafe im Grundgesetz. Es ist allgemein bekannt, dass es nicht nur zu einem Konsens darüber nie kommen würde, sondern auch, dass zumindest früher die Mehrheit wohl dieses Verbot abgelehnt hätte.

Sehr unangenehme Fragen, finde ich.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am Heute, 10:41 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

ich stimme Dir zu, dass es in Bezug auf den Alki im Schnee Dissens geben kann. Eine unbedingte Pflicht zur Hilfeleistung ist wohl auch nicht allgemein akzeptabel. Wenn jemand sich immer wieder in dieselbe Notlage bringt, obwohl man ihm gesagt hat, wie er dies vermeiden kann, dann schwindet die Bereitschaft zur Hilfeleistung zu Recht – es sei denn, der Betreffende ist krank oder unmündig und insofern nicht verantwortlich. Im letzteren Fall ist das Streben nach einem Konsens mit ihm sinnlos und als Möglichkeit bleibt nur die fürsorgliche, zeitlich und anderweitig begrenzte Herrschaft.

Eine Rechtfertigung dieser – u.U. auch mit Zwang verbundenen – Herrschaft kann es nicht gegenüber dem Unmündigen oder dem Entmündigten geben, sondern höchstens gegenüber Dritten oder eventuell zukünftig gegenüber dem erwachsen gewordenen Kind oder dem von seiner Sucht befreiten Alki.

Generell zur allgemeinen Konsensfähgkeit als Bedingung für die Allgemeingültigkeit von Normen:

Hier ist zu beachten, dass dieser Anspruch grundsätzlich immer besteht. Aber dort, wo praktisch gehandelt werden muss (wo also z.B. der Hilflose schon lange erfroren ist, bevor ausdiskutiert ist, ob man sich um ihn kümmern soll), muss eine Entscheidung in Form einer verbindlich gesetzten Norm getroffen werden – was natürlich das Risiko in sich birgt, dass diese verbindlich gesetzte Norm inhaltlich falsch ist.

Die Wissenschaft soll zwar die Fragen, die ich als real handelnder Mensch habe, beantworten, aber ich muss auch dann handeln, wenn Fragen offen bleiben, wenn mehrere Antworten wissenschaftlich vertretbar bleiben, wenn also meine Fragen nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden können.

Der nur wissenschaftlich reflektierende Mensch hat nicht das Problem des politisch handelnden Menschen, der nicht warten kann, bis auf jede Frage eine allgemein überzeugende Antwort gefunden ist. Aber auch, wenn ich politisch nur nach „bestem Wissen und Gewissen“ entscheiden und handeln kann, bleibt die Frage berechtigt, ob die verbindlich gesetzte politische Entscheidung auch inhaltlich konsensfähig ist.

Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit und der Ebene der verfahrensmäßig gesetzten Verbindlichkeit von Normen.

Diese beiden Ebenen – inhaltliche Richtigkeit und gesetzte Verbindlichkeit von Normen – können in ihrem Spannungsverhältnis nicht aufgelöst werden. Ihre Unterscheidung fällt nicht immer leicht und der Zustand „verbindlich aber inhaltlich falsch“ oder „inhaltlich richtig aber nicht verbindlich“ ist philosophisch unbefriedigend-

Dies hat in der Vergangenheit häufig dazu geführt, dass die Kluft zwischen Verbindlichkeit und Richtigkeit zugunsten einer der beiden Seiten entweder kognitivistisch („Normen sind wahr oder falsch“) oder dezionistisch („Normen sind Setzungen“) einseitig überbrückt wurde.

Den Konflikt zwischen der Verbindlichkeit einer getroffenen Mehrheitsentscheidung und ihrer inhaltlichen Mangelhaftigkeit muss man als Demokrat aushalten, weil das Kriterium der allgemeinen Konsensfähigkeit kein praktikables Verfahren der sozialen Koordination darstellt. Dazu sind z.B. definitive Beschlüsse von Gremien nötig.

Mit dem Ratschlag, sich nicht an den vorweihnachtlichen Leckereien den Magen zu verrenken, grüßt Dich und alle andern Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------


PhilTalk Philosophieforen

 

  ______________________________________________________________________________________________

 

_______________________________________________________________________________________________
-->Übersicht       -->Alphabetische Liste aller Texte       -->Info zu dieser Website       -->Lexikon       -->Startseite

zum Anfang

Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Gemeinwohl und Wohl der Individuen II" / Letzte Bearbeitung siehe Beiträge / Eberhard Wesche u.a.

*** Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, Freunde, Kollegen und Bekannte auf die Ethik-Werkstatt hinzuweisen ***

Ethik-Werkstatt: Gemeinwohl und Wohl der Individuen 2 (Diskussion)