Ethik-Werkstatt - Volltexte im HTML-Format - kostenlos
-->Übersicht       -->Alphabetische Liste aller Texte       -->Info zu dieser Website       -->Lexikon       -->Startseite
______________________________________________________________________________________________

*** Empfehlung: Nutzen Sie die Suchfunktion Ihres Internet-Browsers! ***

Gemeinwohl und Wohl der Individuen I

(Diskussion bei PhilTalk)


PhilTalk Philosophieforen 
Praktische Philosophie >> Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsphilosophie >> Gemeinwohl und Wohl der Individuen
(Thema begonnen von: Eberhard am 16. Okt. 2005, 10:40 Uhr)



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Gemeinwohl und Wohl der Individuen I
Beitrag von Eberhard am 16. Okt. 2005, 10:40 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

die Frage, um die es in dieser Diskussionsrunde gehen soll, lautet:

Lässt sich ein Gemeinwohl (Gesamtinteresse, kollektives Interesse, allgemeines Interesse Gemeinwillen etc.) bestimmen, und wie verhält sich dieses zum individuellen Wohlergehen (Einzelinteresse, Einzelwille, Glück des Einzelnen o.ä.)?

Für manch einen stellt sich vorweg allerdings noch die Frage, wozu man überhaupt so etwas wie Gemeinwohl oder Gesamtinteresse bestimmen soll.

Diese Begriffe werden häufig als bloße Leerformeln abgetan, die nur zur Vernebelung der Gehirne dienen.

Andererseits sind sie offenbar unentbehrlich für die inhaltliche Rechtfertigung politischer Entscheidungen, die ja immer eine Vielzahl von Individuen mit unterschiedlichen Interessen betreffen.

Warum sollte ein Bürger auch einer Entscheidung der Regierung inhaltlich zustimmen, die seinen individuellen Interessen nicht entspricht?

Dass die Entscheidung im Interesse der Regierenden liegt, kann dafür kein Grund sein. Die Einsicht, dass die Entscheidung dem Wohle des Ganzen dient bzw. dem Allgemeininteresse entspricht, kann dagegen ein Grund sein, der Entscheidung zuzustimmen.

Die Frage, um die es geht, ist die Beziehung zwischen individuellem und allgemeinem Interesse: Lässt sich aus der Zusammenfassung der individuellen Interessen ein Gesamtinteresse gewinnen und wenn ja wie?

Oder ist es verkehrt, von den Individuen und ihrem Wohlergehen bzw. Willen auszugehen? Muss das Wohl des Volkes bzw. des Staates unabhängig davon bestimmt werden?

Meiner Ansicht nach ist eine Abkoppelung des Gemeinwohls vom Wohlergehen der Einzelnen nicht akzeptabel. Das Gemeinwohl muss stattdessen aus einer „gerechten“ Berücksichtigung des Wohlergehens (der Interessen, des Willens, der Bedürfnisse, des Glücks o.ä.) aller Betroffenen gewonnen werden. Insoweit folge ich den Utilitaristen.

Mal sehen, wie weit man mit diesem Ansatz kommt und welche Einwände dagegen erhoben werden.

Auf eine kontroverse aber sachbezogene Diskussion hofft

Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 16. Okt. 2005, 17:43 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,

"Die Frage, um die es geht, ist die Beziehung zwischen individuellem und allgemeinem Interesse: Lässt sich aus der Zusammenfassung der individuellen Interessen ein Gesamtinteresse gewinnen und wenn ja wie?

Oder ist es verkehrt, von den Individuen und ihrem Wohlergehen bzw. Willen auszugehen? Muss das Wohl des Volkes bzw. des Staates unabhängig davon bestimmt werden?" Eberhard

Zunächst etwas zum Staat. Auch dieser Begriff sollte historisch gefasst werden. Der Staatsbegriff der Neuzeit beispielsweise kann nicht unabhängig von den mit den von Naturwissenschaften ermöglichten Anwendungen der Technik, wie diese sich bis heute, etwa in der Produktionsweise manifestieren, erläutert werden. Mit dem technischen Wandel der Produktionsweise verändert sich auch die Auffassung des Staates zur Gesellschaft. Der neuzeitliche Begriff der Gesellschaft somit auch der Begriff des Individuum entfaltet sich etwa mit der (neuzeitlich-technisch bedingten) Herausnahme des menschlichen, auf den EINEN Gott bezogenen Streben, um menschliches Streben im kapitalistischen Markt und seinen, beispielsweise nationalen Einrichtungen, aufgehen zu lassen. Auch aufgrund der technischen Veränderungen wurde möglich, dass Mensch, da aus mittelalterlicher Stände- und Gottesordnung entlassen, sich als Wesen definierte, dessen Freiheitsbegriff sich mit der privaten Eigentumsordnung setzte. Das Interesse definierte sich nun mit dem privaten Eigentumsbegriff, deren entfalteter Machtbereich im Diesseits ermöglichte, den Staat als den Ort auftreten zu lassen, von dem jenes Recht praktiziert wird, dass sich um den kapitalistischen Markt dreht.

Aus individuellen Interessen lässt sich, wie beispielsweise seit der französischen Revolution das Gesamtinteresse kapitalistisch zaubern, indem der von der mittelalterlichen Ständeordnung gelöste Staats- und Gesellschaftsbegriff an die kapitalistische Wirtschaftsordnung gekoppelt wurde. Seitdem gilt, dass Individuum ist das Maß der Dinge, welche Dinge kapitalistisch-strukturiert produziert werden und mit dem das sogenannte Allgemeininteresse, dass definierte Gemeinwohl, konstruiert wurde und wird.

In deinem Text vermisse ich den historischen Kontext. Wird dieser nicht berücksichtigt, müssen dann Begriffe wie Gemeinwohl, Wohl der Individuen, inhaltliche Rechtfertigung politischer Entscheidungen ... nicht dunkel bleiben?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 17. Okt. 2005, 12:20 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Philoschall,

Du vermisst bei der Fragestellung den historischen Kontext und Du befürchtest, dass ohne diesen Kontext die zentralen Begriffe im Dunkeln bleiben müssen.

Diese Befürchtung teile ich nicht, denn Begriffe wie Gemeinwohl, Wohl der Individuen, Gesamtinteresse oder Einzelinteresse haben bereits umgangssprachlich eine mehr oder weniger bestimmte Bedeutung, und es hindert uns niemand daran, diese Begriffe - falls nötig - noch schärfer zu definieren.

Sollte sich herausstellen, dass die gestellten Fragen nicht beantwortet werden können, ohne bestimmte historische Annahmen zu machen, so werden wir diese historischen Fragen natürlich mit einbeziehen.

Solange diese Notwendigkeit jedoch nicht besteht bzw. plausibel dargelegt wurde, sehe ich keinen Grund dafür, zusätzlich historische Fragen aufzuwerfen.

Ich denke, dass jeder von uns die Begriffe Interesse, Wohlergehen oder Rechtfertigung politischer Entscheidungen hinreichend versteht, um in diese Diskussion einzusteigen.

Eine Möglichkeit, den Begriff des Interesses genauer zu fassen, ist die in der Ökonomie gebräuchliche Darstellung durch eine Rangordnung der zur Entscheidung anstehenden Alternativen. So kann man zum Beispiel die Interessenlage eines Individuums hinsichtlich der Gestaltung einer freien Woche durch die Präferenzrangfolge

1. eine Woche nach London verreisen
2. eine Woche Zuhause faulenzen
3. eine Woche die Küche renovieren

darstellen.

Das Spannungsverhältnis zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse zeigt sich z.B. an der Alltagsfrage, wie gehandelt werden soll, wenn 3 Leute einer Wohngemeinschaft ihre freie Woche gemeinsam verbringen wollen und die Vorlieben hinsichtlich der in Frage kommenden Alternativen verschieden sind. Kann man aus den individuellen Präferenzen eine Gruppenpräferenz ableiten, die zum Wohle der Gruppe ist und deshalb gewählt werden sollte?

Dies etwas banale Bespiel macht dennoch deutlich, um welche Problemstellung es hier geht.

Soweit erstmal von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der IndividuenHallo Eberha
Beitrag von philoschall am 17. Okt. 2005, 15:06 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,

"Dies etwas banale Bespiel macht dennoch deutlich, um welche Problemstellung es hier geht."

Dein Beispiel zeigt, dass, da keine anderen Individuen am Entscheidungsprozess 1.-3. des Individuums unmittelbar beteiligt sind, Entscheidungen sozusagen souverän, d.h. von anderen Individueen unabhängig, vollzogen werden können. Dass Einzelinteresse scheint hier sozusagen das Auschlaggebende zu sein. Der Einzelwillen, die Entscheidung des Einzelinteresses vollzieht sich jedoch nicht an sich, sondern bewegt sich u.a. im ökonomisch-gesellschaftlichen Rahmen. Beispielsweise könnte die individuelle Entscheidung eine Woche faulenzen dadurch entschieden werden, dass Geld weder für die Reise nach London noch für die Renovierung der Küche vorhanden ist. (Auch in der Gegenwart des Geiz-ist-Geil könnte der Baumarkt und der Billigflug den Rahmen des Finanziellen sprengen) Der Entscheidungsrahmen des Einzelinteresses ist hier jedenfalls nicht von anderen Individueen bestimmt die, in selbiger oder ähnlicher Interessenlage sind und sich vereinigen, sondern von, sagen wir, objektiven Faktoren, etwa dem Arbeitsmarkt, der keine Möglichkeit bietet, Geld für eine Woche London zu sparen.

Die "Souveränität" des eben aufgezeigten Einzelwillen wird modizifiziert, wenn Individueen ins Spiel kommen, die zumindest ein Interesse zusammenführt, etwa das gemeinsame Wohnen zwecks finanzieller Ersparniss. Nun ist nicht mehr der oben bezeichnete objektive Faktor dasjenige, von dem der Einzelwille in seiner Entscheidung sich unmittelbar konfrontiert findet. Der objektive Faktor tritt vor jenem Einzelwillen sozusagen zurück, der sich etwa in dem Interesse ausweisst, mit der Wohngemeinschaft eine Woche in London zu verbringen. Damit ist jedoch ein Interessengegensatz aufgetreten. Der Einzelwille mit einen grösserem finanziellen Handlungsvermögen (ermöglicht etwa durch einen besser bezahlten Arbeitsplatz) stösst auf einen Einzelwillen der sich mit weniger Handlungsvermögen (kein Geld für die Reise nach London) setzt. Die Wohngemeinschaft, das Gemeinschaftliche könnte gefährdet sein, wenn sich ein Einzelwille zum Nachteil des eigentlichen Zweckes (Wohnfläche zwecks Geldersparnis zu teilen) inzeniert.

"Kann man aus den individuellen Präferenzen eine Gruppenpräferenz ableiten, die zum Wohle der Gruppe ist und deshalb gewählt werden sollte?" Eberhard

Dass Beispiel der Wohngemeinschaft zeigt, dass aus Individualinteressen, Wohnfläche etwa zwecks Geldersparnis zu teilen, Gemeinschaft und Gemeinsschaftsinteresse entstehen kann. Dass Wohl dieser Gruppe ist solange stabil, solange deren Träger sich einig sind, ihr Einzelinteresse über das Gesamtinteresse nicht zu stellen. Der gemeinsame Zweck, Wohnfläche etwa aus finanziellen Erwägungen zu teilen und nicht das von diesem Gesamtinteresse losgelöste, gegebenfalls über das Gruppeninteresse gestellte Einzelinteresse ist hier das Bindeglied. Dieses Gruppeninteresse ist in dem Sinne souveräner als die "Souveränität" des Einzelwillen im Entscheidungsprozess mit den obengenannten objektiven Faktor, dass hier MEHRERE Individuuen EIN Ziel bei ihren gemeinsamen Entscheidungsprozessen berücksichtigen, bezw. voraussetzen.

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 17. Okt. 2005, 22:43 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Philoschall,

Du thematisierst die Entstehungsbedingungen von Interessen. Die Frage ist, was daraus für die Lösung des Problems (Bestimmung eines Gesamtinteresses angesichts divergierender Einzelinteressen) folgt.

Richtig ist, dass sich die Interessen der Individuen mit Veränderung der Lage, in der sie sich befinden, ändern. Ein bekanntes Beispiel ist der sinkende Nutzen zusätzlicher Einheiten desselben Gutes aufgrund von Sättigungsphänomenen (Das 10. Paar Schuhe ist weniger dringlich als das 1. Paar).

Für die Fragestellung bedeutsam ist der Fall, dass Individuum A Einfluss auf die Beschaffenheit der Interessen von Individuum B ausübt.

Im Extremfall kann ein mächtiger A durch Drohungen die Situation von B so gestalten, dass es im Interesse von B liegt, A zu gehorchen.

Es versteht sich von selbst, dass solche Interessen ungeeignet sind, um auf ihrer Grundlage ein Gesamtinteresse zu formulieren.

Die andere Frage, die Du aufwirfst ist die, ob es als Grundlage des Gesamtinteresses nicht gemeinsame Interessen oder Ziele der Individuen geben muss. Was kann als Interesse bei allen Individuen einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?

Es grüßt Dich und alle an politischer Theorie Interessierten Eberhard.




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 18. Okt. 2005, 13:19 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,

"Die Frage ist, was daraus für die Lösung des Problems (Bestimmung eines Gesamtinteresses angesichts divergierender Einzelinteressen) folgt." Eberhard

Ergänzen wir unser Beispiel einer gesellschaftlichten Übereinkunft, wie diese sich etwa in der Wohngemeinschaft manifestiert, mit einer Betrachtung des Staates. Wenden wir uns der Angelegenheit zu, wo Individuen n i c h t in freiwilliger Übereinkunft in ihrer gemeinschaftlichen Lebenspraxis ihre Einzelinteressen umsetzen. Als weiteren sogenannten objektiven Faktor schlage ich also vor, den Staatsbegriff zu berücksichtigen. Hier ist weder die "Souveränität" des Einzelinteresses wie diese sich bezüglich des objektiv genannten Arbeitsmarktes findet (etwa Faulenzen oder Wohnung renovieren), noch ist das in freiwilligen Zusammenschluss einer Wohngemeinschaft sich gemeinschaftlich auseinandersetzende Einzelinteresse das Auschlaggebende.

Berücksichtigen wir weiterhin, dass die Rechtfertigung des Staates - theoretisch etwa mit der Bezugnahme auf Hobbes - aus der klassischen Voraussetzung resultiert, ohne den bürgerlichen Staat steht nicht im Vermögen der Individuen das Zusammenleben zu organisieren. Um auszuschliessen, dass A mittels Drohungen sein Einzelinteresse umsetzt, somit B von dieser Handlungsmacht etwa in die Position des Befehlsempfängers versetzt wird - welche gesellschaftliche Einzelinteresse, wie von Dir zu Recht angenommen, verhindert "ein Gesamtinteresse zu formulieren" - wird, Mir nichts Dir nichts, dass entfaltete Handlungsvermögen von A und das dadurch eingeschränkte Handlungsvermögen von B ausgeschaltet. Weder die gesellschaftliche Auseinandersetzung der "Souveränität" des Einzelinteresses in Abhängigkeit etwa des Arbeitsmarktes, noch die mit der in gemeinsamen Übereinkünften gefundene gesellschaftliche Souveränität/Solidarität der Individuen (welches in gesellschaftlichen Zweckgemeinschaften sein Recht auf Einzelinteresse nicht aufgibt, dass sich, bestenfalls, die gesellschaftlichen Bündnisse stabilisierend einbringt) sondern dass von diesem Handlungsvermögen der Gesellschaft abgezogende Recht, genauer das Recht des Staates setzt sich als die Gewalt, die sich über die Produktivität der Gesellschaft erhebt. Vom Inhalt des bürgerlichen Recht abgesehen, bürgerliches Staatsrecht wird praktiziert, wenn das gesellschaftliche Vermögen nicht mehr das Primäre ist. Dass Handlungsvermögen der "Souveränität" des Einzelinteresses, dass solidarische Handlungsvermögen gesellschaftlicher Übereinkünfte - nicht auf diese Produktivität gründet sich Staatsrecht, sondern mit deren Verwertung manifestiert sich u.a. Staatsrecht. Nicht gesellschaftliches Handlungsvermögen, dass diesem, etwa vom Arbeitslohn bedingten Sein transzendente Handlungsvermögen verschafft den Begriff des Staates zu seinem Recht. Vom produktiven Vermögen sich abgrenzende Gesetzgebung wird praktiziert mittels Staatspolitik die sich als demokratisches Ausführungsorganisation des Souverän, des Volkes, behauptet, die jedoch versteht das n i c h t aus der Produktivität resultierende Einzelinteresse als das Gesamtinteresse des Volkes erscheinen zu lassen.

"Was kann als Interesse bei allen Individuen einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?" Eberhard

Die von den angeführten Faktoren (Arbeitsmarkt, Staatsbegriff, demokratische Politik) bedingten Einzelinteressen (welche sich etwa in der Entscheidung äussern, Faulenzen, da Geld um in den Urlaub fahren, um die Wohnung renovieren nicht vorhanden ist) und die diese mit den sogenannten objektiven Bedingungen erscheinenden Einzelinteressen setzenden Einzelinteressen, wie diese sich etwa auf der Ebene der Staatspolitik als das Allgemeininteresse der Gesellschaft äussern - welches könnte hier d a s Interesse sein, dass sich mit den Bestrebungen aller Individuen völlig deckt? Kann, berücksichtigend die kategorische Unterscheidung von Gesellschaftsrecht und Staatsrecht, überhaupt davon die Rede sein, dass die Interessen so gelagert sind, dass allen Menschen ein Interesse gemeinsam ist? Ist Deine Frage, "Was kann als Interesse bei allen Individuen einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?" nicht bereits völlig verkehrt gestellt? Was kann Eberhard anführen, dass ihn diese Frage logisch erscheinen lässt? Deine Frage zielt ja nicht darauf, ist da überhaupt Interesse, dass von allen Menschen einer Gesellschaft geteilt wird. Du setzt ein Interesse als allen Individuen Gemeinsames voraus, obwohl doch bereits der Begriff Interesse allgemein so genommen wird, dass damit Gegensätze gesetzt werden: und, "über" gesellschaftlichen Gegensätzen Stehendes - "über" dem relativen Sein der Lebenspraxis stehende Einheit, Wahrheit, mit der Relatives Sein in seinen egoistischen Begrenzungen, die sich als gesellschaftliche Interessen manifestieren überwunden wird, - keine Aussage vollzogen wird. Im Gegenteil beharrt doch das Einzelinteresse in seinem Streben, dass mit dem Streben seiner gesellschaftlichen Gruppe zusammenfällt, darauf, dass nicht andere Interessenvertretungen das Richtige und Wahre darstellen. Ist der LEBENSPRAKTISCHE INHALT des Begriffes Interesse nicht verdunkelt, wenn dieser Begriff, mit dem gesellschaftliche Unterschiede formuliert werden, als der Begriff genommen wird, mit dem nicht Einzelinteressen gesetzt werden, sondern so etwas wie gesellschaftliches Gesamtinteresse?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 18. Okt. 2005, 18:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo philoschall,

ich muss gestehen, dass ich zunehmend Schwierigkeiten habe, Dich zu verstehen. Das geht soweit, dass ich die grammatische Struktur Deiner Sätze nicht immer erkennen kann. Zum Beispiel weiß ich bei mehreren Sätzen nicht, was das grammatische Subjekt ist (z.B. beim ersten Satz des letzten Absatzes.)

Ich kann auch nicht erkennen, inwiefern Deine Ausführungen eine Antwort auf die von Dir zitierten Fragen darstellen.

Ich komme deshalb noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück:

Lässt sich ein Gemeinwohl (Gesamtinteresse) bestimmen, und wie verhält sich dieses zum individuellen Wohlergehen (Einzelinteresse)?

Nehmen wir als Allgemeinheit bzw. Gesamtheit einmal das staatliche Gemeinwesen der heutigen Bundesrepublik Deutschland (und sehen wir einmal davon ab, dass dieser Staat genau genommen nicht die Allgemeinheit darstellt, sondern etwas Partikulares, insofern er nur einen Bruchteil der Menschheit umfasst.)

Die designierte Bundeskanzlerin spricht häufig davon, dass politisch das getan werden muss, was gut für Deutschland ist, auch wenn es für den einzelnen Bürger Belastungen mit sich bringt.

Der noch amtierende Bundeskanzler spricht häufig davon, dass die Systeme der sozialen Sicherung wie Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Pflegeversicherung durch Einschnitte in den Leistungen vor dem finanziellen Kollaps bewahrt und für die kommenden Generationen erhalten werden müssen.

Damit berufen sie sich auf das Wohl des Ganzen und rechtfertigen so Nachteile für die einzelnen Individuen bzw. Bevölkerungsgruppen.

Selbst der Vorsitzende der Freien Demokraten rechtfertigt seine politischen Absichten mit dem Wohl des Ganzen und begründet sie nicht damit, dass damit den Interessen der „besser Verdienenden“ entsprochen wird.

Die Frage ist: Lässt sich entscheiden, ob eine bestimmte Politik am Wohl des Ganzen ausgerichtet ist oder am Wohl aller Bürger? Wie kann man hier argumentieren?

Hat jemand dazu eine Meinung? fragt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Sheelina am 19. Okt. 2005, 06:55 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 10/18/05 um 18:34:19, Eberhard wrote:
Die Frage ist: Lässt sich entscheiden, ob eine bestimmte Politik am Wohl des Ganzen ausgerichtet ist oder am Wohl aller Bürger? Wie kann man hier argumentieren?

Hat jemand dazu eine Meinung? fragt Eberhard.



Ja, ich habe eine Meinung dazu.


on 10/17/05 um 15:06:27, philoschall wrote:Dieses Gruppeninteresse ist in dem Sinne souveräner als die "Souveränität" des Einzelwillen im Entscheidungsprozess mit den obengenannten objektiven Faktor, dass hier MEHRERE Individuuen EIN Ziel bei ihren gemeinsamen Entscheidungsprozessen berücksichtigen, bezw. voraussetzen.



Vertragsbruch.

Grüße
Lina


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 19. Okt. 2005, 08:48 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Vertragsbruch?

Grüße
Eberhard.

-----------------
---------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 19. Okt. 2005, 12:10 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,

ist Deine Frage, "Was kann als Interesse bei allen Individuen einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?" nicht bereits völlig verkehrt gestellt? Was kann Eberhard anführen, dass ihn diese Frage logisch erscheinen lässt? Deine Frage zielt ja nicht darauf: ist da überhaupt Interesse, dass von ALLEN Menschen einer Gesellschaft geteilt wird. Du setzt EIN I N T E R E S S E (!) voraus, dass ALLEN Individuen ihr Gemeinsames sein soll, obwohl doch bereits der Begriff Interesse allgemein so genommen wird, dass damit Gegensätze gesetzt werden ... beharrt doch das Einzelinteresse in seinem Streben, dass mit dem Streben seiner gesellschaftlichen Gruppe zusammenfällt, darauf, dass andere Interessenvertretungen nicht das Richtige und Wahre darstellen.

Wird mit Deiner Frage nach einen Interesse aller Individuen die Konsesfähigkeit der Pluralität, die sich mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen sowie mit ihren jeweiligen Vertretungen lebenspraktisch manifestieren, wenn nicht ausser Kraft gesetzt, so doch begrifflich verschleiert?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 19. Okt. 2005, 12:37 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo philoschall,

ohne die Antwort in irgendeiner Weise vorwegzunehmen und ohne irgendetwas zu verschleiern (welcher Tatbestand sollte denn verschleiert werden?) stelle ich die Frage, ob das "Interesse des Ganzen", das Gemeinwohl (nur? auch?) aus solchen Interessen besteht, die jeder Bürger als Einzelner hat:

Gibt es Interessen, die allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam sind?

Um ein beliebtes Bild zu gebrauchen: "Sitzen wir alle in einem Boot" und hat deshalb jeder das Interesse, dass das Boot nicht umkippt, überladen wird oder leck schlägt?

Bilden die Bürger der Bundesrepublik eine "Schicksalsgemeinschaft" in der Weise, dass eintretende Verbesserungen oder Verschlechterungen nicht nur Teile der Bevölkerung betreffen sondern alle?

Greifen wir einen einzelnen Punkt heraus:

Ist es im Interesse aller Bürger, dass die Zahl derjenigen sinkt, die einen Arbeitsplatz suchen, mit dessen Entgelt sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können?

Ist es im Interesse aller Bürger, dass die Verschuldung des Bundes, der Länder und der Gemeinden nicht noch größer wird?

Wenn beide Fragen mit "ja" beantwortet werden, was ist im Falle von Zielkonflikten, wenn z.B. Maßnahmen, die die Zahl der Arbeitslosen senken, nur durch neue Schulden bezahlt werden können?

Ist es auch dann noch berechtigt, vom "Wohl des Ganzen" zu reden, wenn nicht alle Gruppen der Bevölkerung unter Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit gleich stark zu leiden haben?

fragt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 19. Okt. 2005, 16:55 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

du weißt, ich werde gern konkret.

Nach klassischer Definition besteht ein Staat aus Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsgewalt.

Staatsvolk und Staatsgewalt bestehen beide aus Menschen.

Somit lässt sich die Frage "Gibt es Interessen, die allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam sind?" klar damit beantworten, dass alle Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen das Interesse haben, dass das, was sie zum Überleben notwendig brauchen, gesichert ist (selbstverständlich für uns, aber selbstverständlich nicht für alle Staatsgewalten). Woraus folgt, dass diejenigen, die mehr produzieren als sie brauchen, die zu unterhalten haben, die weniger produzieren, als sie brauchen. Tun sie das nicht, mutiert die Staatsgewalt zu einer für einen Teil der Staatsbürger lebensfeindlichen Diktatur. Ob uns das passt, ist eine Frage der humanen Ethik. Gehen wir mal davon aus, dass uns eine Diktatur nicht passt.

Dann schauen wir uns die Lebensbedingungen an. Die sehen so aus, dass nur eine Minderheit der Bürger autark ist. Nur eine Minderheit hat Land, auf dem sie durch Ackerbau und Viehzucht ihren überlebensnotwendigen Unterhalt sichern kann. Die Möglichkeit, sich im Notfall selbiges anzueignen (wie zur Zeit der Besiedelung Amerikas z.B.) besteht nicht, da alles schon jemandem gehört. Auf die Möglichkeit der Bürger zur Eigenversorgung zu bauen ist also irreal.

Das Problem zeigt sich bei hoher Arbeitslosigkeit. Da die meisten Bürger darauf angewiesen sind, für andere Arbeiten zu erledigen, um im Gegenzug Geld für die Finanzierung ihres notwendigen Unterhaltes zu bekommen, muss ein demokratischer Staat, wenn dies mangels Angebot an Arbeitsplätzen nicht möglich ist, entsprechende Konsequenzen ziehen, um den Lebensunterhalt der Arbeitslosen zu sichern. Das heißt, entweder er alimentiert die Arbeitslosen, was bedeutet, dass viele Arbeitslose viel Geld kosten, das man denen, die Einkommen haben, nehmen muss, oder der Staat tritt selbst als Anbieter auf dem Arbeitsmarkt auf. Was ebenfalls viel Geld kostet, da er die Löhne zahlen muss. Muss er auch denen, die Einkommen haben, nehmen. Der zweite Fall hat den Nachteil, dass es mehr Geld kostet, dass dieses Geld aber nicht nur in reinen Konsum fließt, sondern dass dafür Werte geschaffen werden. Womit Staat langfristig ein Geschäft macht. Ein Geschäft, das dem Gemeinwohl dient, denn die geschaffenen Werte kommen allen zu Gute.

Wenn also die Notwendigkeit besteht, den Unterhalt aller Bürger, so oder so, zu sichern, stellt sich eigentlich weniger die Frage, wie man das machen soll (da könnte man die beste Möglichkeit berechnen), sondern eher die Frage, warum man es nicht machen will.

Und da guckt bei allen schönen Verkleisterungen meiner Ansicht nach zuletzt immer das gute, alte Dschungelrecht des Stärkeren heraus. Drache Fafner, der Wotan, der ihn aus friedensstiftenden Gründen weckt, anwortet: "Ich lieg und besitz, lass mich schlafen." Als nächstes bekam Fafner bekanntlich Besuch von Siegfried, woraus sich ergibt, dass die Ablehnung des Gemeinwohlgedenkens auch schon mal gegen die Freunde des Dschungelrechtes ausschlagen kann.

Womit die Frage "Bilden die Bürger der Bundesrepublik eine "Schicksalsgemeinschaft" in der Weise, dass eintretende Verbesserungen oder Verschlechterungen nicht nur Teile der Bevölkerung betreffen sondern alle?
mit "längerfristig ja" beantwortet werden kann.
Sagt der Pragmatiker.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 20. Okt. 2005, 10:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

Ich hatte gefragt, ob das "Interesse des Ganzen", das Gemeinwohl (nur? auch?) aus solchen Interessen besteht, die jeder Bürger als Einzelner hat: Gibt es Interessen, die allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam sind?

Du antwortest: dass alle Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen das Interesse haben, dass das, was sie zum Überleben notwendig brauchen, gesichert ist.

Hier liegt ein Missverständnis bezüglich des Ausdrucks "gemeinsames Interesse aller Bürger" vor.

Bürger A hat das Interesse, dass er selber versorgt ist. Bürger B teilt dies Interesse an der Versorgung von A jedoch nicht: B hat das Interesse, dass er selber versorgt ist. Die Versorgung von A ist insofern kein gemeinsames Interesse von A und B.

Wenn jeder Bürger ein Interesse an der je eigenen Versorgung hat, so schlage ich vor, dies als "gleichartiges Interesse" zu bezeichnen.

Ein gemeinsames Interesse an der Versorgung gibt es dann, wenn die Versorgung nur durch ein kollektives Gut erreicht werden kann.

Ein Beispiel hierfür ist z.B. der Schutz vor Überschwemmung durch einen Deich. Ein Deich ist insofern ein kollektives Gut, als von seiner Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann, ob er sich nur an den Kosten des Deiches beteiligt hat oder nicht.

Das gleichartige Interesse (Ich will nicht, dass meine Wohnung überschwemmt wird) führt in diesem Fall zu dem gemeinsamen Interesse (Ich will einen Deich. Du willst einen Deich. Wir wollen gemeinsam ein und denselben Deich).

Da Deutschland nicht New Orleans ist, bleibe ich bei dem ursprünglichen Beispiel und der Frage:

Ist es im (gemeinsamen) Interesse aller Bürger, dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt?

Unmittelbar gibt es hier wohl kein gemeinsames Interesse. Durch die Arbeitslosigkeit anderer sind meine Interessen erstmal nicht berührt.

Durch die sozialstaatlichen Regelungen (Anspruch auf Bezahlung der Kosten von Wohnung, Lebensunterhalt, Kranken- und Rentenversicherung durch die Allgemeinheit) ist jedoch Bürger B indirekt ebenfalls von der Arbeitslosigkeit des Bürgers A betroffen. Denn das Geld, das für den Arbeitslosen verwendet wird, fehlt bei der Befriedigung anderer Interessen der Bürger – z.B. bei der Beseitigung von Löchern im Straßenbelag oder bei der Einstellung von Lehrern zugunsten kleinerer Klassen mit nicht mehr als 20 Kindern.

Unter der Voraussetzung, dass die Allgemeinheit verpflichtet ist, für die Arbeitslosen aufzukommen, ist es für alle Bürger demnach offenbar besser, wenn es weniger Arbeitslose gibt. (Dem entspricht, dass die Vermeidung von Arbeitslosigkeit auch als politisches Ziel im Stabilitätsgesetz verankert ist.)

Damit stellt sich die Frage, wie die Verpflichtung der Allgemeinheit zur Sorge für Arbeitslose begründet werden kann. Diese Frage hat Abrazo bereits erörtert.

Aber ich will hier erstmal abschließen.

Bis dann Eberhard.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 20. Okt. 2005, 22:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, zusammen, hi Eberhard,

du hast einen wichtigen Punkt meiner Ausführungen überlesen:

Tun sie das nicht, mutiert die Staatsgewalt zu einer für einen Teil der Staatsbürger lebensfeindlichen Diktatur. Ob uns das passt, ist eine Frage der humanen Ethik.

Ich bringe hier den Gesellschafter der GmbH ein, Herrn Hund, ein stolzer, kräftiger, dominanter Haudegen mit der Neigung zur Rudelbildung. Dessen Boss er natürlich dann ist. Weswegen er auch Anspruch erhebt auf alle Weiber, alle Bälle, alle milden Hundekuchengaben (ich zuerst!) und alle vom Rudel erlegten Karnickel (die Beute 'verteilt' er). Das macht ihn für die Weiber außerordentlich attraktiv; sie lieben ihn und bekunden ihre Unterstützung dadurch, dass sie bei potentiellen Konflikten mit anderen Rüden diese, um den 'Ring' stehend, giftig kläffend irritieren (was ja auch bei Menschens nicht unüblich ist). Er liebt sie auch. Junghunde betrachten ihn als Vorbild, folgen ihm nach und sind auch schon mal bereit, sich für ihn zu schlagen (auch von irgendwoher bekannt, ne?). Und schwächere Rüden bitten, nachdem er sie verhauen hat, demütig und vorsichtig um Aufnahme in den illustren Kreis. Denn er sorgt auch für Sicherheit und Ordnung innerhalb des Rudels. Alles funktioniert, es gibt keinen Zoff, jeder fühlt sich sicher und geborgen, prima. Das Gemeinwohl des Rudels ist er, denn er konstituiert es.

Aus der Verhaltensforschung wissen wir, dass in Notzeiten die stärkeren Rudeltiere überleben. Die schwächeren werden durch Wegbeißen und Verhungern entsorgt. Das Territorium ist Lebensmittel und wird keinesfalls mit fremden Rudeln geteilt; wer es haben will, muss es kriegerisch erobern. Mit dieser Gesellschaftsordnung hat das Viehzeug genau so lange überlebt wie wir. Sie ist natürlich und sie ist vernünftig.

Schon seit langem überlieferte Tatsache ist, dass wir Menschen so eine Gesellschaftsordnung nicht wollen. Religionen sanktionieren Hilfeleistung und Unterstützung auch in Notzeiten, verbieten Töten und Verweigerung von Nothilfe und wer meint, hier handle es sich nur um eine Weiterentwicklung normalen vernünftigen Rudelverhaltens, der möge sich mal mit dem 'heiligen Gastrecht' befassen; undenkbar bei den Viechern (wenn es sich nicht gerade um läufige Weiber handelt).

Wegen der humanen Ethik wird aus dem gleichartigen Interesse ein gemeinsames Interesse. Und nicht nur ein Interesse, sondern auch eine humane Pflicht. Das wird zwar sehr häufig vergessen. Aber unmittelbar vor die Situation gestellt empfinden oft sogar hartgesottene Egozentriker inneren Widerstand gegen die natürliche Ordnung der Viecherei. Praktisch zu erkennen ist das z.B. an der Spendenbereitschaft bei Katastrophen. Voraussetzung ist allerdings, dass man solche Katastrophen quasi vor Augen hat, durchs Fernsehen z.B. Hat man die nicht vor Augen, sind viele offenbar geneigt, die Sache theoretisch zu verarbeiten, indem sie sich ein Gedankenmodell zurecht legen, wonach die anderen an ihren Problemen selbst schuld sind, die sie folglich auch selbst lösen müssen. Nicht umsonst haben die Nazis Ghettos und KZ's sorgfältig vor den Augen des landläufigen Bürgers verborgen.

Mensch denkt üblicherweise nicht an die ethischen Grundlagen einer menschlichen Gesellschaft. Vor allem deswegen, weil die meisten die Probleme ja gar nicht vor Augen haben. Scham und Empörung darüber, dass in unserer Gesellschaft in manchen Gegenden kostenloses Essen an Schulkinder verteilt wird, damit die nicht hungern müssen, empfinden nur die, die das aus eigener Anschauung wissen. Für die anderen ist es eine theoretische Überlegung, über deren Ursache und Hintergründe man sich zwar die Köpfe heiß diskutieren kann, das reicht dann aber auch schon. Andererseits ist gut bekanntlich nicht gut gemeint. Wer den ethischen Willen verspürt, unerträgliche Situationen zu beseitigen, muss auch das Können dazu haben. Und beides zusammen heißt, dass es sehr wohl nötig ist, eine Staatsmoral zu entwickeln, die auf der Ethik als Prinzip basieren muss und sicher stellt, dass die ethischen Prinzipien auch verwirklicht werden. Denn es kann nicht in unserem Interesse liegen, dass uns die Lage mangels Überschaubarkeit in die natürliche Sozialordnung des Viehzeugs entgleitet.

Dass das leicht passiert, lässt sich an Wirtschaftstheorien erkennen. Beispielhaft Friedman's Rossäpfel-Theorie: man muss den Gaul (die Unternehmen bzw. die Unternehmer) nur genug füttern, dann fällt hinten auch was für die Spatzen ab. Gesetzt den Fall, das würde stimmen (was durchaus zweifelhaft ist): und wenn man für den Gaul nicht genügend Futter hat (oder den Hafer in die Silos packt, weil zwar die Spatzen, nicht aber die Gäule so viel brauchen)? Dann passiert das, was vor paar Jahren mal einer der Nestlé-Chefs von sich gab: man muss halt damit leben, dass ein Teil der Menschen in einer Gesellschaft überflüssig sind. Findet das Wolfsrudel auch, wenn die Zeiten schlecht sind.

Deinen sachlichen Ausführungen stimme ich voll und ganz zu. Aber das Problem, das ich sehe, ist eben, ob uns bewusst ist, welchem Prinzip unsere Gesellschaftsordnung folgt. Da finden wir heute 3 Meinungen vor:

- die eine folgt dem Prinzip des unabänderlichen status quo: wir haben nun mal die Gesetze, die wir haben, eine Änderung wäre vielleicht im momentanen Interesse einiger wirtschaftlich Handelnder, ist aber politisch nicht durchsetzbar. Folglich geht es darum, diese gesetzlichen Verpflichtungen mit minimalem Kostenaufwand zu erfüllen, damit auf der anderen Seite, gerne Leistungsträger genannt, ein Maximum überbleibt.

- dann die Caritas: edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Christliche Nächstenliebe verpflichtet dazu, den Armen aus Gnade und Barmherzigkeit zu erhalten.

- das gemeinsame Interesse sieht die Sache anders: unabhängig vom individuellen Interesse einzelner Bürger liegt es im Interesse unserer Gesellschaft als Ganze, dass jeder, der zu ihr gehört, nicht nur in Freiheit, und das bedeutet m.E. in erster Linie in Freiheit vor Existenznot leben kann, sondern dass er auch als in dieser Gesellschaft Handelnder leben kann. Und das bedeutet eben: dass er arbeiten kann. Denn arbeiten heißt nicht nur gewinnbringend produzieren, sondern Mitwirkung am Weiterbau unserer Gesellschaft. Wer das einem Teil der Bürger verweigert, weil er Arbeitskraft als Humankapital betrachtet und feststellt, dass die vorhandenen Ressourcen nicht benötigt werden, schließt damit diese Bürger von der Mitwirkung aus - und das ist wölfisch und widerspricht der humanen Ethik.

Für unsere Gesellschaft betreffende Entscheidungen braucht man halt ein bisschen mehr als wirtschaftliches-, juristisches- und Verwaltungsfachwissen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von MultiVista am 21. Okt. 2005, 18:25 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
GEMEIN- und Individual- WOHL?

Etwa

"DU bist DEUTSCHLABND" ??

Multi meint:
Werden wir erst einmal wir sebst!

Nicht: WAS bin ich -
sondern WER bin ich?!



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 21. Okt. 2005, 21:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Multi,

danke für den Ratschlag, aber ich bin schon ich selbst und ich weiß auch wer ich bin. Deshalb möchte ich weiter über die Frage diskutieren, ob es so etwas wie allgemeine Interessen oder kollektive Interessen gibt und wie diese sich zu den Interessen der Einzelnen verhalten. Ich halte den Begriff Interesse mit seinen vielfältigen Variationen für einen der zentralen und schwierigsten Begriffe der politischen Philosophie. Mit einer Klärung dieses Begriffs hätte man einen großen Schritt vorwärts getan.

Es grüßt dich Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 21. Okt. 2005, 22:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

du schreibst:

"Wegen der humanen Ethik wird aus dem gleichartigen Interesse ein gemeinsames Interesse. Und nicht nur ein Interesse, sondern auch eine humane Pflicht."

Dabei setzt du wieder ganz auf das in uns bereits vorhandene humane Ethos, das aus Egoisten sozial orientierte Wesen macht.

Da ich den ethischen Intuitionen der Menschen nicht so viel intersubjektive Gemeinsamkeit zutraue, besteht für mich das Problem, aus den Interessen der Einzelnen ein allen gemeinsames Interesse abzuleiten. Dies kann bei vielen moralischen Fragen nicht intuitiv geschehen, sondern erfordert einen besonderen Denkprozess bei der Zusammenfassung und Gewichtung der zu berücksichtigenden Interessen.

Leider kann ich heute nicht so ausführlich auf Dich eingehen, wie ich es möchte, aber das wird sich wieder ändern.

Es grüßt Dich und alle am Problem (Gemeinwohl, Gesamtinteresse, volonté generale bzw. maximum happiness principle) Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von MultiVista am 22. Okt. 2005, 21:32 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Abrazo schrieb:
"Aus der Verhaltensforschung wissen wir, dass in Notzeiten die stärkeren Rudeltiere überleben. Die schwächeren werden durch Wegbeißen und Verhungern entsorgt. Das Territorium ist Lebensmittel und wird keinesfalls mit fremden Rudeln geteilt; wer es haben will, muss es kriegerisch erobern. Mit dieser Gesellschaftsordnung hat das Viehzeug genau so lange überlebt wie wir. Sie ist natürlich und sie ist vernünftig.
Schon seit langem überlieferte Tatsache ist, dass wir Menschen so eine Gesellschaftsordnung nicht wollen. Religionen sanktionieren Hilfeleistung und Unterstützung auch in Notzeiten, verbieten Töten und Verweigerung von Nothilfe und wer meint, hier handle es sich nur um eine Weiterentwicklung normalen vernünftigen Rudelverhaltens, der möge sich mal mit dem 'heiligen Gastrecht' befassen; undenkbar bei den Viechern (wenn es sich nicht gerade um läufige Weiber handelt)."

Kannst Du das ausführen. Also bei aller Kritik, der christliche Glaube beauftragt doch eher dazu, dass man den anderen helfen solle > Idee des Urchristentums.

[cry]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 23. Okt. 2005, 09:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard und Co,
da habt Ihr Euch ja mal wieder ein Thema vorgenommen, an dem ich seit 15 Jahren arbeite. Meine Arbeitsergebnisse sind kurz zusammengefasst:
Wenn der Mensch atmet, trinkt und isst, vollzieht er Handlungen, die (vordergründig) dem Eigenwohl dienen, nämlich der Selbsterhaltung des Individuums.
Und dann hörts praktisch schon auf und die Tätigkeiten zum Nutzen des Gemeinwohls beginnen.
In der Kindheit ist es der Schulbesuch und die Berufsausbildung, die im Interesse des Gemeinwohls liegen. Später sind es das Balzverhalten (Discobesuche), der Geschlechtsverkehr und die Brutpflege, die dem Gemeinwohl dienen, nämlich der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung der Gruppe oder Horde oder des Staats.
Das Kinderzeugen,-kriegen und -aufziehen liegt nämlich nicht im Interesse des Individuums, sondern im Interesse der Allgemeinheit, der Staates, der ohne Kindernachschub nicht existieren kann.
Das Individuum hat allerdings etwas Freiheit darüber, welche "Objekte" (Freud) es sich zum Beispiel als Partner aussucht und mit welchen "Objekten" (also anderen Menschen) es seine Brutpflegebedürfnisse befriedigt. An die Stelle der eigenen Kinder können andere schwache Mitmenschen oder von Not betroffene Tsunamiopfer treten. Dann kommt sich das Individuum genauso "gut" vor, als wenn es den eigenen Nachwuchs durchbringt, und bezeichnet sein Verhalten als "ethisch". Derartige, vom natürlichen Ursprung abgewandelte (am anderen Objekt befriedigte) Verhaltenweisen, kann der Mensch auch ideologisieren, also eine Religion oder eine weltliche Ideologie draus basteln.
Im Berufsleben ist der Mensch sowieso als Effektor für seine Mitmenschen tätig.
Kurz: es gibt kaum menschliche Verhaltenswiesen, die nicht dem Gemeinwohl dienen.
Verhaltensweisen, die dem Gemeinwohl schaden, also aggressive Verhaltensweisen, sind die Ausnahmen, und sind meist krankhaft und eben nicht gesund.
Im Prinzip ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen und alle seine Verhaltensweisen, soweit sie gesund sind, dienen dem Allgemeinwohl.

Dem "Wohl" der Individuen dient also lediglich die Krankheit, um es mal so richtig auf die logische Spitze zu treiben, auch wenn das paradox klingt.

Gruß
rudi



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 23. Okt. 2005, 10:32 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Deine Skizzierung der sozialen Ordnung, die bei den gesellig lebenden höheren Säugetieren herrscht, ist von der bekannten und von mit geschätzten deutlichen und drastischen Art.

Ich bin auf diesem Gebiet zwar Laie, aber ich vermute einmal, dass die Menschen in ihrer Frühzeit ähnliche soziale Strukturen besaßen: im Innenverhältnis streng hierachische Strukturen entsprechend der Körperkraft und im Außenverhältnis Revierverhalten mit Feindschaft gegen alles Fremde.

Dieses Muster bricht ja immer wieder durch.

Ein zentraler Unterschied zwischen Wolfsrudel und Menschenhorde besteht meines Erachtens darin, dass die Menschen in unvergleichlich stärkerem Maße schöpferisch sind. Es ist sicher kein Zufall, dass die Prähistoriker die Perioden der Menschheitsgeschichte nach den Erfindungen beim Werkzeugbau einteilen (Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit etc.)

Mit dieser Kreativität des Menschen geht eine unvergleichlich stärkere Dynamik der sozialen Veränderungen einher.

Die Vorteile dieser Entwicklungen konnten nur Gemeinschaften für sich nutzen, die in ihrem Verhalten nicht instinktgebunden waren, sondern die Normensysteme besaßen, die sich den neuen Möglichkeiten anpassten, deren soziale Ordnung also ebenfalls nicht statisch sondern dynamisch waren.

Eine sich verändernde Gesellschaft und Umwelt bedarf der fortlaufenden Erfindung neuer Institutionen und Regeln, wenn sie nicht konkurrierenden Gemeinschaften unterlegen will.

Ich verstehe das Bemühen um eine einsichtig begründete Moral und Rechtsordnung in diesem Zusammenhang. Durch veränderte technische Möglichkeiten (Empfängnisverhütung, Erfindung neuer chemischer Drogen, Gentechnologie, Wasserstoffbombe, globaler Verkehr und Kommunikation usw. usf.) werden einerseits tradierte Normen hinderlich und bedürfen der Korrektur und andererseits müssen neue Gefahren durch entsprechende Normen entschärft werden.

Einen Sonntagmorgen ohne Sorgen wünscht allen Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 23. Okt. 2005, 11:55 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,
zu meinem Beitrag #25 von heute früh, den Du anscheinend noch nicht studiert hast, noch eine Ergänzung:
die von Dir angesprochene Krativität ist tatsächlich ein wichtiger Unterschied zum Wolfsrudel, und auch zur Primatenhorde.
Und der wichtigste kreative Akt, der den Affen zum Menschen gemacht hat, war die Erfindung des Geldes.
Die von Euch so geliebte Ethik ist leider nur ein ideologischer Überbau.
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 23. Okt. 2005, 20:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, zusammen,

Dies kann bei vielen moralischen Fragen nicht intuitiv geschehen, sondern erfordert einen besonderen Denkprozess bei der Zusammenfassung und Gewichtung der zu berücksichtigenden Interessen.
Bitte keine Klischees, Eberhard. Es gibt Leute, die mit dieser Begründung die Fahne der Anarchie hissen. Ich entgegne dem, dass Ethik immer konkrete Situationen beurteilt, die in unseren komplizierten Gesellschaften nur sehr wenigen direkt vor Augen stehen. Schon aus diesem Grund ist die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Moral unabdingbar. Die allerdings auf den an den Urteilen der humanen Ethik erkennbaren Prinzipien basieren muss. Schließlich kann man auch nicht verlangen, jeder potentielle Täter und jeder Richter solle die Frage, ob eine Handlung strafbar ist oder nicht, von Art. 1 GG herleiten.

Auf der anderen Seite ist Mensch ein Tier mit menschlichem Potential. Das menschliche Potential wird bekanntlich nicht immer verwirklicht. Eine gesellschaftliche Moral muss also auch die Verwirklichung des menschlichen Potentials als Norm setzen und gleichzeitig im Einzelfall nach den Ursachen suchen, warum es hier nicht verwirklicht wurde bzw. sich nicht verwirklichen konnte. In der Praxis sind das die Normen des Strafrechtes und die Milderungsgründe.

Also bei aller Kritik, der christliche Glaube beauftragt doch eher dazu, dass man den anderen helfen solle > Idee des Urchristentums.
Da hat Multivista mich wohl missverstanden. Natürlich gebieten Religionen Hilfeleistungen, nicht nur die christliche.
Das Interessante an den Religionen ist jedoch nicht, was sie ge- und verbieten, sondern warum sie geglaubt wurden. Es wurde wahrscheinlich zu allen Zeiten genau so viel Stuss verbreitet wie heute. Das meiste davon wurde umgehend auf ewig vergessen. Wieso einige Sachen nicht vergessen wurden, sondern jahrhunderte- oder gar jahrtausendelang überlebten, ist eine imho nicht unwichtige Frage. Da erzählt einer etwas, und Millionen Menschen finden, dass er recht hat und glauben das. Fänden sie nicht, dass er recht hat, würden sie es auch nicht glauben. Ich denke, das hat weniger mit Gott zu tun (an den kann man auf sehr unterschiedliche Weise glauben oder auch nicht) sondern mit dem, was in der jeweiligen Religion für (göttliches) Recht erkannt wird.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Prähistoriker die Perioden der Menschheitsgeschichte nach den Erfindungen beim Werkzeugbau einteilen
Welche anderen handfesten Fundstücke lagen ihnen denn vor, nach denen sie eine Einteilung hätten machen können?
Womit ich keineswegs bestreite, dass die Erfindungen im Werkzeugbau entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaften hatten. Wenn einer erstklassige Faustkeile herstellen kann (wozu andere vielleicht auch keine Lust haben), dann sind die Möglichkeiten, ihn zur Herstellung mit Gewalt zu zwingen, begrenzt. Wurde und wird aber immer wieder versucht (siehe Sagen und Märchen, z.B. Entführung Freias oder Rumpelstilzchen). Arbeitsteilung führt jedoch zu besserem Erfolg, die begehrten Keile zu bekommen. Und dann ist auch immer noch die Frage, ob human denkende Menschen zur Herstellung von Werkzeug zwingen wollen.

Bei all diesen Überlegungen sollte man jedoch nicht übersehen, dass es sehr viele verschiedene menschliche Gesellschaften gab und gibt, die durchaus im Konflikt miteinander stehen können. Eine Erklärung also, die funktioniert, wenn man eine Gesellschaft isoliert betrachtet, erklärt u.U. überhaupt nichts mehr, wenn unterschiedliche Gesellschaften zusammen treffen.
Deswegen mein Hinweis auf das 'heilige' Gastrecht. Der Gast gehörte nicht zur eigenen Gesellschaft - und stand trotzdem unter Schutz.

Das ist übrigens Doc rudis Hauptproblem. Er tut immer so, als hätte es stets nur eine allgemeine menschliche Gesellschaft gegeben. Tatsächlich gab es die nie.
Kurz: es gibt kaum menschliche Verhaltenswiesen, die nicht dem Gemeinwohl dienen.
Das ist bei Kriegen eine Frage der Sichtweise. Der Aggressor wird dir zustimmen, dass seine Aggression dem Gemeinwohl dient. Der Verteidiger sieht das anders.
Und inwiefern dienten Raubrittertum, Piraterie und Kreuzzüge dem Gemeinwohl? Oder willst du behaupten, diese Leute seien alle krank gewesen?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 23. Okt. 2005, 22:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,
ich möchte ein kleines Missverständnis klarstellen. Es gab und gibt immer verschiedene menschliche lebende Systeme höherer Ordnung, die man zu den Staaten rechnen kann. Ich habe nie behauptet, dass die alle auf dem gleichen Entwicklungsstand sind, sondern nur, dass sie sich nach gleichen Regeln verhalten. Ich habe im übrigen stets gesagt, dass es gleiche und divergierende Interessen zwischen dem Individuum und dem Staat, in dem es lebt, gibt, und dass sich das Individuum bei einer Handlung stets fragen sollte, ob die in seinem Interesse oder im Interesse des Staats liegt.
Bei Kriegen ist es doch ganz klar, dass nicht nur die Individuen des Staates, den Du als Aggressor bewertest, sich im Interesse ihres Staats abschlachten lassen, sondern die Individuen des sogenannten verteidigenden Staates kämpfen ebenfalls für die Interessen ihres Staats, für dessen Erhaltung. Und dabei opfern sie sich genauso für die Interessen des Systems höherer Ordnung, in dem sie leben. Beides ist aus der Sicht des Individuums der gleiche Irrsinn. Das Individuum hat ein elementares Interesse am Frieden. Wenn es sich an Angriffs- oder Verteidigungsaktionen seines Staats beteiligt, handelt es gleichermaßen gegen sein individuelles Interesse an seiner Selbsterhaltung. Und das ist ein Irrsinn, es ist unvernünftig. Denn in einem anderen Staat, unter einer anderen Herrschaft, könnte das Individuum genauso gut leben, vielleicht sogar noch besser.
Nun sage ich auch stets, dass dies Aufopfern für den Staat die biologische Verhaltensprogrammierung des Individuums ist, die ihren Sinn in der Evolution der Gene hat. (Im konventionellen Krieg werden die männlichen Genträger des Feindstaates eliminiert und mit den weiblichen findet eine Vermischung statt, so dass neue Genkombinationen auftreten können). Im nuklearen Krieg ist das etwas anders,
Und ganz besonders hat sich im Lauf der Geschichte geändert, dass das Individuum sich immer mehr vom Staat distanziert und seine Eigeninteressen denen des Staats, der Gemeinschaft, entgegensetzt. Heute gibt es mehr und mehr gesunde Menschen, die ihre Eigeninteressen höher bewerten als das Gemeinschaftsinteresse. Diese tun das bewusst und sind deshalb auch nicht krank. Krankheit als Hinwendung zu sich selbst und Abwendung vom Gemeinwohl ist hingegen ein unbewusster Vorgang, deshalb unbeeinflussbar durch den Willen und insofern Krankheit.
Piraterie und Raubrittertum, wenn es den Handelnden um ihre persönliche Bereicherung geht, sind Aktionen, in denen das Individuum (der Raubritter) seine Eigeninteressen höher bewertet als die Interessen des Staats. Insofern waren Raubritter fortschrittlich.
Die Kreuzzüge waren nun allerdings eine Aktion der heiligen christlichen (katholische) Kirche, also eines Systems höherer Ordnung mit einem gemeinsamen ideologischen Überbau ihrer Anhänger (in diesem Fall einer religiösen Ideologie). Die Teilnehmer waren der Meinung, dem Gemeinwohl zu dienen und haben in dieser Überzeugung, sich dem Gemeinwohl unterworfen zu haben, die Menschen in Jerusalem und anderswo abgeschlachtet. Natürlich mit gutem Gewissen. Das ist ja gerade die Funktion einer religiösen Ideologie: dem Individuum das schlechte Gewissen zu nehmen, damit es guten Gewissens andere Individuen ermordet.
Soweit meine Klarstellung.
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 23. Okt. 2005, 22:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, doc rudi,

überzeugt mich nicht.
Danach wäre der vogelfreie Villon entweder krank oder ein besonders fortschrittlicher Mensch gewesen?
Und diejenigen Kreuzfahrer, die gar nicht nach Jerusalem, sondern einfach nur ziemlich wahllos plündern wollten - und dabei mit den einheimischen Juden anfingen und dann zum christlichen Byzanz übergingen - standen unter religiösem Diktat?
Wie erklärst du Bürgerkriege?

und dass sich das Individuum bei einer Handlung stets fragen sollte, ob die in seinem Interesse oder im Interesse des Staats liegt.
Es fragt aber nicht. Allein schon deswegen, weil es in der Regel gar nicht weiß, ob seine Handlung im Interesse des Staates liegt. Dafür waren selbst die mittelalterlichen Gesellschaften schon viel zu komplex.

Nä.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 24. Okt. 2005, 01:43 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteinander!

Einer der „Knackpunkte“ des Gemeinwohlverständnisses liegt wohl in diesen Sätzen aus Eberhards Eröffnungsbeitrag:


Quote:Die Frage, um die es geht, ist die Beziehung zwischen individuellem und allgemeinem Interesse: Lässt sich aus der Zusammenfassung der individuellen Interessen ein Gesamtinteresse gewinnen und wenn ja wie?

Oder ist es verkehrt, von den Individuen und ihrem Wohlergehen bzw. Willen auszugehen? Muss das Wohl des Volkes bzw. des Staates unabhängig davon bestimmt werden?



Die neuzeitlichen, vertragstheoretischen Entwürfe des gerechten Staates (Hobbes, Locke, Rousseau) nehmen einen vorstaatlichen Zustand an, in dem es nur Individuen ohne gegenseitige Verpflichtungen gibt. Besonders klar ist diesbezüglich Hobbes. Seine Anthropologie geht von intelligenten Naturmaschinen aus, die nur ihr eigenes Überleben und Wohlergehen interessiert, und das mit einem Hang zur Maßlosigkeit. Was sie allein überzeugen kann, auf ihr „natürliches Recht auf alles“ zu verzichten und sich einer souveränen Staatsmaschine zu unterwerfen, ist die Einsicht, dass die uneingeschränkte Freiheit aller in einen „Krieg aller gegen alle“ umschlägt.

Der Freiheitsverzicht, den der Rechtszustand verlangt, wird also damit begründet, dass nur er dem natürlichen Streben der Einzelnen (Kampf ums Überleben, Steigerung von Sicherheit und Glück) zum Erfolg verhelfen kann. Wenn man hier von einem „Gemeinwohl“ überhaupt sprechen mag, so liegt es allein darin, dass alle Individuen weiterhin „sozialverträgliche Egoisten“ bleiben dürfen.

Für die kritische Rekonstruktion des Typs „Gemeinschaft“, den man „liberalen Rechtsstaat“ nennt, ist der vertragstheoretische Ansatz m.E. einleuchtend, weil das (bürgerliche) Recht egalitär von gleichen „Rechtssubjekten“ ausgeht, die jeweils strategisch im eigenen Interesse handeln. Aber als anthropologisches Modell und somit als Modell für jede Art von menschlicher Gemeinschaft ist er natürlich wirklichkeitsfremd und absurd.

Es ist Unsinn, menschliche Individuen als „Systeme“ zu konstruieren, deren elementares Motiv ihre Selbsterhaltung und Selbststeigerung sei. Diese Idee konnte erst aufkommen, als es vielfältig individualisierte Lebensformen und hinreichend große marktwirtschaftliche Verbände gab, deren Grundeinheit der arbeitende und konsumierende Einzelne ist (und dazu ein mechanistisches Naturverständnis).

Darum ist zumindest eine Differenzierung nötig zwischen (ökonomisch-rechtlicher) „Gesellschaft“ einerseits und „Gemeinschaft“ andererseits und somit auch verschiedene Auffassungen von Gemeinwohl.

Das eine wäre das „abstrakte“ Gemeinwohl, bei dem ausgegangen wird von Individuen mit konkurrierenden Interessen, zwischen denen ein Ausgleich gefunden werden muss. Hier ist eigentlich nicht Gemeinschaft der Ausgangspunkt, sondern die Konkurrenz, der Konflikt. Das Gemeinwohl muss erst noch „verfahrenstechnisch“ gefunden werden (nach dem Modell des Rechtsstreits).

Das andere wäre ein „institutionelles“ Gemeinwohl, bei dem von gemeinschaftlichen Lebensformen ausgegangen wird, deren Mitglieder sich ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Verpflichtung bewusst sind. Hier existiert bereits Gemeinschaft, sie prägt Lebensweise und Bewusstsein der Mitglieder. Was erfahrungsgemäß nicht verhindert, dass zwischen den Mitgliedern fallweise Interessenkonflikte auftreten.

(Das Beispiel mit der Wohngemeinschaft weist eigentlich in diese zweite, „institutionelle“ Richtung, nur dass Eberhard allein auf die Interessengegensätze eingeht, die bei einer einzelnen Gelegenheit auftreten und nach Ausgleich verlangen. Der Umstand, dass die Mitglieder der WG durch ihr Zusammenleben schon „vorgängig“ eine Gemeinschaft bilden, die von Sympathie, Solidarität. Rücksicht, vielfältigem gegenseitigem Geben und Nehmen... zusammengehalten wird, geht nicht in die Überlegungen ein.)


So weit erst mal.

Es grüßt Euch
Urs





--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24. Okt. 2005, 09:42 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs u.a.,
nehmen wir uns mal die von Dir angeführten "neuzeitlichen" vertragstheoretischen Entwürfe des gerechten Staats vor und prüfen ihre Voraussetzungen: im vorstaatlichen Zustand gäbe es nur Individuen ohne gegenseitige Verpflichtungen und die Staatsbildung sei ein Vertrag zwischen diesen intelligenten Naturmenschen, der aus der Einsicht resultiert, die Befriedigung des Vergrößerungsstrebens jedes Einzelnen führe zum Kampf jeder gegen jeden.
Es wird also auf individuelle Selbstentfaltung verzichtet und dafür Sicherheit der Überlebens, also Selbsterhaltungsgarantie, gewonnen. So würde ich dies kurz übersetzen. Ein durchaus vorstellbarer Vertrag mit Vor- und Nachteilen.
Nur: die Voraussetzungen, dass der Naturmensch (oder der Jetztmensch) entsprechend bewusst gefassten Vorsätzen handelt und sich zu Großgruppen zusammenschließt, stimmt meines Erachtens nicht.
Diesen nichtgruppengebundenen Einzelmenschen gab es tatsächlich nicht, sondern schon vor der Bildung von Staaten lebten die Menschen in Gruppen, Clans usw., eben wie auch jetzt Primatenverbände. Der Gruppenzusammenhalt ergibt sich meines Erachtens nicht aus rationalen Entscheidungen, sondern ist das Resultat familiärer Verbundenheit, die auf angeborenen Verhaltensweisen der Brutpflege beruht. Schon bei Primaten ist es so, dass sich nicht nur die Eltern um ihrer persönlichen Kinder kümmern, sondern dass Aufgaben verteilt werden, einige Individuen sich um die Kinder der Gruppe kümmern und andere Individuen andere Aufgaben für die Gruppe übernehmen, zum Beispiel den Schutz nach außen übernehmen usw.. In einem Verband von Primaten herrscht eben nicht ein "Krieg aller gegen alle".
Aus meiner Sicht haben diese natürlichen Verhaltensweisen in menschlichen Verbänden lediglich einen ideologischen Überbau erhalten. Dies mag seinen Grund darin haben, dass die Anführer die Einsicht hatten, dass derartige soziale Verhaltensweise für das Überleben der Gruppe vorteilhaft waren und abweichende Verhaltensweise (zu starke Aggression innerhalb der Gruppe) sich negativ auf den Gruppenzusammenhalt auswirken, so dass Regeln (religiös oder vertraglich begründet) geschaffen wurden.
Dies scheint mir jedoch nebensächlich zu sein, wenn ich wissen will, warum sich die Individuen daran halten. Die Einsicht und die Angst vor Strafe (auf Erden oder im Jenseits) mögen Faktoren sein, die Hauptrolle scheint mir jedoch die biologische Ausstattung des Menschen zu spielen und nicht die rationale Einsicht. Der Mensch benötigt zum Leben nämlich nicht nur Luft und Nahrung, sondern auch narzisstische Befriedigung. Diese erhält er von seinen Mitmenschen. Das Lob und die Bestätigung der Mitmenschen ist es also meines Erachtens, was das Individuum dahin steuert, dass es in der Gruppe einen Platz einnimmt, den es auch gut ausfüllen kann. Dies betrachte ich als biologische Steuerung, die auf das Überleben der Gruppe zielt.
Deshalb beantworte ich die Frage, ob das Gemeinschaftsinteresse sich sozusagen als Summe der Interessen der Individuen ergibt, mit einem NEIN:
Das Gruppeninteresse ist etwas von Einzelinteresse zu unterscheidendes. Das Gruppeninteresse ist sozusagen ein höherwertiges Interesse, dem sich das Individuum unterwirft, indem es sich mit der Gruppe und deren Normen identifiziert. Durch diesen Akt der Identifizierung nimmt es an den Erfolgen der Gruppe (des Staates) teil, erhöht sein Selbstwertgefühl, erlangt narzisstischen Gewinn und handelt im Konfliktfall (z.B. im Krieg) auch gegen sein individuelles Überlebensinteresse.
So weit erst mal.
Aber noch ein Ausblick: die Entwicklung geht dahin, dass das Individuum sich vom Gruppenwesen zum Einzelwesen emanzipiert, also zum System Mensch wird, und sich Staaten auflösen. Und dies setzt allerdings eine bewusste Entscheidung des Individuums voraus: nämlich eine Entscheidung dazu, seine Selbstentfaltung im materiellen Bereich einzuschränken und im geistigen Bereich fortzusetzen. Das ist der Gesellschaftsvertrag der Zukunft: auf materielle Selbstentfaltung zu verzichten, damit die Menschheit überleben kann.
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt. 2005, 10:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, doc rudi,

die Entwicklung geht dahin, dass das Individuum sich vom Gruppenwesen zum Einzelwesen emanzipiert, also zum System Mensch wird, und sich Staaten auflösen.
Wie lauten deine Argumente gegenüber anderen Kulturen, die genau diese Ansicht als Zeichen westlicher Dekadenz betrachten?

Und dies setzt allerdings eine bewusste Entscheidung des Individuums voraus: nämlich eine Entscheidung dazu, seine Selbstentfaltung im materiellen Bereich einzuschränken und im geistigen Bereich fortzusetzen.
Auf welche Selbstentfaltung im materiellen Bereich sollen die Menschen in Pakistan, Bangladesh, brasilianischen Favellas und Schwarzafrika z.B. verzichten? Wie steht es mit der geistigen Selbstentfaltung bei Menschen, die gerade mal den Hauptschulabschluss erreicht haben und die für geistige Betätigung nicht allzu viel übrig haben, sondern sich statt dessen in materieller Betätigung verwirklichen? Und wie steht es damit bei denen, die gar nicht die Möglichkeit haben, Schulen zu besuchen?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 24. Okt. 2005, 11:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

Urs plädiert in seinem Beitrag für eine Differenzierung zwischen (ökonomisch-rechtlicher) „Gesellschaft“ einerseits und „Gemeinschaft“ andererseits, womit auch verschiedene Auffassungen von Gemeinwohl einhergehen.

Beim „abstrakten“ Gemeinwohl wird von konkurrierenden Interessen ausgegangen, zwischen denen ein Ausgleich gefunden werden muss.

Beim „institutionellen“ Gemeinwohl wird von gemeinschaftlichen Lebensformen ausgegangen wird, deren Mitglieder sich ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Verpflichtung bewusst sind.

Diese Unterscheidung halte ich ebenfalls für wichtig und In der deutschen Soziologie ist diese Unterscheidung ja seit langem etabliert.

Die Familie ist danach eine gemeinschaftliche Gesellungsform, die nicht aus Verträgen isolierter Individuen hervorgeht, sondern auf gefühlsmäßigen Bindungen von Man und Frau, von Eltern und Kindern, von Geschwistern untereinander beruht.

Ein anderes Beispiel für eine Gemeinschaft ist der Stamm (bzw. die Ethnie) mit der je spezifischen Sprache bzw. Mundart und Kultur, in den das Individuum hineingeboren wird und mit dem es sich identifiziert („Wir“-Gefühl, Heimatverbundenheit, je eigene Trachten und Hausformen etc.).

Die Frage ist, was daraus für die Bestimmung eines normativ verpflichtenden Gemeinwohls folgt.

Konsequenzen hat die Existenz derartiger Gemeinschaften auf jeden Fall für das Verständnis der Individuen und ihrer Interessen im weitesten Sinne.

Der Einzelne hat demnach nicht nur Interessen, die auf das eigene Wohlergehen gerichtet sind (diese Interessen würde ich als „Eigeninteressen“ bezeichnen), sondern die Interessen eines Individuums (deren Gesamtheit man zur besseren Unterscheidung als „individuelle Interessen“ bezeichnen könnte) beziehen sich in Form von Liebe, Sympathie, Mitleid oder Wohlwollen auch auf das Wohlergehen anderer Individuen, seien es die eigenen Kinder, die eigenen Verwandten oder Freunde oder aber auch Not leidende Fremde.

Allerdings können sie sich auch negativ in Form von Neid, Eifersucht, Schadenfreude etc. auf Feinde oder Konkurrenten beziehen.

Weil die Einzelnen nicht nur eigeninteressiert sind, haben sie z.B. auch Interessen über ihren eigenen Tod hinaus und versuchen durch entsprechende Vermächtnisse Einfluss auf das zu nehmen, was nach ihnen kommt.

Insofern teile ich nicht die enge Sicht doc_rudis von den Interessen der Individuen, wenn er schreibt: „Das Kinderzeugen, -kriegen und -aufziehen liegt … nicht im Interesse des Individuums, sondern im Interesse der Allgemeinheit, der Staates, der ohne Kindernachschub nicht existieren kann.“

(Ich habe im Übrigen immer Probleme, auf Deine Thesen einzugehen, doc_rudi, weil Deine Theorie der Beschreibung und Erklärung, dessen, was ist, dienen soll, während ich danach frage, wie die Verfahren der politischen Willensbildung vernünftigerweise gestaltet sein sollten und wie sich die Bürger oder Amtsinhaber verhalten sollen.

Die politische Theorie, um die es mir geht, ist also handlungsanleitend und normativ, sie stellt nicht das positiv Gegebene fest. Deshalb kann ich für meine Fragestellung auch wenig mit Feststellungen anfangen wie: „Im Prinzip ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen und alle seine Verhaltensweisen, soweit sie gesund sind, dienen dem Allgemeinwohl.“)

Aber noch einmal zurück zu Gemeinschaft und Gesellschaft. Ich teile die Auffassung, dass der Mensch seiner Natur nach ein gesellig lebendes Wesen ist und starke soziale Bindungen besitzt, die in seine individuellen Interessen eingehen.

Ich halte jedoch daran fest, dass es unzulässig ist, ein die Individuen verpflichtendes Gemeinwohl unabhängig von deren individuellen Interessen und deren individueller Einsicht zu behaupten.

Derartige Behauptungen entziehen jeglicher Diskussion die Grundlage. Wenn die tatsächlichen Interessen und Überzeugungen eines Individuums als „nur individuell“ abgetan werden und nicht mehr zählt, was dies Individuum an Argumenten vorbringt, dann verwandelt sich der Wahrheitsanspruch gegenüber diesem Individuum in einen bloßen Glaubens- und Gehorsamsanspruch.

Um es in Parolen der Nationalsozialisten auszudrücken: Aus „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ wird unversehens „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“, mit all seinen mörderischen Konsequenzen.

Und es kommt zu der makabren Situation, dass einem Deutschen vorgehalten wird, was „deutsch“ ist und was als „undeutsch“ oder „entartet“ zu bekämpfen ist.

Ich will hier niemandem derartige Positionen unterstellen, sondern will anhand dieses krassen Beispiels nur deutlich machen, dass „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“ (z.B. in Bezug auf ein verpflichtendes Gemeinwohl) ein Geltungsanspruch ist, der von bestimmten Individuen gegenüber anderen Individuen erhoben wird, und dass dieser Anspruch auch nur interindividuell bzw. intersubjektiv als gültig eingelöst werden kann, niemals jedoch über die Köpfe der beteiligten Individuen hinweg.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt. 2005, 12:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, zusammen,

Eberhard schrieb:
Ich halte jedoch daran fest, dass es unzulässig ist, ein die Individuen verpflichtendes Gemeinwohl unabhängig von deren individuellen Interessen und deren individueller Einsicht zu behaupten.
Der olle Pragmatiker fragt sich zunächst einmal: wer soll das denn behaupten - sprich: setzt so eine Aussage nicht eine Diktatur voraus?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 24. Okt. 2005, 12:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Ich halte jedoch daran fest, dass es unzulässig ist, ein die Individuen verpflichtendes Gemeinwohl unabhängig von deren individuellen Interessen und deren individueller Einsicht zu behaupten. (...)

Ich will hier (...) nur deutlich machen, dass „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“ (z.B. in Bezug auf ein verpflichtendes Gemeinwohl) ein Geltungsanspruch ist, der von bestimmten Individuen gegenüber anderen Individuen erhoben wird, und dass dieser Anspruch auch nur interindividuell bzw. intersubjektiv als gültig eingelöst werden kann, niemals jedoch über die Köpfe der beteiligten Individuen hinweg.



Diese Auffassung teile ich ohne Abstriche. Und ich bin mir auch im Klaren darüber, dass die Begriffe der „Gemeinschaft“ und des „Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile“ ideologisch missbraucht werden können. Nämlich dann, wenn „Gemeinschaft“ als Naturbegriff verstanden wird, der sich auf eine gemeinsame Abstammung bezieht (Familie, Clan, Stamm, Nation). Die Begriffe „Volk“ (urspr. „Haufe“, „Kriegsschar“) und Ethnie (zurückgehend auf das „Ethos“, also die gemeinsamen Lebensformen und Normen) sind diesbezüglich weniger verdächtig. Nur hat seit dem Nationalsozialismus der Begriff des Volkes einen solchen naturalistischen (rassistischen) Klang angenommen. Aber muss man posthum immer noch die Definitionshoheit der Nazis anerkennen?


Wie dem auch sei, ich verstehe Gemeinschaft nicht als Naturverband, sondern als Lebensform, die durch die gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen der Mitglieder definiert ist. Das ist etwas ganz anderes als eine faktische oder vermeintliche oder ideologisch behauptete Verwandtschaft. Und es ist etwas anderes als bloß "gefühlsmäßige Bindungen" ("Wir"-Gefühl).

Sicher: Ohne gewisse anthropologische Voraussetzungen kommt man dabei nicht aus, insbesondere die, dass Menschen bedürftige, soziale Wesen sind, die ohne irgendeine Form von Gemeinschaft nicht existieren können. Diese Bedürftigkeit oder Abhängigkeit ist eine Quelle der gegenseitigen Verpflichtung.

Das vertragstheoretische Modell macht ja seinerseits auch gewisse Annahmen über die Natur des Menschen, m.E. aber falsche. Und wenn man als „Basiseinheit“ das maßlos egoistische Individuum annimmt (eine Art einzelgängerisches Raubtier wie bei Hobbes), bringt man sich schon im Ansatz um die Chance, einen angemessenen Begriff von Gemeinschaft zu bilden. Ein angemessener Begriff von Gemeinschaft muss m.E. die Gegenseitigkeit der Beziehungen als nicht reduzibles normatives Prinzip anerkennen. Das vertragstheoretische Modell aber reduziert Gemeinschaft auf die Fiktion „atomarer“ Individuen. Darum bleibt auch das Gemeinwohl auf „sozialverträglichen Egoismus“ beschränkt (vgl. auch Schopenhauers populäre „Stachelschweine“).


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24. Okt. 2005, 14:13 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo,
die Frage, ob der Staat Eigeninteressen hat oder sein Interesse eine Summenbildung (nicht mathematisch, sondern als Übereinkunft gedacht, nehme ich an) ist, beantworten Eberhard, Abrazo und Urs also im letzteren Sinn. Mein Hauptargument für ein bestehendes Eigeninteresse des Staats ist der Krieg. Im Krieg handelt meines Erachtens des Staat als solcher und nicht die Individuen, und die Menschenopfer, von denen alle Beteiligten vorher wissen, und die materiellen Opfer natürlich auch, liegen aus meiner Sicht nie im Interesse der Individuen.
Das müsstet Ihr mir bitte einmal klar machen, wie Ihr Euch das vorstellt, dass die Individuen auf eine solche Entscheidung kommen sollen, ihr Leben und ihr Eigentum durch eine Kriegführung zu riskieren. Selbst wenn ein sogenannter Sieg antizipiert wird und ein Zugewinn an Land für einen der Kontrahenten, hat das Individuum davon gar nichts, weder im Sieger- noch im Verliererstaat, falls es den Krieg überhaupt überlebt. Profitieren tun doch höchstens der Staat oder irgendwelche Konzerne, die sich dabei etwas aneignen. Da jedoch das Verlustrisiko stets beim Individuum liegt, kann ich nicht nachvollziehen, mit welchen rationalen Argumenten ein Individuum für einen Krieg votieren sollte. Da bitte ich um Aufklärung. Schon die Propagandamaschinerien der Presse zeigen doch, dass die Individuen von etwas überzeugt werden sollen, was gerade nicht in ihrem objektiven Interesse liegt. Es sind lediglich archaische Gefühle, die die Individuen zum Krieg treiben und die durch Propaganda verstärkt werden. Unter "Interesse am Krieg" verstehe ich jedoch etwas anderes.
Der von mir intendierte "Gesellschaftsvertrag" schließt im übrigen ein, dass nicht nur die Menschen der westlichen reichen Kulturen auf materielle Selbstentfaltung verzichten müssen, sondern dass die Staaten der armen Kulturen im Gegenzug auf ihre Selbstentfaltung durch Geburtenüberschuss verzichten müssen, weil beides zu einer nicht länger tragbaren Belastung unserer Umwelt führt.
Das beantwortet wohl die Frage von Abrazo, auf welche Selbstentfaltung die Menschen in Schwarzafrika verzichten sollen. Und Deine zweite Frage, was ich denen antworte, die die Entwicklung der Menschen vom Gruppen- zum Einzelwesen als Dekadenz erleben, beantworte ich so: sie Erleben es richtig. Die Dekadenz liegt darin, dass der westliche Einzelmensch so viel Energie verbraucht, wie die Bewohner 1000 afrikanischer Dörfer. Deshalb ja mein Appell an den westlichen Menschen, seine materielle Selbstentfaltung zu begrenzen.
Darin besteht ja gerade ein Vertrag, dass jede Vertragspartei auf etwas verzichten muss.
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 24. Okt. 2005, 15:09 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Rudi!


Dafür, dass Du Dich schon so lange mit dem Thema “Gemeinwohl” beschäftigst, sind Deine Ausführungen doch recht konfus und inkonsistent. (Z.B. ist recht unklar, in welchem Verhältnis die Selbsterhaltung und Selbstentfaltung der Individuen zur Selbsterhaltung und Selbstentfaltung des „Genträger“-Verbandes stehen. Ich sehe auch überhaupt nicht, wie sich ein rechtlicher, also normativer Begriff wie der des Vertrages in einen biologischen Kontext einfügen können soll.)

Aber grundsätzlich hat Dein Sozial-Biologismus in meinen Augen starke Anklänge an die Nazi-Ideologie, in der biologische Begriffe und Metaphern („Abstammung“, „Rasse“, „gesund“, „krank“, „Volkskörper“, „Parasiten“, „artfremd“, „Entartung“, „Dekadenz“...) ins Politische gewendet wurden.


Quote:Im Prinzip ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen und alle seine Verhaltensweisen, soweit sie gesund sind, dienen dem Allgemeinwohl.

Dem "Wohl" der Individuen dient also lediglich die Krankheit, um es mal so richtig auf die logische Spitze zu treiben, auch wenn das paradox klingt.

Nun sage ich auch stets, dass dies Aufopfern für den Staat die biologische Verhaltensprogrammierung des Individuums ist, die ihren Sinn in der Evolution der Gene hat. (Im konventionellen Krieg werden die männlichen Genträger des Feindstaates eliminiert und mit den weiblichen findet eine Vermischung statt, so dass neue Genkombinationen auftreten können).



Solche Äußerungen rufen in mir eine frische Erinnerung wach. Nämlich an das kranke Gewäsch des „Führers“, der noch in seinen letzten Tagen Sätze absonderte wie: „Die sogenannte Menschlichkeit – das ist das Geschwätz der Schweinepfaffen.“ – „Die Starken können sich nur behaupten, indem sie die Schwachen und Minderwertigen vernichten. Ich selbst habe mir, diesem eisernen Gesetz der Natur gehorchend, stets jedes Mitgefühl versagt. Die Affen z.B. trampeln jeden Außenseiter als gemeinschaftsfremd tot. Was für den Affen gilt, muss doch in erhöhtem Maße auch für den Menschen gelten.“ (zit. nach dem Film, „Der Untergang“)

Allen Freunden des Biologismus und des Tiervergleichs sollte bewusst sein, welche Abgrenzungsprobleme sie sich einhandeln...

Es grüßt Euch
Urs





--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt. 2005, 15:44 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Das müsstet Ihr mir bitte einmal klar machen, wie Ihr Euch das vorstellt, dass die Individuen auf eine solche Entscheidung kommen sollen, ihr Leben und ihr Eigentum durch eine Kriegführung zu riskieren.

Wessen Leben nicht gesichert ist und wer kein Eigentum hat, riskiert auch nicht viel.
Er hat aber die Chance, eine Menge zu gewinnen: für seine Angehörigen.
Siehe z.B. die Schwarzafrikaner, die unter Lebensgefahr versuchen, über Marokko nach Europa zu gelangen.
Siehe auch diverse Revolutionen.

Was is mit Bürgerkrieg?

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24. Okt. 2005, 16:19 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,
auf Deine Abgrenzungsprobleme (Nazi-Rassenideologie und Philosophie lebender Systeme) kann ich in diesem Zusammenhang nicht tiefer eingehen. Was das Biologische anbetrifft, ist die Rassenideologie widernatürlich, weil die Evolution Fortschritt durch Mischung erzielt und Reinrassiges zu Verblödung führt. Du übersiehst jedoch offensichtlich die historische Dimension meiner Philosophie, die nämlich zum Ergebnis kommt, dass Staaten misamt der genetischen Evolution durch die geistige Entwicklung der Menschen, also die Wissenschaften, überflüssig geworden sind. Sie sind überholt. Der Biologismus ist nur gut zur Erklärung der Vergangenheit, nicht der Zukunft.
Im übrigen sind biologische Wurzeln menschlicher Handlung nicht dadurch nichtig, dass man sie verleugnet. Man sollte ihnen ins Auge sehen und sie genauer beschreiben. Das tue ich und komme zum Ergebnis, dass es sich um zielorientierte Regelkreise handelt, die unser Handeln über unangenehme Gefühle beim Abweichen von Sollwerten und angenehme Gefühle bei Annäherung an die Sollwerte steuern. Deshalb ist der Biologismus nur das Eine, das Andere die Kybernetik und die Tiefenpsychologie.
@Abrazo: "Wessen Leben nicht gesichert ist und wer kein Eigentum hat, riskiert auch nicht viel. Er hat aber die Chance, eine Menge zu gewinnen: für seine Angehörigen. Siehe z.B. die Schwarzafrikaner, die unter Lebensgefahr versuchen, über Marokko nach Europa zu gelangen." Diese Aktionen sind verzweifelte Taten von Individuen, die ihre Selbsterhaltung (und die ihrer Familien) in ihrer Heimat nicht sichern können. Und eben kein Krieg.
Selbst wenn man, wie ihr, annimmt, dass eine Situation von Massenarmut dazu führen kann, dass sich in einem Staat eine allgemeine Kriegsstimmung ausbreitet und zu einer Entscheidung zum Krieg führen könnte, trifft das tatsächlich nicht auf die großen Kriege des letzten Jahrhunderts zu. Deutschland befand sich 1918 und 1938 eben nicht in einer Massenarmut, sondern in einem wirtschaftlichen Aufschwung. Wenn die Massen hungern, also ihre Selbsterhaltung nicht gesichert ist, führt das nicht zu Krieg, sondern zu Revolution oder Bürgerkrieg - oder zu Massenauswanderung. Aber nicht zu Krieg. Zum krieg entscheidet sich kein Individuum, weil der Frieden Voraussetzung für seine Entwicklung ist.
Inzwischen gibt es zum Glück auch eine "Einwanderung" von Arbeitsplätzen in "Billiglohnländer". Im Grunde ist diese "Globalisierung" ein Zeichen dafür, dass meine These, Staaten würden sich auflösen, sich in der Praxis als richtig erweist. Diese Wanderungsbewegungen von Menschen und Arbeitsplätzen machen Staaten und Kriege überflüssig. Das nur nebenbei.
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 24. Okt. 2005, 18:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhardt ...

"Ist es auch dann noch berechtigt, vom "Wohl des Ganzen" zu reden, wenn nicht alle Gruppen der Bevölkerung unter Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit gleich stark zu leiden haben? " Eberhard

Fällt Gesamtwohl, dass mittels Innenpolitik unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen dargestellt wird, notwendigerweise mit den Interessen jeder dieser Bevölkerungsgruppen zusammen? Wäre dem so, ist der Staat, ist Parteienpolitik jene Unternehmung, welche die Interessen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen sich einverleibt. Dagegen steht (noch) der demokratische Staat, deren Parteien - wie diese sich in Deutschland etwa als Volksparteien (bisher) präsentieren - (noch) unterschiedliche Interessen der Bevölkerungsgruppen repräsentieren.

Sind die Repräsentanten der sogenannten Volksparteien sich jedoch einig, dass Gemeinwohl nicht mehr aus unterschiedlichen Interessen der Bevölkerungsgruppen resultiert, dass vielmehr dass Einzelinteresse einer Gruppe höher gestellt wird als die Interessen anderer Bevölkerungsgruppen: verändert sich dann nicht die staatliche Repräsentation? Mit dieser, etwa auf der parlamentarischen Ebene vollzogenen Veränderung, welche sich nicht notwendigerweise mit dem Wechsel des politischen Personals vollziehen muss, verändert sich notwendigerweise der I n h a l t dessen, dass beispielsweise mit dem Begriff des Allgemeinwohl ausgegeben wird.

Der Inhalt, die Zielsetzung, etwa von Innenpolitik kann sowohl aus nationalen Interessen (gespeist etwa von völkischen Anhängern der Rassenlehren) wie auch aus internationalen Interessen (gespeist etwa von liberalen Vertretern globaler Marktauffassungen) resultieren. Beiden Interessengruppen, der Gesellschaft antagonistisch sich präsentierend, ist ein Mittel um ihre jeweiligen Interessen - stets im Namen des Gemeinwohls - umzusetzen: dass Staatsgefüge. Ist mit der Eroberung des Staates von Seiten absolut gesetzten Einzelinteresses (egal ob in nationalen und/oder internationalen Spielarten sich manifestierend) überhaupt noch möglich im Namen des Wohl des Ganzen zu handeln? Doch wohl verbindlich nur dann, wenn den von staatlich-verabsolutierten Zielrichtungen ausgehenden verabsolutierenden Einzel-Interesse das Kunststück gelingt, die Anderen - d.h. jenen denen nicht das, etwa den Staat verabsolutierende Handlungsvermögen gegeben - zu überzeugen, dass die favorisierte Zielrichtung mit dem Allgemeinwohl identisch ist. Wird davon ausgegangen, dass es kein metaphysisches und kein politisches Ausserhalb jenes Staates mehr gibt: Lässt sich, erscheint das verabsolutierte Einzel-Interesse auch der Allgemeinheit als Allgemeinwohl, überhaupt noch entscheiden, ob dieses Sein berechtigt ist, mit dem Begriff des Wohl des Ganzen zu argumentieren?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 24. Okt. 2005, 19:07 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 10/24/05 um 18:22:45, philoschall wrote:Ist mit der Eroberung des Staates von Seiten absolut gesetzten Einzelinteresses (egal ob in nationalen und/oder internationalen Spielarten sich manifestierend) überhaupt noch möglich vom Wohl des Ganzen zu reden? Doch wohl verbindlich nur dann, wenn .... das Kunststück gelingt, die Anderen zu überzeugen, dass die favorisierte Zielrichtung mit dem Allgemeinwohl identisch ist. ... Lässt sich ... überhaupt noch entscheiden, ob dieses Sein berechtigt ist, mit dem Begriff des Wohl des Ganzen zu argumentieren?



:-) Hallo philoschall und Interessierte

Ein Beispiel gefällig? Im Bewusstsein, dass Partikulärinteressen in der Praxis meist solche einer Monderheit sind, lässt sich das Allgemeininteresse in der den Namen verdienenden Demokratie in etwa wiefolgt formulieren: "Respektiere diejenigen Minderheiten, die dieses Allgemeininteresse nicht missbrauchen".

Vorlaut wie meist formuliere ich auch gelich noch eine zugehörige Regel: "Allgemininteresse ist nur, was sich selbst einschränkt"

Es git z'Nacht! --- Euer hungrige Alltag [cheesy]




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt. 2005, 19:29 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

also - dat wird mir mal wieder zu theoretisch.
Da hätten wir zunächst mal den Einzelnen (ggf. mit Familie) und dann noch den Staat. Und wat is mit z.B. Köln?

Der Kölner an sich lebt in einer von hohen virtuellen Mauern umgebenen Stadt in einer Gesellschaft, mit der er Sprache, Mentalität und Lebensart teilt und aus der ihn so leicht kein Deuvel erus kriegt. Wenn es sein muss, geht er da auch 'ze Fooss' hin - bitte wörtlich zu nehmen: die haben das nach dem Krieg gemacht, obwohl die Stadt quasi unbewohnbar kaputt war. Warum? Wegen der Leute. Wegen der Gemeinschaft, die im Wesentlichen jedem Kölner garantiert, dass er so leben kann, wie es ihm passt. Andere Gesellschaften garantieren das nicht, folglich will er da auch nicht rein. Insofern sind ihm Globalisierung, Absterben des Staates und Weltgemeinschaft egal, solange Köln bleibt, wie es ist. Es ist davon auszugehen, dass es eine Menge Gesellschaften gibt, die diese Auffassung teilen. Will sagen: es gibt ein Gesellschaften konstituierendes Element, und das ist die gemeinsame Kultur. Sie ist die eigentliche Behausung einer Gesellschaft. Eine Behausung, an der man hängt und die man freiwillig nicht verlässt. Andere Gesellschaften haben andere Behausungen, kein Problem, sollen sie, aber in unseren Kram hat keiner reinzureden. Wir reden im Gegenzug anderen auch nicht rein. Das ist Gesellschaft, wie sie im wirklichen Leben statt findet. Wie, doc rudi, erklärt denn deine Theorie diese Unterschiede zwischen den Gesellschaften? Wie erklärst du, dass im Zweckverband Deutschland Bayern und Kölner die Preussen nicht ausstehen können und Hamburger und Schwaben nur mit Grausen an das Rheinland denken?

Die Regionen sind gewachsen, in langer Geschichte, nicht von außen genormt. Und deswegen, wenn eine Region einen hohen Integrationsgrad hat, ist sie von außen weder beherrschbar noch regierbar. Nichts von alledem ist zu erfassen, wenn man sich auf die Sicht Individuum einerseits und Staat andererseits beschränkt - und in Interessen immer nur materielle Interessen sieht. Klar, wenn die dauerhaft nicht gesichert sind, kann sich keine Gemeinschaft entfalten. Aber sobald die elementaren Lebensbedürfnisse gesichert sind, bekommt Mensch ganz andere Gelüste - kulturelle. Wobei zu den kulturellen Gelüsten regionalspezifisch durchaus auch die Lust zählt, sich beim Straßenfest am Bierstand volllaufen lassen zu können - in trauter Gemeinschaft mit bisher unbekannten Leuten, die dennoch erkennbar zu dieser Gesellschaft gehören.

In solchen fest gefügten Gesellschaften ist das Gemeinwohl bestimmt durch das gemeinsame Wohl. Und das gemeinsame Wohl ist, unbehelligt durch fremde Einflüsse sein Leben so zu führen, wie man es führen möchte. Dazu gehören die anderen, die Leute, die Gesellschaft. Ohne die kann der Einzelne das Leben, das er führen will, nicht führen. Auf sie legt er also Wert, auch wenn er sie gar nicht kennt und auch nie kennen lernen wird. Von der Politik seiner Gesellschaft erwartet er, dass sie seinen Lebensraum schützt, pflegt, bewahrt und verbessert, ohne ihm das Charakteristische zu nehmen. Tut sie das nicht, wird er sauer, wählt sie ab, stellt sich stur und streikt (auch die Preussen scheiterten an Köln) oder - führt eben doch Krieg. Z.B. wie die Kölner im Mittelalter, um ihren Erzbischof dauerhaft aus der Stadt zu werfen und sich statt dessen in einer Republik selbst zu regieren. M.E. ein legitimes und nachvollziehbares Interesse, und wenn es noch so sehr dem Interesse des theoretisch angenommenen isolierten Individuums widerspricht.

Was man übrigens auch im Großen erkennen kann: die Deutschen wollten mehrheitlich keine Amerikanisierung und keinen Neoliberalismus, keine an der Wirtschaft ausgerichtete Individualisierung, nix Mobilität, nix Unabhängigkeit von familiären und sonstigen Bindungen - also wird dat nich gewählt. Vernünftige Argumente hin, vernünftige Argumente her. Was heißt hier Vernunft? Vernunft ist das, was wir wollen. Basta. Was der gut baiuwarische Stoiber mit sicherem Instinkt blitzschnell erkannt hat: der kennt seine Bayern - mir san mir.

Leute, wat sollen wir hier groß herum philosophieren, wenn wir dabei die halbe Wirklichkeit vergessen? Oder hat euch einer damit beauftragt, als Nachfolger Platons den idealen theoretischen Staat in Wolkenkukucksheim zu entwerfen? Wer will denn den?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24. Okt. 2005, 21:07 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
ja Abrazo,
eine interessante Aufgabe, so ein überschaubares Mittelding zwischen Individuum und Staat wie Köln zu untersuchen. Köln und andere Orte haben eine hohe Integrationskraft, und das gerade wegen ihrer Offenheit für Fremde. Vielleicht hat mich das auf die Idee gebracht, dass ein wichtiges Merkmal für eine lebendes System die Offenheit, also die Durchlässigkeit in beide Richtungen, ist. Den Köllnern war es, glaube ich, egal, ob sie französisch oder preussisch oder deutsch regiert wurden, ich glaube für das eine oder andere hätten sie nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Dass sie einen Erzbischoff vertrieben haben, wusste ich noch nicht. Wenn die unter seinem religiösen Aberglauben leiden mussten, hatte er das sicher verdient. Der Köllner lässt sich auch keine religiösen oder sonstigen Denkvorschriften machen. Stadtluft macht frei, war ja der Grundgedanke der Städtebildung im Mittelalter. Die eigene Gerichtsbarkeit mit der öffentlichen Gerichtsverhandlung auf dem Marktplatz sowie der öffentlichen Exekution der Urteile gehörte zum Stadtrecht. Einerseits Stadtmauer (Grenze des Systems), andererseits Offenheit (Durchlässigkeit der Grenze), und innen eine Strenge Ordnung (Zünfte), in der jeder einen Platz hatte. Hättest Du nicht Lust, dieses interessante Thema zu vertiefen? (ich kann doch nicht alles selbst machen)
Eins ist jedenfalls klar: der von mir prognostizierte Tod des Systems Staat als außenpolitisch handelndes System berührt nicht die regionalen selbstorganisierten Einheiten, die das Zusammenleben der Menschen organisieren.
Köln bleibt Köln.
Gruß
rudi

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 24. Okt. 2005, 21:16 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

"Allgemininteresse ist nur, was sich selbst einschränkt" Alltag

Richtig, dass trifft auf das im ersten Abschnitt Gesagte zu: "Dagegen steht der demokratische Staat, deren Parteien - wie diese sich in Deutschland etwa als Volksparteien präsentieren - unterschiedliche Interessen der Bevölkerungsgruppen repräsentieren."

Trifft das auch noch zu - und darauf beziehen sich meine Fragen - wenn Gemeinwohl auf staatspolitischer Ebene, etwa mittels Innenpolitik auftritt, die ihren Impuls aus verabsolutierenden Einzelinteresse bekommt, d.h. solches das sich über Gemeinwohl der Gesellschaft hinwegsetzt? Wenn verabsolutierendes Einzelinteresse in nationaler oder/und in internationaler Staatlichkeit auftritt, ist dann die produktive Entfaltung gesellschaftlicher Einzelinteressen nicht be- bezw. sogar verhindert?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 24. Okt. 2005, 22:05 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 10/24/05 um 19:29:49, Abrazo wrote:.....
Was man übrigens auch im Großen erkennen kann: die Deutschen wollten mehrheitlich keine Amerikanisierung und keinen Neoliberalismus, keine an der Wirtschaft ausgerichtete Individualisierung, nix Mobilität, nix Unabhängigkeit von familiären und sonstigen Bindungen - also wird dat nich gewählt. Vernünftige Argumente hin, vernünftige Argumente her. .....
....
Oder hat euch einer damit beauftragt ... den idealen theoretischen Staat in Wolkenkukucksheim zu entwerfen? Wer will denn den?



:-)Hallo philoschall,

hat Abrazo (im ersten zitierten Abschnitt) die Antwort nicht schon gegeben? "alos wird dat nich gewählt"
Das Wählen gehört halt auch zur Demokratie! Und, je mehr picken, desto eher werden Körner gefunden.

:-)Hallo Abarazo,

Na wir (ich denk das gilt auch für die Kölner) sind doch alle unseren eigenen Auftraggeber! Und Du scheinst ja Dein Wolkenkuckucksheim schon gefunden zu haben. --- Sorry es ist spät!

Danke & Gruss --- Euer müder Alltag [ohwe]





--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt. 2005, 22:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, doc rudi,

Den Köllnern war es, glaube ich, egal, ob sie französisch oder preussisch, deutsch oder amerikanisch regiert wurden, ich glaube für das eine oder andere hätten sie nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt.
Du unterschätzt anscheinend eine wichtige Voraussetzung für eine funktionierende Regierung: die Leute, die sie regieren will, müssen sich auch von ihr regieren lassen (in diese Rubrik gehört der Ausdruck 'das ist politisch nicht durchsetzbar'). Das ist keinesfalls selbstverständlich, wenn auch das preussische Staatsbewusstsein (dessen Staatsbegriff an uns klebt wie ein ausgelutschter Kaugummi) dies als selbstverständlich ansieht. Der Kölner betreibt den Widerstand traditionell über die Verweigerung (er kann aber auch anders, wie diverse blutige Aufstände im Laufe der Geschichte bezeugen - nicht umsonst gehören nebst Prinz und Jungfrau auch der wehrhafte Bauer mit dem Dreschflegel zum Dreigestirn, hat alles seinen tieferen Sinn). Irgendwann aber ist Schluss mit Verweigerung. Dann zeigt sich die Geschlossenheit einer Gesellschaft an der Unmöglichkeit, ihre Widerstandskämpfer, außer per Zufall oder intensiver teurer Fahndung zu erwischen. Siehe algerischer Befreiungskrieg und siehe auch Irak - oder auch Vietnam. Real existierende Gesellschaften existieren nicht nur, sie handeln auch. Durch einzelne Mitglieder zwar, die aber pars pro toto handeln - und von ihrer Gesellschaft gedeckt werden. Ebenso wie Rechtsbruch kollektiv gedeckt wird - zu sehen an Subkulturen in unserer Gesellschaft.

Dass sie einen Erzbischof vertrieben haben, wusste ich noch nicht. Wenn die unter seinem religiösen Aberglauben leiden mussten, hatte er das sicher verdient.
Du verstehst es nicht. Köln ist katholisch bis ins Mark. Wegen Religion haben sie den nicht vertrieben - sie haben den regierenden Fürsterzbischof durch die Vertreibung entmachtet, und zwar dauerhaft.

Wenn du Gesellschaften studierst, solltest du dich mal um die Freien Reichsstädte kümmern. Und um ihre tatsächlich hermetische Abgeschlossenheit nach außen - zwecks Erhalt der republikanischen Freiheit. Freie Reichstädte waren selbstständig agierende politische Kräfte, Mitglieder des Reichstages, wahlberechtigt bei der Kaiserwahl. Machtfaktoren, denn sie hatten das Geld. Trieben internationale Politik und Diplomatie, konnten Kriege führen oder sich Kriegen verweigern und kümmerten sich den Deuvel um gesamtstaatliche Normen. An den Freien Reichsstädten des Mittelalters und der frühen Neuzeit kann man studieren, was eine Gesellschaft und was Gemeinwohl ist, gelebtes, gewachsenes und kollektiv gewolltes Gemeinwohl, kein normiertes und verordnetes. Wer nur das Individuum und den Staat sieht, weiß gar nicht, was eine menschliche Gesellschaft, was Gemeinwille eigentlich ist.

der von mir prognostizierte Tod des Systems Staat als außenpolitisch handelndes System berührt nicht die regionalen selbstorganisierten Einheiten, die das Zusammenleben der Menschen organisieren.
Jut. Dann hammer wieder Kleinstaaterei mit Zollgrenzen. Und? Was soll das? Nennste das Fortschritt und Zusammenwachsen der Systeme? Ich sehe die Entwicklung eher gegenläufig - theoretisch gewolltes Zusammenwachsen vs. praktisch durchgeführte Differenzierung. Schau dir doch mal den Ostblock an. Wo lösen sich da die Staaten auf? Wat sich aufgelöst hat, war die Sowjetunion.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von hedgi am 24. Okt. 2005, 22:37 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi doc rudi


Quote:Im vorstaatlichen Zustand gäbe es nur Individuen ohne gegenseitige Verpflichtungen und die Staatsbildung sei ein Vertrag zwischen diesen intelligenten Naturmenschen, der aus der Einsicht resultiert, die Befriedigung des Vergrößerungsstrebens jedes Einzelnen führe zum Kampf jeder gegen jeden.


Gemäß Rousseau könnte der Mensch sich aus einem glücklichen Naturzustand heraus entwickelt haben, woran er vermutlich selbst nicht so richtig dran geglaubt haben wird. Erst der geschlossene Gesellschaftsvertrag brachte die heute uns bekannten Nachteile, wie Entstehung des Eigentums, einer Obrigkeit und der damit verbundenen Willkür, mündeten in die Staatenbildung.


Quote:Aber noch ein Ausblick: die Entwicklung geht dahin, dass das Individuum sich vom Gruppenwesen zum Einzelwesen emanzipiert, also zum System Mensch wird, und sich Staaten auflösen. Und dies setzt allerdings eine bewusste Entscheidung des Individuums voraus: nämlich eine Entscheidung dazu, seine Selbstentfaltung im materiellen Bereich einzuschränken und im geistigen Bereich fortzusetzen. Das ist der Gesellschaftsvertrag der Zukunft: auf materielle Selbstentfaltung zu verzichten, damit die Menschheit überleben kann.


Das Eigentum und wer zur Obrigkeit gehört, genießt zweifelsfrei Vorteile, die nur durch einen Staatsapparat auf Dauer garantiert werden können. Deshalb kommst du nicht um die Antwort herum, warum sollte ein Profiteur auf all seine Vorteile verzichten, die er noch nicht einmal selbst verteidigen muss, weil das ein Staatsapparat mit seiner Polizei und dem Militär das für ihn besorgt.

Es gab schon öfters Utopien, die uns das Paradies auf Erden versprachen, wenn wir, ….. uns entsprechend verhielten.

Aus bisheriger ethnologischer Forschung ist uns bekannt, eine Gesellschaft mit neuen Verhaltensweisen kann alte Gesellschaftsformen nur verdrängen und danach fortbestehen wenn sie den bisherigen gegenüber ökonomisch sowie kulturell überlegen ist. Aber materielle Selbstentfaltung einiger ist ohne ökonomische Stärke ausgeschlossen. Wie wir heute wissen, ist es nicht erforderlich, dass sich alle materiell entfalten können. Der Masse ist es vorbehalten, dafür zu sorgen, dass die wenigen der Oberschicht es können. Aber eine Gesellschaft ohne staatliche Zwangsorganisation wird kaum ökonomische Stärke entwickeln. Das ist das Prinzip der Arbeitsteilung seit der Mensch in größeren organisierten Verbänden lebt. An der Tatsache, dass die große Masse Werte schafft und eine herrschende Schicht diese Werte konsumiert oder einfach nur besitzt, hat sich seit Beginn der Menschheitsgeschichte nichts geändert. Es müsste also ein bedeutender qualitativer Umbruch in der Gesellschaft stattfinden.

Was müsste nun deiner Ansicht nach der Auslöser solch einer Entwicklung sein, und worin liegt die Überlegenheit einer solchen Organisation gegenüber der uns heute Bekannten?

hedgi



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt. 2005, 23:01 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, hedgi,

Erst der geschlossene Gesellschaftsvertrag brachte die heute uns bekannten Nachteile, wie Entstehung des Eigentums, einer Obrigkeit und der damit verbundenen Willkür, mündeten in die Staatenbildung.

Ehm - mal überlegen: welche Verträge hat Herr Hund abgeschlossen? Irgendeinen muss er ja wohl abgeschlossen haben, denn da er sein Eigentum sorgfältig hütet, muss das ja irgendwie gesellschaftlich vertraglich entstanden sein.
;-)

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24. Okt. 2005, 23:07 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Abrazo,
ich sagte bereits, dass ich mich nicht um alles kümmern kann. Kümmere Du Dich doch um die freien Reichsstädte. Ich kann nur sagen: wer sich abschottet, geht unter. Voraussetzung für Leben ist die Offenheit.
Das Geld hatten mal die Fugger und die Welser, wenn ich mich richtig erinnere. So ähnlich wie heute die Banken. Deshalb hatten die bei der Kaiserwahl eigentlich das Sagen. Der Strippenzieher bleibt gern im Hintergrund.
Ich weiß also nicht, was Gemeinwille eigentlich ist. Du hast recht. Ich weiß es nicht. Also sag es mir mal.
Staaten haben sich nicht nur im Ostblock aufgelöst, was Du bei der UdSSR registriert hast, bei Jugoslawien aber übersehen hast, sondern auch im Westblock: einige westeuropäische Staaten haben sich bereits in eine höhere Einheit mit einheitlicher Währung zum Teil aufgelöst, wobei kleinere Einheiten, wie z.B. Bayern, nach meiner Prognose mehr Kompetenz in der Regelung ihrer regionalen Angelegenheiten bekommen werden. Aber eben keine Kompetenz zur Kriegserklärung. Auch Deutschland wird nie wieder einen Krieg erklären, es nimmt jetzt schon an Kriegen, also an bewaffneten Friedenseinsätzen, der Nato teil, hat an die Kompetenzen abgegeben.
Warum meinst Du, Zollgrenzen würden wieder eingeführt werden? Du unterstellst gern etwas, was Du dann kritisierst. Die Entwicklung geht vorwärts und Zollgrenzen werden wir schon deshalb nicht wieder bekommen, weil der Konzern, der in China seine Klamotten produziert und in Köln verkaufen will, den Kölnern was hustet, wenn die wieder Zölle einführen wollen. Die würden dann im übrigen sogar nach Düsseldorf zum Einkaufen fahren.
Der Kölner würde sich höhere Preise in Köln gar nicht bieten lassen.
Ich studiere übrigens nicht Gesellschaften, sondern das Individuum und meine, dass in Zukunft die jetzige bröckelnde Macht der Staaten durch die Macht der Individuen ersetzt werden wird.
Gruß
rudi




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 24. Okt. 2005, 23:37 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------


*seufz*

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24. Okt. 2005, 23:51 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi hedgi,
Du meinst: "An der Tatsache, dass die große Masse Werte schafft und eine herrschende Schicht diese Werte konsumiert oder einfach nur besitzt, hat sich seit Beginn der Menschheitsgeschichte nichts geändert."
Dies sehe ich in mehrerer Hinsicht anders. Unsere materiellen Werte, darunter verstehe ich unsere technischen Errungenschaften: Auto, Flugzeug, Fernsehen, Computer, Internet usw. sind nicht von der Masse geschaffen worden, sondern von einzelnen Menschen, von Individuen, nämlich von denen, die Ideen hatten. In diesen Werten stecken weiterhin deren Ideen. In meinen Augen sind jedoch die Erfinder und die Ingenieure die Schöpfer der materiellen Werte. Konsumiert und benutzt werden diese Werte wiederum von den Individuen und nicht nur von der herrschenden Schicht. Und mit seinen Kaufentscheidungen für das eine oder andere Produkt entscheidet das Individuum, welche Waren wo produziert werden.
Die große Masse der Arbeiter, die in der Produktion beschäftigt ist, wird mehr und mehr als Produzent überflüssig, weil deren Tätigkeit durch Maschinen ersetzt wird. Das Individuum wird immer weniger als Produzent benötigt und immer mehr als Konsument. Die herrschende Schicht ist als Konsument viel zu klein, um die Wirtschaft in Schwung zu halten. Aus diesem Grund hat die von Dir so genannte herrschende Schicht ein objektives Interesse daran, der Masse die finanziellen Möglichkeiten zum Konsum zu geben. Schon jetzt ist es fast so, dass den arbeitslosen Hartz4-Empfängern fast mehr Geld zur Verfügung gestellt wird, als der arbeitenden Bevölkerung. Zu diesem Thema ist die Lektüre der heutigen Spiegel-Ausgabe sehr zu empfehlen.
Die Staaten erweisen sich als völlig inkompetent, die Probleme des Marktes zu lösen, weil sie den Individuen keine Vorschriften bezüglich ihres Aufenthaltsortes und den Firmen keine Vorschriften über ihren Produktionsort machen können. Die Staatsgrenzen verlieren ihre Bedeutung und dementsprechend auch Kriege zur Veränderung von Staatsgrenzen. Wichtig ist die Kontrolle über Energiereserven. Um diese zu sichern werden die Staaten zu Marionetten der Konzerne. Der eigentliche qualitative Umbruch besteht jedoch im Wandel der Rolle des Individuums.
So weit gut für heute.
rudi

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 25. Okt. 2005, 00:20 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

ich habe dir gesagt, doc rudi, was eine Gesellschaft konstituiert: gemeinsame Sprache, gemeinsame Lebensart, gemeinsame Mentalität, kurz, gemeinsame historisch gewachsene Kultur. Was daraus folgt, ist der gemeinsame Wille, so zu leben und diese Kultur zu erhalten.

Gemeinsame Werte gehören übrigens auch dazu: siehe Konflikte zwischen insbesondere USA und islamischer Welt.

Wichtig ist die Kontrolle über Energiereserven. Um diese zu sichern werden die Staaten zu Marionetten der Konzerne.
Vielleicht solltest du dich doch mal ein bisschen mehr um Geschichte kümmern. Dann wüsstest du nämlich, dass de facto das Gegenteil von Kontrolle über Energiereserven der Fall ist: seit 1904 (Kampf um die konstitutionelle Monarchie in Iran in bewußter Gegnerschaft zu den 7 Schwestern, den internationalen Ölkonzernen) ist die Kontrolle nämlich mehr und mehr abhanden gekommen. Seit dieser Zeit haben die Ölkonzerne mit allen möglichen, auch kriegerischen Mitteln, auch gelenkten Putschs, versucht, diese Kontrolle zu erhalten oder wieder zu erlangen - vergeblich. Dagegen stand - der gemeinsame Wille der 'Eingeborenen'. Weswegen auch entsprechende Irak- und Afghanistan-Projekte aus historischer Erfahrung von vorn herein zum Scheitern verurteilt waren. Spiegelleser wussten das vielleicht nicht, der jüngeren Geschichte dieses Raumes Kundige aber schon.

Das Individuum, das du studierst, ist das westliche Individuum. Das ist weltweit in der Minderzahl. Vielleicht spricht sich das in paar Jahrzehnten auch mal herum.

Was seufzest du, Urs? :-)

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 25. Okt. 2005, 11:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Rudi!


Quote:Was das Biologische anbetrifft, ist die Rassenideologie widernatürlich, weil die Evolution Fortschritt durch Mischung erzielt und Reinrassiges zu Verblödung führt.



Nicht weil die Rassendoktrin etwa „widernatürlich“ sei, lehne ich sie ab, sondern weil sie unmenschlich ist. Meine Kritik am Biologismus richtet sich eben grundsätzlich dagegen, menschliche Lebensformen allein in biologischen (oder kybernetischen) Kategorien zu beschreiben, so dass menschliches Handeln und seine Ziele auf biologische Ursachen reduziert werden.

Denn diese Reduktion hat zur Folge, dass individuelle Eigenschaften, individuelles Handeln und individuelle Interessen vernachlässigt, summarisch als determinierte Auswirkungen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten abgehandelt werden. Der Reduktionismus hält die Individualisierung für unwesentlich. Was allein zählt, ist das in generellen Termini (z.B. „Art“) oder generellen Gesetzesaussagen Erfassbare.

Nun unterscheidet sich eben die Gattung Mensch auch dadurch signifikant von anderen Arten, dass ihre „Exemplare“ (aber auch ihre „Populationen“ und „Kulturen“) sehr vielfältige individuelle Lebensformen zeigen. Diese Individualisierung ist so signifikant, dass sie zu den spezifischen Eigenschaften der Gattung gezählt werden muss.

Die Ideologie der Nazis war deshalb „unmenschlich“, weil sie ein Handeln legitimierte, das die individuellen Unterschiede einzuebnen, „gleichzuschalten“ trachtete. So wurden „die Juden“ allein aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung für vernichtenswert gehalten und dann auch faktisch zu vernichten gesucht. Die Rassenpolitik war sozusagen die rücksichtslose Anwendung des generellen Terminus „Rasse“ auf das Handeln. Dabei war diese Ausrichtung des politischen Handelns an generellen Termini nicht auf den Rassenbegriff beschränkt. Ähnlich verfuhr man mit anders definierten generellen Termini wie „Kommunist“, „Russe“, „Homosexueller“, „Behinderter“. Und dies alles sollte angeblich dem „allgemeinen Wohl“ des deutschen Volkes dienen.

(Übrigens stehen sich auch innerhalb der Biologie „reduktionistische“ und „nicht-reduktionistische“ Ansätze gegenüber. Nicht alle Biologen sind etwa damit einverstanden, den Artbegriff rein genetisch zu interpretieren oder – wie R.Dawkins – die phänotypischen Individuen als bloße „Genträger“ zu verstehen. Siehe dazu meinen Beitrag Nr. 54 in „Ich Person, Subjekt, Selbst“ III.)


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 25. Okt. 2005, 11:41 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!



Quote:Was seufzest du, Urs?



Ich seufzte tief in der Nacht angesichts der schweifenden Diskussion.

Aber ich seufzte auch ob des Satzes: "Das ist mir alles zu theoretisch hier." Ich weiß nicht recht, wie untheoretisches Theoretisieren (Philosophieren) gehen soll.

Nichts gegen Beispiele und Beobachtungen "aus dem prallen Leben", aber wir befinden uns in einem philosophischen Forum. Es sollte möglichst immer klar werden, wofür es Beispiele sind, welche theoretische Position mit ihnen bezogen oder belegt wird. Das wäre ein Dienst am Leser, vielleicht sogar am "allgemeinen Wohl" der Mitdiskutanten...

:-)

Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 25. Okt. 2005, 14:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo philoschall,

ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich richtig verstehe. Offenbar siehst Du in der Bundesrepublik den Fall gegeben, dass bestimmte Gruppeninteressen als das Gesamtinteresse ausgegeben werden. Einer Gruppe ist das Kunststück gelungen, die anderen Gruppen davon zu überzeugen, dass ihre partikularen Interessen mit dem Gesamtinteresse zusammenfallen.

Offenbar meinst Du die breite Gemeinsamkeit – ausgedrückt durch eine wahrscheinlich kommende große Koalition – in Bezug auf die Notwendigkeit neoliberal orientierter sozialer Veränderungen, also mehr Markt und weniger Staat.

Mehr Markt heißt: mehr Konkurrenz, mehr Leistungsanreize, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Förderung des Unternehmertums, Abbau der progressiven Besteuerung der Einkommen.

Weniger Staat heißt: weniger staatliche Umverteilung durch Besteuerung, Subventionierung oder staatliche Unterstützungszahlungen, weniger staatliche Leistungen und entsprechende Verringerung der Steuern, der Staatsausgaben und des öffentlichen Personals, verringerte Leistungen der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung und entsprechende Beitragssenkungen, weniger rechtliche Einschränkungen der privaten Wirtschaftstätigkeit durch Genehmigungsverfahren, Kündigungsschutzbestimmungen, betriebliche Mitbestimmung etc.

Diese Maßnahmen entsprechen weitgehend den Interessen der Unternehmer und Kapitaleigentümer, werden jedoch gleichzeitig als im Gesamtinteresse liegend ausgegeben.

Die Kritiker dieser Politik sprechen dagegen von einer Politik des Sozialabbaus und der Kürzung der Realeinkommen gegen die Interessen der breiten Masse der Arbeitnehmer, der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger.

Wenn man entscheiden will, wer in diesem Fall Recht hat, stößt man auf bemerkenswerte Eigenschaften des Interessenbegriffs.

Wenn man vom traditionellen Begriff der kapitalistischen Klassengesellschaft ausgeht, dann scheinen die Klasseninteressen der Kapitaleigentümer/Unternehmer den Klasseninteressen der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer völlig entgegengesetzt zu sein. Was an Löhnen für die Arbeitnehmer ausgezahlt wird, entgeht dem Unternehmer an Gewinn und umgekehrt. Die Interessenstruktur gleicht einem Nullsummenspiel der Spieltheorie: was die eine Partei gewinnt, verliert die andere Partei und umgekehrt.

Und in der Marxschen Theorie der Entwicklung des Kapitalismus ist die Perspektive für die Lohnabhängigen derart aussichtslos (Krisen, Proletarisierung, wachsende Spaltung in Arme und Reiche etc.), dass ihr vorrangiges Interesse die Abschaffung des Systems der kapitalistischen Lohnarbeit sein wird (? … sein sollte?)

Das Problem bei dieser Annahme ist jedoch (ganz abgesehen davon, ob die Marxsche Voraussage richtig ist), dass es kein rationales Interesse der Lohnabhängigen an der Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung geben kann, wenn es keine bessere Alternative zu dieser Ordnung gibt. Nach den deprimierenden Erfahrungen mit der sowjetischen Planwirtschaft ist eine solche Alternative nicht in Sicht.

Wenn aber die Alternative einer Systemveränderung ausscheidet und die Spielregeln einer kapitalistischen Marktwirtschaft gelten, dann kommt die Verflechtung der Interessen der Arbeitnehmer eines Unternehmens mit den Interessen der Eigentümer dieses Unternehmens zum Vorschein: das Interesse der Arbeitnehmer an Lohnzahlungen kann nur befriedigt werden, wenn zuvor der Kapitaleigentümer Gewinn gemacht hat. Macht er Verluste, dann geht das Untenehmen pleite und die Beschäftigten verlieren ihrerseits Arbeitsplatz und Lohneinkommen. Insofern hat unter kapitalistischen Bedingungen auch der Beschäftigte ein Interesse am wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmers. Je größer dessen Gewinne sind, desto höhere Löhne kann er zahlen. (Ob er es tut, steht allerdings auf einem anderen Blatt.)

Wenn man diese Interessenstruktur auf die Gesamtwirtschaft überträgt, so kann es – im Rahmen des gegebenen Kapitalismus – tatsächlich so sein, dass die Gruppeninteressen der Unternehmer mit den Gruppeninteressen der Beschäftigten zusammenfallen und das „Gesamtinteresse“ repräsentieren.

Ich will hier erstmal abschließen, obwohl dazu noch einiges zu sagen wäre. (Aber das werdet Ihr schon machen …)

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 25. Okt. 2005, 15:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Ich will hier erstmal abschließen, obwohl dazu noch einiges zu sagen wäre. (Aber das werdet Ihr schon machen …)



Genau!
:-)

Die Verflechtung der Interessen von Unternehmern und Lohnabhängigen besteht natürlich auch umgekehrt. Sicherlich ist es nicht zu bestreiten, dass nur der Gewinn zu verteilen ist, der zuvor erwirtschaftet wurde. In dieser Hinsicht liegt es im Interesse der Lohnabhängigen, dass ihr „Arbeitgeber“ (der eigentlich ihre Arbeit nimmt und dafür Lohn gibt, also Lohngeber und Arbeitnehmer heißen sollte... :-) ) gut verdient.

Aber ein Unternehmen verdient nur, wenn es etwas verkauft (Waren, Dienstleistungen), d.h. wenn es also hinreichend solvente Käufer für die hergestellten Produkte gibt. Und diese Käufer sind eben ganz überwiegend Lohnempfänger. Insofern liegt es auch im Interesse der Unternehmer, gute Löhne zu zahlen, in sichere und angenehme Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu investieren usw. Auch diese Investition ist eine Maßnahme im Sinne von „Mehr Markt!“

Nur wird eben von den Neoliberalen dieser Aspekt der Gegenseitigkeit vernachlässigt. Wenn sie von der Strukturkrise der deutschen Wirtschaft reden, sehen sie die Beschäftigten, ihre Löhne und ihre Rechte nur als belastenden Kostenfaktor für die Unternehmen. Die Tatsache, dass Lohnempfänger nicht nur Kosten verursachen, sondern, als Käufer, auch zum Gewinn der Unternehmen beitragen, wird notorisch vernachlässigt. Die Gruppe der Beschäftigten und die Gruppe der Kunden werden als völlig getrennt voneinander gesehen.
Es wird also gewissermaßen eine betriebswirtschaftlich beschränkte Perspektive generalisiert.


Für die Frage nach dem Gemeinwohl spielt es offenbar eine Rolle, wovon man beim Verallgemeinern ausgeht: Ob man einen Aspekt (z.B. den betriebswirtschaftlichen) als Ausgangspunkt nimmt oder ob man zunächst das ganze („volkswirtschaftliche“) System wechselseitiger Abhängigkeiten in den Blick nimmt, um von da aus die individuellen Anteile an Leistung und Verpflichtung zu bestimmen.

Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 25. Okt. 2005, 16:51 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo,
@Urs: Du lehnst die Rassendoktrin ab, weil sie unmenschlich ist. Ich weiß zwar, was Du meinst, aber: eine Theorie ist immer vom Menschen geschaffen, sie kann nichts dafür. Du lehnst sie sicher, ab, weil mit ihr unmenschliches Verhalten begründet wird. Handeln tun aber immer die Menschen, nicht die Theorien. Mit dem gleichen Argument kannst Du das Christentum ablehnen, weil es "unmenschlich" ist. Unmenschlich ist jedoch das Verhalten der Kreuzritter in Jerusalem und der Inquisiteure gegenüber ihren Opfern usw..

Die Gattung Mensch zeigt Deiner Meinung nach sehr vielfältige individuelle Lebensformen, Du meinst wohl die Gattung der Primaten oder die Art Mensch, die viele Unterarten, Lebensformen usw. zeigt. Da hast Du recht.
Deine Verleugnung der biologischen Handlungswurzeln mittels des Schimpfworts "Biologismus" bringt Dich leider gar nicht weiter. Ich wusste noch gar nicht, dass Du so unsachlich bist.
Nun waren wir bei unserer Frage bereits dank Abrazos praktischem Vorschlag bei einer überschaubaren Gemeinde (Köln) und

Abrazo meint:

"ich habe ...gesagt, ..., was eine Gesellschaft konstituiert: gemeinsame Sprache, gemeinsame Lebensart, gemeinsame Mentalität, kurz, gemeinsame historisch gewachsene Kultur. Was daraus folgt, ist der gemeinsame Wille, so zu leben und diese Kultur zu erhalten." Wobei der Kölner katholisch sei.

So. Dann fangen wir doch mal bei der Sprache an: konkret sprechen mitnichten alle Kölner Kölsch. Es gibt Kölner, die sprechen nur Türkisch und verstehen nicht mal Deutsch. Auch die Lebensart der Kölner ist unterschiedlich. Manche essen vegetarisch, andere kein Schweinefleisch, mache verschleiern sich in der Öffentlichkeit, die meisten verkleiden sich allerdings zu einer bestimmten Zeit sehr seltsam. Es gibt auch in Köln Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und mitnichten sind alle Kölner katholisch. Es gibt viele Juden in Köln, auch viele Moslems. Der von Dir intendierte "Kölner" ist ein allgemeiner Begriff, eine Abstraktion, in Wirklichkeit passen vielleicht mit einigen Abstrichen 30% der Kölner unter diesen Begriff, genau genommen ist jeder Kölner anders, nämlich ein Individuum. Auf Geschlechts- und Altersunterschiede will ich mal gar nicht eingehen.
Mit anderen Worten: ich könnte Dir unterstellen, Du grenzt alle Juden, Moslems, Kopftuchträger zur Nichtkarnevalszeit usw. aus der Bevölkerung aus. Wenn Du so eine Ausgrenzung vornimmst, hast Du am Ende einige Leute, die Deinen Begriff erfüllen. Aber bei der Bildung einer Kölner Identität spielt in Deinem Denken ein großer Bevölkerungsanteil keine Rolle. Wie Du dann also so salopp zu einer Kölner Kultur kommen willst, kann ich mir zwar denken, aber das ist wissenschaftlich unhaltbar.
Ich definiere den Kölner hingegen völlig ohne Diskriminierung als denjenigen, der in der Stadt Köln seinen Wohnsitz hat.
Die Summe dieser Individuen bildet praktisch nie eine gemeinsame Meinung, eine gemeinsame Kultur oder eine gemeinsame Sprache. Die Identität, Kölner zu sein, wird vielleicht an bestimmte Kölner Produkte geknüpft: den Dom, das Kölsch, den Karneval. Oder an Abgrenzung festgemacht: Nicht-Düsseldorfer-sein. Aber nicht an einer Kultur (der Kölner Karneval ist ein vermarktbares Produkt).
Aber ein wichtiges Bestreben habe alle Kölner (in Köln lebenden): sie wollen, dass Köln Köln bleibt, wie Abrazo auch richtig sagt. Das ist der Überlebenswille eines lebenden Systems höherer Ordnung. Definiert ist dieses System nur durch seine Grenze, und die Grenze eines lebenden Systems ist per definitionem offen.
Es ist das, was ich Selbsterhaltung nenne.
Ein zweites Handlungsziel kommt zum Überleben hinzu: der Vergrößerungswille, die Wachstumstendenz (die Selbstentfaltung). Den kannst Du sehen, wenn Du Dir die alte Stadtmauer ansiehst, die inzwischen in der Innenstadt liegt. Die Stadt hat sich vergrößert.
Was aber das, was Abrazo meint, ausmacht, definiert sich an Abgrenzungen, an Ausgrenzungen (Münchner sind anders und Hamburger auch). Aber die positive Selbstbestimmung ist ein Luftschloss.
Aber: alle Individuen, die in Köln wohnen, wollen in Frieden leben, mit ihren Nachbarn gut auskommen, eine Arbeit haben, Geld verdienen und sich ein bisschen Vergnügen leisten. Das sind nun allerdings allgemeine menschliche Bedürfnisse, die auch der Düsseldorfer hat. Die haben nicht nur alle Deutschen, sondern auch alle Franzosen und alle Chinesen.
Dass die Preussen bisweilen die Franzosen überfallen haben und umgekehrt, ist kein Bedürfnis der Individuen, sondern liegt im Interesse des Systems höherer Ordnung, dessen Interesse nicht die Summenbildung der Einzelinteressen ist.
100000 mal ein Friedenswille ergibt keinen Kriegswunsch.
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 25. Okt. 2005, 17:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,

"Wenn man diese Interessenstruktur auf die Gesamtwirtschaft überträgt, so kann es – im Rahmen des gegebenen Kapitalismus – tatsächlich so sein, dass die Gruppeninteressen der Unternehmer mit den Gruppeninteressen der Beschäftigten zusammenfallen und das „Gesamtinteresse“ repräsentieren." Eberhard

Mit Interesse nahm ich Deinen letzten Text wahr. An obigem Zitat möchte ich anknüpfen, um das von Dir angedeutete Zusammenfallen etwas näher zu beleuchten. Arbeitgeber und Gewerkschaften praktizierten doch seit vielen Jahrzehnten dieses Zusammenfallen. Sowohl die Arbeitgeber wie auch die im Namen der Lohnabhängigen auftretenden Gewerkschaftsführer gingen davon aus, dass es nicht nur für den sozialen Frieden, unternehmerischer Rechtssicherheit, sondern auch für die Regelung der nationalen Massenkaufkraft des Wirtschaftsstandort Deutschland wichtig ist, die Lohnfrage in beiderseitigen Einvernehmen zu verhandeln. Der kapitalistische Unternehmer ist dieser, da sein Interesse um die Profitmaximierung sich dreht. Der Lohnarbeiter ist dieser, da sein Interesse nicht aus dem Besitz und über die massive Verfügbarkeit von Privateigentum (Produktionsstätten ...) resultiert. Sein Interesse resultiert aus der Abhängigkeit vom privatwirtschaftlichen Interesse, dass mit der über Alles gestellten Verfügungsgewalt über Privateigentum sich nicht erst seit gestern globalisierend manifestiert. Die mit dem tradionell marxistischen Klassenkampfbegriff gegebene (Einzelinteresse verabsolutierte) Annahme, dass die Interessen dieser beiden Gruppen sich ausschliessen, wurde und wird in Deutschland (noch) mit dem Zusammengehen der Gewerkschaften und der Arbeitgeber relativiert. Angenommen, dem industriestaatlichen Lohnarbeiter ist seine über den Konsum erschlossene Teilnahme an der kapitalistischen Warenproduktion wichtiger als die Höhe seiner Kaufkraft. Dann ist auch anzunehmen, dass sein Interesse am kapitalistischen Warenmarkt auch dann befriedigt ist, wenn der Binnenmarkt eine Angebotsstruktur aufweisst, welche von Waren bestückt wird, deren Herstellung nicht mehr von seiner, sondern etwa von nah-ost-europäischer und/oder asiatischer Arbeitskraft geleistet wird. Der in Deutschland Beschäftigte wird finden, dass, auch wenn seine Entlohnung völlig jenseits von Flächentarifverträgen, von Gewerkschaftsführern geregelt sein wird, seine Kaufkraft soviel hergibt, verteilt etwa über 1 Jahr 5 Produkte für je 1 Euro zu kaufen. Bedauerlich wird er vielleicht finden, dass auch er vor einigen Jahren Waren produzierte für die er beispielsweise 5 Euro bezahlte, die dann jedoch 5 Jahre seinen Dienst leisteten. Dass Interesse des nicht an nationalen Wirtschaftsstandort gebundenen Industrieunternehmertum, um nur diese Marktunternehmung zu berücksichtigen, ist nicht Qualität zu produzieren, Arbeitsplätze zu schaffen, Gesamtwohl zu realisieren, sondern Produkte herstellen zu lassen, deren Wert in der Profitmaximierung liegt. Die Praktizierung der Steigerung seines Interesses, etwa bezüglich der Lohnarbeit, wird für den Unternehmer umso erfolgreicher sein, je weniger dieser an nationale Eigenheiten der wirtschaftlichen Standorte gebunden ist, je mehr in seinem Vermögen steht, diese Standorte seinem Interesse entsprechend, etwa von nationaler Regierungspolitik formen zu lassen.

Dass Gesamtinteresse der Beschäftigen und der Industrieunternehmer ergibt sich daraus - bezüglich Deutschland - dass für die Massen Waren produziert werden, die für diese auch dann noch legal erreichbar sind, wenn die Binnenkaufkraft sinkt, und daraus, dass auf Seite der Unternehmer diese produzieren lassen, wo die Entlohnung auf jeden Fall noch weit, etwa unter Hartz-4, liegt. Ich sehe hier also, dass die konsumierende Teilnahme der Massenkaufkraft am Massenwarenmarkt das ist, was die beiden Gruppen - bezüglich des EU-Wirtschaftsraumes (noch) - verbindet. Dass rechnet sich für die nicht an nationale Wirtschaftsstandorte gebundende, d.h. für die sogenannte globale Industrie- und Finanzmarktunternehmung. Rechnet sich nicht für die deutsche Staatsunternehmung, deren Haushalt von den Interessen dieser Unternehmungen, etwa mit der Senkung der Lohnnebenkosten UND der auf dem verbilligten Warenmarkt sich wiederfindenen Lohnarbeiterschaft bestimmt wird. Umso schlechter für den deutschen "verschlankten Staat" UND die Lohnabhängigen, wenn die "Reformpolitik" in der Praxis nach hinten losgehen wird: dass in Deutschland, etwa mit grossflächiger Billigentlohnung noch mehr aus dem Arbeitsprozesss herausgestellte Arbeitskraft vom deutschen Staat verwaltet werden muss, während die neoliberale Interessengruppe in ihrer globalen Weltumseglung den deutschen Wirtschaftsstandort weiterhin im Visier behält. Zunehmend aus der Perspektive, dass dieses Land Finanztechnisch immer weniger hergeben wird.

"Offenbar meinst Du die breite Gemeinsamkeit – ausgedrückt durch eine wahrscheinlich kommende große Koalition – in Bezug auf die Notwendigkeit neoliberal orientierter sozialer Veränderungen, also mehr Markt und weniger Staat."

Ist die Gemeinsamkeit kapitalistischer Gesellschaft, ist das Gesamtinteresse hier nicht stets mit der privaten Marktwirtschaftsordnung gegeben, deren Warenproduktion der Faktor ist, um dem vergesellschaftete Einzelinteressen kreisen, mit deren Entfaltung bürgerlicher Staat (ob nun nationalstaatlich oder verschlanktstaatlich), Moral, Ideen ... sich manifestieren?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von hedgi am 25. Okt. 2005, 17:42 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
An Abrazo

Der Gesellschaftsvertrag war Rousseaus Interpretation. Aber vom Gesellschaftsvertrag zu reden ist nicht von der Hand zu weisen. Der Vertrag der Herrn Hund seine materiellen Güter sichert, stammt aus einer Zeit, als es üblich war, Verträge mit der zu beherrschenden Masse mit Blut und Feuer auf ewig ins Gedächtnis einzubrennen.

hedgi

Hi Rudi,

Quote:Du meinst: "An der Tatsache, dass die große Masse Werte schafft und eine herrschende Schicht diese Werte konsumiert oder einfach nur besitzt, hat sich seit Beginn der Menschheitsgeschichte nichts geändert."


Ja genau, bis auf die Methoden. Das was für uns heute das Flugzeug und der Computer ist, war dem Frühzeitmenschen das domestizierte Tier und das Getreide. Alle diese Artikel, egal nun ob Computer oder Getreide, dienen dazu, den Mehrwert des Besitzers zu mehren. Somit ist derjenige mit den Ideen der Begründer unserer modernen Gesellschaft. Dabei ist zu bemerken, dass der Ingenieur, der mit seinen Ideen es überhaupt ermöglicht hat, dass wir so wie heute im relativ im Luxus leben können, nur unwesentlich mehr verdient, als ein Arbeiter. Er steht damit auf der gleichen Stufe wie jeder Arbeiter, dessen Aufgabe es ist, den Reichtum der Großaktionäre zu mehren. Dass er überhaupt am konsumieren beteiligt wird, verdankt er dem Umstand, dass er konsumieren muss, um seine Arbeitskraft zu erhalten, die er an den Arbeitsplatzbesitzer verkauft hat. Nun ist der Konsum Bestandteil des globalen Produktionsprozesses, der auch Mehrwert schafft. Da aber der Mehrwert der Motor der Wirtschaft ist, müssen wir ihm unsere ungeteilte Aufmerksamkeit widmen und aufpassen, dass der Kreislauf nicht zum Stillstand kommt.

Wir haben heute mit zwei schädlichen Entwicklungen zu tun.

Das ist zum einem die Automatisierung, die nur dann dem Menschen schädlich wird, wenn der nicht mehr benötigte Teil der Arbeitenden in die Armut entlassen wird und als Druckmasse gegen die noch im Arbeitsprozess befindlichen benutzt wird. Da dieser Prozess nur langsam voranschreitet, könnte eine starke Gewerkschaft für eine gerechte Anpassung in der Verteilung des erarbeiteten Vermögens sorgen.

Das wirklich große Problem ist die Globalisierung. Dieser Prozess der Verlagerung von Arbeit in Billiglohnländern, hat eine rasante Geschwindigkeit angenommen, dass bis heute unsere Gesellschaft diesem Phänomen ratlos und hilflos gegenüber steht. Hier sollte sich jeder darüber im Klaren sein, diese damit verbundene Verarmung der Gesellschaft trifft nicht nur den gering Qualifizierten sonder nur etwas verzögert, auch den höher Qualifizierten mit einer universitären Ausbildung.

Nun zur Frage wer kontrolliert wen? Der Staat die inzwischen international agierenden Konzerne, oder umgekehrt. Da das Geld bei uns eine Steuerungsfunktion innehat, ist es nicht schwer zu erraten, wer wen steuert, nämlich der, der davon im Überfluss besitzt. Das kann man an den Arbeitsverträgen mit Abgeordneten sehen, deren Gegenleistung nicht schriftlich im Arbeitsvertrag fixiert wurde. Wir können aber davon ausgehen, der Abgeordnete weiß was von ihm erwartet wird, nämlich Loyalität zum Geldgeber bei der Gesetzesverabschiedung.

Nun zum qualitativen Umbruch in der Rolle des Individuums. Das passiert nicht von allein. Irgendetwas muss den Anstoß dazu geben. Da Einigen erhebliche Nachteile durch diese qualitative Änderung entstehen, dürfte der Widerstand dagegen entsprechend groß sein. Daraus ergeben sich bereits Notwendigkeiten. Zum einem kann dieser Umbruch nur bei einem Zusammenbruch des herrschenden Systems stattfinden, und eine Gruppe von Leuten muss eine Vorstellung davon haben, wie eine zukünftige Gesellschaft sich konstituieren kann.

hedgi

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 25. Okt. 2005, 18:55 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo hedgi,
meine Analyse geht vom Individuum aus, vom System Mensch. Geld ist dem Individuum ein Mittel, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Es gibt ihm Entscheidungsfreiheit, weil das Individuum entscheidet, was es von seinem Euro kauft. Zu Marx frühkapitalistischen Zeiten haben die Produktionsmittelbesitzer den Mehrwert für sich selbst realisiert und eingenommen, indem der Arbeiter nur soviel Lohn bekam, wie zur "Reproduktion seiner Arbeitskraft", also zu seiner Selbsterhaltung, erforderlich war. Heute ist das anders. Selbst der Sozialhilfeempfänger erhält mehr Stütze, als er zur Sicherung seines Überlebens benötigt.
Warum wird mit Geld so umgegangen? Geld hat keine Beziehung mehr zur Arbeitsleistung. Oder: selbst Nichtstun wird bezahlt (von der Allgemeinheit, vom Steuerzahler). An die Stelle des Produktionsmittelbesitzers, der den Arbeiter bezahlt, tritt die Gemeinschaft, die den Nichtarbeitenden aus der Steuerkasse bezahlt.
Der Grund ist meines Erachtens erstens der soziale Frieden. Der Mensch will in Frieden leben und gibt dafür gern über seine Steuern Geld an die Arbeitslosen, die sonst klauen müssten.
An diesem System beteiligen sich jedoch auch die "Produktionsmittelbesitzer" bzw. die Firmen, denn letztlich entstammt natürlich auch die Sozialhilfe aus dem Mehrwert.
Auch die tun es nicht aus Nächstenliebe, sondern weil sie ihre Waren verkaufen wollen.
Ein Individuum, das Geld zur Verfügung hat und es damit ausgeben kann, ist allemal besser als ein Individuum, das klaut.
Und meine Position ist die des Individuums, das durch seine Kaufentscheidung darüber befindet, wem es welche Ware die wo produziert ist abkauft.
Mein Ansatz ist nicht der Arbeiter, der nach Marx eine eigene Klasse mit antagonistischem Widerspruch zum Produktionsmittelbesitzer darstellt, sondern das Individuum, das entscheiden kann, ob es Geld ausgibt und wofür. Das Individuum hat die Macht und könnte, wenn sich eine Masse von Individuen gleich verhält, ein Produkt bestreiken und damit einen Konzern zu einer Entscheidung bewegen, die den Individuen nützt, es könnte ein anderes Produkt eines anderen Herstellers kaufen und diesen damit stärken.
Wir brauchen keine Arbeiterstreiks, sondern zielgerichtete Aktionen der Käufer.
Wir brauchen keine Gewerkschaften als Interessenvertreter der Arbeitsplatzbesitzer, sondern "Verbände", die die Interessen der Käufer, der Individuen, vertreten.
Oder so etwas in der Art.
Ich will ja nur den anderen Weg skizzieren. Den Weg der Steuerung der Wirtschaft durch die Individuen. Den qualitativen Umbruch der Rolle des Individuums.
Die "Verbände" könnten zum Beispiel gut über das Internet organisiert werden, ohne Mitgliedschaft, sondern als lockere organisatorische Verbindung zur Steuerung des Konsumverhaltens, um bestimmte Produkte und Firmen zu unterstützen oder nicht zu unterstützen.
Das wäre ein konkreter Handlungsvorschlag.
Endlich handeln anstatt zu labern.
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 25. Okt. 2005, 19:08 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Rudi!

Quote:Deine Verleugnung der biologischen Handlungswurzeln mittels des Schimpfworts "Biologismus" bringt Dich leider gar nicht weiter. Ich wusste noch gar nicht, dass Du so unsachlich bist.



Selbstverständlich leugne ich weder Sinn noch Berechtigung einer Biologie des Menschen. Aber ich bestreite, dass Handlungen zum Gegenstandsbereich der Biologie gehören. Die Rede von „biologischen Handlungswurzeln“ halte ich darum für eine Konfusion.

Mit dem Begriff „Biologismus“ beziehe ich mich auf Versuche, den Gegenstandsbereich der Biologie auch auf Bereiche auszudehnen, die entweder nach dem Selbstverständnis der Biologen nicht ihr Thema sind oder aus sachlichen und methodischen Gründen nicht zu ihrem Thema gemacht werden sollten.
Was ich besonders kritisiere, habe ich gesagt: den dabei praktizierten „Reduktionismus“, die selbsterteilte Erlaubnis zur Entdifferenzierung. Ein Beispiel dafür ist die Abstraktion von individueller Vielfalt in den Lebensformen, wie sie im Begriff des „Genträgers“ zum Ausdruck kommt. Ein anderes wäre die Behauptung, dass die ethischen Normen nur ein „Überbau“ genetischer Programmierung seien.

„Biologismus“ ist also ein durchaus sachlich präziser Begriff, wenn auch ein kritischer. Und mich bringt es sehr wohl weiter, wenn ich eine „Theorie“ kritisiere, die im wissenschaftlichen Gewande daherkommt, aber eher dazu angetan ist, verschwommenes Denken zu popularisieren.



Quote:Ich weiß zwar, was Du meinst, aber: eine Theorie ist immer vom Menschen geschaffen, sie kann nichts dafür. Du lehnst sie sicher, ab, weil mit ihr unmenschliches Verhalten begründet wird. Handeln tun aber immer die Menschen, nicht die Theorien.



Nun, Theorien wachsen nicht auf den Bäumen, sondern gehen auf menschliches Handeln (Beobachten, Unterscheiden, Abstrahieren, Schließen usw.) zurück. Daher gibt es auch richtige und falsche, wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Theorien – je nachdem. Daneben gibt es aber auch Ideologien, also Theorie-Versatzstücke, deren Zweck in der Legitimation verwerflichen politischen Handelns besteht. Der „Biologismus“ kann, wie das Beispiel des NS zeigt, sehr erfolgreich als Ideologie eingesetzt werden – etwa, indem er die pseudowissenschaftliche Berechtigung dafür liefert, Massenmorde zu begehen.

Gute Theorien zeichnen sich weder durch eilfertige Entdifferenzierungen aus noch treten sie mit dem Anspruch auf, die Antwort auf alle wichtigen Fragen zu geben. Anders Ideologien.


Es grüßt Dich
Urs




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 25. Okt. 2005, 20:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Urs,
Ist alles gut und richtig, was Du da sagst.
Hat nur nichts mit mir zu tun.
Ich weiß auch nicht, warum Du und Abrazo Formales zum Thema nehmt, anstatt die Sache und meine konkreten Arbeitsergebnisse dazu (Inhaltliches).
meine Theorie kennst Du doch gar nicht - oder?
Gruß
rudi

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: HIRe: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 25. Okt. 2005, 23:26 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

also gucken wir mal, was hier statt findet.
Titel des Threads: Gemeinwohl und Wohl der Individuen.
Wie soll man das Gemeinwohl für Individuen bestimmen? Nun, ich denke, das ist in der Tat nicht anders möglich als über die Grundbedürfnisse, die das menschliche Individuum von Natur aus hat. Denn die sind das einzige, die die Individuem sozusagen als Art zusammenhalten.

Dem Individuum gegenüber steht der Staat (wer ist das?). Wenn wir den nun beauftragen, das Gemeinwohl zu entdecken - kann er das nicht, wenn es das Gemeinwohl von Individuen ist. Mehr als die natürlichen Grundbedürfnisse gibt es da nämlich nicht zu entdecken.

Der Staat besteht aber nicht aus Individuen. Er besteht aus vergesellschafteten Menschen. Dass die durchaus in der Lage sind, gemeinsam und gemeinsinnig als Gesellschaft zu handeln, zeigt sich im Konfliktfall. Hier zeigt sich, dass Gesellschaften nicht nur gemeinsam handeln, sondern auch gemeinsam eine Meinung bilden - und gemeinsam wollen. Und diesen Willen Machthabern auch schon mal ganz schön um die Ohren hauen können - siehe Mauerfall.

Gerade dieses Beispiel zeigt doch, dass es Unsinn ist, vom Individuum als politischer Kraft zu sprechen. Individuen können noch nicht mal eine Demo organisieren. Die treibende Kraft sind immer Gruppen, in größerem Ausmaß Gesellschaften.

Der Plural von Individuum ist übrigens Massen. Denn Massen sind die Summe gesichts- und willenloser Individuen, über deren gemeinsames Wohl andere bestimmen müssen.

Zu welcher Gruppe, zu welcher Gesellschaft gehört nun ein Individuum? Da sammelt sich eine ganze Menge zusammen. Es hat Familie oder auch nicht, gehört zu einer Region, zu einer Berufsgruppe, zu einer Schicht, von mir aus auch Klasse, hat ein bestimmtes Bildungsniveau, ist Mitglied von Vereinen, Parteien, hat vielleicht nen Kleingarten, Freunde ... jeder Mensch steht im Schnittpunkt all der unterschiedlichen Gruppen, zu denen er gehört. Möglicherweise ist es genau das, was seine Individualität ausmacht.

Wir können sagen, jede Gruppe, jede Gesellschaft hat eine gemeinsame Ansicht dazu, was ihr Wohl ist (dass die meisten aber vordringlich äußern, was anderer Leute Wohl sein soll, steht auf einem anderen Blatt und sollte einen nicht irre machen). Aber keine Gruppe hat eine einzige einheitliche Ansicht, weil jedes Mitglied ja ebenso über andere Gruppen definiert ist. Dennoch haben die in einer Gruppe vertretenen Ansichten, der gemeinsame Willen, die gemeinsame Handlung, eine 'Familienähnlichkeit' miteinander - ein Wort, das ich wähle, weil die Ähnlichkeiten und Unterschiede von Ansichten in einer Gruppe tatsächlich auch so zu differieren scheinen wie die Bedeutungen eines Wortes.

Was bedeutet dann Gemeinwohl? Wenn jeder Bürger im Focus der unterschiedlichen Gruppen steht, durch die er definiert ist? Ist nicht sein Wille immer ein gemeinsamer Willen? Und liegt nicht ein großer Fehler darin, Bürger aufgrund der Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe auseinander zu dividieren?

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 26. Okt. 2005, 10:19 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!


Ich bin mit vielem einverstanden, was Du in Deinem letzten Beitrag geschrieben hast. Hier nur eine vereinzelte Anmerkung.

Quote:Wie soll man das Gemeinwohl für Individuen bestimmen? Nun, ich denke, das ist in der Tat nicht anders möglich als über die Grundbedürfnisse, die das menschliche Individuum von Natur aus hat.



Dass menschliche Individuen immer schon vergesellschaftet sind, wie Du später sagst, macht es schwierig, allgemeine Grundbedürfnisse auszubuchstabieren. Soll man sich nur auf das beschränken, was der Organismus „objektiv“ braucht – Nahrung, Schutz vor Witterung – oder kommen auch „gefühlte Bedürfnisse“ hinzu? Z.B. wissen wir, dass es in jeder menschlichen Gesellschaft „ästhetische“ Betätigungen gibt (Musik, Tanz, „Design“...); kann man daraus schließen, dass Ästhetik zu den Grundbedürfnissen gehört?
Schwierig.

Darum scheint mir, dass man besser darauf verzichtet, aus einer Beobachterperspektive und im Allgemeinen allzu viel über die Grundbedürfnisse „des“ Individuums zu sagen. Man begnügt sich am besten mit der Feststellung, dass Menschen ihre Grundbedürfnisse nur vergesellschaftet befriedigen können, so dass auch Gesellschaft zu diesen Grundbedürfnissen zählt. Wie die Bedürfnisse der Individuen dann im einzelnen beschaffen sind, hängt mit der Art und Weise zusammen, wie sie jeweils vergesellschaftet sind.

Menschen sind eben – anders als Tiere – auf vielfältige Weisen vergesellschaftet. Es genügt, an die verschiedenen Formen zu denken, in denen Menschen „Verwandtschaft“ definiert und gestaltet haben. Darum wird eine inhaltliche Bestimmung von „allgemeinen“ Grundbedürfnissen immer einer großen Zahl von Individuen nicht gerecht werden.

Wenn es um das Wohl der Individuen geht – und das wäre ja die Befriedigung ihrer Bedürfnisse – dann lässt sich das genau aus diesem Grund nicht aus einer „objektiven“ Beobachterperspektive und nicht ein für alle Mal formulieren. Wann ein Individuum „faktisch“ befriedigt ist, kann es nur selbst entscheiden. Dieses Wörtchen, das das Individuum bei der Bestimmung seiner Grundbedürfnisse mitzureden hat, kann nicht übergangen werden, wenn man der spezifisch menschlichen Lebensweise gerecht werden will.


Später mehr.
Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 26. Okt. 2005, 11:33 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ich sehe auch die Gefahr der Unübersichtlichkeit unserer Diskussion. Die Diskussion über Gemeinwohl und Wohlergehen der Gruppen und Individuen in der heutigen Bundesrepublik erscheint mir jedoch aktuell zu wichtig, um sie abzuwürgen. Wir sollten bei unseren Ausflügen in die Ökonomie und die Soziologie allerdings immer die philosophische Frage im Hinterkopf behalten (Wie lässt sich ein Gemeinwohl bestimmen, das für das Handeln der Einzelnen und Gruppen – auch gegen deren spezifische Interessen - verpflichtend ist?)

Zu der Interessenkonstellation von Kapitaleigentümern/Unternehmern auf der einen Seite und den abhängig Beschäftigten auf der anderen Seite (bezogen auf die aktuellen deutschen Verhältnisse) noch eine Ergänzung.

Der politische Streit geht inzwischen wohl weniger darum, ob es überhaupt schmerzhafte Einschnitte bei den empfangenen Leistungen geben soll, sondern der Streit geht eher darum, wie diese Kürzungen „sozial ausgewogen“ gestaltet werden können, so dass die Sanierung der sozialen Sicherungssysteme nicht nur den durchschnittlich oder gering Verdienenden aufgebürdet wird. Es gibt allerdings bestimmte Umstände, die eine Ausgewogenheit der Lastenverteilung verhindern.

Die Bezieher von Kapitaleinkommen (Zinsen, Dividenden, Wertpapiergeschäfte etc.) haben gegenüber den Beziehern von Arbeitseinkommen in der gegenwärtig rapide fortschreitenden Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen den großen Vorteil, dass das Geld mühelos die Grenzen überschreitet und z.B. in Investitionen in Malaysia oder der Tschechischen Republik angelegt werden kann und dort eine Rendite erbringt. Insofern sind die Bezieher von Kapitaleinkommen gar nicht in dem Maße von der wirtschaftlichen Entwicklung auf deutschem Boden abhängig wie die Bezieher von Arbeitseinkommen, die ja nicht ihr Geld, sondern die persönliche Arbeitskraft einsetzen. Als sozial eingebundene Personen sind diese von Arbeitsplätzen in der Umgebung ihres Wohnortes abhängig.

Insofern sitzen beide Gruppen nicht mehr unbedingt in einem Boot: Das Wohlergehen der deutschen Kapitaleigentümer mit internationalem Portefeuille ist nicht mehr an das Wohlergehen des deutschen Arbeiters oder Angestellten geknüpft.



Hallo Urs,

dass es im Interesse der Unternehmer/Kapitaleigentümer liegt, höhere Löhne zu zahlen, um eine größere Nachfrage nach den eigenen Produkten zu erzielen, stimmt wahrscheinlich für Unternehmer in Deutschland nicht. Höhere Löhne bedeuten höhere Kosten und das Problem ist heute schon, dass wir Autos, Musikanlagen, Computer etc. etc. etc. Made in Fernost kaufen, weil diese preisgünstiger sind. Eine solche Lohnpolitik würde wohl nach hinten losgehen angesichts des internationalen Lohngefälles, das bereits jetzt schon zu Produktionsverlagerungen ins Ausland führt.

Zum Begriff „Arbeitnehmer“: Dieser Begriff ist so korrekt wie der Begriff „Arbeitsloser“, bei man ja auch nicht vom „Arbeitsanbieter“ spricht. Mit dem Wort „Arbeit“ bezeichnet man ja nicht nur das Arbeiten als Tätigkeit sondern auch die durch diese Tätigkeit zu bewältigende Aufgabe, und letzteres ist beim Arbeit Suchenden und Nehmendem gemeint.



Hallo Hedgi,

ich kann mir nicht verkneifen, zu Deinen Ausführungen einige kritische Anmerkungen zu machen, obwohl dies zugegebenermaßen nicht unser Thema betrifft.

Mit Deinen Problembestimmungen (Globalisierung, Vormarsch der Mikroelektronik) stimme ich überein. Ich habe allerdings Probleme mit Formulierungen wie: „Alle diese Artikel, egal nun ob Computer oder Getreide, dienen dazu, den Mehrwert des Besitzers zu mehren.“

Derartige Zweck- oder Funktionsbestimmungen („dienen zu“, „haben den Zweck, die Aufgabe, die Funktion, den Sinn etc.) sind methodisch problematisch, weil man mit ein und derselben Sache oder Handlung die verschiedenste Zwecke bzw. Funktionen verbinden kann.

Dass der Bäcker Brot backt, nicht um andere Menschen satt zu machen, sondern um sie mit Gewinn zu verkaufen, ist eine empirisch nachprüfbare Aussage über die Motivation und die Absichten des Bäckers. Ein Indikator hierfür wäre, ob er die Brote verteilt oder verkauft.

Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Brote dieses auch Bäckers dazu dienen, Menschen satt zu machen.

Das gleiche gilt für die Aussage über den Arbeiter, „dessen Aufgabe es ist, den Reichtum der Großaktionäre zu mehren.“

Empirisch überprüfbar ist die Aussage, dass ein Unternehmer niemanden einstellt, um ihm Lohn zu zahlen, sondern um seine Arbeitskraft gewinnbringend einzusetzen.

Dies schließt jedoch nicht aus, dass es auch die Aufgabe des Arbeiters ist, mit seiner Arbeit Geld zum Unterhalt für sich bzw. seine Familie zu verdienen.

Die Problematik solcher Funktionsbestimmungen wird deutlich an dem Satz: „Dass er (der Ingenieur im Flugzeugbau) „überhaupt am Konsumieren beteiligt wird, verdankt er dem Umstand, dass er konsumieren muss, um seine Arbeitskraft zu erhalten, die er an den Arbeitsplatzbesitzer verkauft hat.“

Dahinter steht die These, dass der Lohnabhängige mit seiner Arbeitskraft der Erzeugung von Mehrwert dient. Diese Funktion kann er nur erfüllen, wenn seine Arbeitskraft erhalten wird. Dies setzt Konsum voraus. Allein diesem Umstand verdankt er seine Beteiligung am Konsum.

Wenn man nun zur Relativierung einer derartigen Funktionsbestimmung darauf hinweist, dass dieser Ingenieur einen Mercedes der S-Klasse fährt und eine Ferienwohnung in den Dolomiten hat, so fällt all dies unter die Rubrik: „dient der Reproduktion der Ware Arbeitskraft“. Insofern ist diese These so konstruiert, dass sie nicht empirisch belegt oder widerlegt werden kann, womit sie wissenschaftlich unbrauchbar ist. Genauso wie die allgemeine Aussage, das kapitalistische Unternehmen erfülle den Zweck, dass sich Menschen durch Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen können.



Hallo Abrazo,

wo alle bereits einen gemeinsamen Willen haben, wo es keine Interessenkonflikte gibt, da muss auch nicht nach dem gemeinsamen Interesse gefragt werden. Das ist unbestritten.

Die Frage ist allerdings: Trifft das auf alle Bereiche zu? Wenn nein, auf welche Bereiche trifft es nicht zu?

Die Gesamtheit muss übrigens auch nicht immer der Staat bzw. die Gesamtheit der Staatsbürger sein, das Problem von individuellem Interesse und Gesamtinteresse kann sich schon in einer Paarbeziehung, in einer Seilschaft von Bergsteigern oder in einer Karnevalsgesellschaft stellen.

Es grüßt alle Diskussionsteilnehmer und Nur-Leser Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 26. Okt. 2005, 11:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Dass die hohen Lohn(neben)kosten für Deutschland im Moment ein Problem sind, stimmt wohl. Aber ebenso ist es ein Faktum, dass die Binnenkonjunktur lahmt, und das hat sicher auch mit der Abwärtsentwwicklung der Löhne zu tun, aber auch mit der Verunsicherung durch Globalisierungseffekte.

Es ging mir bei meiner Antwort aber mehr darum, auf die Gegenseitigkeit der Verflechtungen hinzuweisen, die man nicht in den Blick bekommt, wenn man jeweils nur einen perspektivischen Ausschnitt generalisiert. Darum bleibt eine "volkswirtschaftliche" (europäische, globale) Perspektive wichtig, um von ihr her verkürzte Generalisierungen beurteilen zu können.

Dass die Lohnempfänger auch Konsumenten sind, ist doch als Ausage über das System der ökonomischen Abhängigkeiten insgesamt unbestreitbar. Nur ist die augenblickliche Lage durch das riesige Wohlstandsgefälle innerhalb der Weltökonomie prekär. Auf lange Sicht wird sich aber dieses Gefälle ausgleichen und der Konkurrenzdruck auf die Löhne sich entschärfen. Bis dahin gilt es in Europa einigermaßen heil über die Runden zu kommen - und gleichzeitig durch globale Regelungen den Ausgleich zu befördern.


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 26. Okt. 2005, 15:52 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteinander!


Ich möchte noch einmal auf die beiden unterschiedlichen Modelle von „Gemeinschaft“ eingehen, die ich angedeutet habe. Ihr Unterschied liegt in der Weise, wie das Verhältnis der Einzelnen zum Ganzen vorgestellt wird.



Im Vertragsmodell wird von einer Pluralität von Individuen ausgegangen, die jeweils eigene Ziele verfolgen (jeweils eine eigene Vorstellung von ihrem „Wohl“ haben). Zugleich wird jedoch vorausgesetzt, dass die individuellen Ziele gleichwertig seien, dass also jedes Individuum „das gleiche Recht“ habe, das Seine zu wollen. Fragt man nun unter dieser Voraussetzung danach, wie sich die Interessen der Individuen harmonisieren lassen, sollten sie fallweise in Konflikt miteinander geraten, so erzwingt die vorausgesetzte Gleichwertigkeit aller Einzelinteressen dazu, dass man Einschränkungen finden muss, die für alle gleich gelten. Das führt zu Sätzen wie: „Jeder darf – mit Rücksicht auf das Wohl aller – nichts für sich fordern, was nicht auch jeder andere fordern dürfte.“

Eine der Fragen, die man hier stellen kann, wäre: Wie kommt man zu der Voraussetzung, dass alle individuellen Interessen, so verschieden sie inhaltlich sein mögen, als gleichwertig zu gelten haben? Gleichwertigkeit ist ja eine formale Eigenschaft, die bereits gleichbleibende Beziehungen zwischen den verschiedenen Individuen voraussetzt. Mit dieser Voraussetzung ist also die Frage nach der Gemeinschaft und dem allgemeinen Wohl implizit schon beantwortet. Das weitere – die erforderliche allgemeine Einschränkung der individuellen Interessen - folgt logisch daraus.
(Dieser Punkt ist auch gegen Hobbes’ Staatskonstruktion immer wieder eingewendet worden: Der sog. „Naturzustand“ setzt das (egalitäre) Recht, das doch erst im noch zu begründenden Staat herrscht, schon voraus.)

Aber wie ist diese implizite „Gemeinschaft“ der Individuen vorgestellt? Als Mengenbegriff: Die Menschheit, das ist eine Klasse aus gleichen Exemplaren. Damit ist auch klar, dass die aktuelle Verschiedenheit der Individuen für diese „Gemeinschaft“ keine Rolle spielt. Sie geht nicht ins Gemeinsame ein. Individualität ist das, wovon man absehen muss, wenn man das Gemeinsame bestimmen will.



Das andere Gemeinschaftsmodell ist ein „funktionales“, also gewissermaßen „arbeitsteiliges“ Modell. Es hat den Vorzug, dass die Eigenheiten der Individuen als integraler Bestandteil der Gemeinschaft verstanden und anerkannt werden können. So kann der Einzelne gerade dadurch, dass er seine individuellen Interessen verfolgt, dem Bestand des Ganzen dienen. Er tut und will das Seine, aber durch vielfältige Beziehungen des Gebens und Nehmens zwischen den Einzelnen wird dieses Eigene nicht nur als gleichwertiger Beitrag zum Ganzen bestimmbar, sondern wirkt sich sogar als Bereicherung von dessen Komplexität aus.

Aber auch dieses Modell hat seine Probleme. Und ich denke, dass beide Modelle nicht als Konkurrenten gesehen werden sollten, die einander ausschließen, sondern als Ergänzungen und gegenseitige Korrektive.


Ich breche hier ab und grüße
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 26. Okt. 2005, 20:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

es geht um die Bestimmung eines verpflichtenden Gemeinwohls (Gesamtinteresses, allgemeinen Interesses ..) und dessen Verhältnis zum Wohl der Individuen, die das Gemeinwesen bilden.

Du schreibst: „Im Vertragsmodell wird von einer Pluralität von Individuen ausgegangen, die jeweils eigene Ziele verfolgen … Zugleich wird jedoch vorausgesetzt, dass die individuellen Ziele gleichwertig seien, dass also jedes Individuum „das gleiche Recht“ habe, das Seine zu wollen. …

Mit dieser Voraussetzung ist … die Frage nach der Gemeinschaft und dem allgemeinen Wohl implizit schon beantwortet. Das weitere – die erforderliche allgemeine Einschränkung der individuellen Interessen - folgt logisch daraus.“

Wenn ich Dich richtig verstehe, so siehst Du hier den logischen Fehler, dass das, was erst zu beweisen wäre (die Gleichwertigkeit der individuellen Interessen), bereits durch die Konstruktion des Problems vorausgesetzt wird.

Diese Kritik trifft zumindest auf mein Verständnis von der Bildung eines normativ verpflichtenden Gemeinwohls nicht zu.

Um das zu begründen, muss ich theoretisch etwas weiter ausholen. (Ich hoffe, dass der Gedankengang trotzdem nachvollziehbar bleibt.)

Wenn etwas als im allgemeinen Interesse liegend und deshalb für die Einzelnen als verpflichtend behauptet wird, dann wird damit eine normative Behauptung aufgestellt, für die allgemeine Geltung beansprucht wird.

Soll dieser Geltungsanspruch gegenüber den Individuen mehr sein als ein bloßes Verlangen von Befolgung und Gehorsam, so muss es für die Individuum einsichtige Gründe für die Zustimmung zu dieser Norm geben.

Mit anderen Worten heißt dies, dass die Norm allgemein nachvollziehbar begründet und somit konsensfähig sein muss.

Aus dieser Zielbestimmung, in Bezug auf die Normen des Handelns für die Mitglieder des Gemeinwesens zu einem rein argumentativen zwangfreien Konsens zu kommen, leitet sich die Forderung nach einer unparteiischen Berücksichtigung aller individuellen Interessen ab. Eine parteiische Gewichtung von individuellen Interessen wäre für diejenigen, deren Interessen weniger Gewicht beigemessen wird, nicht akzeptabel.

Ich sehe bei diesem Ansatz zur Begründung von Normen keine unzulässige Voraussetzung dessen, was erst zu beweisen wäre.

Abschließend noch eine Bemerkung zur Terminologie. Ich halte es nicht für ganz glücklich, die individualistische Konzeption des Gemeinwohls (das kollektive Interesse wird durch Zusammenfassung der individuellen Interessen gewonnen) allein einem „Vertragsmodell“ der Gemeinschaft zuzuordnen. Die Aggregation der individuellen Präferenzen zu einer kollektiven Präferenz kann z.B. auch nach der Mehrheitsregel erfolgen, die zu völlig anderen Ergebnissen führt als die Vertragsfreiheit von Eigentümern.

Grüße an Dich und alle an normativen Fragen Interessierten von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 26. Okt. 2005, 23:01 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Wenn etwas als im allgemeinen Interesse liegend und deshalb für die Einzelnen als verpflichtend behauptet wird, dann wird damit eine normative Behauptung aufgestellt, für die allgemeine Geltung beansprucht wird.



Du siehst mich etwas überrascht. Ich dachte, wir diskutieren hier über den Begriff des Gemeinwohls und wie er sich bestimmen lasse. Ist eine solche Bestimmung die Aufstellung normativer Behauptungen?

Nach meinem Verständnis geht es zunächst um ein angemessenes Verständnis von menschlicher „Gemeinschaft“, und das ist eine interpretatorische oder deskriptive Aufgabe – also ein Stück „Gesellschaftstheorie“. Das „Wohl“ eines Individuums oder das „Wohl“ vergesellschafteter Individuen hat zunächst einmal mit Normen oder normativen Ansprüchen nichts zu tun. Natürlich sind Normen oder Verpflichtungen insofern Teil einer Gesellschaftstheorie, als Gesellschaften durch Normen geformt werden – so wie das Schachspiel von den Spielregeln. Aber eine Beschreibung gesellschaftlicher Formen bzw. eine Diskussion über mehr oder weniger angemessene Modelle für das Verstehen von „Gesellschaft“ besteht nicht aus normativen Behauptungen.

(Außerdem: Das „Wohl“ eines Individuums (oder einer Gemeinschaft aus Individuen) ist nicht gleichzusetzen mit dem Interesse oder dem Bedürfnis, sondern meint die Befriedigung des Interesses oder Bedürfnisses. Das Wohl ist das, worauf sich das Interesse oder das Streben richtet.)



Um das Gesagte an einem Beispiel zu erläutern: Wenn jemand behauptet:„Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 % dient dem Gemeinwohl“, so formuliert er damit keine Forderung („Ihr sollt...“), sondern behauptet eine Tatsache. Allerdings ist es eine Tatsachenbehauptung, die einen normativen Anspruch begründen soll – nämlich die künftige Verpflichtung, die erhöhte Steuer zu bezahlen. Es wird implizit behauptet: Diese Maßnahme, die vordergründig nicht im Interesse der einzelnen Steuerzahler liegt, dient in Wahrheit doch dem Wohl des Gemeinwesens und damit indirekt auch dem Wohl jedes Einzelnen.

Der Anspruch auf Befolgung der staatlichen Anordnung wird hier also mit einem Hinweis auf die faktische Verflochtenheit der Interessen aller Staatsbürger begründet. Und wenn man diese Begründung überprüfen will, so muss man nicht in ein Gesetzbuch oder eine Sittenlehre schauen, sondern muss die Art und Weise analysieren, nach der die Interessen aller Mitglieder dieses Gemeinwesens vermittelt sind. Konkreter gesprochen: Es muss gezeigt werden, auf welchen Vermittlungswegen die Mehrkosten des Konsumenten ihm faktisch zugute kommen.

So zielt die Frage nach dem Zusammenhang von individuellem Wohl und Gemeinwohl auf die Art und Weise, wie das Gemeinwesen organisiert ist oder sein kann. Und diese Art der Vermittlung lässt sich dann evtl. auch beurteilen, z.B. ob sie gerecht ist oder nicht.

(Selbstverständlich erheben auch deskriptive Aussagen Anspruch auf allgemeine Geltung. Aber dieser Anspruch wird hier eingelöst durch Tatsachen.)


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 26. Okt. 2005, 23:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,


"Offenbar meinst Du die breite Gemeinsamkeit – ausgedrückt durch eine wahrscheinlich kommende große Koalition – in Bezug auf die Notwendigkeit neoliberal orientierter sozialer Veränderungen, also mehr Markt und weniger Staat." Eberhard

Ist die Gemeinsamkeit kapitalistischer Gesellschaft, ist das Gesamtinteresse hier nicht stets mit der privaten Marktwirtschaftsordnung gegeben, deren Warenproduktion der Faktor ist, um dem vergesellschaftete Einzelinteressen kreisen, mit deren Entfaltung bürgerlicher Staat (ob nun nationalstaatlich oder verschlanktstaatlich), Moral, Ideen ... sich manifestieren?

"Der politische Streit geht inzwischen wohl weniger darum, ob es überhaupt schmerzhafte Einschnitte bei den empfangenen Leistungen geben soll, sondern der Streit geht eher darum, wie diese Kürzungen „sozial ausgewogen“ gestaltet werden können, so dass die Sanierung der sozialen Sicherungssysteme nicht nur den durchschnittlich oder gering Verdienenden aufgebürdet wird. Es gibt allerdings bestimmte Umstände, die eine Ausgewogenheit der Lastenverteilung verhindern. ... Insofern sitzen beide Gruppen nicht mehr unbedingt in einem Boot: Das Wohlergehen der deutschen Kapitaleigentümer mit internationalem Portefeuille ist nicht mehr an das Wohlergehen des deutschen Arbeiters oder Angestellten geknüpft." Eberhard

Diese realistische Erkenntnis berücksichtigend, wird die künftige große Koalition wohl demnächst Innenpolitik präsentieren, mit der die an den geographischen Ort gebundene deutsche Gesellschaft in die Anständigen und in den (nationalen) Abzockern an der Sozialgemeinschaft geteilt wird. Was sich beispielsweise im Linksbündnis sammelt, könnte den gesellschaftlichen Raum abgeben, wo die große Koalition die Verhinderer des Gemeinwohl und des Wohl der Anständigen sichtet. Diese gesellschaftliche Gruppe könnte die Steigerung hergeben, hinter der die Sozialpolitik der grossen Koalition in den Medien zurückgestellt wird. Die gesichteten "Anderen" könnten medial den Anständigen präsentiert werden, vor deren Darstellung die Sozialpolitik der grossen Koalition aus dem Gesichtsfeld der Wählerschaften verschwindet. Dass wäre zugleich das Eingeständniss der großen Koalition, dass die Arbeitslosigkeit, dass diese Folge der sogenannten Globalisierung mit Innenpolitik nicht mehr in den Griff zu bekommen ist. Anstelle dessen wird "Innenpolitik" favorisiert in der jene gesellschaftlichen Einzelinteressen ausgebootet werden, die - im Sog der neoliberalen Aussenwirtschaftspolitik des deutschen Staates, als Abzocker betitelt, geraten - im angestammten Parteiengefüge keinen Platz mehr finden.

(Wie lässt sich ein Gemeinwohl bestimmen, das für das Handeln der Einzelnen und Gruppen – auch gegen deren spezifische Interessen - verpflichtend ist?)

Voraussetzung ist doch wohl, dass bei der Behandlung des Gemeinwohls die Einzelinteressen so berücksichtigt werden, dass diese mit im Boot bleiben. Oder kann Gemeinwohl favorisiert werden, dessen Gefüge stigmatisierte gesellschaftliche Gruppen darstellen: welche Gruppen von Volksparteien ... als die "Anderen" konsturiert werden!? Nicht auszuschliessen, dass stigmatisierte Gruppen - bezogen auf die die Gesellschaft darstellenden Einzel- und Gruppeninteressen - der Normalfall sind. Allerdings ist der Anspruch kapitalistischer Gesellschaft, die Wert auf repräsentative Demokratie legt, dann schwerlich aufrecht zu erhalten. Wenn der angenommene Normalfall, die mit dem Einzel- und Gruppeninteresse sich manifestierende begriffliche Konstruktion des "Anderen", nicht nur im sozusagen vorparlamentarischen Raum der Gesellschaft sich äussert, sondern sich auch mit den diesen Raum repräsentierenden politischen Parteien manifestiert - lässt sich dann nicht der Verfallsprozess kapitalistischer Gemeinwesen diagnostizieren?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 27. Okt. 2005, 01:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

ich wiederhole: die Diskussion ist mir zu abstrakt. Abstrakt in dem Sinne, dass sie keinen Bezug zur menschlichen Wirklichkeit hat.

Nehmen wir das Wort Staat. Staat ist nach klassischer Definition definiert durch Staatsvolk, Staatsterritorium, Regierungsgewalt. Wenn ihr also vom Staat redet: wovon redet ihr? Was meint ihr damit? Und wen?

Um vielleicht besser zu klären, wo ich Probleme mit dem Wort Individuum habe: Welche Eigenschaften hat das Individuum? Ich stelle fest: gar keine, außer denen, die die Art Mensch hat. Also die biologischen Bedürfnisse, wobei - da hat Urs recht - das Bedürfnis nach Gesellschaft nicht übersehen werden sollte. Deswegen sage ich, wenn (!) wir von Individuen sprechen, dann ist klar, was im gemeinsamen Wohl liegt: die Befriedigung ihrer biologischen Bedürfnisse. Und sonst? Tja, sonst kann man über das Individuum nichts sagen, das sehe ich als das Problem an.

Wenn wir uns mit dieser Sicht an Hobbes machen, ist klar, dass seine Theorie funktioniert. Lediglich mit den der Art Mensch zukommenden Eigenschaften ausgestattete Individuen haben alle gleiche Interessen und sind alle gleich. Solche Wesen können einen Gesellschaftsvertrag unter gleichen abschließen - auch, um ihre natürlichen Aggressionen im Griff zu halten.

Nur: Menschen sind in diesem Sinne keine Individuen. Es ist falsch, sie in dem Sinne als Individuen zu betrachten, dass sie Elemente sind, auf die gleichermaßen die Kriterien zutreffen, durch die die Menge Mensch definiert ist. Falsch, weil es nicht der Wirklichkeit entspricht.

Ich fürchte aber, wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir das gar nicht mehr merken. Wir fragen, wie kann der Staat herausfinden, was dem Gemeinwohl - so es das gibt - entspricht und entsprechende Normen beschließen? Wir fragen das von außen, denn wir sind weder der Staat (höchstens fiktive Philosophenkönige [unhappy]), noch sind wir Individuen, sondern selbständig denkende Menschen mit persönlichen Eigenschaften. Als solche betrachten wir die Sache etwa so wie ein paar Architekten, die über einem Plan diskutieren, wie man eine Wand entfernen kann, wenn die Statik das eigentlich nicht zulässt.

In der Suchtliteratur gibt es den Begriff Depravation, am besten übersetzt mit 'Persönlichkeitsentkernung'. Ein langjähriger Schwerstabhängiger verliert mit der Zeit die Fähigkeit, selbst zu denken, selbst zu entscheiden, mehr als momentan und diffus zu wollen. Und emotional verhält er sich mehr und mehr wie ein Kind. Wenn wir vom Individuum sprechen, das dem Staat gegenüber steht: setzten wir nicht unwillkürlich den depravierten Menschen voraus?

Ist das nicht auch in anderen Bereichen üblich, besonders in der Wirtschaft? Die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer, die Arbeitslosen, die Kapitalisten, die Arbeitskräfte - sind das im Grunde nicht alles depravierte Menschen, die nur durch ein einziges äußerliches Merkmal zusammengefasst werden?

Nehmen wir Urs' Bäcker als konkretes Beispiel.
Dass der Bäcker Brot backt, nicht um andere Menschen satt zu machen, sondern um sie mit Gewinn zu verkaufen, ist eine empirisch nachprüfbare Aussage über die Motivation und die Absichten des Bäckers. Ein Indikator hierfür wäre, ob er die Brote verteilt oder verkauft.

Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Brote dieses auch Bäckers dazu dienen, Menschen satt zu machen.
Und warum verkauft er dann keine Autoreifen?
Diese Ansicht gibt es ja durchaus.
Warum studiert der Trottel denn Jura, wenn wir Maschinenbauingenieure brauchen? Mit Juristen kann man die Straße pflastern. Im Grunde schmarotzt er nur am gesellschaftlichen Bildungsgut. Soll er Ingenieur studieren, davon hat die Gesellschaft was und er auch, nämlich sicheren Lebensunterhalt Nützt allen, ist Gemeinwohl.
Wenn man von depravierten Menschen ausgeht, ist das kein Problem.

Du sprichst von Kunst als menschliches Bedürfnis. Gut. Jede Opernkarte wird mit mehr als dem Doppelten ihres Verkaufspreises subventioniert. Möchtest du, Urs, eine Umfrage machen, was die Mehrheit der Bürger einer Kommune davon hält? Entspricht es dem Gemeinwohl, Opernkarten für eine Minderheit der Bevölkerung zu subventionieren, statt für die Mehrheit der Bevölkerung die Straßen auszubessern?

Nur wenn die Oper abgerissen werden soll, dann ist das Geheule groß, denn dann geht's um's Renommee der Stadt, dann liegen die Interessen auf einmal ganz anders.

Nein, ich glaube, wir sollten anders ansetzen. Nicht bei den Interessen der Individuen oder durch ein einziges Merkmal gekennzeichnete Gruppen, sondern bei dem, was für unsere Gesellschaft konstituierend ist: bei der Verfassung. Und bei der gemeinsamen Kultur. Und dann fragen, wie bekommen wir das, was unsere Gesellschaft anmutet, so in den Griff, dass wir es für unsere Entwicklung nutzen können oder dass es unserer Entwicklung auf der Basis von Verfassung und Kultur zumindest nicht schadet.

Also nicht, was ist zu diesem spezifischen Problemfall als Gemeinwohl auszumachen, sondern, welche Normen, mit denen wir diesen Problemfall lösen könnten, passen zu unserem Selbstverständnis. Und wer unser Selbstverständnis mal bisschen genauer betrachet, der findet, dass darin die Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen und Subkulturen durchaus zu berücksichtigen sind, selbst wenn es Minderheiten sind.

Ich denke, so können wir eher zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens gelangen.

Wenn ich mich noch nicht so ganz klar ausdrücken kann, dat is mir auch noch nicht hunderprozentig klar, ich arbeite noch dran :-)

Gruß
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 27. Okt. 2005, 12:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Noch zu Deinem vorletzten Beitrag:


Quote:Der Staat besteht aber nicht aus Individuen. Er besteht aus vergesellschafteten Menschen. Dass die durchaus in der Lage sind, gemeinsam und gemeinsinnig als Gesellschaft zu handeln, zeigt sich im Konfliktfall. Hier zeigt sich, dass Gesellschaften nicht nur gemeinsam handeln, sondern auch gemeinsam eine Meinung bilden - und gemeinsam wollen. Und diesen Willen Machthabern auch schon mal ganz schön um die Ohren hauen können - siehe Mauerfall.

Gerade dieses Beispiel zeigt doch, dass es Unsinn ist, vom Individuum als politischer Kraft zu sprechen. Individuen können noch nicht mal eine Demo organisieren. Die treibende Kraft sind immer Gruppen, in größerem Ausmaß Gesellschaften.



Die Folgerung, dass das Individuum überhaupt keine politische Kraft sei, finde ich überzogen, ja eigentlich falsch.

Aber vielleicht ist auch nicht ganz klar, was wir mit „Individuum“ meinen. Ich meine damit hier, wo es um Politik und Gesellschaft geht, das vergesellschaftete Individuum, also das einzelne „Mitglied“ einer Assoziation, etwa den einzelnen „Staatsbürger“. Dass man vom „einzelnen“, unverwechselbaren „Teil“ einer Gesellschaft sprechen kann, hängt allerdings damit zusammen, dass dieser „Teil“ auch Individuum im biologischen Sinne ist.

Man kann der Ansicht sein, das biologische Individuum (sozusagen der einzelne menschliche Organismus) sei überhaupt nicht Teil der Gesellschaft. Oder kann finden, dass Frau X, geborene Z, wohnhaft in Essen, Mutter dreier Kinder, Mitglied in mehreren Vereinen, deutsche Staatsangehörige usw. keine „Einheit“ sei, sondern bloß eine Schnittstelle verschiedener Systeme.
Das ist etwa die Ansicht des Systemtheoretikers Niklas Luhmann. Das Individuum (Organismus) bzw. dessen „psychisches System“ sei kein „Teil“ der Gesellschaft, sondern gehöre zu ihrer Umwelt. Das klingt zunächst einmal etwas abstrus, ergibt sich aber aus seinem Systembegriff: Systeme bestehen nicht aus „Teilen“, sondern aus Operationen, die den Unterschied zwischen System und Umwelt produzieren und reproduzieren. Sie sind zwar eine „Einheit“, aber keine, die mit irgendwelchen physikalischen Einheiten („Körpern“) zusammenfiele.
Diesen Ansatz finde ich interessant, aber immer noch sehr „gewöhnungsbedürftig“. Ich habe dazu bis jetzt mehr Fragen als bestimmte Urteile.


Aber wenn wir unter „Individuum“ das „vergesellschaftete Individuum“ verstehen, dann ist es m.E. durchaus eine „politische Kraft“. Denn schließlich ist das vergesellschaftete Individuum (das ich mal zur besseren Unterscheidung „Person“ nennen will) doch die Einheit des zurechenbaren Handelns. Man kann zwar in einem gewissen Sinne sagen, der Staat, der Verein, der Vorstand, die Gruppe handele, aber dann ist das eben doch ein gemeinschaftliches Handeln von Personen. Das ist ja auch die Auffassung unserer Rechtsprechung: als „Verursacher“ von Handlungen gelten immer Personen, nicht Gruppen. Und wenn jemand schuldig gesprochen wird, weil er Mitglied einer „kriminellen Vereinigung“ war, so wird damit doch nicht diese Vereinigung belangt, sondern jedes einzelne Mitglied. Es gibt in unserem Recht – aus guten Gründen – keine kollektive Haftung oder Schuld.

Aber es ist eine berechtigte Frage, was es eigentlich bedeutet, wenn man sagt, eine Gruppe oder eine Institution handele. Ist das nur die „Zusammenfassung“ einzelner, persönlicher Handlungen? Oder „emergiert“ da eine neue „Ebene“ der Integration?


Ich breche mal wieder ab.

Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 27. Okt. 2005, 19:41 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Urs,

nach meinem Verständnis des Themas diskutieren wir darüber, wie sich das Wohl einer Gemeinschaft zum Wohlergehen der einzelnen Glieder dieser Gemeinschaft verhält, oder anders formuliert: ob und wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der einzelnen Individuen ergibt, die dieses Kollektiv bilden.

Mir ist dabei klar, dass das Wohl und das Interesse eines Subjekts nicht identisch sind. Beide stehen jedoch in einem engen Zusammenhang: Wenn man das Interesse eines Individuums in einer gegebenen Situation durch eine Bewertung der verfügbaren Alternativen darstellt, so besteht das Wohlergehen eines Individuums – unter bestimmten Voraussetzungen – in der Verwirklichung der höchstbewerteten Alternative.

Ich habe bewusst beide Begriffe (Wohlergehen und Interesse) nebeneinander verwendet, um die Problematik offen zuhalten, die sich in der Frage ausdrückt: Ist das, was ich will, wirklich gut für mich?

Dabei habe ich die Begriffe Gemeinwohl bzw. Gesamtinteresse bereits im Eröffnungsbeitrag unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwendung für die inhaltliche Rechtfertigung politischer Entscheidungen gesehen.

Wenn ich eine Entscheidung rechtfertige, dann stelle ich - nach meinem Begriffsverständnis - eine normative Behauptung auf. Ich sage damit: Die Entscheidung soll so ein, sie ist richtig.

Wenn man über die Bestimmung eines Begriffs wie "Gemeinwohl" diskutiert, so hat das nur dann einen Sinn, wenn klar ist, was man mit diesem Begriff machen will. Andernfalls handelt es sich um den beliebten aber witzlosen Streit um Worte. Der eine bestimmt den Begriff "Gemeinwohl" so, der andere bestimmt den Begriff anders.

Nur wenn klar ist, bei der Beantwortung welcher Fragen ein bestimmter Begriff verwendet werden soll, erhält man Kriterien dafür, ob eine bestimmte Definition dieses Begriffes zweckmäßiger ist als eine andere.

Deshalb habe ich immer wieder deutlich gemacht, dass der Begriff "Gemeinwohl" zur Begründung einer Verpflichtung von Individuen oder Gruppen zum Handeln auch entgegen der eigenen Interessenlage bzw. dem eigenen Wohlergehen dient.

Mit der Frage: Was unterscheidet normative Behauptungen von faktischen Behauptungen? sind wir meines Erachtens an einem zentralen und zugleich schwierigen methodischen Punkt angelangt, weshalb wir die Dinge in aller Ruhe analysieren und klären sollten. Ich bin jederzeit bereit, eine missverständliche oder schwammige Terminologie zugunsten einer besseren einzutauschen.

Du schreibst: "Wenn jemand behauptet: 'Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 % dient dem Gemeinwohl', so formuliert er damit keine Forderung ('Ihr sollt...'), sondern behauptet eine Tatsache."

Dieser Satz wäre allerdings nur dann eine faktische (empirische, positive) Tatsachenbehauptung, wenn der Begriff "Gemeinwohl" empirisch definiert werden könnte.

Dies gilt im Übrigen auch für andere ähnliche Sätze wie:
"Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2% bewirkt den größten Nutzen (das maximale Glück)" oder:
"Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2% ist die bestmögliche Entscheidung".

Du schreibst weiter: "Allerdings ist es eine Tatsachenbehauptung, die einen normativen Anspruch begründen soll – nämlich die künftige Verpflichtung, die erhöhte Steuer zu bezahlen."

Damit ergibt sich jedoch das von Hume analysierte Problem des "naturalistischen Fehlschlusses" vom Sein auf das Sollen, auch als "Humes Gesetz" bekannt.

Aus einer reinen Tatsachenbehauptung ohne normativen Gehalt kann man logisch keine Verpflichtung oder etwas anderes Normatives herleiten.

Eine Verpflichtung kann man nur dann aus dem obigen Satz ableiten, wenn der Begriff des Gemeinwohls bereits einen präskriptiven Gehalt besitzt und unter diesem Gesichtspunkt gebildet wurde.

Da es sich hier um hochtheoretische und relativ abstrakte methodische Fragen handelt, die jedoch unbedingt geklärt sein müssen, wenn man zu haltbaren Resultaten kommen will, mache ich hier erstmal einen Punkt.

Es grüßt Dich Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 27. Okt. 2005, 21:02 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,
"...wie sich das Wohl einer Gemeinschaft zum Wohlergehen der einzelnen Glieder dieser Gemeinschaft verhält, oder anders formuliert: ob und wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der einzelnen Individuen ergibt ..."
Dem ersten Teil stimme ich zu, der zweite Teil ist mitnichten das gleiche anders formuliert.
Im zweiten Teil setzt Du bereits voraus, dass sich das Gesamtinteresse aus den Interessen der Individuen ergibt. Das bestreite ich mit den oben angeführten Argumenten und füge noch dieses hinzu: das Gesamtinteresse ist bereits vorhanden, bevor die Individuen hinzukommen. Köln und Deutschland existieren, egal mit welchen Individuen. Die Individuen sind austauschbar. Genau wie Deine Körperzellen austauschbar sind, abgestoßen und durch neue ersetzt werden. Dein Wille oder Dein Interesse ergibt sich auch nicht aus dem Summenwillen Deiner Körperzellen oder Deiner Moleküle. Das ist eben das Phänomen lebender Systeme im Gegensatz zu nichtlebenden Systemen, dass sie identisch bleiben, obwohl sie ihre Bausteine ständig austauschen, körperlich also nach einiger Zeit nicht mehr die gleichen sind. Der Staat besteht nach 100 Jahren aus völlig anderen Individuen, der Mensch nach 7 Jahren aus komplett neuen Zellen. Dennoch bleibt die BRD die BRD und Eberhard bleibt Eberhard.
Über das Verhältnis des Wohls des Ganzen zum Wohl seiner Teile können wir uns hingegen sehr wohl unterhalten,
oder besser:
wo und wann hat das Individuum die gleichen Interessen wie der Staat und in welchen Punkten gibt es Interessengegensätze.
Die von Euch intendierte normative Verpflichtung muss, wenn, dann genau andersherum praktiziert werden,
nämlich:
Wenn ich Individuum 2% mehr MWSt zahle, dann muss der Staat dies und das machen.
Das Individuum muss den Staat verpflichten können und nicht umgekehrt. Erst, wenn wir so weit sind, ist die Welt in Ordnung.

Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 27. Okt. 2005, 21:30 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

" ... Eine Verpflichtung kann man nur dann aus dem obigen Satz ableiten, wenn der Begriff des Gemeinwohls bereits einen präskriptiven Gehalt besitzt und unter diesem Gesichtspunkt gebildet wurde. Eberhard

Na gut, ihr zieht einzelne Sätze heran, wie "Erhöhung der Mehrwertsteuer ...", bringt diesen Satz mit dem Begriff des Gemeinwohl in Verbindung um einer Tatsachenbehauptung den Charakter der Verpflichtung zu geben.

Zunächst eine Frage: Was ist das Merkmal dieses als Tatsache behaupteten Satzes? Was kommt diesem zu, dass er sich systematisch von einem Satz unterscheiden lässt, der nicht auf Tatsachen beruht? Ist dieses Merkmal beispielsweise mit einen vergesellschafteten Sprecher oder von diesem unabhängig, etwa mit einer konkreten Sachlage gegeben? Oder?

Gruss

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 27. Okt. 2005, 22:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Rudi,

die Frage ist ob (!) und wie sich die Interessen der Gemeinschaft aus den Interessen der Individuen ergeben, da ist nichts vorentschieden.

Für meine Fragestellung ist es irrelevant, ob Du irgendwelche lebende Systeme samt deren Interessen postulierst wie z.B. die Bundesrepublik Deutschland, die Freie Reichsstadt Köln, den 1.FC Köln, die Europäische Union, die Vereinten Nationen etc.

Es gibt für mich keinerlei Begründung, warum ich mein Handeln an diesen Systeminteressen orientieren sollte. Darum geht es aber beim Begriff des Gemeinwohls.

Es grüßt Dich Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 27. Okt. 2005, 23:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,
"ob und wie".
Wenn ich das ob verneine, brauche ich über das wie nicht mehr zu reden.
Oder: das "und wie" nimmt Antwort auf das "ob" vorweg.
Ich kann leider nur zum "ob" was sagen und habs getan. Zum "wie" kann ich mich daher nicht äußern und warte interessiert auf die Antwort derjenigen, die das "ob" bejahen, ohne das "wie" vorher ausdiskutiert zu haben.
Du sagst: "Es gibt für mich keinerlei Begründung, warum ich mein Handeln an diesen Systeminteressen orientieren sollte." Richtig. Für das Individuum gibt es keinen Grund, sein Handeln an den Interessen denen des Staats zu orientieren. Aber man sollte sich dessen Interesse bewusst sein. Zum Beispiel hat der Staat ein Interesse daran, dass ich (als Mann) Kinder zeuge oder eine Frau Kinder kriegt. Aber ich muss mich nicht danach richten.
Gruß
rudi

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 27. Okt. 2005, 23:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Ja, diskutieren wir die Sache in Ruhe und in der nötigen Ausführlichkeit aus! Ich kann aber nicht finden, dass sie sooo "hochtheoretisch" ist.



Quote:Nach meinem Verständnis des Themas diskutieren wir darüber, wie sich das Wohl einer Gemeinschaft zum Wohlergehen der einzelnen Glieder dieser Gemeinschaft verhält, oder anders formuliert: ob und wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der einzelnen Individuen ergibt, die dieses Kollektiv bilden.



Mit dem von mir kursivierten Teil des Satzes bin ich aus zwei Gründen nicht ganz einverstanden. Denn erstens sind Gemeinwohl und Gesamtinteresse nicht dasselbe; und zweitens trifft die Formulierung „wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der einzelnen Individuen ergibt“ eine Vorentscheidung über das Verhältnis – eine Entscheidung, die ich so nicht teilen kann. Ich bin nicht der Ansicht, dass sich ein „Gesamtinteresse“ aus „Einzelinteressen“ ergibt bzw. dass sich das Wohl eines Gemeinwesens vom individuellen Wohlergehen seiner Mitglieder ableiten lässt. (Andererseits lässt sich das Gemeinwohl auch nicht unabhängig vom Wohlergehen seiner Mitglieder bestimmen.)




Quote:Wenn ich eine Entscheidung rechtfertige, dann stelle ich - nach meinem Begriffsverständnis - eine normative Behauptung auf. Ich sage damit: Die Entscheidung soll so ein, sie ist richtig.



Diese Auffassung kann ich nicht teilen. Nehmen wir ein banales Beispiel: Ich entscheide mich, gegen meine Gewohnheit heute keinen Spaziergang zu machen. Sollte es jemanden geben, der mich mit gerunzelten Augenbrauen fragt, warum ich mich so entschieden habe, sage ich: „Ich bin heute einfach zu k.o.“
Wo ist da das Normative? Dass ich mich gegen einen Spaziergang entschieden habe, ist ein Faktum; ebenso meine Müdigkeit, der Grund für meine Entscheidung.

Anders liegt der Fall, wenn etwa ein Parlament beschließt, den Gesetzesentwurf der Regierung anzunehmen, nach dem die Mehrwertsteuer ab dem 1.1.2006 um 2 % erhöht werden soll. Hier wird nun eine Entscheidung getroffen, die eine allgemeine Vorschrift in Kraft setzt.
Aber die Begründung für diese Entscheidung ist sachlicher Art. Der Finanzminister verweist etwa auf das Haushaltsdefizit und gibt an, wofür die Mehreinnahmen verwendet werden sollen: zur Reduzierung der Lohnnebenkosten. Das Ziel ist es also, ein bestimmtes ökonomisches Problem, das sich empirisch belegen lässt, durch eine gezielte finanztechnische Maßnahme zu beheben. Selbstverständlich wurden vorher Experten zu Rate gezogen, aus deren Gutachten der Finanzminister im Parlament zitiert. Vielleicht macht er sich noch die Mühe, den betroffenen Bürgern zu erklären, wieso ihnen die Folgen dieser Entscheidung zugute kommen werden. - Die „Richtigkeit“ der Entscheidung ergibt sich also aus der Einschätzung der faktischen ökonomischen Lage und der möglichen Maßnahmen, die man zu ihrer (wahrscheinlichen) Verbesserung einleiten kann. (Diese „Verbesserung“ wäre wiederum objektivierbar – z.B. durch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit.)

In diesem Beispiel wird nirgends eine „normative Behauptung“ aufgestellt. Sondern es wird eine Norm in Kraft gesetzt. Bei der Begründung für diese verbindliche Entscheidung wird dann sehr wohl etwas behauptet, nämlich über die ökonomische Situation und die Möglichkeiten, sie zu beeinflussen. Aber das sind Tatsachenbehauptungen.

Überhaupt finde ich den Ausdruck „normative Behauptung“ unklar. Behauptet werden Tatsachen. Forderungen werden erhoben, Vorschriften erlassen oder in Kraft gesetzt. Eine Vorschrift oder Norm („du sollst...“) ist die an einen oder mehrere Adressaten gerichtet Forderung, etwas zu tun oder zu unterlassen. Diese Forderung kann begründet sein oder auch nicht. Aber „etwas fordern“ ist nicht „etwas behaupten“.
Wird allerdings die Forderung begründet, so heißt das genauer: Es werden (sachliche) Behauptungen aufgestellt, die dann mehr oder weniger begründet sein können. Begründungen und Behauptungen kann man überprüfen. Eine Forderung kann man anerkennen oder ablehnen (und zwar mit oder ohne Begründung).
Also, ich halte es für ratsam, diese beiden Sachverhalte säuberlich zu trennen – die Aufforderung und die Begründung einer Aufforderung.




Quote:Dieser Satz wäre allerdings nur dann eine faktische (empirische, positive) Tatsachenbehauptung, wenn der Begriff "Gemeinwohl" empirisch definiert werden könnte.



Du meinst mit „empirisch definiert“ wohl, dass man anhand gewisser Kriterien überprüfen können muss, ob z.B. eine Verwaltungsmaßnahme dem Gemeinwohl dient oder nicht. Hältst Du das für unmöglich? Mein Beispiel mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer zeigt doch, wie es gehen könnte. Eine andere Möglichkeit wäre eine „Volksbefragung“, wie sie z.B. in der Schweiz zu bestimmten Entscheidungen durchgeführt wird. Auf diesem Wege kann festgestellt werden, ob ein bestimmtes Regierungsvorhaben „allgemein gewollt“ wird. Dass Expertengutachten oder demoskopische Erhebungen irrtumsanfällig sind, ist klar. Aber das gehört zum Wesen empirischer Behauptungen.




Quote:Damit ergibt sich jedoch das von Hume analysierte Problem des "naturalistischen Fehlschlusses" vom Sein auf das Sollen, auch als "Humes Gesetz" bekannt.
Aus einer reinen Tatsachenbehauptung ohne normativen Gehalt kann man logisch keine Verpflichtung oder etwas anderes Normatives herleiten.



Die Berufung auf Hume macht für mich nicht klarer, was ein „normativer Gehalt“ sein mag. Das Charakteristische an Normen ist, dass sie zu Handlungen oder zum Unterlassen von Handlungen auffordern: „Du sollst...“ Diese Forderung ist m.E. der Kern des Normativen. Und in der Tat lässt sich aus der Behauptung einer Tatsache keine Forderung ableiten. Ableiten lässt sie sich nur aus dem Anspruch einer Person, andere Personen möchten ihrer Aufforderung folgen.

Aber wie schon gesagt: Handelt es sich darum, eine Forderung zu begründen, nämlich sie den Adressaten einsichtig zu machen, so können dabei sehr wohl Tatsachen behauptet werden, und sei es nur: „Man macht das halt so bei uns.“ Dass „man“ (also Viele oder die Meisten) etwas „in der Regel so macht“ ist zweifellos ein überprüfbarer Sachverhalt.
Zugegeben, daraus folgt nicht, dass jeder es so machen soll. Das Sollen – die Aufforderung – geht auf den Willen von Personen zurück.
Für den Adressaten der Aufforderung kann freilich die Tatsache, dass „man es hier eben so macht“ ein guter Grund sein, der Forderung nachzukommen – z.B. weil er keinen Ärger will oder weil er „dazugehören“ möchte.


Anderes Beispiel.
Der Vater sagt zu seinem fünfjährigen Sohn: „Und putz dir die Zähne, bevor du ins Bett gehst!“ Eine klare Aufforderung. Eine Norm wird daraus, wenn diese Aufforderung für jeden Abend gilt: „Du sollst dir immer die Zähne vorm Zubettgehen putzen!“

Fragt der Sohn „ warum?“ so folgt eine empirische Tatsachenbehauptung über die Haltbarkeit ungepflegter Zähne. Und vielleicht noch die Frage: „Hast du Zahnschmerzen gerne? Findest du es schön, wenn der Zahnarzt bohrt?“ Und nun kann der Sohn, auf der Grundlage der ausgebreiteten Fakten und einer wahrscheinlichen Zukunftsperspektive, entscheiden, was er will.
Aus diesen Fakten folgt das Sollen nicht. Aber sie begründen es. Der Vater will nicht, dass sein Sohn schlechte Zähne bekommt, also macht er ihm die Zahnpflege zur Regel und fordert Gehorsam.

- - - -

Den folgenden Satz spare ich vorerst einmal aus, weil ich weiter ausholen müsste, um ihn zu kommentieren. Das liegt vor allem am Begriff der „Verpflichtung“, der hier ins Spiel kommt, und der etwas anderes meint als einen Soll-Satz oder eine Norm oder Vorschrift. Das ist, wie Abrazo sagen würde, „eine andere Baustelle.“


Quote:Eine Verpflichtung kann man nur dann aus dem obigen Satz ableiten, wenn der Begriff des Gemeinwohls bereits einen präskriptiven Gehalt besitzt und unter diesem Gesichtspunkt gebildet wurde.




Es grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 28. Okt. 2005, 00:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Politik und Justiz kann man m.E. nicht vergleichen, Urs. Die Justiz befasst sich immer nur mit dem Individuum, selbst juristische Personen werden letztlich als Individuen begriffen. Die Politik hingegen befasst sich mit der Gesellschaft und mit Individuen nur insofern, als die gesellschaftlichen Gruppierungen aus Menschen bestehen.

Zur Abgrenzung Interesse und Gemeinwohl: betrachtet man die Gesellschaft, fallen Interesse und Gemeinwohl zusammen, denn welches andere Interesse sollte eine Gesellschaft haben, als ihr Gemeinwohl? Sobald du aber differenzierst in unterschiedliche Gruppierungen, hast du auch Interessenkonflikte, und wenn du gar nur die Individuen betrachtest, ist ein Gemeinwohl so gut wie gar nicht mehr eruierbar. Deswegen sage ich nicht umsonst, das mögliche Gemeinwohl muss an der die Gesellschaft konstituierenden Verfassung gemessen werden. Ein Neoliberalismus mit caritativen Zügen kollidiert z.B. imho mit Art. 14 Abs 2 Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen und Art. 1 GG. Wie du siehst, haben wir da den Begriff Gemeinwohl, und der wird offenbar nicht auf das Individuum bezogen.

Desweiteren ergibt sich daraus, dass das, was faktisch als das Gemeinwohl erkannt wird, Norm für die Individuen werden muss. Das ergibt sich aus den bestehenden konstituierenden Normen.

Das die Schulen renoviert und mehr Lehrer eingestellt werden, Kunst und Universitäten besser gefördert werden, erheblich mehr in den sozialtherapeutischen Bereich investiert werden muss, dass wir aber auch mehr Polizisten und schnelle Instandsetzung von Straßen brauchen usw. liegt zweifelsfrei im Gemeinwohl und müsste also verpflichtende Norm werden - wenn es bezahlbar wäre. Was dem Gemeinwohl entspricht und demnach Norm zu werden hat, ist also nicht das Problem; das Problem ist, welche Prioritäten sind zu setzen, wenn das Geld nicht da ist. Davon ist nie genug da und zur Zeit erst recht nicht.

So wird das Normenproblem bei Licht betrachtet zu einem Verteilungsproblem.

Aus Sicht des Individuums. Aus Sicht der Gesamtgesellschaft, in der individuelles Handeln als Handeln miteinander vernetzter und sich überschneidender Gruppen betrachtet wird, sieht das anders aus. Da wird nämlich aus dem Verteilungsproblem ein Investitionsproblem. Weil die Gesamtgesellschaft zum Wohle der Allgemeinheit nun mal Geld braucht.

Nimm die 2% MwSt-Erhöhung. Aus individueller Sicht ein Riesengeschrei. Die Hartz IV - Empfänger müssen bluten! Warum? Wird der Lebensunterhalt-Anteil um 2% erhöht, kostet die Gesellschaft keinen Pfennig, denn da das Geld sowieso in den Konsum fließt, kassiert der Staat das gleich wieder ein. Lässt sich summa summarum also was mit einnehmen.

Nimm im Gegenzug die 400-? - Jobs. Feine Sache, dachte die Regierung. Bekämpft die Schwarzarbeit und der Staat kassiert wenigstens paar Euro Fuffzig ab. Feine Sache, denkt der Schwarzarbeiter, arbeite ich weiter brutto für netto. Feine Sache, denkt der Unternehmer, brauch ich auf den Lohn den Arbeitnehmeranteil nicht drauf zu legen, krieg ich die Leute billiger, entlässt Festangestellte und ersetzt sie durch 400? - Jobber. Berücksichtigt alle Interessen - aber da das Handeln von Gruppen ein dynamischer Prozess ist, in den nicht nur eine spezielle, sondern auch alle möglichen anderen Gruppen involviert sind, sitzt der Staat am Ende auf nem neuen Haushaltsloch. War wohl nix mit dem Gemeinwohl. Fehlinvestition.

oder anders formuliert: ob und wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der einzelnen Individuen ergibt, die dieses Kollektiv bilden.

Ne, Eberhard, ich glaub, das ist nicht der richtige Ansatz.

Handeln, Urs, kann nur ein Subjekt. Wenn Herrn Hund einer auf die Füße tritt, zwickt er ihn in die Hacken. Der Staat tut das nicht. Der hat nämlich keine Füße. (Und wenn einer beschuldigt wird, dem Staat auf die Füße getreten zu sein, sollte man fragen, wessen Füße das denn waren). Ergo ist Herr Hund ein Subjekt und der Staat nicht (du weißt, ich bin bezügl. Begriff Subjekt anderer Meinung als du). Der Staat handelt nicht. Handeln tun die Parlaments- und Regierungsmitglieder sowie ihre Beamten und Angestellten.

Die gesellschaftspolitische Frage ist aber, warum handelt ein Subjekt, und warum handelt es so und nicht anders? Da kommen die Gruppenzugehörigkeiten ins Spiel, das Subjekt im Focus sich überschneidender Gruppen. Da kommt die ganze Dynamik von Wissen, Informationsaustausch, gegenseitiger Motivation, Überzeugung, Bindung, Lockerung oder Verfestigung von Weltanschauungen, Nachahmung usw. zum Tragen, und damit ist das Handeln eines Subjekts nicht mehr autonom. Es verarbeitet die Ideen und Strömungen sämtlicher Gruppen, zu denen es gehört - und sein Handeln ist für jede Gruppe Gruppenhandeln im Sinne von Familienähnlichkeit. Eine Politik, die das nicht sieht, die Gesellschaft nicht als mehr oder auch minder harmonisches Zusammenspiel verschiedener Gruppen begreift, wobei nur die sogenannten Eliten noch den Überblick behalten, der sie dieses dauernde, sich immer wieder neu bildende mit- und gegeneinander trotzdem als eine ganze Gesellschaft sehen lässt, eine solche Politik wird im Zweifelsfalle gar nicht begreifen, was Gesellschaft, Interessen und Gemeinwohl überhaupt sind.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 28. Okt. 2005, 00:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

jetzt muss ich aber mal Eberhard beispringen, denn entweder du bist auf dem Holzweg, oder du hast einen anderen Begriff von Norm.

Wenn die MwSt um 2% erhöht wird und ein Verkäufer hat was dagegen und erhöht seine Preise nicht um 2%, dann muss er trotzdem 18% an's Finanzamt abführen. Und wenn er das nicht tut, kriegt er lieben Besuch von der Steuerfahndung, die den Fehlbetrag errechnet und ihm die Konten pfändet. Ich finde, das sieht schon sehr nach Norm aus.

Mal abgesehen davon, dass eine MwSt - Erhöhung nur per Gesetz durchsetzbar ist - und Gesetze sind Normen.

Doc rudi, dass meine Sicht gesellschaftlichen und politischen Handelns mit deiner nicht kompatibel ist, das siehst du ja.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 28. Okt. 2005, 08:57 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

Hallo Abrazo!

Im Moment nur kurz:


Quote:Handeln, Urs, kann nur ein Subjekt. (...) Der Staat handelt nicht. Handeln tun die Parlaments- und Regierungsmitglieder sowie ihre Beamten und Angestellten.



Richtig. Und deshalb hatte ich auch gesagt:


Quote:Aber wenn wir unter „Individuum“ das „vergesellschaftete Individuum“ verstehen, dann ist es m.E. durchaus eine „politische Kraft“. Denn schließlich ist das vergesellschaftete Individuum (das ich mal zur besseren Unterscheidung „Person“ nennen will) doch die Einheit des zurechenbaren Handelns.



Es gibt aber auch gemeinschaftliches Handeln von Personen (Subjekten) und es gibt ein Handeln im Auftrag oder in Vertretung anderer Personen.


Du schreibst:


Quote:Politik und Justiz kann man m.E. nicht vergleichen, Urs. Die Justiz befasst sich immer nur mit dem Individuum, selbst juristische Personen werden letztlich als Individuen begriffen. Die Politik hingegen befasst sich mit der Gesellschaft und mit Individuen nur insofern, als die gesellschaftlichen Gruppierungen aus Menschen bestehen.



Politik und Recht sind natürlich nicht dasselbe. Aber es gibt viele Überschneidungen bzw. gemeinsame Grundlagen. Eine davon ist das Handeln von Subjekten.

Die „Justiz“ befasst sich dabei übrigens insofern mit Personen (Subjekten des Handelns), als ihr Handeln allgemein geltenden Normen unterliegt. Diese Normen gehen (bei uns) auf politische Entscheidungen zurück. Diese politischen Entscheidungen werden (bei uns) von Repräsentanten des Volkes getroffen, und sie haben ihre Verbindlichkeit, weil die Repräsentanten die rechtliche Befugnis haben, im Auftrag oder in Stellvertretung des Volkes zu entscheiden. Sie entscheiden, nicht anders als Richter, „im Namen des Volkes“.

Der Staat ist (bei uns) nicht nur, aber ganz wesentlich eine Rechtsform, die eine Gruppe von handelnden Subjekten miteinander verbindet – zu einem „Staatsvolk“.

- - - - - -


Quote:Mal abgesehen davon, dass eine MwSt - Erhöhung nur per Gesetz durchsetzbar ist - und Gesetze sind Normen.



Richtig. Darum hatte ich ja auch geschrieben:


Quote:Hier wird nun eine Entscheidung getroffen, die eine allgemeine Vorschrift in Kraft setzt. (...) In diesem Beispiel wird nirgends eine „normative Behauptung“ aufgestellt. Sondern es wird eine Norm in Kraft gesetzt.



Lesen hilft!

:-)


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 28. Okt. 2005, 13:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!


Quote:Die gesellschaftspolitische Frage ist aber, warum handelt ein Subjekt, und warum handelt es so und nicht anders? Da kommen die Gruppenzugehörigkeiten ins Spiel, das Subjekt im Focus sich überschneidender Gruppen. Da kommt die ganze Dynamik von Wissen, Informationsaustausch, gegenseitiger Motivation, Überzeugung, Bindung, Lockerung oder Verfestigung von Weltanschauungen, Nachahmung usw. zum Tragen, und damit ist das Handeln eines Subjekts nicht mehr autonom.



Die Folgerung, dass ein Subjekt wegen seiner vielfältigen Verflechtungen mit anderen nicht mehr autonom handele, finde ich falsch. Aber das liegt vermutlich daran, dass ich „autonom“ anders verstehe als Du.

Zunächst einmal sei auch wieder klar gestellt, dass wir von vergesellschafteten Individuen (Personen) sprechen. Aber was bedeutet „Vergesellschaftung“? Ich würde sagen: Das ist ein Prozess, in den das Individuum mit seiner Geburt eintritt und der bis zu seinem Tod nicht abgeschlossen ist. Im Laufe dieses Prozesses wird das Individuum erst zu einer ihrer selbst bewussten Person, die fähig ist, zurechenbar zu handeln. Dazu muss es sehr vieles lernen, muss sich anpassen, Normen verinnerlichen, Fähigkeiten erwerben usw. Aber offenbar kann man diese ihm „von außen“ auferlegte Anpassung nicht einfach nur als Zwang verbuchen, der seine „natürliche Selbstbestimmung“ destruiert. Sondern durch diesen Lernprozess, der unbestritten in vieler Hinsicht Zwang ins Spiel bringt, wird das Individuum erst so weit gebracht, dass es über sich selbst bestimmen kann.

Zwang ist etwas, das „von außen“ auf uns einwirkt. Aber wenn man die Gründe für diese äußere Einwirkung einsieht, wenn man also ihre „Notwendigkeit“ erkennt und sich dazu verhält, hört der Zwang auf, eine „blinde“, sinnlose Naturmacht zu sein. Eine begründete Regel, die mir als „vernünftig“ einleuchtet, mache ich mir durch die Einsicht „zu eigen“. Das bleibt zwar, äußerlich betrachtet, eine Anpassung. Aber durch meine Einsicht habe ich einen Entwicklungsschritt gemacht, meinen Horizont erweitert, einen anderen Standpunkt eingenommen, von dem aus ich meine Motive, meine faktischen Neigungen beurteilen kann. Ich nehme also durch die Einsicht einen „höheren“ Standpunkt ein, nämlich den Standpunkt der Gemeinschaft, in der diese Regel gilt – d.h. in der sie von jedem anerkannt wird. Indem ich diese Regel meinerseits anerkenne, werde ich – nur bezogen auf diese eine Regel – ein (gleiches) Mitglied dieses „Geltungskollektivs“.

„Autonomie“ bedeutet buchstäblich „Selbstgesetzlichkeit“. Eine Regel, mit der ich beim Eintritt in eine Gruppe konfrontiert werde, ist in diesem Moment aus meiner Sicht zunächst noch „heteronom“ – sie geht eben von anderen aus. Aber durch meine Einsicht und Anerkennung wird diese Regel auch zu meiner eigenen. Von da an bin ich in der Lage, mein eigenes Handeln nach einer Regel zu beurteilen und auszurichten, die dann auch meine eigene Regel ist.


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von hedgi am 28. Okt. 2005, 15:37 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Rudi, und Anhänger einer Gesellschaft ohne Staat,

System Mensch [kurz] Mensch
System Staat [kurz] Staat

Zuletzt ging es in der Diskussion unter anderem darum, dass wir das festgesetzte Ziel unserer Utopie erst erreicht haben, wenn der Staat, wie wir ihn heute kennen, aufgelöst ist. Bis jetzt sind wir mit unseren Wünschen an den idealen Staat in Vorstellungen stecken geblieben und sind nicht dazu gekommen, eine Gesetzmäßigkeit herauszuarbeiten, die zu diesem paradiesischem Zustand führen könnte. Solange uns das nicht gelingt, eine Gesetzmäßigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung zu definieren, die auch verständlich nachzuvollziehen ist, werden wir vor Lücken stehen, die sich für uns als unüberwindliche Gräben darstellen.

Was wir unter einem Hut bringen müssen ist der Mensch, der inzwischen seine evolutionäre Entwicklung nach außen verlagert hat, weil die organische Weiterentwicklung des Menschen bereits an Grenzen stößt, die durch die außerkörperlichen Organe des Menschen, wie Maschinen, Computer etc., einen gewaltigen Sprung nach vorn vollbracht hat. Den Staat können wir in einer übergeordneten Hierarchie ansiedeln, den wir als die Summe von Menschen betrachten können. Wir sind gewohnt, dass in einem hierarchischen System der Aktionsfluss von oben nach unten fließt. Unsere Idealvorstellung wäre, dass es auch umgekehrt funktioniert. Das wäre dann der Fall, wenn der Staat dazu da wäre, die Bedürfnisse des Menschen zu erfüllen. Heute erfüllt der Staat leider nur die Bedürfnisse einer kleinen Gruppe von zur Oberschicht gehörenden Menschen.

Natürlich weiß das auch die Oberschicht, dass selbst der einfache Mensch den Wunsch hegt, seine Bedürfnisse erfüllt zu sehen. denn es entspricht der Bedeutung des Begriffes Demokratie, dass der Staat durch den Willen des Volkes gesteuert wird, so wie das ursprünglich in Athen vorgesehen war. deshalb liegt es Interesse der Oberschicht den Verdummungsprozess im Volk so weit voranzutreiben, dass es nicht merkt, wie es manipuliert wird.

Am Beispiel der Mehrwertsteuer und den Lohn- Nebenkosten wird es deutlich, wie weit die Manipulation bereits fortgeschritten ist. Seit Jahren wird unwidersprochen von der Senkung der Lohn- Nebenkosten gesprochen, dass obwohl die Reichen bereits schon vorher immer reicher und die Armen immer ärmer wurden, und die Lohn- Nebenkosten Bestandteil ausgehandelter Arbeitsverträge waren und somit keine einseitige Belastung der Arbeitgeber ist. Wenn hier seitens des Staates eingegriffen wird, weil die Reichen zu viele Abgaben entrichten sollen, fragt niemand weiter und bemerkt, dass der Arbeitnehmer in unangemessener Höhe für diese Differenz in den Sozialkassen zukünftig aufkommen soll, was vergleichbar mit einem Gemeinschaftsraub von Arbeitgebern und dem Staat ist. Der Bürger nickt zu allem brav und findet, dass das alles seine Richtigkeit hat. Den Gipfel stellt eine erst kürzlich gestartete Umfrage dar. Dort konnte sich der Befragte aussuchen, ob er lieber eine Solisteuer oder eine Mehrwertsteuer zahlt. Das bestätigt dem Menschen, ein ernst genommener Partner in einer Demokratie zu sein. Solange der Mensch nicht auf die Idee kommt, es könnten noch weitere Alternativen in Betracht gezogen werden, ist die Welt in den Augen der Oberschicht noch in Ordnung.

Wenn wir darin einen perfekten Staat mit funktionierenden manipulierten Individuen sehen, dann brauchen wir uns über Gesetzmäßigkeiten, die zu einer Gesellschaft ohne Staat führen, Überlegungen anzustellen. Zu einem solchen Staat befinden wir uns auf dem besten Weg.

Vielleicht führen andere Fragen zum Ziel. Wann ist der Mensch soweit, das er die Funktion der Gemeinschaft als erstes im Auge hat, und bereit ist, seinen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, weil er einsieht, dass anders keine Gemeinschaft funktionieren kann, und er selbst auch von dieser Gemeinschaft profitiert. Eine andere Frage, was läuft heute falsch und sollte unterlassen werden. Wir sollten uns vor Heuschrecken mit ihren Hedgefonds schützen. Sie tragen nicht zum Volksvermögen bei, im Gegenteil sie wirken ähnlich Blutegeln und ziehen Vermögen ab und erhöhen unsere Schuldenlast. Dort geht es um das schnelle Geld, dass nun einmal mit Verkäufen von Arbeitsplätzen ins Ausland gemacht werden kann. Versüßt wird das ganze noch durch hohe staatliche Subventionen. Wenn bei uns aber vom Abbau der Subventionen die Rede ist, sind aber nicht diese gemeint, sondern unsere Politik denkt mehr an die Streichung der Pendlerpauschale, Eigenheimzulage und Steuern auf die Nachtschichtzulage.

Die suche nach dem Paradies ist nichts Neues. Bereits Friedrich Engels hat mit seiner kommunistischen Gesellschaft erstmals etwas in Bewegung gesetzt. Vor Engels gab es auch schon Utopien, die aber keine große Beachtung fanden. Die von Engels beschriebene Gesellschaft fand bereits während der sozialistischen Zeit in den Sowjetstaaten erste Ernüchterung, weil man sehr schnell bemerkte, die begrenzten Rohstoffe lassen keinen unbegrenzten Konsum zu, ohne dem es keine kommunistische Gesellschaft geben kann. Aber wenigsten hat Engels versucht eine Gesetzmäßigkeit zu entdecken. Deshalb, das erwarte ich von jedem, der meint, es liege im Bereich des Möglichen, eine Gesellschaft zu haben, in dem der Staat überflüssig wird.

Gruß

hedgi



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 28. Okt. 2005, 17:41 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Urs,

danke für die die ausführlicher und verständliche Entgegnung.

Ich will mal alle kleineren Punkte auf sich beruhen lassen und mich auf das konzentrieren, worin ich den Kern unserer Meinungsverschiedenheit sehe.

Du kritisierst den von mir benutzten Ausdruck „normative Behauptung“ und vertrittst die Auffassung, dass nur (Aussagen über) Tatsachen behauptet werden.

Du schreibst: “Behauptet werden Tatsachen. Forderungen werden erhoben, Vorschriften erlassen oder in Kraft gesetzt“.

Dieser Verengung der Bedeutung des Wortes „Behauptung“ kann ich nicht folgen. Ich verstehe unter einer „Behauptung“ jeden Satz, der mit dem Anspruch auf Richtigkeit (bzw. Allgemeingültigkeit) verbunden ist.

Das kann eine faktische Aussage sein (Schumacher ist nicht mehr Weltmeister), das kann ein Werturteil sein (Die Aufführung von Schillers Räubern war grottenschlecht), das kann eine Sinndeutung sein (Das Wort „statement“ bedeutet im Englischen etwas anderes als das Wort „proposition“), das kann aber auch ein normativer Satz sein (Man soll nicht durch die Blumenrabatte im Park latschen).

Ich sehe in diesem Gebrauch des Wortes „Behauptung“ keinerlei irreführende Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch. Mein philosophisches Wörterbuch erläutert „Behauptung“ als „ein in der Form eines bejahenden Urteils aufgestellter, aber nicht oder noch bewiesener Satz“.

Als „normativ“ bezeichne ich Sätze, die einen vorschreibenden (präskriptiven) Gehalt haben, oder - anders ausgedrückt – Sätze, die eine Forderung bzw. ein „Sollen“ beinhalten.

Derartige „Soll-Sätze“ können in der gleichen Weise wie „Ist-Sätze“ als inhaltlich richtig behauptet werden. Der Satz „Man soll vor der Ehe keinen Geschlechtsverkehr haben“ kann ebenso behauptet und bestritten werden (wenn auch mit anders gearteten Begründungen) wie der Satz „90 Prozent aller Deutschen … hatten bereits vor der Ehe Geschlechtsverkehr“.

Allerdings sind nicht alle normativen Sätze mit einem Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit verbunden und stellen insofern Behauptungen dar. Der Räuber, der ruft: „Hände hoch oder es knallt!“ äußert einen normativen Satz, allerdings nicht mit dem Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit sondern auf Gehorsam.

Auch bei Normen, die durch institutionelle Verfahren gesetzt werden (Gerichtsurteile, Abstimmungsergebnisse, Befehle von Vorgesetzten), spielt die inhaltliche Richtigkeit der gesetzten Normen eine nachgeordnete Rolle.

Dies ist jedoch kein Einwand dagegen, dass normative (präskriptive) Sätze, die Forderungen enthalten, ebenso als richtig behauptet werden können wie positive (deskriptive) Sätze, die Beschreibungen der Wirklichkeit enthalten.

Soviel erstmal zur Terminologie von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 28. Okt. 2005, 19:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Urs,

Du schreibst:

Wenn jemand behauptet:"Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 % dient dem Gemeinwohl", so formuliert er damit keine Forderung ("Ihr sollt..."), sondern behauptet eine Tatsache. Allerdings ist es eine Tatsachenbehauptung, die einen normativen Anspruch begründen soll – nämlich die künftige Verpflichtung, die erhöhte Steuer zu bezahlen."

Ich bezweifle, dass man eine Forderung allein durch Tatsachenbehauptungen begründen kann. Unter der "Begründung" einer Behauptung verstehe ich den Nachweis, dass sich diese Behauptung aus anderen – bereits anerkannten Behauptungen logisch herleiten lässt.

Durch logische Schlussfolgerungen aus einem bestimmten Satz von Prämissen lässt sich jedoch nur das ableiten, was in diesen Prämissen bereits implizit enthalten ist, nicht jedoch ein anderer Bedeutungsgehalt. Insofern das Sollens-Element etwas ist, was in Tatsachenaussagen (Die Welt ist soundso beschaffen) nicht enthalten ist, reichen rein faktische Prämissen also nicht aus, um ein Sollen zu begründen.

Der Eindruck, dass man Normen (Man soll andere Kinder nicht mit Steinen bewerfen) allein mit Tatsachen (Das kann ins Auge gehen) begründen kann, entsteht nur deswegen, weil bestimmte für die Begründung notwendige Prämissen (Man soll andere Menschen nicht verletzen) vorausgesetzt werden, ohne dass sie explizit genannt werden.

Soviel zum Fehlschluss vom Sein auf das Sollen von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 28. Okt. 2005, 20:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Ich muss etwas ausholen, um meine Argumentation zu Deinen Ausführungen vorzubereiten.


Zunächst muss ich mich korrigieren. Ich habe in der Tat geschrieben „Behauptet werden Tatsachen“, hätte aber genauer sagen sollen: „Behauptet werden Sachverhalte“ bzw. „Behauptet wird das Bestehen von Sachverhalten“. Denn Tatsachen nennt man gewöhnlich bestehende Sachverhalte. Dieser Punkt scheint mir in unserem Zusammenhang nicht unwichtig.

Was ist ein Sachverhalt? Der „Gehalt“ eines Urteils oder einer „Grundaussage“ (oder eines „assertorischen“ oder „kategorischen“ Satzes; die Terminologie schwankt hier). Beispiel: Wird geurteilt „Der Kragenbär riecht streng“, so behauptet man, dass der Kragenbär streng riecht. Dieser kursivierte, mit „dass“ eingeleitete Satzteil (schematisch „dass p“) ist der „Gehalt“ der Aussage oder der „propositionelle Gehalt“ - oder eben auch: der Sachverhalt.

Nun ist ersichtlich, dass sich mit der Umformung des Satzes „p“ in „Es ist wahr, dass p“ oder „Es gilt, dass p“ am Sachverhalt p nichts ändert. Man hat nur kenntlich gemacht, dass die Formulierung des Sachverhalts und die Behauptung, dass dieser Sachverhalt bestehe, zweierlei sind. – Man hat aber bei dieser Umformung - und das ist wichtig - die sprachliche Ebene gewechselt. Man befindet sich in der Metasprache, man spricht über eine Aussage, die man gerade analysiert, indem man sie umformt. Und es macht offenbar einen Unterschied, ob jemand schlankweg p behauptet oder ob er behauptet, es werde behauptet, dass p.

Der Begriff „Sachverhalt“ („dass p“) ist also ein metasprachlicher und analytischer Begriff, den man zum Zweck der Thematisierung von Aussagen gebraucht. Sachverhalte als solche „existieren“ nicht – oder nur insofern, als man analytisch über Aussagen spricht. Das ist eigentlich kein großes Problem. Man kann ohne weiteres über (anderswo behauptete) Sachverhalte sprechen und dabei auch etwas über sie behaupten. Man muss sich nur im Klaren darüber sein, dass man selbst den Sachverhalt nicht behauptet, wenn man über ihn spricht.


- - - - - -



Quote:Du schreibst: “Behauptet werden Tatsachen. Forderungen werden erhoben, Vorschriften erlassen oder in Kraft gesetzt“.
Dieser Verengung der Bedeutung des Wortes „Behauptung“ kann ich nicht folgen. Ich verstehe unter einer „Behauptung“ jeden Satz, der mit dem Anspruch auf Richtigkeit (bzw. Allgemeingültigkeit) verbunden ist.



Ich denke, ich habe richtig gestellt, was ich meinte: Behauptet wird das Bestehen eines Sachverhalts.

Trotzdem halte ich daran fest, dass „etwas behaupten“ und „etwas fordern“ zweierlei sind.

Wenn man nämlich einen Sachverhalt behauptet, so spricht man zwar zu einem Adressaten, aber über etwas – also über eine „Sache“, etwas Drittes. Der Adressat ist eingeladen, diese Behauptung über die Sache zu akzeptieren oder sie zu bestreiten – aber eben, indem er seinerseits mit Behauptungen antwortet.

Fordert man dagegen etwas, so erwartet man primär keine sprachliche Stellungnahme, sondern eine Handlung (oder die Unterlassung einer Handlung). Die geforderte Handlung kann zwar auch eine Sprachhandlung sein. Man fordert etwa auf: „Sag mal ‚Der Cottbusser Postkutscher putzt den Cottbusser Postkutschkasten’!“ Die erwartete Antwort ist dann freilich nicht „Stimmt“ oder „Quatsch, es gibt doch gar keine Postkutschen mehr“, sondern eben die Wiederholung des in Anführungszeichen stehenden Satzes.



Wie ist es nun, wenn gesagt wird: „Man soll Kragenbären nicht füttern“ Oder „Man soll vor der Ehe keinen Geschlechtsverkehr haben“?

Es wird dabei, da gebe ich Dir Recht, in der Tat etwas behauptet. Es wird behauptet, dass „man“ etwas solle oder nicht solle.
Wird aber auch etwas gefordert? Ich würde sagen, das hängt vom Kontext ab.

Stehen Mutter und Kind vor dem Gehege des Kragenbärs, und das Kind will dem Tier gerade sein Eis durch die Gitterstäbe reichen, dann ist es sicherlich eine Aufforderung, wenn die Mutter sagt: „Man soll das nicht tun!“ Gemeint ist dann eigentlich: „Du sollst das nicht tun!“

Aber wenn ein katholischer und ein evangelischer Moraltheologe sich darüber streiten, ob Sex vor der Ehe im Einklang mit der Bibel stehe, dann wäre der Satz „Man soll nur in der Ehe Sex haben.“ keine Aufforderung. Vielmehr steht ja gerade zur Debatte, ob die Kirche diese Norm in Kraft setzen kann oder nicht.
Hier wird also über eine Norm gesprochen. Und es wird etwa behauptet: „Sie ist nicht biblisch.“ Oder: „Sie ist gerechtfertigt.“ Oder: „Sie ist nicht mehr zeitgemäß.“


Ähnlich ist es, wenn im Parlament über einen Gesetzesentwurf debattiert wird. Es wird dieser normative Sachverhalt (!) in der Metasprache (!) analysiert, es wird seine Zweckmäßigkeit, seine „handwerkliche“ Ausführung besprochen usw. Und es werden Argumente für und wider ausgetauscht.
Und es ist klar: Zur Norm wird dieser Gesetzesentwurf erst durch die Verabschiedung, also die Willensbekundung der Volksvertreter. Durch diese Bekundung kommt zum „normativen Sachverhalt“ erst jenes Moment der Aufforderung hinzu, der aus dem Gesetzesentwurf eine geltende Norm macht. Vorher wird darüber diskutiert, ob und aus welchen Gründen diese Norm "in Geltung gesetzt" werden solle.


Halten wir fest: „Normative Gehalte“ sind etwas anderes als „geltende Normen“. Eine geltende Norm ist eine Aufforderung an bestimmte Adressaten (und nicht an ein anonymes „man“!), bestimmte Handlungen zu vollziehen oder zu unterlassen. Ein „normativer Gehalt“ ist einfach ein Sachverhalt, über den man spricht, wenn man Normen thematisiert (z.B. um sie zu begründen oder zu kritisieren). Er ist also etwas ebenso Virtuelles wie das „man“.


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 28. Okt. 2005, 22:07 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Urs,

mir erscheinen Deine Argumente gegen den Ausdruck „normative Behauptung“ nicht schlüssig. Du schreibst:

„Behauptet wird das Bestehen von Sachverhalten.“

Unter einem „Sachverhalt“ verstehst Du den Gehalt eines assertorischen Satzes.

Ich sehe nun keinen Grund, warum Sätze wie „Man soll (oder Du sollst) niemanden mit Steinen bewerfen“ keine assertorischen Sätze sein sollen und warum man derartige Sätze bzw. deren Gehalt nicht behaupten und bestreiten kann. Der „propositionale Gehalt“ p lautet dann: „dass man niemanden mit Steinen bewerfen soll“.

Es ist zwar richtig, dass ein normativer Satz eine Forderung enthält, und dass eine Forderung etwas anderes ist als eine Behauptung, aber ebenso richtig ist, dass ein positiver Satz eine Feststellung enthält, und dass eine Feststellung etwas anderes ist als eine Behauptung.

Das hindert nicht, dass man sowohl Feststellungen wie Forderungen gegenüber anderen behaupten kann.

Der Satz „Man soll – abgesehen von Situationen der Art x, y, z – andere Menschen nicht mit Steinen bewerfen“ enthält eine Norm, die inhaltlich richtig oder falsch sein kann, auch wenn der Satz nicht das Ergebnis eines Verfahrens der Normsetzung ist (Parlamentsbeschluss) sondern allein von guten bzw. schlechten Argumenten gestützt wird.

In der Hoffnung, allgemein verständlich geblieben zu sein,

grüßt alle Unentwegten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 28. Okt. 2005, 23:52 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

kleiner Hinweis darauf, dass politische Argumentationen, auch sachlicher Art, immer bereits eine Norm voraussetzen.

Ansonsten möchte ich zum Begriff Gemeinwohl zurückkehren.

Urs schrieb:
Sondern durch diesen Lernprozess, der unbestritten in vieler Hinsicht Zwang ins Spiel bringt, wird das Individuum erst so weit gebracht, dass es über sich selbst bestimmen kann.
Das ist gewiss ein wünschenswerter Idealzustand, doch die Verhältnisse, die sind nicht so.
Zunächst ein m.E. viel zu wenig beachteter Satz aus Witgensteins TLP: es ist unmöglich, unlogisches zu denken. Das heißt, Logik ist zwingend.
Logik verknüpft Daten. Und diese Daten sind verschieden. Je nach dem Umfeld dessen, der sie wahrnimmt. Ein Mitglied der Drogenszene z.B. hat andere Daten zur Verfügung, die sich auch daraus ergeben, dass er zu Staat und Gesellschaft ein anderes Verhältnis hat. Sie sind für ihn eine Bedrohung, etwas Fremdes, Undurchschaubares, Mächtiges, das ihn ständig bedroht und gegen das er sich schützen muss. Ein gut bürgerlicher Mittelstandsmensch sieht das ganz anders. Folglich hat er ein anderes Weltbild, folglich zieht er logisch zwingend andere Schlüsse.

Will sagen: vor allen anderen Zwängen ist die Logik ein Zwang. Auch den kann man halbwegs abwerfen, wenn man ihn durchschaut. Man kann Selbstverständlichkeiten erkennen, die sich als nicht selbstverständlich erweisen und Daten Beachtung schenken, denen man zuvor keine geschenkt hat. Das setzt aber Kritikbereitschaft und Reflexion voraus, die man generell nicht voraussetzen kann. Ich behaupte sogar, dass man dies mehrheitlich nicht voraussetzen kann.

Damit kommst du, Eberhard, natürlich in Schwierigkeiten, was den Konsens betrifft. Werden die Argumente, die einen Konsens herbei führen können, überhaupt wahrgenommen, wie sie gesagt wurden? Ich sehe da ein Problem. Gefallen tut mir dieses Problem nicht.

Und für dich, Urs, die Frage: kann das Individuum in der Regel überhaupt über sich selbst bestimmen, angesichts des Zwanges der Logik? Und daran anschließend: was ist mit Selbstbestimmung eigentlich gemeint? Ist es nicht eine Selbstbestimmung innerhalb des Rahmens, den die Daten vorgeben, also eine eingeschränkte Selbstbestimmung?

Ich nehme also durch die Einsicht einen „höheren“ Standpunkt ein, nämlich den Standpunkt der Gemeinschaft, in der diese Regel gilt – d.h. in der sie von jedem anerkannt wird.
Gewiss. Nur - diese Gemeinschaft muss nicht die Gesamtgesellschaft sein. Sie kann sogar Feind dieser Gesamtgesellschaft sein. Und was dann?

In diesem Zusammenhang: Marx. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Meiner Ansicht nach hat er damit nicht Unrecht.

Wir haben also das Problem, dass unterschiedliche Gruppen innerhalb der Gesellschaft aufgrund ihres unterschiedlichen 'Seins' unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was das Gemeinwohl eigentlich ist. Diese unterschiedlichen Auffassungen resultieren nicht aus unterschiedlichen autonom gewonnenen unterschiedlichen Meinungen, sondern aus unterschiedlichen Lebensumständen.

Und da wollen wir dann zusehen, wie ein Konsens zu erreichen wäre. Ich habe Zweifel, ob das über das reine Sachargument geht.

Grüße



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 29. Okt. 2005, 01:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------


Hallo Eberhard!


Quote:Ich sehe nun keinen Grund, warum Sätze wie „Man soll (oder Du sollst) niemanden mit Steinen bewerfen“ keine assertorischen Sätze sein sollen und warum man derartige Sätze bzw. deren Gehalt nicht behaupten und bestreiten kann. Der „propositionale Gehalt“ p lautet dann: „dass man niemanden mit Steinen bewerfen soll“.



Das habe ich aber ausdrücklich eingeräumt. Ich schrieb:


Quote:Wie ist es nun, wenn gesagt wird: „Man soll Kragenbären nicht füttern“ Oder „Man soll vor der Ehe keinen Geschlechtsverkehr haben“?
Es wird dabei, da gebe ich Dir Recht, in der Tat etwas behauptet. Es wird behauptet, dass „man“ etwas solle oder nicht solle.



Meine Argumentation konzentrierte sich stattdessen auf zwei Unterschiede: Einerseits auf den Unterschied zwischen „etwas behaupten“ und „etwas fordern“, andererseits auf den Unterschied zwischen einem „normativen Sachverhalt“ und einer (geltenden) Norm.

Die Kritik am „naturalistischen Fehlschluss“, der versucht, vom „Sein“ auf das „Sollen“ zu schließen, ist geschenkt. Denn indem ich am Unterschied zwischen „etwas behaupten“ und „etwas fordern“ festhalte, unterstütze ich ja gerade die These, dass das eine nicht aus dem anderen abzuleiten sei. „Gesollt“ wird nur dort, wo jemand etwas fordert.

Allerdings bahne ich damit auch die These an, dass ein Sollsatz - „Man soll dies oder das tun“ – nicht schon deshalb eine Norm ist, weil darin das Verb „sollen“ vorkommt. Oder anders gesagt: Ein Satz ist eine Norm nicht allein schon aufgrund seiner Form. (Ein Gesetzentwurf ist kein Gesetz.) Es muss m.E. eine Aufforderung zum Handeln mit diesem Satz zu verstehen gegeben werden, und ich finde es klar, dass nur konkrete Personen handeln und zum Handeln auffordern können. D.h. damit ein Satz eine Norm ist, muss er einen konkreten Adressaten(kreis) haben und auf das Wollen konkreter Personen zurückgehen. „Man“ kann nicht handeln und „man“ kann auch nichts fordern.

(Wen oder was bezeichnet man mit „man“? Doch sicher keine konkreten Personen. Ist es ein genereller Terminus? Oder ist es ein Quantor? Sind damit also alle Menschen gemeint? Schwerlich. Eher „alle und keiner“. D.h. seine Bedeutung ist ganz und gar kontextabhängig – und darum ist er nicht geeignet, um etwa eine „universelle“ normative Geltung zu formulieren.)



Quote:Der Satz „Man soll – abgesehen von Situationen der Art x, y, z – andere Menschen nicht mit Steinen bewerfen“ enthält eine Norm, die inhaltlich richtig oder falsch sein kann, auch wenn der Satz nicht das Ergebnis eines Verfahrens der Normsetzung ist (Parlamentsbeschluss) sondern allein von guten bzw. schlechten Argumenten gestützt wird.



Ich bin nicht der Meinung, dass dieser „Man soll...“-Satz eine Norm enthält. Wohl ist damit ein „normativer Sachverhalt“ bezeichnet. Aber Normen gelten nicht, weil Argumente für sie sprechen. Ohne konkrete Personen, die die Geltung einer Norm beschließen und damit andere Personen konkret zum Handeln auffordern, ist ein normativer Satz einfach ein normativer Satz.

Es ist eben zweierlei, eine Norm zu thematisieren oder sie anzuwenden (bzw. sie „in Kraft zu setzen“). Die Thematisierung der Norm macht sie zu einem Sachverhalt, und das heißt, sie neutralisiert den Imperativ, sie klammert die Aufforderung ein. Werden Normen thematisiert, so sind sie gewissermaßen „ausgekuppelt“. Sie sind dann Gegenstand der (metasprachlichen) Reflexion, der Beschreibung, der Erläuterung, der Prüfung, der Kritik, der Begründung.


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 29. Okt. 2005, 07:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Urs,

ich habe den Eindruck, dass der Kern unseres Dissens deutlicher wird. Einig sind wir uns wohl darin, dass man Sätze wie: „Man soll … Menschen nicht mit Steinen bewerfen“ behaupten und begründen kann. Dies war mir wichtig.

Die spannende Frage ist, handelt es sich bei einem solchen Satz auch um eine geltende Norm?

Hier bin ich mir auch in vielem nicht sicher und suche nach Klärung.

Klar ist, dass nicht jeder Satz, der ein Sollen enthält, eine normative Behauptung oder eine Norm mit Geltungsanspruch darstellt. Er muss natürlich behauptet werden.

Entsprechendes gilt auch für Ist-Sätze. Wenn sie in Romanen vorkommen, sind es keine positiven Behauptungen.

Du schreibst, „dass es von der Situation abhängt: damit ein Satz eine Norm ist, muss er einen konkreten Adressaten(kreis) haben und auf das Wollen konkreter Personen zurückgehen.“

Wie ist es mit moralischen Normen wie „Geschlechtsverkehr ist nur in der Ehe erlaubt“? Angenommen, dies sagt die Zimmerwirtin zu ihrem Untermieter und fährt fort: „Sie sind gekündigt!“ Darauf sagt der Untermieter: „Da bin ich aber ganz anderer Ansicht.“

Hier wird eine moralische Norm, die strittig ist, auf einen bestimmten Adressaten angewandt. Diese Norm geht nicht auf den Willen der Zimmerwirtin zurück, auch nicht auf ein bestimmtes Beschlussverfahren der In-Kraft-Setzung. Die Zimmerwirtin ist von der inhaltlichen Richtigkeit dieser moralischen Norm überzeugt, der Untermieter nicht.

Ich sehe auch, dass es neben der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit von normativen Behauptungen die Ebene der verfahrensmäßig gesetzten Verbindlichkeit von normativen Setzungen gibt, Die Frage ist: Wie hängen beide zusammen?

Es grüßt Dich und alle andern Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 29. Okt. 2005, 10:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt in dem Sinne, dass das, was jemand meint, durch seine Lebensumstände bestimmt wird, dann ist diese Runde witzlos. Denn sie steht unter der Prämisse, dass die Teilnehmer nach der richtigen Antwort auf die gestellte Frage suchen - und „richtig“ impliziert hier: richtig für alle. Das heißt: jeder muss sich um Einsichtsfähigkeit bemühen und kann dies auch vom andern verlangen. Dass dies häufig nicht erreicht wird, tut dem keinen Abbruch.

Von Scheinargumenten wie: „Das kannst Du eben nicht einsehen, weil Du zur Bourgeoisie gehörst!“ habe ich noch nie etwas gehalten. Das sind keine Argumente sondern Aufkündigungen der Diskussionsgrundlagen und Aufgabe des Bemühens um Wahrheit und Allgemeingültigkeit. Zum Glück ist unsere Diskussion frei davon.

Es grüßt Dich Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 29. Okt. 2005, 14:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Du bestreitest, dass Menschen durch Lernprozesse, in denen sie geltende Normen „verinnerlichen“ oder sich „zu eigen machen“, ein Stück „Selbstbestimmung“ erwerben. Diese Selbstbestimmung hatte ich auch so erläutert, dass jemand, der eine Regel einsieht und übernimmt, sich dadurch auch befähigt, sie auf sich selbst anzuwenden. Er kann nun sein Handeln anhand der Regel überprüfen und sich dann auch selbst „korrigieren“.

Du sagst, das sei ein „wünschenswerter Idealzustand“, nicht Realität. Vielleicht verbindest Du mit dem Wort „Autonomie“ zu hohe Erwartungen. Darauf würde ich mit dem chinesischen Sprichwort antworten: „Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“

Als Beispiel für einen solchen Lernprozess kannst Du einfach ein lernendes Kind beobachten. Es bekommt etwa gesagt, dass man nicht „wegen dem Regen“ sagt, sondern „wegen des Regens“, nicht „wegen dem Teddy“, sondern „wegen des Teddys“. Die Regel besagt also allgemein: „’wegen’ wird mit dem Wesfall gebraucht“. Das ist einfach eine autoritative Setzung, ein Zwang. Aber – „man macht es eben so“, basta. Mag sein, dass das Kind eine Weile Mühe mit dieser Regel hat (viele Erwachsene beherrschen sie ja auch nicht), aber wenn es sie „verinnerlicht“ hat, dann kann das Kind selbst beurteilen, ob es sie richtig anwendet oder nicht. Es kann sagen: „Das war wegen dem T... äh, wegen des Teddys.“ Und es kann, wenn es einen Erwachsenen sagen hört: „Ich bin wegen dem Regen nicht zu Fuß gekommen“ triumphierend eingreifen: „Es heißt aber ‚wegen des Regens’!“ Kinder genießen es sehr, wenn sie ihre Erzieher, die doch immerzu an ihnen herummäkeln, sie zu früh ins Bett schicken und all das..., bei einem Verstoß gegen ihre eigenen Regeln erwischen. Und mit Recht. Denn damit haben sie sich in der Tat ein Stück „Erwachsensein“ erworben. Endlich „groß“ zu werden, also selbständig und unabhängig, das ist ein sehnlicher Wunsch aller Kinder.

Mit dem „Zwang“ der Logik ist es nicht anders. Zunächst einmal sind alle Regeln ein Zwang, wenn wir sie lernen müssen. Aber wenn wir sie „beherrschen“, d.h. selbständig anwenden können, helfen sie uns entschieden bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben.

Was bei der Logik sonst noch „zwingt“, ist der Automatismus der Verknüpfungen, also die „Konsequenz“. (Über Wittgensteins TLP und das „Logik plus Daten“- Modell schweig ich mal hier, halte es aber für falsch..) Aber obwohl ich auf formale Logik nicht wirklich abfahre, finde ich doch, dass die innere Konsistenz eines Standpunkts und seine konsequente praktische Entfaltung in der Zeit ein ganz wesentliches Moment nicht nur der Philosophie ist, sondern unserer praktischen Selbstbehauptung insgesamt (unseres Mensch- und Subjekt-Seins). Dabei ist mir schon klar, dass kein Mensch in jeder Hinsicht konsequent „er selbst“ sein kein und nicht alle Menschen in gleichem Umfang. So ist eben das Leben. Dass es Drogenabhängige gibt (z.B. mich: ich rauche, wenn auch nur Tabak...) und viele andere Formen der Unselbständigkeit, ist klar, schafft aber die Realität von Autonomie nicht aus der Welt (und mag sie immer nur eine partielle sein).

Deine Frage, ob man angesichts des „Zwanges“ der Logik überhaupt „man selbst“ sein könne, beantworte ich also entschieden mit „Ja!“ Und zwar erreichen wir Selbständigkeit nicht trotz der Regel“zwänge“, sondern durch sie. Regeln sind sozusagen das Rückgrat unseres „aufrechten Gangs“. Sie sind „Hilfen zur Selbsthilfe“.

Das gilt natürlich nicht für alle Regeln. Es gehört auch zur Selbständigkeit, überflüssige Regeln abzulegen. Aber kann man ohne Regeln erkennen, wann eine Regel überflüssig ist?


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 30. Okt. 2005, 01:32 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, zusammen,

Eberhard schrieb:
Ich sehe auch, dass es neben der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit von normativen Behauptungen die Ebene der verfahrensmäßig gesetzten Verbindlichkeit von normativen Setzungen gibt, Die Frage ist: Wie hängen beide zusammen?

Durch die Gewalt, Eberhard. Eine Norm hat dann Geltungsanspruch, wenn sie mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Sonst nicht. So einfach und so primitiv ist das. Und alles andere sind Wunschvorstellungen. Warum? Weil Mensch so funktioniert, dass er nicht immer und auch nicht alle vernünftig sind. Weswegen auch als Bedingung Nr. 3 für das Vorhandensein eines Staates die Regierungsgewalt ist.

wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt in dem Sinne, dass das, was jemand meint, durch seine Lebensumstände bestimmt wird, dann ist diese Runde witzlos.
Ist sie nur dann, wenn jeder darauf pocht, die einzige richtige Einsicht zu haben.
Das ist leider der Normalfall.
Schau dir die Geschichte an. Ich behaupte, den großen Teufel findest du da nicht. Jeder, der als solcher dargestellt ist, war der Überzeugung, einzig dem Gemeinwohl gedient zu haben. Auch Hitler, auch Stalin, auch Saddam Hussein und auch Ludwig XVI. Dem Gemeinwohl, wie es in seinem Weltbild aussah.

Spanien ist überzeugt, dem durch das Bekenntnis zu den Menschenrechten als legitim abgesicherten europäischen Gemeinwohl zu dienen, wenn es die afrikanischen Wirtschaftsflüchtlinge auf abschreckende Weise zurück transportiert. Ich bin sicher, die Flüchtlinge sehen das anders. Und ich bin sicher, dass da ein Konsens nicht möglich ist. Hältst du es für abwegig, dass hier beide Seiten mit dem Argument 'das kannst du nicht einsehen, weil du kein Europäer/kein Afrikaner bist' den Dialog aufkündigen?

Es geht nicht darum, wie wir die Welt gerne hätten, es geht darum, wie die Welt ist. Und sie ist nun mal so, dass Menschen unterschiedlich leben, unterschiedlich geprägt sind, unterschiedliche Weltbilder haben, woraus unterschiedliche Sichtweisen, Normen, Regeln und Überzeugungen resultieren. Weshalb ich sage, wenn wir zu einem Konsens kommen wollen, kann er nur auf dem basieren, was sich unabhängig von den Lebenswirklichkeiten zeigt, der humanen Ethik. Und im nationalen Maßstab sind es konstituierende Grundwerte, niedergelegt im Grundgesetz. Alles andere wird immer nur meine Sichtweise sein, und die werden andere nicht teilen.

Dein Beispiel mit der Kindersprache, Urs, zeigt eines: dass das Kind bestimmte Sprachregelungen in einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung lernt. In anderen Gruppierungen interessiert das niemanden, da benutzen alle den Dativ und wer den Genetiv benutzt, grenzt sich aus und wird als Fremdling betrachtet, der sich absondern will. Für dich ist der Genetiv richtig. Für andere ist er ein negatives soziales Signal.

Logik sehe ich nicht so wie du. Logik sind keine aufgestellten Regeln, es ist die Art, wie wir denken. Sie 'fußt' auf dem 'Grundgesetz' unserer Wahrnehmung, weswegen wir auch gar nicht anders können als logisch zu denken. Von daher weiche ich von der Aussage, die Logik ist die Struktur der Welt ebensowenig ab wie von der Aussage, Logik ist zwingend.

Man kann Zwänge abwerfen, wenn man sie erkennt. Wenn man also reflektiert. Das setzt aber voraus, dass man reflektiert, was keineswegs selbstverständlich ist. Es setzt sogar voraus, dass man überhaupt auf die Idee kommt, dass es da etwas zu reflektieren gibt, also etwas, was vielleicht doch nicht selbstverständlich ist. Und - durch Reflexion gewinnst du keine neuen Wahrnehmungsdaten. Ein Blinder kann nicht qua Reflexion zu der Erkenntnis kommen, was rot ist.

Deswegen sollte man sich auch nicht mit der Überlegung befassen, wie man sich vorstellen soll, wie andere Leute leben. Denn wenn man das nicht gesehen hat, kann man sich das nicht vorstellen. Tut man es dennoch, kommt man wieder in das Gemeinwohlproblem: ich stelle mir vor, was für die Leute gut ist - aber letztlich bleibt es das, was für mich gut wäre.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von psi am 30. Okt. 2005, 10:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
wenns mit dem genetiv nicht klappt probiers doch einfach mal mit dem genitiv ;-)

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 30. Okt. 2005, 11:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Bitte vielmals um Entschuldigung, Psi, aber ich bin auf eine humanistische Schule gegangen (zu Deutsch: Lateiner) und da heißt der Fall nun mal Genetiv.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 30. Okt. 2005, 11:51 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

es erscheint mir sinnvoll, einmal etwas ausführlicher darzulegen, in welchen größeren Zusammenhängen nach meinen Vorstellungen Begriffe wie „Gemeinwohl“ (bzw. analoge Begriffe) ihre Anwendung finden und welche Aufgabe diese Begriffe dabei erfüllen.

Ausgangspunkt ist das Raumschiff „Erde“, das mit Individuen und Kollektiven unterschiedlicher Kulturen, Weltsichten und Interessen bevölkert ist.

Durch die erweiterten technischen Möglichkeiten rücken diese unterschiedlichen Gruppen immer enger zusammen. Die Explosion eines Kernkraftwerkes oder einer überirdisch gezündeten Kernwaffe gefährdet die Gesundheit der Menschen rund um den Globus. Die Entwicklung von Aktienkursen, Rohstoffpreisen etc. an der Londoner Börse hat Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Bedingungen in den entferntesten Ländern.

Durch die wachsenden Abhängigkeiten der Individuen und Gruppen voneinander vergrößern sich die Reibungsflächen und Konfliktfelder. Wenn man diese Konflikte dem Machkampf überlässt, dann wird es angesichts der Vernichtungskraft moderner Waffen wahrscheinlich keinen strahlenden Sieger mehr geben sondern nur noch strahlende Trümmerhaufen.

Deshalb muss man nach Wegen suchen, wie Individuen und Kollektive unterschiedlicher Kulturen und Interessen trotz dieser Unterschiede zusammenleben können.

Das erfordert, dass überall dort, wo Parteien mit ihren Interessen im Konflikt stehen, eine Regelung gefunden wird, die im gemeinsamen Interesse aller beteiligten Parteien liegt und von allen am Konflikt Beteiligten akzeptiert werden kann.

Der Wissenschaft kommt dabei die Aufgabe zu, Möglichkeiten der friedlichen Einigung zu durchdenken, und die hierfür erforderlichen Begriffe und Methoden zu entwickeln.

Insbesondere kann die Wissenschaft die Konsequenzen herausarbeiten, die sich aus dem Willen zum Konsens ergeben und sie kann diejenigen Verhaltensweisen und Argumentationsweisen als unzulässig markieren, die mit dem Ziel einer friedlichen Übereinstimmung unvereinbar sind.

Die Bestimmung der partikularen Interessen durch die Konfliktparteien ist abhängig von den Annahmen über die Wirklichkeit: zum einen hinsichtlich der verfügbaren Handlungsalternativen und zum andern hinsichtlich der zu erwartenden Konsequenzen von Handlungen.

Aufgabe der empirischen Wissenschaften ist es, Methoden der allgemein akzeptablen Beantwortung von Fragen zur Beschaffenheit der Welt zu entwickeln und anzuwenden. Differenzen, die allein aus einer unterschiedlichen Weltsicht der Konfliktparteien herrühren, können dadurch beseitigt werden.

Wo die informierten und reflektierten Interessen der Konfliktparteien weiterhin unvereinbar sind, muss eine Konfliktregelung gefunden werden auf der Grundlage einer unparteiischen und wohlwollenden Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten. Alles andere erscheint nicht allgemein konsensfähig.

Die inhaltlich richtige Bestimmung dieser am Gemeinwohl orientierten Regelung ist die Aufgabe der unbehinderten öffentlichen Diskussion, wozu die Wissenschaftler als Experten für die Beantwortung spezieller Fragen ihre Beiträge leisten.

Aus der öffentlichen Diskussion der Fragen gehen aber nicht notwendig allgemein akzeptable Antworten hervor. Damit kann auch keine definitive Konfliktregelung aus der Diskussion hervorgehen.

Außerdem geht selbst aus der schlüssigsten Ableitung der gemeinschaftlich besten Regelung noch nicht die Motivation der Beteiligten hervor, nun auch im Sinne dieser Regelung zu handeln. Dazu bedarf es einer institutionalisierten Macht, die die Einhaltung der betreffenden Normen überwacht.

Auch wenn alle Beteiligten gemäß ihren Überzeugungen hinsichtlich der dem Gemeinwohl am besten entsprechenden Regelung handeln würden, so ergäbe das selbst beim besten Willen aller noch kein sozial koordiniertes und berechenbares Verhalten der Konfliktparteien.

Es bedarf deshalb neben der Ebene der Diskussion und Argumentation einer Ebene allgemein anerkannter Verfahren zur Setzung derjenigen Normen, die für das Handeln aller Konfliktparteien verbindlich ist – unabhängig davon, ob die einzelnen Parteien diese Entscheidung für inhaltlich richtig halten oder nicht.

Dadurch besteht zwischen der Ebene der Wahrheitsfindung und der Ebene der Erzeugung von Verbindlichkeit ein Spannungsverhältnis.

Beide Ebenen sind schon deswegen nicht unabhängig voneinander, weil sich in Bezug auf die Institutionen und Verfahren der verbindlichen Normsetzung (die gewissermaßen die rechtliche Verfassung einer Gemeinschaft ausmachen), wiederum die inhaltliche Frage stellt, welches die geeignetsten Verfahren sind, um zur Setzung solcher Normen zu kommen, die dem Gemeinwohl am besten entsprechen.

Vielleicht hilft diese Skizze des größeren Zusammenhangs, in dem ich den Gemeinwohlbegriff und seine Funktion sehe, zu einem besseren Verständnis der meist nur punktuell orientierten Diskussionsbeiträge.

Einen – weiterhin - sonnigen und farbenprächtigen Herbstsonntag wünscht allen Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 30. Okt. 2005, 13:52 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Dass man den Gehalt normativer Sätze auf ihre Richtigkeit prüfen kann, halte ich in der Tat für selbstverständlich. So weit sind wir uns offenbar einig.

Allerdings bin ich der Meinung, dass sich diese „Richtigkeit“ auch mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründen lässt. Auch Tatsachen können in die Begründung von Normen einfließen. So ist es ja ganz offenkundig im Verfahren der Gesetzgebung. Gesetze werden erlassen, um gesellschaftliche Zustände oder Entwicklungen zu gestalten. Und dabei sind Faktenwissen und Prognosen unverzichtbar.

Es kann auch ohne weiteres vorkommen, dass eine Regierung sich durch die Realitäten gezwungen sieht, ein Gesetz zu erlassen – also durch einen Notstand. Trotzdem würde in so einem Fall nicht einfach das Sollen aus dem Sein „logisch folgen“, denn es hängt erstens von Bewertungen und Interpretationen ab, was als Notstand gilt, und zweitens werden sich die ergriffenen Maßnahmen ihrerseits an weithin anerkannten Werten orientieren (z.B. an der „Gerechtigkeit“, am „Gemeinwohl“ oder auch ganz einfach an der Verfassung).

Der Hinweis auf Tatsachen ist also m.E. grundsätzlich kein Problem bei der Begründung von Normen. Und zwar liegt das zum einen daran, dass diese Tatsachen von vornherein in einem „Raum“ der Reflexion herangezogen werden, in dem es um eine Begründung von Normen geht. Und zum zweiten liegt es daran, dass die Geltung der Normen letztlich nicht von ihrer „sachlichen Richtigkeit“ oder ihrer „Vernünftigkeit“ abhängt (nicht logisch daraus folgt), sondern von der Anerkennung der von der Norm Betroffenen - also von einem mehr oder weniger ausdrücklichen „Akt“ der Entscheidung.


Die Entscheidung („Wollen“) und den „Raum der Reflexion“, in dem Gründe für die jeweilige Entscheidung erwogen werden, stelle ich mir bei diesen Überlegungen nicht als durch eine Kluft getrennt vor. Der „Wille“ ist für mich keine blinde Naturmacht (wie Schopenhauer ihn sah), die per se vernunftfremd wäre. Ich glaube überhaupt nicht an so etwas wie den „Willen an sich“; das ist eine Abstraktion. Vielmehr zeigt sich das Wollen immer in konkreten Entscheidungen konkreter Personen, die in konkreten Situationen aus konkreten Alternativen auszuwählen haben. „Der“ Wille ist also „immer schon“ ein („inhaltlich“) bestimmter Wille. Und genau deshalb ist er auch bestimmbar durch solche Gründe, die von den an der Begründungs-Reflexion Beteiligten „vernünftig“ genannt werden.


Es grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 30. Okt. 2005, 15:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Deinem Überblick kann ich in Vielem zustimmen, nur veranschlage ich den Einfluss, den ausdrückliche, normierte Verfahren auf das friedliche Zusammenleben haben, niedriger als Du. Ich glaube vielmehr, dass die vielfältigen Verflechtungen der Menschen, durch die sie einander „ins Gehege kommen“ auch die eigentlich treibende Kraft für einen friedlichen Interessenausgleich sind. Dieser Interessenausgleich muss dabei gar nicht immer von explizitem Konsens begleitet sein. Und ich finde sogar, dass Gremien, in denen die Repräsentanten verschiedener, unversöhnlicher Parteien versuchen, nach geregelten Verfahren zu kosensuellen Entscheidungen zu kommen – dass diese Gremien oft eher die Differenzen zementieren.

Das kann dann zu einer Lähmung solcher Institutionen führen. Statt Entscheidungen zu fällen, verteidigt man im Dauergrabenkrieg zäh die je eigene Linie. Das führt bei Beobachtern zu der berühmten „Politikverdrossenheit“. Das Parlament erscheint als „Schwatzbude“, und das Ansehen der Repräsentanten sinkt bei denen, in deren Namen sie eigentlich handeln sollen.
Was kümmern sich z.B. die USA (oder im Moment Iran) um die UNO? Als es galt, den Irakkrieg öffentlich zu legitimieren, hat der Außenminister der USA durch sein Verhalten gezeigt, dass die UNO eigentlich nur die Bühne für einen wirksamen propagandistischen Auftritt war. (Es ehrt Colin Powell, dass er nachträglich diesen Auftritt als moralischen Tiefpunkt seiner Karriere sah. Noch ehrbarer wäre es freilich gewesen, sich gar nicht erst von der Bush-Junta benutzen zu lassen.)

Die Lähmung der Entscheidungsinstitutionen ist das eine mögliche Übel. Ein anderes Übel ist es, wenn man einen nach dem Buchstaben der Verfahrensregeln korrekten „Konsens“ findet, dessen Funktion aber eher in der Ausbootung der Schwächeren oder der Quertreiber besteht – d.h. wenn das Verfahren von den Mächtigeren zur Durchsetzung der eigenen Interessen instrumentalisiert wird. Ein solcher „Konsens“ ist das Papier nicht wert, auf dem er festgehalten wird, denn er stiftet Unfrieden und Verbitterung, wo es doch um friedlich-schiedliches Auskommen miteinander geht.
Mir fällt dazu als Beispiel der Kopftuch-Streit ein, der von den zuständigen Gerichten eigentlich längst entschieden ist. Aber hat diese Entscheidung zu einem gesellschaftlichen Konsens geführt? Keineswegs. Viele muslimische Frauen haben gerade wegen dieser gerichtlichen Auseinandersetzung zum Kopftuch gegriffen, um demonstrativ ihre Identität zu behaupten. Die Gerichtsurteile haben also de facto nicht geschlichtet, sondern polarisiert.

Also, ich bin nicht gegen Verfahren und Verfahrensregeln, aber ich halte sie nicht wirklich für die treibende Kraft der Einigung. (Ich werde auf diesen Punkt bestimmt noch zurück kommen, denn er ist wichtig für das Verständnis des Gemeinwohl-Begriffs – und führt bei mir zur Unterscheidung eines „expliziten“ und eines „impliziten“ Gemeinwohls.)


Es grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 30. Okt. 2005, 21:01 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Dass man den Gehalt normativer Sätze auf ihre Richtigkeit prüfen kann, halte ich in der Tat für selbstverständlich. So weit sind wir uns offenbar einig.

Es mag sein, dass du das für selbstverständlich hältst, Urs. Andere aber nicht.

Kein religiöser Mensch wird dieser Auffassung zustimmen. Denn für ihn sind die entscheidenden Normen von Gott gesetzt und es steht dem Menschen nicht zu, zu überprüfen, zu kontrollieren, ob Gott die Normen richtig oder falsch gesetzt hat. Bei denen kommst du mit deinen Argumenten also nicht durch.

Macht euch keine Illusionen. Das zentrale Problem ist nicht richtig oder falsch, sondern gut oder böse. Passt uns nicht, ist aber so. Wenn es um die Frage geht, was ist gut, was ist böse, kommen wir mit empirisch begründeten Vernunftargumenten nicht weiter. Sie werden nicht gehört.

Das ist auch richtig so. Denn spezifisch menschlich ist es, sich aus ethischen Gründen gegen die vernünftige Alternative zu stellen.

Beispiel: eine schon etwas ältere Doktrin (Nixon oder Reagan?), wonach Erdöl lebenswichtig für die USA ist. Folglich werden die lebenswichtigen Interessen der USA in Nah-/Mittelost verteidigt. Wenn man dann auch noch der Überzeugung ist, die eigene Gesellschaftsform sei die beste und fortschrittlichste, nach der sich alle vernünftigen Menschen sehnen, dann wird politische Einmischung nicht nur zu einer Frage der Vernunft, sondern auch zum moralischen Akt.

Die Bevölkerung der Erdölländer sieht das anders. Für sie ist diese Doktrin nicht vernüftig, sondern böse, da das Erdöl nun mal anderen Leuten als den USA gehört. Die eigene Prosperität ist für sie kein Grund, die in anderen Kulturen geltenden Normen (Eigentumsrecht) zu verletzen. Mit Vernunftsargumenten kann man zwar zu (vorübergehenden) Kompromissen kommen, nicht aber zu dem, was imho konstituierend für eine Konsensmöglichkeit ist: Vertrauen. Dem Vertrauen darauf, dass die Gegenseite sich aus innerer Überzeugung auch an einen möglichen Konsens halten wird. Das unterscheidet m.E. den Konsens vom Vertrag. Der Vertrag basiert auf dem do ut des, der Konsens auf der Überzeugung.

Deswegen sage ich, der Weg zu einem möglichen Konsens kann nur über die humane Ethik führen, wobei ich voraussetze, dass die zum menschlichen Wesen gehört, also trotz unterschiedlichster Situationen, an denen sie sich zeigt, bei allen reflektierenden Menschen, also bei denen, die nicht aufgrund von Gefühlsimpulsen handeln und deswegen überlegenswerte Alternativen gar nicht sehen, gleich ist. Das trifft gerade auch auf die großen Religionen zu. Denn wenn man mal so den gesammelten Stuss Revue passieren lässt, der auch in diesen Foren als religiöse Überzeugung verkündet wird, dann besteht der Unterschied zu den großen Weltreligionen darin, dass die nun mal geglaubt werden, während der Stuss nur paar vereinzelte Anhänger hat. Dafür gibt es einen Grund, und genau der sollte uns interessieren. Deutlich gesagt: was ist das unterschiedlichen Religionen Gemeinsame, das zu solchen historisch lang dauernden Massenreligionen führte. Es sollte uns in der Verfolgung des Zieles dienen, eine von allen Menschen anerkannte Basisüberzeugung zu finden, die deswegen allgemein anerkannt wird, weil sie zum menschlichen Wesen gehört. So, wie die natürlichen Bedürfnisse bei allen Menschen die gleichen sind, weil es die biologischen Bedürfnisse des Lebewesens Mensch sind.

Das heißt in der Praxis: die Vernunft ist unverzichtbar, um Entscheidungs- und Handlungsalternativen heraus zu arbeiten. Welche davon aber genommen wird, kann, wenn die Sache zum Frieden führen soll, nicht die Vernunft bestimmen, sondern nur die ethischen Prinzipien. Widrigenfalls gibt's früher oder später Ärger, ein relevanter Teil der Menschen schreit "Unrecht" und greift zu allen möglichen Gemeinheiten, um selbiges zu beseitigen.

Es bedarf deshalb neben der Ebene der Diskussion und Argumentation einer Ebene allgemein anerkannter Verfahren zur Setzung derjenigen Normen, die für das Handeln aller Konfliktparteien verbindlich ist – unabhängig davon, ob die einzelnen Parteien diese Entscheidung für inhaltlich richtig halten oder nicht.
Diese Grundnormen können nur ethische sein, weil der Mensch nun mal so ist.

Eine andere Frage ist die der Durchsetzbarkeit von Normen. Denn machen wir uns nichts vor: Normen setzen Durchsetzungsgewalt voraus. Ohne die geht es nicht.

Nicht nur Diktatoren sehen in der Durchsetzungsgewalt die Bracchialgewalt. Im Falle der Durchsetzungsgewalt einer Gesellschaft gegenüber Kriminellen stimmt das auch. Aber in politischer Hinsicht stimmt das langfristig nicht. Dazu brauchen wir uns nur die Geschichte anzuschauen (aber auch die Gegenwart: Irak). Im gesellschaftlichen, aber auch im internationalen Bereich setzt Durchsetzungsgewalt voraus, dass sie akzeptiert wird. Wird sie das nicht, schlägt irgendwann die Furcht vor dieser Gewalt um, erst in heimlichen, dann in offenen Widerstand bis hin zum Sturz der Gewalt. Ein Ereignis, das ich einmal (Iran) aus relativer Nähe mitbekommen habe und auf dessen Wiederholung ich nun weiß Gott nicht scharf bin.

Akzeptiert wird Durchsetzungsgewalt dann, wenn die weit überwiegende Mehrheit einer Gesellschaft überzeugt ist, dass die Normen Gültigkeit haben, dass sie richtig sind, dass sie gut sind, dass sie ihrer eigenen Überzeugung entsprechen.

Was in unserer Gesellschaft, wenn es um die von der Wirtschaft (wer immer das sein mag) aufgestellten Normen geht, nicht der Fall ist.

Wer liefert die Überzeugungen? Die Denker. Also auch die Philosophie. Aber nur, wenn sie was taugt, das heißt, wenn das, was sie sagt, wenigstens im Kern wahr ist. Idealistische Spekulationen überzeugen niemanden. Das ist das, was man zu APO-Zeiten geistige Onanie im Elfenbeinturm nannte (was nicht heißt, dass man das damals nicht selbst betrieben hätte).

Ich plädiere dafür, dass Philosophen sich ihrer Macht und der daraus resultierenden Pflichten und Verantwortungen mal wieder bewusst werden. Sonst machen das nämlich die Poppers und Huntingdons.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 31. Okt. 2005, 00:43 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!


Du sagst, Konsens könne nicht aus Vernunftgründen, (also nicht aus der „Richtigkeit“ von Normen) hervorgehen, sondern aus „ethische Prinzipien“. Ich glaube, Du musst mir erklären, was Du hier mit „Prinzipien“ meinst - wenn nicht allgemein geltende, allgemein anerkannte Grundsätze. Solche „Grundsätze“ nennt man aber von alters her „vernünftig“. (Kant: Die Vernunft ist das „Vermögen der Prinzipien“.) – Also, gewöhnt an den Sprachgebrauch der philosophischen Tradition, verstehe ich nicht, was Du meinst.

Mein Unverständnis wächst, wenn ich lese, dass Du diese Prinzipien aus den großen religiösen Traditionen gewinnen willst, und zwar mit der Begründung, dass sich in diesen Traditionen offenbar etwas Allgemeinmenschliches durchgesetzt haben müsse. Auch das weist wieder in Richtung „Vernunft“, denn der Versuch, religiöse Überzeugungen vom Übernatürlichen in ein Verhältnis zum „natürlichen Licht“ der Vernunft zu setzen, ist unter dem vielsagenden Namen „Theologie“ altbekannt. (Das Wort stammt, wie Du wahrscheinlich weißt, von Platon.)

Anfangs sagst Du schroff, die entscheidende Differenz sei nicht richtig / falsch, sondern gut / böse. Anders gesagt, nicht Vernunft, nur Ethik kann es bringen. Aber was Du dann doch der vernünftigen Reflexion, dem menschlichen „Wesen“ und der „wahren“ (daher überzeugenden) Philosophie alles zutraust, scheint mir diese rigorose Gegenüberstellung wieder zurückzunehmen.

Also – was sind „ethische Prinzipien“ im Gegensatz zu vernünftigen?

Es grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 31. Okt. 2005, 09:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

dass die ethischen Prinzipien - die wir nur aus dem Verhalten der Menschen eruieren können, und unter diesem Aspekt betrachte ich Religionen, nämlich als Indikator und Begründung menschlichen Verhaltens - vernünftig sind, ist ein Glaube. Hält dieser Glaube einer Prüfung stand? Meiner Ansicht nach nicht.

Ich sehe keinen vernünftigen Grund dafür, warum Menschen sich nicht gegenseitig um die Ecke bringen sollten, wenn dies aus Vernunftsgründen angebracht erscheint. Andere sehen das auch nicht. Sonst gäbe es keine Morde, keine Kriege und keine Todesstrafe, keine Unterdrückung und keine Diktatur.

Das natürliche Licht der Vernunft ließ Platon sein Staatskonzept entwerfen (ich habe eine Ausgabe seines Staates aus der Nazizeit mit einer hoch interessanten Einleitung) und Kant lebte im Zeitalter des Absolutismus und hielt viel vom vernünftigen Fritz. Was sagt denn der kategorische Imperativ, wenn Fritz seinen Soldaten aus Staatsraison einen Kriegszug befiehlt, und einer weigert sich, mitzumachen? Rübe ab.

Ethik ist nicht vernünftig. Und weil das so ist, nicht, weil das so sein soll, bitte beachte den Unterschied, sage ich, es ist sinnlos, vernünftige Normen zu entwickeln, ohne sie letztlich auf ethische Prinzipien zu stützen. Weil Menschen diese vernünftigen Normen nicht auf Dauer akzeptieren werden. Aus Menschlichkeitsgründen. Mögen sie ansonsten so vernünftig sein, wie sie wollen.

Dass Menschen ethische Entscheidungen treffen ist ebensowenig vernünftig wie dass sie essen, trinken und Kinder kriegen (oder auch nicht). Der Mensch ist so. Und der bleibt auch so, auch wenn man versucht, dies noch so vernünftig hinweg zu argumentieren. Weil es Tatsachen sind, Daten, mit denen die Vernunft operiert, die sie aber nicht schafft. Du kannst eine vernünftige Moral schaffen. Aber du kannst keine vernünftige Ethik schaffen. Wenn du eine vernünftige Moral schaffst, die der Ethik widerspricht, wird sie nicht akzeptiert. Weil Mensch so ist.

Ethische Prinzipien können also nicht vernünftig entwickelt werden. Sie können nur beobachtet werden. Die Rolle der Vernunft kann sich nur darauf beschränken, allgemeine Prinzipien aus der Beobachtung von Einzelfällen zu gewinnen.

Ich denke, zwei Prinzipien könnte man vorläufig festmachen: der ethische Wille rebelliert gegen Vernichtung und gegen Leiden. Die Rebellion gegen Vernichtung führt zur Verurteilung von Mord und Totschlag und die Rebellion gegen Leiden z.B. dazu, dass wir entsetzt sind, wenn eine Maus mit heraushängenden Gedärmen bespielt wird und eine Katze nicht.

Soweit klarer? Ansonsten wiederhole ich: dass die Ethik vernünftig sei, ist in meinen Augen nur ein Glaube.

Gruß
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 31. Okt. 2005, 15:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Nun weiß ich immer noch nicht, was Du unter ethischen Prinzipien verstehst – nur, dass sie eine Sache des Glaubens sind, im Gegensatz zur Vernunft.

Ich finde diesen doppelten Gegensatz von Vernunft und Ethik und von Vernunft und Glaube zu schroff, ja irgendwie weltfremd.

Nehmen wir doch das christliche Gebot der „Nächstenliebe“ (gemeint ist die „agape“, die teilnehmende Sorge), wie es im Gleichnis des „barmherzigen Samariters“ veranschaulicht wird. (Der Samariter, ein verachteter gesellschaftlicher Außenseiter, hilft einem verletzen, ausgeraubten Menschen, der am Wegesrand liegt, nachdem zwei Mitglieder der religiösen Elite achtlos an diesem vorbei gegangen sind.) Darin liegt durchaus ein „ethisches Prinzip“, das sich auch zu einer „vernünftigen“ Norm verallgemeinern lässt: Zum Gebot der „Mitmenschlichkeit“, die nicht nach irgendwelchen Gruppenzugehörigkeiten fragt, sondern sich aus der Einsicht ergibt, dass wir alle bedürftige Wesen und daher auf einander angewiesen sind.

Nicht nur, dass diese Einsicht in ganz verschiedenen Religion zentral ist – sie ist auch jedermann zugänglich, ohne dass er an eine „dogmatische“ Autorität glauben müsste. Man muss also Jesus, der dieses Gleichnis erzählt und mit dem Gebot der teilnehmen Sorge verbindet, nicht für Gott halten, um die „allgemeine Richtigkeit“ dieses Gebots einzusehen. Jeder weiß, dass er jederzeit selbst in eine Lage geraten kann, in der er auf Hilfe angewiesen ist, ja, jeder weiß auch, dass die tägliche Zuwendung. Rücksicht und Achtung anderer Menschen für ihn so wichtig ist wie die Luft zum Atmen.

So eine Einsicht nenne ich „vernünftig“.

Allerdings ist das keine unbeteiligte Vernunft im Sinne automatischer logischer Schlüsse. Die Gedankenfolge: „Menschen sind auf einander angewiesen; ich bin ein Mensch, also bin ich auch auf andere angewiesen; also sollte ich anderen helfen, wenn ich meinerseits Hilfe erwarte“ ist insofern keine bloß „theoretische“ Verallgemeinerung, als ich von ihr unmittelbar betroffen bin. Wenn man diese Wahrheit wie eine wissenschaftliche Aussage „über die Beschaffenheit der Welt“ zur Kenntnis nimmt, hat man sie nicht wirklich verstanden. Die Einsicht in diese „Wahrheit“ bedeutet zugleich: Anwendung auf sich selbst und das eigene Handeln.

Auch liegt hier kein „naturalistischer Fehlschluss“ vor derart, dass das Sollen aus einem „Faktum“ zwingend deduziert würde. Die Einsicht in die Gegenseitigkeit der Verpflichtung ist von ganz anderer Art als eine Anwendung des Gravitationsgesetzes bei einer ballistischen Berechnung.


Fazit: Die Gegensätze, von denen Du sprichst, sind in dieser schroffen Form unrealistisch. Könnte es nicht sein, dass Dein Begriff von Vernunft einfach ein bisschen zu technizistisch ist? (Ich denke da wieder an das positivistische Schema „Logik plus Daten“...)


Es grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 31. Okt. 2005, 15:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Doch.
Das Raubtier ist nützlich.
Es kneift Leute, die einem lästig fallen und die man partout nicht abgewimmelt bekommt, in den Hintern.
Leider funktioniert das nicht per Elektronik.
[smiley=flyer2.gif]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 31. Okt. 2005, 17:00 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,

Mit Interesse habe ich die seit meinem letzen Beitrag eingegangenen Texte nachgelesen. Die Diskussion hier zeigt, wie komplex die Fragen zum Gemeinwohl und Wohl der Individuen sind. Die Einflussgrössen sind zahllos, diffus und schwammig. Trotzdem ist es aber so, dass mit einer gewissen Zuversicht und Selbstverständlichkeit erahnt wird, was mit Gemeinwohl, was mit Individualwohl gemeint ist, respektive gewiss nicht darunter fallen kann oder darf. Es fällt einem sogar schwer methodische vorzugehen.

Das Problem hat meiner Meinung nach folgende Struktur: Lösungen liegen mehr oder weniger vor. Ebenso die Zusammenhänge. Aber man muss es noch zum Stimmen bringen: wie ein Musikinstrument.

Für eine solche Problemstruktur empfiehlt sich die Methode der Variation der Randbedingungen. Diese Methode wird bei komplexen Problemen angewendet, falls mögliche Lösungen erahnt werden und zugleich die Randbedingungen eher zufällig oder nicht gut bekannt oder nicht eng begrenzend sind. Durch die Variation der Randbedingungen wird geprüft, ob vermutete Lösungen stimmen, d.h. hilfreich sind.

Diese Methode ist nun auf das vorliegenden Problem anzuwenden. Doch, was ist nun Lösung, was Randbedingung? In obigen Diskussionsbeiträgen werden, meines Erachtens, die ethischen Normen und Gesetze als Lösungen betrachtet, die noch zu finden sind. Ich sehe in den ethischen Normen und Gesetzen jedoch die Randbedingungen, unter denen sich Gemeinwohl und Individualwohl (also die Lösungen) einzustellen haben. Sobald die Grundstimmung in der Gemeinschaft auf Unwohlsein steht, löst dies politische und gesellschaftliche Prozess aus, die letztlich zur Variation der Normen und Gesetze führen. - Das ist der Lauf der Dinge.

Diese Betrachtungsweise entbindet von der Verpflichtung das Gemeinwohl zu definieren und schützt vor der Gefahr, favorisiertes Gemeinwohl und favorisiertes Individualwohl absolut zu setzen - Das ist die positive Seite. Unerwartet ist, dass durch diese Betrachtungsweise die ganze Kulturgeschichte als Ergebnis einer endlosen Reihe von Versuch und Irrtum entlarvt ist. Das scheint die negative Seite zu sein. Doch dem ist nicht so. Denn sämtlichen Ideologien ist dadurch der Nährboden entzogen: Es wird klar, dass niemand vor Irrtum geschützt ist, dass der Zweck die Mittel nicht heiligt, dass das Bauchgefühl (sprich, beispielsweise: Menschenrechte) in natürlicher Weise das Machtgefühl in die Zügel nehmen darf.

Stehen am Ende dieser Betrachtungsweise nun nichts anderes als Leerformeln für das Gemeinwohl und das Individualwohl? Nein! Beide sind begründeter weise nicht leer: favorisierte Wohle dürfen nicht absolut gesetzt werden, Gemeinwohl schränkt Individualwohl ein und Individualwohl schränkt Gemeinwohl ein, beide Wohle sind orts- und zeitabhängig, was sich aber in deren gemeinsamen Kern nur marginal manifestiert (z.B. Menschenrechte). ...

Ich lass es dabei bewenden und höre gerne mal zu --- Euer Alltag
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 31. Okt. 2005, 20:58 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Du schreibst: „Ethische Prinzipien können … nicht vernünftig entwickelt werden. Sie können nur beobachtet werden. Die Rolle der Vernunft kann sich nur darauf beschränken, allgemeine Prinzipien aus der Beobachtung von Einzelfällen zu gewinnen.“

Danach sind Menschen von Natur aus mit einer inneren Instanz ausgestattet, die entscheidet, was gut und böse ist. Die Urteile dieses humanen Ethos sind bei allen Individuen dieselben und man kann und muss sie beobachten und systematisieren.

Dagegen spricht, dass die Wissenschaften vom Menschen bisher eine solche Instanz nicht gefunden haben. Die Kontroverse um den Schwangerschaftsabbruch lässt von einer einheitlichen ethischen Instanz in allen Menschen z.B. wenig erkennen.

Es grüßt Dich Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 01. Nov. 2005, 01:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

@Urs:
Darin liegt durchaus ein "ethisches Prinzip", das sich auch zu einer "vernünftigen" Norm verallgemeinern lässt: Zum Gebot der "Mitmenschlichkeit", die nicht nach irgendwelchen Gruppenzugehörigkeiten fragt, sondern sich aus der Einsicht ergibt, dass wir alle bedürftige Wesen und daher auf einander angewiesen sind.

Das steht aber nicht im Text. Im Text steht:

Von ungefähr aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. 32 Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte und sah [ihn] und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber. 33 Aber ein Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt; 34 und er trat hinzu

Da steht "wurde er innerlich bewegt". Klar kannste dir das nachträglich vernünftig zurecht legen. Dat kannste mit allem machen. Ich leg dir auch nen Mord vernünftig zurecht. Aber so operieren Religionen nicht. Religionen operieren damit, dass sie konkrete Situationen vor Augen führen, an denen sich der ethische Willen zeigt. Was machte denn den Samariter zum barmherzigen Samariter? Die Ignoranz der Priester. Und die daraus folgende Reaktion: ne, so nich.

Vgl. Koran Sure 107:
Was meinst du wohl von dem, der das Gericht für Lüge erklärt? Das ist der, der die Waise wegstößt, und nicht dazu anhält, dem Armen zu essen zu geben. Weh den Betenden, die auf ihr Gebet nicht achten, die gesehen werden wollen und die Hilfeleistung verweigern!

Wo ist da Vernunft? Hier wird der für unglaubwürdig erklärt, der unethisch handelt. Dass er unethisch handelt, wird nicht logisch bewiesen, sondern gezeigt - durch die Reaktion im Hörer bzw. Leser.

Du musst zugeben, genau diese Methode funktioniert. Und zwar besser, wirksamer und nachhaltiger als alle vernünftigen Erklärungen. Tatsache.

sondern sich aus der Einsicht ergibt, dass wir alle bedürftige Wesen und daher auf einander angewiesen sind.

Beweis mal, Urs. Beweis das denen, die der Auffassung sind, ein Teil der Menschen auf unserer Erde, auch hier bei uns, seien überflüssig, unproduktiv und nicht zu gebrauchen. Die werden dir nämlich nachweisen, dass ihre Ansicht vernünftig ist und nicht deine. Wie gesagt, du glaubst nur, dass deine Ansicht vernünftig ist. Aber das wird einem Beweis nicht standhalten.

Wenn man diese Wahrheit wie eine wissenschaftliche Aussage "über die Beschaffenheit der Welt" zur Kenntnis nimmt, hat man sie nicht wirklich verstanden. Die Einsicht in diese "Wahrheit" bedeutet zugleich: Anwendung auf sich selbst und das eigene Handeln.
Erklär doch mal, was du mit Einsicht meinst.

@ Alltag:
Wenn ich dich richtig verstanden habe, stimme ich dir so in etwa zu (auch wenn ich es anders ausdrücken würde). Danach bildet die humane Ethik den Rahmen, innerhalb dem wir, durchaus im Dissens, nach Lösungen für unterschiedliche konkrete Probleme suchen. Das geht so lange gut, wie dieser Rahmen nicht verlassen wird. Wenn er aber dauerhaft verlassen wird, gibt es Konflikte, und zwar schwerwiegende, weil Menschen dies auf Dauer nicht hinnehmen. Der Rahmen ist verbindlich, und es gibt dafür keine andere Bedingung als die, dass Menschen nunmal so sind. Da die Ethik zu ihrem Wesen gehört.

@Eberhard:
Danach sind Menschen von Natur aus mit einer inneren Instanz ausgestattet, die entscheidet, was gut und böse ist.
Instanz? Das Wort gefällt mir nicht. Sind wir mit einer inneren Instanz ausgestattet, die uns qua Durst zur Entscheidung des Trinkens nötigt? Wer oder was wäre denn diese Instanz? Klingt nach Fremdkörper. Darüber möchte ich nicht spekulieren. Erst mal feststellen, was Sache ist. Über das woher, warum, weshalb kann man sich später eventuell Gedanken machen.

Entscheidet diese angenommene Instanz, was gut und was böse ist? Nach welchem Maßstab? Und was soll dann gut und böse sein? In den Religionen ist Gott der Gesetzgeber. Ich denke, das Problem ist die Frage. Das, was Menschen für gut halten, ist durchaus unterschiedlich und nicht so klar, wie es scheint. Aber was böse ist, lässt sich imho klar sagen: böse ist das, was wir aus humanen Gründen nicht wollen. Das heißt, es ist nicht so, dass wir das Böse nicht wollen, sondern so, dass wir das, was wir nicht wollen, das Böse nennen.

Dagegen spricht, dass die Wissenschaften vom Menschen bisher eine solche Instanz nicht gefunden haben.
Wann haben sie denn danach gesucht?
Gesucht wurde nach dem Gesetzgeber, sei es von der Theologie (oder religiösen Philosophen), sei es von Gesellschaftswissenschaftlern, die irgendwie einen Gesellschaftsvertrag konstruierten, in dem die Ethik vereinbart worden sei. Freilich erklären sie nicht, warum diese und keine andere.
Und, wie gesagt, mit dem Wort Instanz bin ich nicht einverstanden.

Die Kontroverse um den Schwangerschaftsabbruch lässt von einer einheitlichen ethischen Instanz in allen Menschen z.B. wenig erkennen.
Meinste?
Was ist denn das Problem? Das Problem ist, dass du eine Frau nicht zwingen kannst, ein Kind auszutragen, das sie nicht austragen will. Dass sie Illegalität und schwerste Gesundheitsschäden in Kauf nimmt, wenn sie nicht will. Du kannst nicht in sie hinein sehen. Du kannst nicht retten, was nicht zu retten ist. Also überlässt man letztlich ihr die Entscheidung - aber auch die Verantwortung dafür. Würdest du das bei sorgfältiger Prüfung als unethisch ansehen? Eine andere Entscheidung ist genau so möglich. Und genau so problematisch.

Etwas anderes ist Schwangerschaftsabbruch mit dem Motiv der Selektion. Das kam öfter mal vor. Menschen handeln bekanntlich nicht immer menschlich. Vielleicht muss man Möglichkeiten erst zeigen. Historisches Beispiel: vor Mohammad war es durchaus normal, unerwünschte neugeborene Mädchen im Wüstensand zu vergraben. Und dann verkündete Mohammad in einer Sure über das Jüngste Gericht: "wenn das Mädchen, das (nach der Geburt) verscharrt worden ist, gefragt wird, wegen was für einer Schuld man es umgebracht hat" - da ließ man diesen Brauch sein.

Ich denke, man kommt diesem Phänomen nicht auf die Spur, wenn man sagt, dass man da eben dran glauben muss. Erklärt nämlich nicht, warum Menschen begannen, daran zu glauben. So leichtgläubig waren die Menschen auch früher nicht. Anders gesagt, der Glaube an einen Gott erklärt nicht das Phänomen Religionen. Und ich vermute mal, der Glaube an ein Gericht nach dem Tod erfüllt eine wichtige Funktion: wenn man für seine Handlungen verantwortlich ist, reflektiert man sie kritisch. Das scheint eine Voraussetzung für das Auftreten der humanen Ethik zu sein.

Fazit: ich denke schon, dass es genügend Phänomene gibt, die die Auffassung, es gibt eine dem Menschen wesentliche humane Ethik zumindest als prüfenswerte Hypothese rechtfertigen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 01. Nov. 2005, 02:11 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteinander!

Ein paar schweifende Gedanken zum Verhältnis „des Kognitiven („Vernunft“) und des Volitiven („Wille“). Ich hatte ja behauptet, diese beiden Momente seien nicht durch eine Kluft voneinander getrennt.

Seit Kants Versuch, die Moralität von Handlungsnormen allein aus ihrer Form – ihrer ausnahmslosen Verallgemeinerbarkeit – abzuleiten, sind die „Bedürfnisse“ und „Neigungen“ der handelnden Individuen in ein ungünstiges Licht gerückt. Denn ist der Wille des Subjekts durch individuelle Neigungen oder kontextgebundene Varianzen bestimmt, so ist er zugleich unfrei, da der „Kausalität der Natur“ unterliegend, und unmoralisch, da „eigennützig“.

Die anthropologischen Voraussetzungen dieser Konstruktion sind aber m.E. falsch. Man muss sämtliche Sozialisationsprozesse, durch die wir schrittweise unsere Begierden zu kontrollieren und zu formen lernen, vergessen, um sie plausibel zu finden.

Wir fressen nicht, wann immer wir Nahrung sehen, wir fallen nicht gierig darüber her und verschlingen sie, sondern wir haben gelernt, unseren Hunger bis zur Mittagspause oder der gemeinsamen Mahlzeit zu beherrschen, wir bereiten die Nahrung (mehr oder weniger) kunstvoll zu, wir schmatzen und schlingen nicht, wir beschmutzen nicht unsere Hände und Kleider, wir reichen einander die Schüsseln usw.
Sicher, wir bekommen nach wie vor Hunger, auch „Bärenhunger“ und müssen notwendigerweise irgendwann essen; das mag man als einen „Zwang“ der Natur sehen, dem wir unfrei ausgesetzt sind. Aber die ganze Art und Weise, wie wir mit der Befriedigung dieses Grundbedürfnisses umgehen, ist durch vielfältige Regeln geformt, nicht durch Instinktprogramme. Unser „Appetit“, ist einfach nicht mehr ein „roher Trieb“ oder „blinder Zwang“, sondern wir exerzieren an ihm von klein auf jene Kontrolle und Distanzierung, die auch für moralisches Handeln eine unverzichtbare Voraussetzung ist.

Darum kann man unsere kultivierten, d.h. durch Normen kontrollierten Bedürfnisse nicht grundsätzlich als vernunftfremd und unfrei ansehen. Und: Ohne die langjährige Übung der Bedürfniskontrolle (die von Anfang an etwas anderes ist als eine stumpfsinnige Abrichtung oder rigide Askese), wären wir gar nicht in der Lage, moralisch zu handeln – nämlich unser eigenes Handeln nach allgemeinen Regeln zu beurteilen und zu vollziehen. Moralisches Handeln ist praktiziertes Feingefühl, nicht Vergröberung (und die Kantsche Konstruktion ist, mit Verlaub, sehr grob geschnitzt).

Ich sehe also zwischen „Naturkausalität“ (Trieb) und vernunftgemäßem gemeinschaftlichem Handeln keine schroffe Alternative, sondern eine Abstufung und Vermittlung. Zuzugeben ist, dass es dabei zu großen Unterschieden zwischen den Individuen, Gruppen, Kulturen kommt. Und die führen dann auch immer wieder zu schroffen Konflikten.

Aber wir sehen auch, dass die Entwicklung unaufhaltsam zu einer „Weltgesellschaft“ voranschreitet, indem gewisse Standards und Normen sich - nebst globalen Institutionen - weltweit etablieren. Und ich glaube eben, dass sich die Vernunft der universell (global) geltenden Normen wenn überhaupt, dann durch diesen mühsamen Vermittlungsprozess im Kleinen durchsetzt. Die Risiken und Konflikte, die er dabei verursacht, sind wohl nicht nur nicht zu vermeiden, sondern können ihn auch vorantreiben, wenn es gelingt, daraus Konsequenzen zu ziehen.
Anders gesagt: Wenn, dann wird man aus Erfahrungen klug, nicht aus Abstraktionen, die diese Erfahrungen zu erübrigen suchen.


Es grüßt Euch
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 01. Nov. 2005, 04:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!


Quote:Da steht "wurde er innerlich bewegt". Klar kannste dir das nachträglich vernünftig zurecht legen. Dat kannste mit allem machen. Ich leg dir auch nen Mord vernünftig zurecht. Aber so operieren Religionen nicht. Religionen operieren damit, dass sie konkrete Situationen vor Augen führen, an denen sich der ethische Willen zeigt. Was machte denn den Samariter zum barmherzigen Samariter? Die Ignoranz der Priester. Und die daraus folgende Reaktion: ne, so nich.



Ein bisschen Kontext sollte man immer mitlesen. Bevor das Samariter-Gleichnis erzählt wird, ist von den beiden wichtigsten Geboten (aus dem mosaischen „Gesetz“) die Rede, der Liebe zu Gott und der Nächstenliebe: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Bei Matthäus (22, 40) heißt es dazu unmissverständlich: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Im Markus-Evangelium (12, 33) wird gesagt: Diese Gebote befolgen, „das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer“, sprich: mehr als alle bloßen Rituale. Und Paulus im Römerbrief (13, 10): „So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“

Daran „hängt“ das ganze Gesetz; die Liebe ist die „Erfüllung“ des Gesetzes... - wie immer man das näher deuten mag, soviel wird doch klar, dass es sich um „grundsätzliche“, „prinzipielle“ Gebote handelt

Das Gleichnis wird dann erzählt als Antwort auf die Frage des Pharisäers: „Wer ist denn mein Nächster?“ Nach der Erzählung antwortet Jesus mit der Gegenfrage: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem zum Nächsten geworden, der unter die Räuber gefallen war?“

Du hast schon Recht: Der Samariter hat aus Mitgefühl gehandelt, nicht weil er ein Gebot in kantianischer Pflichterfüllung exekutierte (also ohne „Neigung“). Aber dass er spontan und wie selbstverständlich das Richtige tat, während Priester und Levit, die sich doch gut mit dem „Gesetz“ auskennen sollten, gar nicht erst auf die Idee kamen, es hier und jetzt anzuwenden – das ist das Entscheidende. Denn damit wird zu verstehen gegeben: wer so handelt, der braucht eigentlich keine Gesetzbücher und keine Schriftgelehrsamkeit. Wenn er als mitfühlender Mensch an seinesgleichen handelt, dann handelt er im „Geist“ des „ganzen“ Gesetzes. Dieses Gebot ist für ihn also kein Imperativ, kein äußerer Zwang, dem er sich sklavisch beugte. Er hat es sich zu eigen gemacht, d.h. es bestimmt sein ganz „natürliches“, beobachtbares Handeln.


Wenn Du von „Vernunft“ regelgerechte Schlüsse und Beweise erwartest – also Theorie -, dann gehst natürlich hier leer aus. Hier wird das „Prinzip“ in seiner Wirksamkeit gezeigt, also an dem, worauf die ganze Ethik schließlich zielt: dem unmittelbaren Handeln.


Es grüßt Dich
Urs

So langsam möchte ich aber mal die Kurve zurück zum Gemeinwohl kriegen...

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 01. Nov. 2005, 09:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

versuchen wir, die Kurve zu kriegen zurück zum Wohl des Ganzen und zum Wohle (Prost!??) der Einzelnen.

Wenden wir uns zuerst dem Wohlergehen des Einzelnen zu, von alltag kürzer „Individualwohl“ genannt.

Was macht mein Wohlergehen aus? Was ist gut für mich?

Erste Antwort:
Gut für mich ist das, was meine Wünsche erfüllt.
Es geht mir dann gut, wenn das realisiert wird, was ich will.


Aber mein Wille, dass x realisiert wird, verschwindet,

- wenn ich feststelle, dass x gar nicht realisierbar ist (die Alternative x war gar keine Alternative), oder

- wenn ich die noch bessere Alternative y berücksichtige (eine vorhandene Alternative y wurde nicht berücksichtigt), oder

- wenn ich von negativen Eigenschaften und/oder Konsequenzen erfahre (mein Wissen über x war falsch oder unvollständig) oder

- wenn ich durch Nachdenken über die Herkunft meiner Motive für x feststelle, dass diese Motive mit der Bewusstmachung ihre Kraft verlieren (mein Wunsch nach x beruhte auf unbewussten, nicht verarbeiteten Konflikten oder Traumatisierungen).

In all diesen Fällen ist mein Wille nicht dauerhaft, x ist nicht das, was ich wirklich will.


Ich formuliere deshalb um:

Gut für mich ist das, was möglichst dauerhaft meine Wünsche erfüllt.
Es geht mir dann gut, wenn das realisiert wird, was ich möglichst dauerhaft will.

Hier mache ich erstmal eine Zäsur.

Grüße an alle Freunde lebendiger philosophischer Argumentation von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 01. Nov. 2005, 11:20 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,

@ Eberhard,
habe Deinen Beitrag #120 noch nicht gelesen, sorry!

@ Urs_meint_Euch,
ich will in einem weiten Bogen zurück zu den beiden Wohls.

@Abrazo, (mich interessiert, wie Du es sagen würdest.)
Im Facit sagst Du: ich denke schon, dass es genügend Phänomene gibt, die die Auffassung, es gibt eine dem Menschen wesentliche humane Ethik zumindest als prüfenswerte Hypothese rechtfertigen. Im Folgenden versuche ich einen entsprechenden Nachweis zu erbringen.

Erneut nutze ich die Methode der Variation der Randbedingungen.

Die Frage nach dem Gemeinwohl und dem Individualwohl hätte auch von einem Ureinwohner, von Laotse, Buddha, Plato usw. gestellt werden können. Dies zeigt den grossen Variationsbereich der Randbedingung auf und zwingt die Bedeutung der Sprache und des Kulturkreises in nicht geahnter Weise zu relativieren. Das Gemeinsame, ohne welches Gemeinwohl schlicht nicht möglich wäre, muss ausserhalb von Sprache und Kulturkreis liegen! Nota bene, wenn hier von Gemeinsamem die Rede ist, muss das grösste Gemeinsame gemeint sein, sonst würde Gemeinwohl, ohne Not, eingeschränkt.

Wie soll irgend Jemand weniger abhängig von seinem Sprach- und Kulturkreis sein, ausser er versetzt sich in seine frühe Kindheit zurück? Zurück in die Zeit, als er nicht viel mit der ihn umgebenden Kultur anfangen und die Sprache selbst noch nicht nutzen konnte, weil er selbst noch nicht so weit war. Diese Überlegung zwingt die Lebenssituation in der frühesten Kindheit zu beachten und sie näher zu betrachten. Zum einen handeln und verlangen Säuglinge ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend. Zum anderen ist deren Handelungsspielraum so sehr ähnlich, dass nur Eltern und erfahrene Kinderbetreuer/innen Unterschiede erkennen. Das lässt nun vermuten, dass Säuglinge die Welt und ihre Lebenssituation sehr ähnlich schildern würden, falls sie dies in einer verständlichen Weise tun könnten. Somit ergibt sich hier einen Ansatz für die grösste Gemeinsamkeit. Wenn wir aber an Buddha, Plato oder irgend einen Inuit als Säugling denken, kann über die klimatischen und historischen Unterschiede nicht hinweggeschaut werden. - Für den Fortschritt des Gedankengangs hier, ist es somit entscheidend, ob die Abhängigkeit von Ort und Zeit prinzipiell oder scheinbar ist.

Ich will bei dieser Frage einen Zwischenhalt machen. --- Euer Alltag


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 01. Nov. 2005, 13:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteinander, hallo Eberhard!



Quote:Versuchen wir, die Kurve zu kriegen zurück zum Wohl des Ganzen und zum Wohle (Prost!??) der Einzelnen.



Ja, zum Wohle!

Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich bin und war während meiner letzten Beiträge absolut nüchtern, so dass ich den Überblick nie verloren habe. Und nach dem in den Beiträgen Nr. 90, 102, 113, 118, 119 Gesagten ist es nun ganz leicht, auf den Punkt zu argumentieren.

:-)

- - - - - -

Eberhard, Du sprichst von einer „möglichst dauerhaften“ Erfüllung „meiner“ Wünsche... Dazu kurz ein Rückblick auf das Samariter-Gleichnis:

Dort wird Jesus nämlich eingangs gefragt: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erbe?“ (Lukas 10, 25) Der Fragende denkt also an sein Individualwohl, und zwar an ein „möglichst dauerhaftes“. Dauerhafter als ewig geht wohl nicht.

Darauf bekommt er zuerst die beiden Gebote genannt, die er einhalten müsse: Liebe deinen Gott mit aller Kraft und liebe deinen Nächsten wie dich selbst. - Wenn wir, als gegenwärtige, ganz und gar nüchterne und aufgeklärte Leser, einmal den Glauben an Gott und ein „ewiges Leben“ beiseite lassen, als Voraussetzungen, die wir nicht teilen, dann bleibt umformuliert von Frage und Antwort dies übrig:

Was muss ich tun, um eine möglichst dauerhafte Erfüllung meiner Wünsche (= mein Individualwohl) zu erreichen?
Du musst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Dabei ist das Verb „lieben“ nicht als erotisches Begehren – „Neigung“ – zu verstehen, sondern als „teilnehmende Sorge“ (es geht nicht um „eros“, sondern um „agape“). Die Antwort lautet darum präzisiert:
„Du musst dich ebenso um das Wohl deines Nächsten kümmern wie um dein eigenes.“

Und dann folgt, als Antwort auf die Frage: „Was soll ‚Nächster’ bedeuten?“ das Gleichnis. Es wird also keine theoretische Antwort gegeben, um die Interdependenz von Individualwohl und Gemeinwohl nachvollziehbar zu machen. Es wird stattdessen die Perspektive des handelnden Individuums beibehalten.


Ich möchte aber nicht versäumen, auf die Pointe dieses Dialogs hinzuweisen.

Wenn ich danach frage, wie ich mein eigenes Wohl (den Zweck) erreichen kann, so frage ich danach, wie mein Handeln (das Mittel) zweckmäßiger Weise sein sollte. Die Antworten, die ich darauf erhalte, sind dann methodische Anweisungen, also Gebote, Imperative: „Du musst a, b, c... tun!“


Wenn nun b ersetzt wird durch: „Du musst dich genauso um das Wohl deiner Mitmenschen kümmern wie um dein eigenes!“ dann ist das eine paradoxe Antwort, mit der ich aus meiner strategischen Ich-Perspektive unmittelbar nichts anfangen kann. Und das liegt daran, dass diese Antwort implizit eine Kritik an der strategisch verengten Ich-Perspektive ist. Es wird gesagt: „Du wirst dein eigenes Wohl nur erreichen, wenn du nicht immerzu nur an dein eigenes Wohl denkst. Du musst eine Perspektive gewinnen, die das Wohl deiner Mitmenschen integriert." Oder: "Du musst das Wohl deiner Mitmenschen in deinen individuellen Zweck mit aufnehmen, es dir 'zu eigen' machen." Oder: "Du darfst deine Mitmenschen nie nur als Mittel zu deinen Zwecken ansehen, sondern immer auch als Zwecke deines Handelns. - Beispiel: der hilfsbereite Samariter.“

Das bedeutet: Solange ich nur nach meinem individuellen Wohl frage, bekomme ich als Antworten Imperative. Solange sind die Dinge, die ich tun muss, um es zu erreichen, technische Zwänge.
Gelingt es mir aber, daraus zu lernen und meinen Horizont zu erweitern, dann ist das Wohl der anderen kein äußerer Zwang mehr, der meinen Handlungsspielraum einengt. Dabei bedeutet „Erweiterung“ meines Horizontes nicht, dass ich meinen Standpunkt aufgeben müsse. Ich darf also durchaus weiterhin mein individuelles Wohl verfolgen. Aber wenn ich in meinen Mitmenschen immer auch mich selbst wiedererkenne– z.B. als bedürftiges Wesen -, dann hören meine Mitmenschen auf, nur „die anderen“ zu sein, die mich bei der Verfolgung meiner Interessen behindern.


Diese sozusagen methodische Kritik teile ich. Es kann in der Theorie des Gemeinwohls m.E. zu nichts Gescheitem führen, wenn man den Standpunkt des Individualinteresses konsequent und unverändert festhält und versucht, das Gemeinschaftsinteresse auf eine Menge von Individualinteressen zu reduzieren. Die Theorie des Gemeinwohls muss sozusagen „dynamische“ Momente in sich aufnehmen, die es erlauben, den „Standpunkt“ des Individuums als Momentaufnahme innerhalb eines Prozesses zu konzipieren – und zwar eines Lernprozesses („Vergesellschaftung“, „Sozialisation“), durch den das Individuum im Verfolg seiner Interessen die Interessen der Gemeinschaft zu integrieren lernt.



Ich hoffe, nun ist auch aus Euren individuellen Perspektiven erkennbar, dass das Samariter-Gleichnis keine individualistische Pirouette meinerseits war, sondern durchaus ein Beitrag zu unserem gemeinsamen Thema...


Es grüßt Euch
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 01. Nov. 2005, 14:45 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,
Was bisher bei Alltag geschah: Beim Versuch eine Fundamental-Ethik nachzuweisen, zeigt sich, dass das Gemeinsame, ohne welches Gemeinwohl schlicht nicht möglich wäre, ausserhalb von Sprache und Kulturkreis liegt. Dies zwingt zur Behauptung, dass die Lebenssituation in der frühesten Kindheit zu beachten und näher zu betrachten ist. Als nächstes ist zu prüfen, ob (auch noch in frühster Kindheit) die Abhängigkeit von Ort und Zeit prinzipiell oder scheinbar ist.

Zwischenspiel <pour fixer les idées>: Kaspar Hauser, das Findelkind von Nürnberg, hatte sich schon ziemlich in die Gesellschaft eingelebt, als sein Lehrer und Ziehvater auf einem langen Spaziergang Richtung Horizont zeigte:
"Schau Kaspar, da in dem Turm hast du deine Kindheit ganz allein verbringen müssen. Im Turmzimmer habe ich all das gefunden, was du im Tagebuch aufgezeichnet hast."
Kaspar blieb nach einigen Schritten brüsk stehen und sagte erbost:
"Vater, du lügst! Dort, wo ich alleine als Kind war, ist rund um mich herum Turm gewesen. Doch jetzt ist nur geradeaus vor mir Turm." /1/

Im Weitern ist methodisch nebst den Randbedingungen nun auch noch die Perspektive zu variieren. Denn nicht als Aussenstehender dürfen die Fragen beantwortet werden, wie: Was erlebt ein Baby, ein Embryo, ein Fötus, und wie sieht sein Alltag aus? Sondern aus deren Sicht und mit Hilfe derer (vermuteten) Fähigkeiten, sonst wird das Nachweisverfahren mehr als nötig durch Sprache und Kultur beeinflusst.

Aus der Sicht eines Ungeborenen Älplers, Indios, Afrikaners usw. ist die Welt so ähnlich, dass sie mit Fug und Recht Ur-Alltag, oder Ur-Welt genannt werden darf. Kann diese Urwelt Quelle der Fundamental-Ethik sein?

@Urs,
Ich picke einiges aus deinem heutigen Beitrag von 13:53 heraus:
<... Du musst eine Perspektive gewinnen, die das Wohl deiner Mitmenschen integriert. ... Dabei bedeutet "Erweiterung" meines Horizontes nicht, dass ich meinen Standpunkt aufgeben müsse. .... Es kann in der Theorie des Gemeinwohls m.E. zu nichts Gescheitem führen, wenn man den Standpunkt des Individualinteresses konsequent und unverändert festhält und versucht, das Gemeinschaftsinteresse auf eine Menge von Individualinteressen zu reduzieren. Die Theorie des Gemeinwohls muss sozusagen "dynamische" Momente in sich aufnehmen, die es erlauben, den "Standpunkt" des Individuums als Momentaufnahme innerhalb eines Prozesses zu konzipieren - und zwar eines Lernprozesses (Vergesellschaftung, Sozialisation), durch den das Individuum im Verfolg seiner Interessen die Interessen der Gemeinschaft zu integrieren lernt.> Urs

Und stelle fest: Offensichtlich führen viele Wege nicht nur nach Rom, sondern auch zum Gemeinwohl.

Euer Alltag

/1/ Nota bene:

Diese Filmsszene verdeutlicht eindrücklich die Wirkung der Perspektive. Und lädt ein sich gedanklich in Kaspar Hausers Kleinkindwelt zu versetzen: Gefangen im Turm, in der Isolation, ohne je die Umgebung ausserhalb des Turmes gesehen zu haben, merkt Kaspar den Tagesrhythmus. Er vernimmt die chaotischen Geräusche von Wind und Wetter, das Gezwitscher der Vögel, die er ebenso wenig je gesehen hat, wie die Kirche deren Glockenschlag zu ihm dringt. Diese Geräuschwelt und das eintönige Leben im Turmzimmer merkt er sich ohne Worte. Denn er hatte in der Isolation weder sprechen gelernt noch jemand sprechen hören. Er lebte ausserhalb von Sprache, ausserhalb von Kultur.

Getrieben von den bisherigen Überlegungen, die im Individualleben immer weiter zurück führten, also einen statt älter immer jünger werden lässt, werden nun die Randbedingungen weiter variiert. Das Turmzimmer verwandelt sich: Wände, Boden und Decke werden zu dickem Samt. Der Samt deckt Tür, Fenster und alle Gegenstände spurlos zu. Der Raum füllt sich mit körperwarmem Wasser. Kaspar taucht unter, schwebt darin und fühlt sich herrlich wohl, weil ihm alles Lebensnotwendige, auch der Sauerstoff, über eine Leitung direkt ins Blut zugeführt wird. Nase, Mund, und Lunge sind voll Wasser, so dass der Geruchs- und Geschmackssinn keine Änderungen wahrnimmt. Ebenso ist es mit dem Gesichtssinn, weil weil praktisch kein Licht zu ihm dringt.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 01. Nov. 2005, 20:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard, hallo Leute,
nun gut, wenn Ihr beim Gemeinwohl meine Definition nicht akzeptiert und nicht weiterkommt, wendet Ihr Euch dem Individualwohl zu.
Eberhard meint:
"Ich formuliere deshalb um:
Gut für mich ist das, was möglichst dauerhaft meine Wünsche erfüllt."
Da dreht sich das ganze wieder im Kreis. Du hättest gleich beim Interesse bleiben sollen, Eberhard.
Das Interesse ist im Gegensatz zum Wunsch etwas Objektives. Die Wünsche sind subjektiv, selbst wenn sie dauerhaft erfüllt werden. Wer erfüllt die denn?
Denkt mal drüber nach oder stellt Euch das mal vor: Ihr habt einen Wunsch und nun werdet Ihr festgenagelt: der Wunsch wird dauerhaft erfüllt! Das ist doch Strafe!
Gruß
rudi


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 01. Nov. 2005, 22:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, zusammen,

Kleiner Einschub zum Thema Kultur und Zivilisation für Urs:

Auf der kleinen Treppe einer Haustür saß Albert und aß Salat. Nein, er aß nicht. Er fraß. Mit dreckigen, gelbbraunen Fingern griff er in die weiße Plastikschale, holte sich eine ganze Handvoll heraus, Gurken, Tomaten, Thunfisch, ein weißlich tropfendes Gemengsel, stopfte es sich in's zahnlose Maul, während Salatblätter am Kinn klebten und schmieriges Öl auf Brust und Bauch troff. Mit glasigen, hervortretenden Augen schaute er uns an, gurgelte irgendeine unverständliche und wohl auch unaussprechliche Zote und widmete sich wieder seiner Schale, die längst das Aussehen eines aus dem Müll gefischten Napfes angenommen hatte.

Ne? Habbisch so gesehen. Hier in Deutschland.
Kultur und Zivilisation sind nämlich nicht so selbstverständlich, wie du glaubst. Sie setzen zweitens Kultur und Zivilisation voraus, in der man das nicht nur lernt, sondern in der das entsprechende Benehmen auch Norm ist, will man dazu gehören. Was du anscheinend nicht siehst (das wurde schon beim Sprachbeispiel deutlich) ist, dass zu der gesellschaftlichen Gruppe, zu der du gehörst, nicht alle gehören. Sie ist weiter nichts als eine von mehreren. Diese Tatsache ist relevant, wenn es um die Frage was ist Gemeinwohl geht. Du kannst das, was deine Gruppe als Gemeinwohl begreift, definitiv nicht als Einleuchtend für die ganze Gesellschaft voraussetzen.

Erstens aber setzen Kultur und Zivilisation die Befriedigung der biologischen Bedürfnisse voraus. Von Menschen, die hungern, frieren und kein Dach über dem Kopf haben kannst du keine Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer verlangen. Also kann Gemeinwohl zunächst einmal nur die Befriedigung dieser Bedürfnisse sein. Sofern das nicht geschieht, können wir eine weiterführende Diskussion von Gemeinwohl vergessen.

Merke: es gibt etliche Weltgegenden, in denen die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung noch lange nicht erreicht ist. Ich bin nicht gesonnen, dies zu vergessen, wenn wir davon reden, dass wir auf dieser Erde alle in einem Boot sitzen. Da sitzen die auch mit drin.

Aber wir sehen auch, dass die Entwicklung unaufhaltsam zu einer „Weltgesellschaft“ voranschreitet, indem gewisse Standards und Normen sich - nebst globalen Institutionen - weltweit etablieren.
Wo, Urs? In den Favellas brasilianischer Großstädte? In US-Amerikanischen Slums? Bei vollgesoffenen aggressiven Aussiedlerjugendlichen? Bei afghanischen Mohn- und kolumbianischen Kokabauern? Oder in Schwarzafrika? Von welcher Weltgesellschaft sprichst du? Von der Gesellschaft derer, die mit Messer und Gabel am gedeckten Tisch essen und mit wegen den Genetiv benutzen?

So. Das wäre Abschnitt eins. Denn ich denke, es hat wenig Sinn zu versuchen, etwas über Gemeinwohl zu sagen, ohne dass klar ist, wer alles in dieses Gemeinwohl eingeschlossen werden muss.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 01. Nov. 2005, 23:48 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

nächster Abschnitt: Unterschiede im Denken.

Judentum und Islam sind Gesetzesreligionen. Bei denen kann man mit dem Gebot der Nächstenliebe keinen Blumenpott gewinnen, weil ihnen das zu wenig ist. Beim Judentum kenne ich mich zu wenig aus, aber im Islam regeln diese Gesetze zumeist das Zusammenleben in der Gemeinde. Dass Gläubige in einer Gemeinde zusammenleben - letztlich sind alle Moslems eine Gemeinde - wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Folglich wird auch das Gemeinwohl als selbstverständlich vorausgesetzt. Und es ist das Gemeinwohl, das das Individualwohl garantieren soll, weil es jedem Individuum den Schutz, die Lebenssorge und Sicherheit garantieren soll, die es braucht, um sein Individualwohl zu verwirklichen. Und zwar nicht aus spontaner Nächstenliebe, sondern aus codifizierter religiöser Pflicht. Wir sehen also, dass in diesem Kulturraum die Diskussion genau anders herum laufen müsste, nämlich, wie kann das über allem stehende Gemeinwohl das Individualwohl verwirklichen. Und das führt zu einem anderen Denken und zu anderen Problemen. Muss man sehen. Sonst kann man nicht kommunizieren.

Im chinesischen Kulturraum hat übrigens meines Wissens auch das Gemeinwohl Vorrang vor dem Individualwohl.

Das heißt: wenn wir von Individualwohl vs. Gemeinwohl sprechen, sollten wir uns klar machen, dass man die Sache von zwei Seiten angehen sollte: Individualwohl und Gemeinwohl werden nämlich, je nach Kulturraum, beide infrage gestellt. Einigkeit dürfte hingegen darin bestehen, dass in als allgemein anerkannte Normen auch beide eingehen müssen. Wenn wir die Sache allerdings rein vom Individuum her aufbauen, dann müssen wir auch wissen, dass das eine Diskussion ist, die auf unseren Kulturraum beschränkt ist und die andere nicht interessiert, für sie auch nicht zu konsensfähigen Ergebnissen führen kann.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 01. Nov. 2005, 23:52 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Dass es Elend in Deutschland und auf der ganzen Erde gibt, weiß ich. Ich will es weder übersehen noch wegerklären. Im Gegenteil. Ich sehe vielmehr, dass wir Wohlhabenden wegen der inzwischen weltweiten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen eine weltweite Mitverantwortung für die Armut haben. Wir Europäer profitieren nämlich unmittelbar vom Elend in den anderen Ländern und von der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich auf der Welt. Der Wohlstand, den wir genießen und anderen vorenthalten, verpflichtet uns zum Teilen und zur Anteilnahme. Und das nicht nur auf der Basis von gelegentlichen Almosen. (Der Begriff des Gemeinwohls ist ein verpflichtender Begriff, und die Verpflichtung erstreckt sich immer genauso weit, wie andere vom eigenen Handeln betroffen sind.)

Wenn wir und unsere ökonomischen Eliten und politischen Repräsentanten nicht rechtzeitig freiwillig für eine gerechtere Verteilung des Wohlhabens und der Chancen sorgen, wird uns der Druck der Verhältnisse dazu zwingen.
Ich vermute aber, dass Gemeinwohlrhetorik, internationale Gremien und guter Wille nicht ausreichen werden, um aus freien Stücken gegen das ökonomische Ungleichgewicht anzugehen. Denn wie man sieht, hört die bekundete Solidarität der Satten immer genau dann auf, wenn sie persönlich strukturelle Einbußen hinnehmen müssen (solange sich die Solidarität in gelegentlichen Katastrophenspenden äußern darf, ist alles noch im Lack). Darum wird sich wohl erst dadurch grundlegend etwas an der ungerechten Verteilung ändern, wenn der Druck zu stark wird, wenn die Armen sich besser organisieren und sich nehmen, was ihnen zusteht. (Auch unser Sozialstaat ist kein Geschenk der Besserverdienenden, sondern wurde schrittweise erkämpft.)
Es kann aber auch sein, dass die Zeit dafür nicht mehr reicht. Oder dass das ganze System zusammenbricht. (Es ist ja schon kaum vorstellbar, was passiert, wenn jede chinesische Familie ein Auto fährt...)

Ich bin mir der Risiken sehr wohl bewusst. Sie sind ja nicht zu übersehen. Aber gibt es eine Alternative zur Fortsetzung des „zivilisatorischen Prozesses“? Was willst Du mit den Elendschilderungen beweisen – dass Zivilisation eine Illusion ist? Sollen wir die Brocken hinschmeißen und in die Urwälder zurückgehen? Da ist aber nicht mehr genug Platz, und außerdem müssten wir das Tier-Sein erst wieder von der Pieke auf lernen. Es ist nämlich verhältnismäßig leicht, mit den Tischmanieren eines Raubtiers zu fressen. Aber nicht so leicht, überhaupt an etwas Fressbares heranzukommen ohne alle technische Hilfsmittel und ohne verlässliche arbeitsteilige Organisation der Gemeinschaft.

Es grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 02. Nov. 2005, 00:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

ich sehe nun in unserer Diskussion ein Problem. Wenn du, Eberhard, vom Individualwohl ausgehst und von dort aus Normen für das Gemeinwohl aufzubauen suchst: was ist, wenn das eigene Individualwohl mit dem als höherwertig angesetzten Gemeinwohl der Gruppe kollidiert? Wenn also das Individuum sagt, ja, ich würd schon gern wollen, aber wichtiger ist mir die Zugehörigkeit zu meiner Gruppe?

Ich möchte hier gern den Aspekt der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen einführen. Ob wir von unserer eigenen Gesellschaft sprechen oder von den Gesellschaften auf unserer Erde, ich denke, wenn wir diesen Aspekt bei der Diskussion des Gemeinwohls außen vor lassen, wird unser Gemeinwohl eher zu einer Norm für Individuen ausarten, die ihre Gruppenidentität ignoriert und deswegen nicht konsensfähig ist.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 02. Nov. 2005, 06:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

es geht um die Bestimmung dessen, was zum Wohle eines Individuums ist.

Ich hatte sinngemäß geschrieben: es geht einem Individuum dann gut, wenn das verwirklicht wird, was das betreffende Individuum möglichst dauerhaft will.

Diese Formulierung ist offensichtlich missverständlich, wie die Reaktion von doc_rudi zeigt. Damit ist nicht gemeint, dass das Wollen eines Menschen über die Zeit hin unverändert bleiben muss.

Das Wollen eines Menschen bezieht sich immer auf eine bestimmte Entscheidungssituation. Wenn sich die Situation ändert, dann stellt sich die Frage, was gewollt wird, neu.

Ich ergänze deshalb meine Formulierung wie folgt:

Es geht einem Individuum dann gut, wenn das verwirklicht wird, was das betreffende Individuum - bezogen auf eine gegebene Situation - möglichst dauerhaft will.

Mit „möglichst dauerhaft“ ist gemeint, dass der Wille nicht fehlerhaft und somit korrekturbedürftig ist, weil die gegebene Situation falsch gesehen wurde. Die möglichen Fehler hatte ich aufgelistet.

Noch ein Satz zu doc_rudi. Deine globalen Formulierungen, dass lebende Systeme das Interesse der Selbsterhaltung und der Selbstentfaltung haben, taugen nicht zur Bestimmung und vernünftigen Lösung konkreter Konfliktsituationen zwischen Individuen oder Gruppen von Individuen.

Der Kritik von Urs an der individualistischen Perspektive halte ich entgegen, dass es um die Lösung tatsächlicher Konflikte geht und dass deshalb die wirkliche Interessenlage der Beteiligten dazu herangezogen werden muss.

Es ist zwar richtig, dass die Menschen immer schon sozialisiert sind und auch bestimmte Vorstellungen vom moralisch richtigen Handeln und vom Gemeinwohl haben. Um die Konflikte zu erfassen, muss jedoch vom (möglichst fehlerfreien) Wollen der Beteiligten ausgegangen werden.

Um das eigene Wollen festzustellen, muss sich das Individuum die Frage stellen: Was will ich – einmal abgesehen von allen moralischen Rücksichtnahmen auf andere?

Das schließt nicht aus, dass ein Individuum will, dass es bestimmten anderen Individuen gut geht. Dieses Wollen muss jedoch frei von allem Sollen sein.

Eine solche Perspektive schließt weiterhin nicht aus, dass man gleichzeitig bereit ist, den Konsens mit den anderen zu suchen und sich am allgemeinen Wohl zu orientieren.

Wenn man jedoch von vornherein sagt: Es ist das Interesse jedes Individuums, die Interessen aller andern so zu berücksichtigen, als seien es die eigenen, dann definiert man das Problem der Konflikthaftigkeit des menschlichen Zusammenlebens einfach weg.

Grüße an alle von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 02. Nov. 2005, 09:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

die Frage, was das Individuum dauerhaft will, ist einfach zu beantworten: das, was andere haben. Das gilt sowohl für materielle Güter als auch für immaterielle (Sicherheit, Status usw.).

Daraus können wir drei Konsequenzen ableiten.

1. was das Individuum haben will, muss möglich sein. Es muss vorstellbar sein. Wer nie eine Klimaanlage erlebt hat, will auch keine.

2. Der Wille wird von der Lebensform bestimmt. Der Wille des Individuums ist also sozial.

3. dass es zum Konflikt kommt, der um so schärfer wird, je weniger das Individuum die Möglichkeit hat, das zu bekommen, was andere haben.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 02. Nov. 2005, 10:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Quote:Wenn ich jedoch von vornherein sage: Es ist das Interesse jedes Individuums, die Interessen aller andern so zu berücksichtigen, als seien es seine eigenen, dann definieren ich das Problem der Konflikthaftigkeit unseres Zusammenlebens einfach weg.

Da stimme ich zu. Für den Fall, dass verschiedene Individualinteressen zum Konflikt führen und miteinander vereinbart werden müssen, ist es eine vernünftige Verfahrensregel, dass jeder zunächst einmal seine Interessen möglichst klar formuliert. Und wird – meinetwegen unter dem Vorsitz eines Verfahrensleiters, den die Konfliktparteien als unparteilichen Richter anerkennen – eine Regelung des Konflikts angestrebt, dann ist auch klar: Nur wenn jeder Beteiligte diese Regelung akzeptieren kann, ist es wirklich eine Regelung des Konfliktes.

Im Verlauf dieses Verfahrens spielen auch Fakten eine Rolle. Man muss den Beteiligten klar machen, welche Teile ihrer Forderungen objektiv nicht realisierbar sind (und deren Unrealisierbarkeit somit nicht dem Kontrahenten anzulasten ist). Ebenso ist einsichtig zu machen, welche wahrscheinlichen Folgen die Realisierung ihrer Forderungen hätte, damit die Beteiligten beurteilen können, ob diese Folgen nicht womöglich die Befriedigung ihres Interesses vereiteln würden.

Genau diese Einsicht – die Prognose, dass ein unbegrenztes „Recht aller auf alles“ für das Individualwohl aller kontraproduktiv wäre – ist es bei Hobbes, die die Beteiligten zum Vertrag über eine Begrenzung der Rechte aller motiviert. Die Überzeugungskraft dieses Arguments beruht eben darauf, dass den Individuen die unbegrenzte Entfaltung ihrer Interessen hypothetisch eingeräumt wird: Gesetzt, es gäbe keinen Staat und kein Recht und jeder von euch hätte unbegrenzte Freiheit, seine Interessen zu verfolgen – was würde passieren?

Als Argumentationsfigur im Rahmen eines Verfahrens, das zur Konfliktbeseitigung führen soll, finde auch ich diese Gedankenfolge äußerst überzeugend. Aber man darf sie nicht mit einer Theorie verwechseln, die die faktische strukturelle Interdependenz von Individualinteressen und Gemeinschaftsinteressen erklärt. Als eine solche wäre sie ganz einfach falsch, allein schon, weil sie von unrealistischen Voraussetzungen ausgeht.


Welche Rolle könnte denn eine Theorie über die faktische Verflechtung individueller und gemeinschaftlicher Interessen für die Begründung von Normen spielen? Na, es liegt auf der Hand: Sie kann im Konfliktbereinigungsverfahren genau dort herangezogen werden, wo es gilt, die Ansprüche der Konfliktparteien mit der Realität zu konfrontieren, um so nicht nur herauszufinden, was objektiv einfach nicht geht, sondern um den Beteiligten auch einsichtig zu machen, welche Konsequenzen die ungeschmälerte Durchsetzung ihrer Ansprüche für sie und für andere faktisch hätte.

Ebenso ist aber auch klar: So mancher Konflikt würde gar nicht erst entstehen, wenn die Einsicht in die faktische Verflochtenheit von Individuum und Allgemeinheit weiter verbreitet wäre, wenn der Einzelne nicht nur sein Interesse im Auge hätte, sondern auch berücksichtigte, was er anderen Menschen (und der Gemeinschaft insgesamt) objektiv verdankt, und - was ihn somit überhaupt erst so weit gebracht hat, als selbständiges Subjekt seine Interessen verfolgen und sie fallweise auch gegen die Gemeinschaft behaupten zu können.
Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 02. Nov. 2005, 19:58 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ein Punkt ist zwar immer wieder angesprochen, aber bisher nicht ausdrücklich thematisiert worden. Ich meine die Frage, wie umfassend die Gemeinschaft sein soll, um deren Wohl es geht.

Angesichts der wechselseitigen globalen Abhängigkeiten wird man sich auf die Menschheit als Ganze beziehen müssen, wenn man die wichtigen Konflikte erfassen will. Allerdings ist eine internationale Rechtsordnung mit Sanktionsgewalt erst im Entstehen und vor Rückschlägen nicht gefeit.

Man kann natürlich die Frage nach dem Gemeinwohl auf kleinere Kollektive (z.B. Staaten, Bündnisse, Gemeinden, Regionen o.ä.) begrenzen. Aber ein derart partikulares Gemeinwohl kann logischerweise keinerlei Geltung für jene haben, die nicht mit einbezogen wurden.

(Deshalb ist es z.B. auch falsch anzunehmen, dass eine Demokratie nach außen eine moralisch bessere Politik betreibt als ein autoritäres Regime. Es gibt eben auch den Egoismus eines Kollektivs. Nur wenn die allgemeinen Menschenrechte in der Verfassung verankert sind, wird dieser kollektive Egoismus zumindest ansatzweise rechtlich begrenzt.)

Hier gibt es noch offene Fragen, z.B. nach der Berücksichtigung des Schicksals kommender Generationen oder der Tiere.

Ich will diese Probleme aber erstmal beiseite lassen und fragen, wie eine Mehrzahl von Individuen (oder Gruppen) angesichts von Konflikten, d.h. angesichts nicht miteinander zu vereinbarender Willensinhalte - zu einem Konsens kommen kann, d.h. wie man ein Gemeinwohl in diesem Konflikt bestimmen kann.

Ich schlage zur größeren Übersichtlichkeit der Diskussion vor, dass wir uns vorläufig beschränken auf solche Konflikte, die durch die Auswirkungen von bestimmten Handlungen oder Unterlassungen der Individuen auf das Wohlergehen anderer Individuen hervorgerufen werden (Abfälle wegwerfen, beim Katastrophenfall nicht mithelfen, sich nicht impfen lassen gegen Seuchen, zur Schlafenszeit lärmen, bei Notfällen nicht helfen, andere durch schnelle Fahrzeuge töten oder gefährden, andere belügen oder leichtfertig beschuldigen etc. etc.)

Oder gibt es andere Vorschläge zum weiteren Vorgehen? fragt Eberhard.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am Vorgestern, 00:01 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

1. wir sollten nicht übersehen, dass von Aristoteles bis Habermas der Konsens Voraussetzungen hat, nämlich Vernunft und Konsenswilligkeit, um nur zwei zu nennen.

Meiner Ansicht nach haben diese Voraussetzungen wiederum eine Voraussetzung, nämlich Muße. Wer keine Zeit hat, über die richtige Entscheidung mit anderen in Dialog zu treten, der ist nicht zum Konsens bereit - ohne dass ihm deswegen ein Vorwurf zu machen wäre. Das trifft auf Menschen zu, die ihre Zeit benötigen, um Lebensnotwendiges aufzutreiben. Da wird es dem Bedürftigen nicht viel anders gehen als dem Junkie: wenn der auf Turkey ist, kann man ihn zu allem möglichem erpressen, aber man hat dann keinen Konsens. Weswegen man sich auch nicht auf die Gültigkeit von Zusagen verlassen kann. Sie sind nicht freiwillig erfolgt. Wer also einen Konsens will, muss erst einmal die Bedingungen für einen Dialog schaffen.

In unserer Gesellschaft sehe ich ein anderes Muße-Problem. Mehr und mehr ist sie vom Verkauf der Arbeitskraft übergegangen zum Verkauf von Arbeitszeit, die die Reflexion nicht mehr gestattet. Und der Rest der Lebenszeit wird nicht selten von allerlei anderem gefressen, sei es Organisation und Bewältigung privater Tätigkeiten, sei es der Verkauf von Lebenszeit an alle mögliche Unterhaltungen, wobei der Käufer den Kaufpreis einheimst. Auch das verhindert Muße und damit den Dialog mit Konsensziel.


2. Warum gibt es Normen? Weil sie nicht eingehalten werden. Das heißt, wer immer Normen entwickeln will, muss auch die Frage beantworten: und was, wenn einer das nicht tut? Wenn wir einen Konsens unter vernünftigen Leuten erreichen, dann muss man mit Unvernünftigen rechnen, die sich da nicht drum scheren. Wer dieses Problem ignoriert, braucht sich um einen Konsens gar nicht erst zu bemühen; er wird nicht gelten.

Auch die Frage der Zustimmungsfreiheit gehört hier hinein. Wer aufgrund einer Notlage zur Zustimmung genötigt wird, stimmt nicht zu.

3. Ich schlage vor, wir prüfen Konflikte mal anhand eines praktischen Beispiels:

Vor Jahren wohnte ich in einer Wohnanlage, die einen gemeinsamen Innenhof mit der Fachhochschule für Sozialarbeit hatte. Unten war die Mensa, darin wurde alle 14 Tage gefeiert. Die Feiernden waren die Mehrheit.

Nun musste nicht nur ich am nächsten Tag arbeiten. Also ging ich so gegen 23 Uhr ins Bett. Das war aber genau die Zeit, in der es den Studenten in ihrer Mensa zu warm wurde; also machten sie die Fenster auf (die Polizei kam immer sofort, weil jeder Anruf musikalisch untermalt wurde).

Studenten für Sozialarbeit sind friedens- und konsenswillig. Also schickten sie, als mal wieder jemand "Ruhe!" vom Balkon brüllte, eine Delegation vorbei, die die Anwohner freundlich einlud, doch auf ihre Kosten mitzufeiern. Die Anwohner erwiesen sich als nicht konsenswillig.

Nun, wir haben für solche Fälle bestehende Gesetze. Können wir aber nicht überall voraussetzen; in der internationalen Politik, in der es prinzipiell vergleichbares gibt, z.B. nicht. Und wenn, ist immer noch die Frage, und was, wenn einer das nicht tut?

Als erstes fällt einem natürlich ein, man müsse sich über die objektiven Sachzwänge einigen. Aber sind nicht gerade die der Streitpunkt? Objektiver Sachzwang ist, wir müssen arbeiten. Gut, in unserer Gesellschaft dürfte das wohl mehrheitlich als objektiver Sachzwang anerkannt werden, der die Nachtruhe gebietet. Aber wenn keine geschlossene Gesellschaft da ist? Westliche Staaten insbesondere betrachten die Gefährdung durch Atomwaffen als objektiven Sachzwang, der eine Weiterverbreitung verbietet. Iran betrachtet die Gefährdung durch die US-Politik als objektiven Sachzwang, der die Gewinnung gebietet. Und nu?

Hat einer nen Vorschlag? Mir fällt im Moment keiner ein.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am Vorgestern, 10:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Der grundlegende Dissens zwischen uns zeichnet sich in Deiner Problemskizze (Beitrag Nr.106) hier ab:


Quote:Außerdem geht selbst aus der schlüssigsten Ableitung der gemeinschaftlich besten Regelung noch nicht die Motivation der Beteiligten hervor, nun auch im Sinne dieser Regelung zu handeln. Dazu bedarf es einer institutionalisierten Macht, die die Einhaltung der betreffenden Normen überwacht.



Soweit bin ich einverstanden. Halten wir aber fest, dass Du hier allein vom Recht sprichst und insofern eine „Gemeinschaft“ ins Auge fasst, die aus Rechtspersonen besteht. Rechtspersonen sind als strategisch im Individualinteresse handelnde Subjekte konzipiert. Das Recht ist im Prinzip ethikfrei: Zwar wird aus seiner Begründung auch eine „Gehorsamspflicht“ abgeleitet, aber das ist ja eine reine Form, die sich auf jede positive Rechtsnorm bezieht. Ethische Normen können durchaus vom positiven Recht berücksichtigt werden (z.B. über den Begriff der „Sittenwidrigkeit“), aber der Sinn der (neuzeitlichen, kontraktualistischen) Begründung des Rechts liegt gerade in ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit von (regionalen) ethischen Normen. - Darum sind Rechtspersonen „im Naturzustand“ amoralische Individuen, die nur ihr eigenes Interesse verfolgen und für das Recht erst interessant werden, wenn sie in Konflikte miteinander geraten.

Die Rechtsform ist eine überaus wichtige, heute unverzichtbare Form der Gemeinschaft. Aber wenn Gemeinschaft schlechthin nach dem Modell des Rechts konzipiert wird, schaut man an der Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens vorbei. Das Recht ist ein System aus institutionalisierten Normen, deren Sinn hauptsächlich in der Konfliktlösung besteht. Es ist darum unfähig, Gemeinschaft in concreto zu erzeugen. Mit „Gemeinschaft in concreto“ meine ich Lebensformen, die aus vielfältigen wechselseitigen Beziehungen und daraus hervorgehenden Rücksichten und Verpflichtungen bestehen.

Um das zu verdeutlichen: Aus der Sicht des Rechts sind Eltern nichts weiter als „Erziehungsberechtigte“ (und natürlich auch „Erziehungsverpflichtete“). Sie handeln also quasi im Auftrag des Staates, der ihnen das Recht zur Erziehung zu- oder abspricht. Sie nehmen ihm eine irgendwie notwendige Aufgabe ab, die das Recht/ der Staat selbst aber nicht erfüllen kann. Das Kind ist zwar schon Rechtsperson (schon vor seiner Geburt), es braucht nur noch ein paar weitere Voraussetzungen, um seine Rechte auch selbständig wahrnehmen zu können. Um diese Voraussetzungen zu schaffen, allein dafür sind – aus der Sicht des Rechts – die „Erziehungsberechtigten“ da.

Ich denke, an diesem Beispiel wird erstens deutlich, wie „abstrakt“ die Gemeinschaft aus „Rechtspersonen“ ist, und zweitens, dass die Gemeinschaft aus Rechtspersonen auf grundlegendere Formen der Gemeinschaft angewiesen ist, die es zu ihrem Funktionieren braucht. Das Recht ist – als Form der Gemeinschaft – nicht autark.



Quote:Auch wenn alle Beteiligten gemäß ihren Überzeugungen hinsichtlich der dem Gemeinwohl am besten entsprechenden Regelung handeln würden, so ergäbe das selbst beim besten Willen aller noch kein sozial koordiniertes und berechenbares Verhalten der Konfliktparteien.



Du sprichst auch hier ausschließlich von „Regelungen“ etwa auftretender Konflikte. Und daher erscheint Gemeinschaft nur als „sozial koordiniertes und berechenbares Verhalten“ von potentiellen Konfliktparteien.
Dass das, was menschliche Gesellschaften de facto zusammenhält, darauf nicht reduziert werden kann, erscheint mir als evident. Daher kann auch ein auf die Rechtsform bezogener Gemeinwohl-Begriff nicht genügen.



Quote:Es bedarf deshalb neben der Ebene der Diskussion und Argumentation einer Ebene allgemein anerkannter Verfahren zur Setzung derjenigen Normen, die für das Handeln aller Konfliktparteien verbindlich ist – unabhängig davon, ob die einzelnen Parteien diese Entscheidung für inhaltlich richtig halten oder nicht.



Hier, wo es darum geht, einzelne Teile der Gesellschaft zum normenkonformen Handeln zu zwingen, wird erneut deutlich, dass man Gemeinschaft nicht auf eine Gemeinschaft aus potentiellen Konfliktgegnern reduzieren kann. Denn die Individuen/ Personen, die inhaltlich nicht mit den institutionell gesetzten Normen einverstanden sind, bleiben ja Teil der Gesellschaft. Man kann sie zur Einhaltung der Normen zwingen, aber Zwang überzeugt nicht und setzt die Gezwungenen nicht in eine Lage, in der sie sich eigenständig integrieren können.
Diese Einsicht steht z.B. hinter der Wandlung des Strafbegriffs. Man hat erkannt, dass Bestrafen und Wegsperren aus den Objekten des Zwangs keine gesellschaftsfähigen Subjekte macht. Darum versucht man, Häftlinge zu „resozialisieren“ – mit zweifelhaftem Erfolg, wie wir wissen. Der Staat – als Institution des Rechts – kann mit seinen Mitteln zwar Rechtspersonen erzeugen, aber keine sozial handelnden Mitglieder der Gemeinschaft.

Kurz, Gemeinschaft allein nach den Prinzipien des Rechts konzipieren heißt: vor dem größten Teil des wirklichen menschlichen Zusammenlebens die Augen verschließen.


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Vorgestern, 11:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

es geht um die Bestimmung des Gemeinwohls angesichts von Konflikten: Individuum (Gruppe) A tut etwas, was Auswirkungen auf Individuum (Gruppe) B hat, Auswirkungen, die B nicht will.

Abrazo hat als konkretes Beispiel vorgeschlagen: Alle zwei Wochen veranstalten Studenten in der Mensa ein Fest, das bis tief in die Nacht (vor einem Werktag) andauert und das so laut ist, dass die Anwohner im Schlaf gestört werden.

Die Frage: Wie lässt sich dieser konkrete Konflikt auflösen? geht über die philosophisch-ethische Dimension hinaus. Aspekte des Schallschutzes, des psychologisch geschickten Vorgehens, des Vorhandenseins von Ausweichräumen, der bestehenden Rechtsordnung etc. spielen für einen Vermittler (auf Deutsch: Mediator) eine wichtige Rolle,

Dagegen beschränkt sich der Beitrag der Philosophie zur Beantwortung der Frage: „Darf Gruppe A so laut feiern, dass Gruppe B im Nachtschlaf gestört wird?“ m.E. auf die Frage:

Wie kann man (und wie muss man) für oder gegen bestimmte Antworten argumentieren? Wie kann man diejenige Antwort bestimmen, die für alle gemeinsam die beste wäre, die also dem Gemeinwohl am ehesten entspricht?


Damit sind die von Abrazo genannten lebenspraktischen Voraussetzungen einer am Ziel des Konsens orientierten Diskussion ausgeklammert. Ich denke, die Philosophie hat mit der Beantwortung ihrer fachspezifischen Fragen bereits reichlich zu tun. Und ich halte die Beantwortung dieser Fragen keinesfalls für abstraktes, lebensfernes Räsonnieren.

Die Klärung der (methodologischen) Frage:

Wie kann man für oder gegen eine Entscheidung in einem solchen Konflikt (vernünftig) argumentieren?

ist im Gegenteil das nötige Fundament, auf dem Pädagogen, Therapeuten, Mediatoren oder andere mit der Lösung von Konflikten befasste Spezialisten aufbauen können.

Um mit der Diskussion gleich anzufangen:

Jemand könnte argumentieren, dass der Schutz der eigenen Nachtruhe von jedem gewollt wird. Niemand lässt sich gern ohne Grund aus dem Tiefschlaf reißen. Insofern ist die ungestörte Nachtruhe ein allgemein anerkannter Wert und es entspricht deshalb dem Gemeinwohl, den Studenten die lauten Feiern zu untersagen.

Analog könnte jedoch ein anderer argumentieren, dass jeder Mensch ab und zu gerne feiert und dass zu einer richtigen Feier auch Tanzmusik in der nötigen Lautstärke gehört. Das Festefeiern ist insofern ein anerkanntes allgemeinmenschliches Bedürfnis, dessen Befriedigung folglich dem Gemeinwohl entspricht.

Soweit erstmal für heute von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am Vorgestern, 12:08 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Es geht um die Bestimmung des Gemeinwohls angesichts von Konflikten.



Es geht Dir darum, und zwar ausschließlich. Ich halte das für eine unzulässige Verengung der Perspektive und habe das mehrfach argumentativ begründet.

Du kannst natürlich diese Argumente ignorieren und einfach Dein Interesse weiter verfolgen. Aber dann tust Du gerade das nicht, was für die Philosophie "fachspezifisch" ist.


Quote:Ich denke, die Philosophie hat mit der Beantwortung ihrer fachspezifischen Fragen bereits reichlich zu tun.



Was sind denn Deines Erachtens diese "fachspezifischen Fragen" und wie ist das "fachspezifische" Prozedere mit ihnen?


Es grüßt Dich
Urs



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Vorgestern, 22:41 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

Leider habe ich Deinen letzten Beitrag mit Deinen kritischen Fragen an mich erst jetzt zu Gesicht bekommen. Ich werde mich morgen ausführlicher damit auseinandersetzen. Für heute nur soviel, dass ich deine Argumente keineswegs übergehen will.

Meine Kapazitäten sind leider recht beschränkt, sodass ich häufig erst verspätet auf wichtige Argumente eingehen kann, die inzwischen vorgetragen wurden.

Auf keinen Fall möchte ich mit meinen Vorschlägen zum weiteren Vorgehen Fragestellungen anderer Teilnehmer abschneiden.

Obwohl das Folgende vor Kenntnis deiner Kritik formuliert wurde, will ich es doch unverändert einbringen. Alles weitere dann morgen.


***



Hallo Urs,

Dass die Einsicht in die „Vernünftigkeit“ einer Norm nicht immer ausreichend zur Befolgung dieser Norm motiviert, gilt nicht nur in Bezug auf rechtliche Normen, sondern auch für diejenigen Normen, die in den Überzeugungen der Einzelnen verankert sind und die man als „moralische Normen“ bezeichnen kann. Nicht umsonst beten die Christen: „ … und führe uns nicht in Versuchung“.

Insofern sehe ich hier noch keinen grundlegenden Dissens zwischen uns.

Ich teile allerdings nicht die Auffassung vom Recht als einem ethikfreien Raum. Ich sehe im Recht eher die Verfolgung der moralischen Ziele mit anderen Mitteln.

Das soziale System der Moral stößt in den modernen Großstädten und Flächenstaaten in mehrfacher Hinsicht an die Grenzen seiner Möglichkeiten.

Zum einen werden durch die Anonymität der Beziehungen die traditionellen moralischen Sanktionen – Verachtung und Vermeidung von Kontakten gegenüber unmoralischen Personen – praktisch wirkungslos. Der unbekannte Täter taucht in der Masse unter und läuft einem nie wieder über den Weg.

Zum andern wächst mit der Komplexität der Gesellschaft auch der Regelungsbedarf, so dass höchstens Spezialisten noch die Unmenge an Normen überblicken können. Eine schriftliche Fixierung ist deshalb unerlässlich.

Die Schriftform ist auch deshalb notwendig, weil dadurch der Gehalt der Normen sehr viel genauer festgelegt werden kann, was für das langfristig angelegte Handeln und Planen größere Sicherheit bringt.

Die Fixierung der Normen und ihres Gehaltes wird auch dadurch wichtig, weil durch den raschen sozialen Wandel und die riesige Ausdehnung der Länder keine hinreichende Einheitlichkeit der mündlich tradierten Moral mehr gewährleistet ist.

Diese Einheitlichkeit kann nur durch ein spezielles Gefüge von rechtlichen Institutionen erreicht werden, woraus sich allerdings ganz neue Probleme (Schwerfälligkeit, Praxisferne u.a.m.) ergeben.

Trotzdem gewinnt das Rechtssystem seine Legitimation - so wie die Moral - aus der inhaltlichen Orientierung auf ein Gemeinwohl bzw. auf Gerechtigkeit. Wird diese Orientierung gekappt, so bleibt zwar noch die Rechtssicherheit, aber es gibt auch die sprichwörtliche tödliche Sicherheit.

Grüße an alle von Eberhard.



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am Gestern, 10:32 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

da unsere Diskussion nach meinem Eindruck ein bisschen in eine Sackgasse geraten ist, zitiere ich mich mal aus einer anderen Diskussion selbst, denn es könnte einen bisher nicht beachteten Aspekt einbringen:

>Was willst du? In dem Link der DHS steht zu Cannabis ( http://www.dhs.de/substanzen_cannabis.html ) genau das gleiche, was ich auch sage. Die Frage ist hier die Frage nach der Gewichtung.

Unter medizinischem Aspekt ist Alkohol das gefährlichste Suchtgift; ein Heroinabhängiger übersteht, sofern er das Zeug sauber bekommt und injiziert, längere Zeit ohne schwerwiegende Gesundheitsschäden als ein Alkoholiker.

Unter sozialem Aspekt dürfte Kokain + Derivate das schlimmste sein: Kokser mutieren zu rücksichtslosen Egozentrikern mit hohem Aggressionspotential.

Aber Philosophen hauen nun mal notorisch störend auf die Pauke der Ethik, der Menschenwürde, des Humanums, das nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten begründet. Siehe Kant: selbstverschuldete Unmündigkeit - Ursache: Faulheit und Feigheit (Philosophen sind keine netten Menschen, die fluchen, schimpfen und hauen zu). Und unter diesem Aspekt sieht Cannabis ganz und gar nicht harmlos aus. Ein Kiffer, der immer noch seinen Lebensunterhalt selbst verdient, niemandem was tut und in seiner Freizeit mit Kumpanen zusammen sitzt, um über Liebe, Frieden und heilige Bäume zu schwadronieren, beleidigt das Menschliche, wie Saint-Ex in anderem Zusammenhang so treffend sagte. Denn er begibt sich der Fähigkeit, klar, vernünftig und zusammenhängend zu denken und Probleme, die nicht nur er, sondern auch andere Menschen haben, wirksam anzupacken. Diese Unfähigkeit ist von Dauer, wenn er nicht aus Einsicht dagegen angeht, das Kiffen aufhört und seine Gedanken selbstkritisch prüft, denn die unter Cannabis erworbene Weltsicht findet Eingang in sein normales Weltbild (und begründet damit m.E. die psychische Abhängigkeit, denn nur erneuter Cannabis-Konsum beseitigt den Konflikt zwischen Rauschwelt und Realität).

Ich will nicht zu lang werden. Aber vergleich das mal mit den Alkoholzuteilungen für die Arbeiter z.B. im Manchester-Kapitalismus. Die Arbeiter kriegten wöchentlich ihren Lohn und ihre Schnapsration. Damit haben sie sich besoffen und daraufhin ihre Frauen geprügelt, was keinen Unternehmer stört, waren aber ansonsten friedlich, unpolitisch und haben keine Ansprüche gestellt. Eine Form geistiger Versklavung, die menschenunwürdig ist.

Und dann stellt sich eben rechtspolitisch die Frage: darf eine Gesellschaft so etwas zulassen?<

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am Gestern, 10:36 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteinander, hallo Eberhard!


Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn ich von „Ethik“ spreche, denke ich dabei an das „Ethos“, also an historisch entstandene Lebensformen von Gruppen, „Populationen“, Kulturen mit ihren Normen („Sitten“) und geteilten Überzeugungen. Wenn ich sagte, das (neuzeitliche) Recht sei unabhängig von „ethischen Normen“ begründet, dann meinte ich damit zunächst den Umstand, dass diese historischen und regionalen Unterschiede für die Begründung des Rechts keine Rolle spielten.

Das ist ja eine der Pointen des Rückgangs auf einen hypothetischen „Naturzustand“: Dieser „Naturzustand“ geht jeweils von nicht vergesellschafteten Individuen aus, die zwar nicht faktisch gleich sind, aber als Gleiche angesehen werden. Der Rechtszustand, zu dem sie sich zusammenschließen, schafft dann zwar unterschiedliche Rechte und Pflichten, aber die sind gerade dadurch legitimiert, dass im „allgemeinen Willen“ oder im „Staatsvertrag“ der Wille jedes Individuums gleich viel gilt. Der Gedankengang ist knapp gefasst dieser: Gesetzt, jedes Individuum verfolge souverän nur seine eigenen Interessen und habe dazu das gleiche Recht wie alle anderen, dann gebietet die vernünftige Einsicht jedem Einzelnen, sich mit allen anderen zu einem Rechtsstaat zu vereinigen, dabei seine individuelle Souveränität abzutreten und sein natürliches Recht vom souveränen Staat einschränken zu lassen. Denn nur der gemeinschaftliche Rechtszustand ermöglicht überhaupt jedem Individuum, seine Interessen in Sicherheit zu befriedigen.

Wie schon gesagt, ich halte dieses Argument für sehr überzeugend. Aber man muss sich im Klaren darüber sein, dass es ein Argument ist, das sich an den Zweifler wendet, der die Legitimität des Staates in Frage stellt, der die Gemeinschaft nur als eine Einschränkung seiner Freiheit, als Hindernis für seine Selbstentfaltung ansieht. Dieses Argument führt ihm vor Augen, warum selbst jemand, der nur seine individuellen Interessen verfolgt, einen Staat wollen muss, wenn er konsequent nach- und vorausdenkt.

Das dabei vorausgesetzte („natürliche“) Recht jedes Individuums, ohne Rücksicht auf andere nur sein eigenes Wohl anzustreben, bleibt aber in gewissem Sinn die „Arbeitsgrundlage“ des Rechtssystems – z.B. im privaten Vertragsrecht oder im Verfahren der „freien und gleichen Wahl“ („one man, one vote“). Die Rechtsgemeinschaft ist ein Zusammenschluss aus Individuen, die strategisch nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Für jedes Rechtssubjekt kommen die anderen Rechtssubjekte daher im Grunde nur in den Blick als Hindernisse für die eigene Entfaltung. (Das war der zweite Grund, warum ich sagt, das Recht sei „ethikfrei“ begründet.)

Der politische Liberalismus ist, ganz grob gesagt, die Doktrin, die den Staat nur aus der Sicht des Individuums betrachtet, das strategisch seine eigenen Interessen verfolgt und dabei auch erfolgreich ist. Das liberale Credo besagt, dass es dem Wohl jedes Einzelnen am besten dient, wenn der Staat seine Aufgaben auf ein Minimum reduziert, wenn er sich sozusagen nur als „Nachtwächter“ für die Bürger begreift, die selbst am besten für sich sorgen können. Das Schlagwort „Deregulierung!“ bringt das auf den Punkt.
Es ist aber auch leicht zu sehen, warum der Liberalismus seine Anhänger vorwiegend aus den Kreisen der „Besserverdienenden“ rekrutiert. Sie sind – scheinbar - nicht auf die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen, ihnen erscheint Solidarität zunächst einmal nur als lästige Verpflichtung.

Aber diese Meinung, das Individuum sei autark und letztlich seines eigenen Glückes Schmied, neigt notorisch dazu, das ganze Netz der gegenseitigen Abhängigkeiten zu vernachlässigen, von dem auch die erfolgreichen „Selbständigen“ profitieren. Der „freie Unternehmer“ neigt dazu zu glauben, er habe seinen Wohlstand „aus eigener Kraft“ erworben – und übersieht, dass er ohne seine verlässlichen Angestellten, ohne staatlich bereitgestellte Infrastruktur und Rechtssicherheit keinen müden Euro erwirtschaften könnte.
Man könnte auch sagen, das liberale Konzept vom Gemeinwohl habe eine gewisse „ideologische Schlagseite“, weil es dem Interesse der Gewinner entgegenkommt. Es entlastet die Gewinner von der Pflicht, sich um die weniger Begünstigten zu kümmern – denn auch sie haben ja, nach den Voraussetzungen des liberalen Modells, ihren Erfolg oder Misserfolg sich selbst zuzuschreiben.


Wenn wir hier nach einem „wahren“ Gemeinwohlbegriff suchen, dann müsste er u.a. auch so beschaffen sein, dass sich von ihm her die „ideologische Schlagseite“ des Liberalismus erkennen und kritisieren lässt. Und das bedeutet m.E., dass möglichst umfassend gezeigt werden muss, dass die Gemeinschaft (und die Solidarität mit ihr) nicht nur ein relatives „Gut“ für das Individuum ist, sondern eine faktische und notwendige Voraussetzung für seine Existenz als selbständiges und im eigenen Interesse handelndes Subjekt.

So weit erst mal.

Es grüßt Euch
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am Gestern, 18:40 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteinander!


Ich setze meinen Gedankengang fort:

Die liberale Konzeption des Rechtsstaates weist einige Momente auf, die m.E. richtig und somit festzuhalten sind.

Da ist zunächst der Ausgang vom Individuum und seinen Interessen. Das Individuum bzw. die Perspektive des Individuums, das sich verwirklichen will, wird hier als ein Prinzip gewürdigt. Auch dies ist eine Pointe der neuzeitlichen Konzeption des „Naturzustands“. - In der älteren, aristotelischen Konzeption des Naturrechts wurde demgegenüber die Gemeinschaft als irreduzibles Prinzip betont: Der Mensch ist von Natur aus ein Gemeinschaftstier („zoon politikon“), und das Individuum, das ohne Gemeinschaft auskommt - der „idiotes“ (= Privatmann) - „ist entweder ein Gott oder ein Tier“, sagt Aristoteles in seiner Politik-Vorlesung.

Das zweite richtige Moment ist die Voraussetzung, dass die Individuen in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung als gleich gelten. Ohne irgendeinen Aspekt von Gleichheit ist weder Gemeinschaft denkbar noch Gerechtigkeit.

Und schließlich finde ich den ganzen Gedankengang sehr überzeugend, durch den aus der Perspektive des Individuums nachvollziehbar gemacht wird, dass ein Zusammenschluss mit den anderen, konkurrierenden Individuen und somit eine Einschränkung und Abstimmung aller wuchernden Individualinteressen im ureigenen Interesse des Individuums liegt.

Dieses Argument ist deshalb so stark, weil eben die Gemeinschaftsperspektive nicht vorausgesetzt wird. Einem Individuum, das sich ohnehin als Gemeinschaftswesen versteht, braucht man die Notwendigkeit des Staates nicht zu beweisen. Gelingt es aber, einem „egoistischen“ Individuum, das nur seine eigenen Interessen im Blick hat, zu beweisen, dass es gerade um seiner eigenen Interessen willen den Staat und das Recht braucht, so ist das eine starke argumentative Leistung.



Was ich jedoch an dieser liberalen Konzeption des Rechts-Staates kritisiere, ist der Umstand, dass aus diesem starken Argument zu wenig gemacht wird. Bei Hobbes und Locke wird es sehr deutlich, dass die Individuen genau die Einsicht, die sie zum Vertrag mit den Konkurrenten veranlasst, nicht festhalten. Sie sehen zwar ein, dass sie sich nur gegenseitig schaden, wenn sie ungehemmt von ihrem natürlichen „Recht auf alles“ bzw. auf „Eigentum“ Gebrauch machen. Sie transzendieren diese „egozentrische“ Perspektive, weil sie einsehen, dass sie zum Scheitern verurteilt ist. Aber dann, nach dem Zusammenschluss im Rechtszustand, scheinen sie den moralischen Standpunkt wieder aufzugeben, ganz so als hätten sie ihn vergessen. Darum bedeutet für sie „Gemeinschaft“ nur, dass sie nun ihre individuellen Interessen in Sicherheit verfolgen können; dies zu garantieren, ist der Zweck des Staates.

So kommt es, dass die Freiheit der Konkurrenten und die zügelnde Kontrolle des Staates weiterhin grundsätzlich als Hindernisse für die individuelle Entfaltung verstanden werden. Die Macht des Staates erscheint als notwendiges Übel, weshalb sie so klein wie eben möglich zu halten ist. Der Staat, das bin eben nicht ich, sondern das sind „die da oben“, die immer neue Vorschriften erlassen, immer neue Steuerquellen auftun, mir die Lust am Autofahren vermiesen und mir tausend Auflagen machen, wenn ich ein kleines Unternehmen gründen will... Der Staat reiht sich somit ein in die Schar der Konkurrenten, die mir das Leben schwer machen.

Ich denke, dass diese bei uns sehr populäre Sicht nicht nur von wenig Gemeinsinn zeugt, sondern dass sie auch ganz einfach etwas dümmlich ist... Deshalb ist das Hobbes’sche Argument, das die Notwendigkeit des Rechtszustands so nachdrücklich zeigt, immer noch aktuell und wert, nicht immerzu wieder vergessen zu werden.

Das gilt natürlich auch für die Theorie des Gemeinwohls. Dazu müsste das Individuum, dem in der neuzeitlichen Staatslehre eine so prinzipielle Wichtigkeit zugestanden wird, nur konzipiert werden als ein lernfähiges Wesen. Es müsste gesehen werden als Individuum, das seine nur-individuelle Perspektive kritisch transzendieren und den Aspekt des Gemeinwohls seinen eigenen Zwecken zugesellen kann. Es müsste, mit andern Worten, dazu fähig sein, sich einerseits als Individuum mit eigenen Interessen zu verstehen und andererseits als Mitglied der Gemeinschaft. Vielleicht könnte es auch so flexibel vorgestellt werden, dass es je nach Lage zwischen beiden Standpunkten zu wechseln, vielleicht sogar zwischen ihnen zu vermitteln vermag.


Es grüßt Euch
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Gestern, 21:46 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Urs,

ohne jetzt eine Auseinandersetzung über die Interpretation von Hobbes und Locke beginnen zu wollen, gibt es meines Erachtens eine grundlegende Schwäche der Idee einer vertraglichen Begründung der Rechtsordnung.

Zwar ermöglicht der Vertrag, einen vorhandenen Konflikt zu entschärfen, jedoch ist der vertragliche Konsens kein zwangfreier Konsens und ist keineswegs gleichzusetzen mit einem rein argumentativen Konsens.

Der Vertrag kommt nur zustande, wenn alle Vertragspartner die durch den Vertragsabschluss entstehende Lage dem Nicht-Abschluss eines Vertrages und damit dem Fortbestehen des Status quo vorziehen.

Das Fortbestehen des Status quo kann jedoch für die Vertragsparteien unterschiedlich erträglich sein. Je weniger eine Partei auf den Vertragsabschluss angewiesen ist, umso größer ist ihre Verhandlungsmacht (bargaining power), umso stärker ist ihre Verhandlungsposition.

Aus der unterschiedlichen Erträglichkeit eines Fortbestehens des Status quo ergibt sich die Möglichkeit, dass eine Partei der anderen mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen kann, wenn diese nicht zu weiteren Konzessionen bereit ist. Im Extremfall kann eine Partei von der anderen „an den Verhandlungstisch gebombt werden“.

Beim Vertrag sind die Individuen freigesetzt, ihren individuellen Interessen zu folgen und ihren Vorteil zu suchen. Da der Bereich möglicher Verhandlungsergebnisse relativ ausgedehnt sein kann, kommt es auf geschickte Verhandlungsführung, auf Rhetorik und Überredungskunst an.

Dies ist m.E. der Grund dafür, dass moderne Vertreter der Idee einer vertraglichen Begründung der Rechtsordnung das Eigeninteresse der Individuen durch die Annahme der Ungewissheit über die eigene Position brechen (z.B. der „veil of ignorance“ bei Rawls).

Ich bin deshalb der Ansicht, dass die Begründung für die Normen des Zusammenlebens nicht in einer Übereinkunft nach Art des Vertrages gesucht werden kann, denn man gehorcht einer überlegenen Macht, aber man muss deshalb nicht deren Berechtigung anerkennen.

Es grüßt Dich und alle andern Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am Gestern, 23:39 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,
Ich versuch mal einen Ballon zu starten [balloon]:

Im juristischen Sinn wird ein Vertrag zwischen "unabhängigen" Partnern geschlossen, und die geben dabei ein Stück ihrer Unabhängigkeit ab.

Ist denn beim Problem Gemeinwohl und Individualwohl dieses "unabhängig sein" überhaupt gegeben? Da jedes Individuum auch Teil der Gemeinschaft ist, besteht doch im voraus bereits ein Abhängigkeitsverhältnis. Dieses (von Natur aus bestehende) Abhängigkeitsverhältnis ist doch stärker als die Bindung, die erst infolge eines Vertrages entsteht. Daher ist doch zu Fragen, ob das Model "Vertrag" dem Problem Gemein- und Individualwohl qualitativ angemessen ist?

Danke & Gruss --- Euer qualitativ angemessene Alltag

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am Heute, 01:16 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

wenn du, Urs, das Wort Ethik im Sinne von Ethos = Sitte verwendest, fragt sich, welches Wort du dann für die Grundnormen (z.B. nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen) nehmen willst.

Es ist Sitte, keinen Ketchup über eine sorgfältig zubereitete Lammkeule zu kippen. Ist es auch Sitte, nicht zu töten?

Der Kabarettist Jürgen Becker hat das mal ausgewalzt: 'da steht nicht, du darfst nicht töten, da steht, du sollst nicht töten. Also lass das bitte sein, das gehört sich nicht. Und wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt, dann bitte nicht mehr als zwei, drei Mal pro Tag.'

Die Vertragstheorie ist imho nicht haltbar. Da stimme ich Alltag zu. Aber du, Urs, sagst ja selbst, dass diese Theorie eigentlich nur einen Zweck erfüllt, indem sie einen fiktiven Urzustand ansetzt. Einen Rechtfertigungszweck. Philosophisch sauber ist das imho nicht. Geht für meinen Geschmack zu sehr in Richtung Ideologie.

Ich sehe allerdings noch einen anderen Grund für diese Theorie, nämlich die Begründung der Gleichheit vor dem Recht. Das muss man nicht notwendigerweise annehmen; im Ständestaat gab es keine Rechtsgleichheit, es geht also auch anders. In diesem Zusammenhang die Stichworte Klassenjustiz und Volksgerichtshof. Allerdings, zu begründen, dass alle Menschen vor dem Recht gleich sind, indem man einen fiktiven Urzustand ansetzt, in dem alle Menschen gleich sind, das ist natürlich unredlich. Zeigt aber die Problematik: man kann der Ethik nicht entfliehen. Und das ist auch zwangsläufig so. Denn jede letzte Begründung kann immer nur in der wahrnehmbaren Welt liegen. Was anderes haben wir nicht. Irgendwo müssen also die Begründungen für unsere Werte aufhören und im Hinweis auf eine Tatsache enden, die nicht erdacht werden kann, sondern die sich zeigt: eben der humane ethische Willen in bestimmten konkreten Situationen. Davon kann man alles mögliche ableiten und abstrahieren, er selbst aber ist nicht ableitbar und abstrahierbar.

Wenn wir einen fiktiven Urzustand annehmen, in dem alle Menschen gleich sind (oder sagen, wenn alle Menschen als alleinstehende Individuen gemeinsam gefragt werden würden, dann würden sie ...), dann tun wir das, um dadurch einen Wert zu begründen, den wir haben. Die Notwendigkeit, die Gleichheit aller Menschen vor dem Recht zu begründen, können wir nur sehen, wenn uns die Gleichheit aller Menschen vor dem Recht bereits ein Wert ist. Wir wollen das so. Basta.

Das dabei vorausgesetzte ("natürliche") Recht jedes Individuums, ohne Rücksicht auf andere nur sein eigenes Wohl anzustreben
Ist das so? Steht in unserer Verfassung, dass jeder das Recht hat, nach seinem Glück zu suchen? Entspricht das unserer Geschichte, unserer Kultur? Oder sehen wir das im Grunde nicht ganz anders, nämlich so, dass der Staat als demokratische Organisation unserer Gesellschaft unserem Gemeinwohl zu dienen hat und damit unserer Gesellschaft, die etwas anderes ist als die Summe der Individuen? Dieses angeblich natürliche Recht, wird das denn in unserer Gesellschaft überhaupt gewollt? Achten und schätzen wir Menschen, die sich zwar rechtmäßig verhalten, aber von ihrer Einstellung her so handeln? Betrachten wir diese Einstellung als einen Wert? Ich melde da massive Zweifel an.

Ich denke, wir fragen uns vielmehr, wie wir unser Zusammenleben in Zukunft gestalten wollen und nicht, wie wir den einzelnen Individuen Spielregeln geben, damit sie sich nicht gegenseitig an die Gurgel fahren. Letzteres ist doch für uns eine Sache des Strafrechts - denn das tun man nicht.

Man kann das Individuum so sehr in den Mittelpunkt rücken wie man will - es gibt das so einfach nicht. Wir sind in eine Gemeinschaft hineingeboren, von ihr erzogen und geprägt, das kann man nicht einfach hinweg diskutieren um ideologischer Ziele willen, denn das ist es für mich. Das Ziel ist der Liberalismus, der durch diese Theorie begründet werden soll, schon seit Locke und Hobbes. Diese Theorie ist ideologisch.

Unter diesem Aspekt betrachtet wird Eberhards Kritik am Vertragswesen zu einer realistischen Beschreibung etlicher gesellschaftlicher Zustände. Wie sieht er denn aus, der Hartz IV - Vertrag mit sämtlichen Begleitumständen? Ein gleichberechtiger Vertragsschluss? Offenbar so anerkannt und von allen gebilligt und akzeptiert, dass die, die ihn abgeschlossen haben, von den eigenen Leuten rausgeschmissen worden sind.

Ne, da stimme ich Eberhard zu. Vertrag geht nicht. Und ein Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung oder Bankrott ist kein Strafverfahren wg Vertragsbruch. Und auch das Verbot der Todesstrafe im Grundgesetz ist nicht vertraglich vereinbart. Diese Theorie stimmt, bezogen auf die Praxis, einfach hinten und vorne nicht.

Unsere Basis ist eine andere als die des glücksuchenden Individuums. Unsere Basis ist die Menschenwürde. Und darüber überhaupt zu reden setzt die Existenz einer Gemeinschaft voraus - denn für das selbständig existierende Individuum ist Menschenwürde kein Thema.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Heute, 07:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo alltag,

Dein Argument gegen die vertragstheoretische Begründung der Rechtsordnung trifft nicht, denn die gemeinschaftliche Ordnung wird dort ja erst durch die vertragliche Übereinkunft der Einzelnen hergestellt. Deshalb kann die wechselseitige Abhängigkeit der Individuen in der Gemeinschaft kein Argument gegen die unabhängige Entscheidung der Individuen für den Gesellschaftsvertrag sein.

Es grüßt Dich Eberhard.

p.s.: Es muss wohl ein neuere thread eröffnet werden.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am Heute, 11:33 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Alltag, hallo Eberhard!

Ein paar Erläuterungen zur Vertragsidee.

Die Hobbes’sche (oder Locke’sche) Staatsbegründung will keine Rekonstruktion des historischen Geschehens sein. Es ist vielmehr eine kritisch-analytische Rekonstruktion der Elemente, die einen Rechtsstaat im Wesentlichen ausmachen. Dieser Theorietyp geht methodisch ganz ähnlich vor wie Descartes in seiner Zweifelmeditation: „Wenn man sich alles wegdenkt, was einen wirklichen heutigen Staat ausmacht und ihn dann schrittweise wieder zusammensetzt – welches Minimum an Bestimmungen muss man übrig behalten, damit ein Staat überhaupt funktionieren kann?“ Auf diesem Weg gewinnt man also allgemeine Kriterien, anhand derer man an historisch vorfindlichen Staaten die zufälligen und die notwendigen Momente unterscheiden und daher existierende Staaten auch (im Sinne des Modells) optimieren kann.

Der „Naturzustand“ ist somit das, was man - nach Hobbes - als die Ausgangsbedingungen annehmen muss, um das Modell eines funktionierenden souveränen Rechtsstaates zu konstruieren. Und der „Vertrag aller mit allen“, der aus dem Naturzustand „herausführt“, ist nichts weiter als eine Rekonstruktion der Gemeinschaft mit den Bestimmungen des Rechts. Oder anders gesagt: Mit den Mitteln des Rechts kann man sich die Vereinigung einer Menge von Individuen nur als freiwilligen Vertragsabschluss vorstellen.
Hobbes leugnet nicht, dass es andere Arten menschlicher Gemeinschaft gab und gibt (etwa die Familien oder die Kirchen), die nicht als durch freiwillige Vereinigung zustande gekommen denkbar sind. Er behauptet nur: sie sind für einen souveränen Rechtsstaat nicht grundlegend und nehmen darum im Rechtsstaat auch nur eine untergeordnete Stelle ein. Was den Rechtsstaat „trägt“, sind keine natürlichen Zwänge, sondern freiwillige – gleichwohl bindende – Vereinbarungen. So kann ein Kind wegen seiner natürlichen Unselbständigkeit die Familie nicht verlassen; ein Staatsbürger kann jedoch auswandern (also den Vertrag „kündigen“) – und sollte nach Hobbes auch das garantierte Recht dazu haben.

Es ist klar, dass es bei faktischen Vertragsabschlüssen immer Randbedingungen gibt, die ihre Freiwilligkeit einschränken. Aber ein unfreiwillig eingegangener Vertrag ist eben kein „wirklicher“ Vertrag im Sinne der Vertragsidee und daher ungültig.
Das gleiche gilt für einen „Konsens“: Kommt eine Vereinbarung faktisch dadurch zustande, dass eine Minderheit überstimmt wird, kann man diese Vereinbarung nicht „konsensuell“ nennen – es sei denn, alle Beteiligten hätten vorher die Verfahrensregel freiwillig akzeptiert, nach der ein Mehrheitsvotum die Verhandlungen beenden darf, wenn kein Konsens über die verhandelte Sache gefunden wird. Dann „vertritt“ das Mehrheitsvotum den Konsens. - Natürlich kann es vorkommen, dass auch die Verfahrensregeln erzwungen werden – aber dann wird nicht wirklich „verhandelt“, sondern einem Oktroi der Schein des Konsenses verliehen. (Siehe auch den „Scheinprozess“ vor Gericht.)

Die Gründe, aus denen die Vertragspartner zum Abschluss kommen, sind natürlich ihre Sache. So kann jemand einen Vertrag abschließen, nur weil er das „kleinere Übel“ für ihn ist. Aber diese Bewertung trifft immerhin noch er selbst; insofern ist auch eine Entscheidung für das kleinere Übel noch eine freiwillige. Wer dagegen (wie Kant) glaubt, allein die völlige Abwesenheit von „Sachzwängen“ erfülle die Kriterien von„Freiwilligkeit“, spricht über eine andere Welt als unsere - lies: jagt einer metaphysischen Idee von Freiheit nach.

Die „vernünftige“ Einsicht, die bei Hobbes die Individuen zum Abschluss des „Vertrags aller mit allen“ motiviert, ist ja eine Einsicht in den „Zwang der Sache“. Unbegrenzte Freiheit bei der Verfolgung der eigenen Interessen führt zum „Krieg aller gegen alle“, in dem das Überleben des Einzelnen dauernd gefährdet ist. Darum ist es „vernünftig“ (d.h. zweckmäßig für jeden Einzelnen), die eigene Freiheit mit Rücksicht auf die Freiheit der anderen einzuschränken.

- - - - - -

Der entscheidende Punkt für unser Thema liegt aber hier:

Kann man sich bei der Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs nur auf Gemeinschaft nach dem Modell des Rechtsstaates beschränken – also auf Gemeinschaften, die (der Idee nach) zustande gekommen sind aus dem freien Zusammenschluss von Individuen, die jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen? Oder anders gesagt: Sind die Interessen der Individuen das einzige Prinzip, und ist demnach jede Art von Gemeinschaft nur zu legitimieren, wenn sie auf die Interessen der Individuen zurückzuführen ist? Oder ist Gemeinschaft „mehr als die Summe ihrer Teile“ – d.h. ist die Gemeinschaft ein „Gut“, das sich nicht „teilen“ lässt, und zwar deshalb, weil kein einziges Individuum seine Bedürfnisse ganz auf sich gestellt befriedigen könnte? Ist Gemeinschaft nicht als eine notwendige Voraussetzung anzuerkennen dafür, dass es überhaupt Individuen gibt, die ihre Interessen eigenständig verfolgen können?


Es grüßt Euch
Urs




--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Heute, 11:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo abrazo,


ich muss Dir in zahlreichen Punkten widersprechen. Dein Argument gegen die vertragstheoretische Begründung der Rechtsordnung trifft die spätere Interpretation dieser Theorie nicht. Dort wird nicht mehr mit einem Urzustand argumentiert, sondern Kriterium der Legitimation ist die Frage: Hätte diese Rechtsordnung aus einem Vertrag freier Individuen hervorgehen können?

Die Vertragstheorie setzt auch nicht die Gleichheit im Urzustand voraus. Die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Recht begründet die Vertragstheorie damit, dass freie Individuen niemals einer Ordnung zustimmen würden, indem sie selber minderen Rechts sind. Dies macht z. B. Rousseau sehr deutlich.

Deine Kritik am Liberalismus und Individualismus leidet meines Erachtens darunter, dass Du die Positionen, die Du kritisierst, nicht vorher ausformulierst, so dass man nicht genau erkennen kann, was Du jeweils kritisierst. Zum Beispiel weiß ich nicht, ob Du mit Deinen kritischen Ausführungen zum glücksuchenden Individuum auch die Auffassung angreifen willst, dass die Menschen zuerst an sich selbst und ihresgleichen denken und dass das Wohl Fremder dagegen eher zweitrangig ist.

Du schreibst: „Man kann das Individuum so sehr in den Mittelpunkt rücken wie man will - es gibt das so einfach nicht. Wir sind in eine Gemeinschaft hineingeboren, von ihr erzogen und geprägt.“ Wenn das Individuum tatsächlich in dieser Weise von der Gemeinschaft geprägt ist, dann kann es doch nicht schaden, auf der Ebene der Individuen anzusetzen. Dadurch geht ihre Prägung durch die Gruppe ja nicht verloren, sondern wird gerade berücksichtigt.

Die Kennzeichnung einer Theorie als „Ideologie“ oder „Rechtfertigungstheorie“ ist für mich übrigens als solches kein Argument.


Du schreibst weiterhin: „Jede letzte Begründung kann immer nur in der wahrnehmbaren Welt liegen. Was anderes haben wir nicht.“ Das ist nicht schlüssig.

Eine „letzte“ Begründung kann auch erfolgen, indem man sich klar macht, was es eigentlich heißt, etwas zu begründen und indem man die impliziten Voraussetzungen herausarbeitet, die jeder machen muss, der etwas begründen will.

Wenn ich eine Norm gegenüber einem Individuum begründe, dann kann ich das z.B. nicht, indem ich ihm eine Strafe androhe für den Fall, dass er diese Norm verletzt. Ich kann eine Norm gegenüber dem Individuum auch nicht dadurch begründen, dass ich ihm 1000 ? verspreche, wenn es der Norm zustimmt.

Wenn wir sagen, dass wir eine Behauptung gegenüber einem Individuum begründen, dann appellieren wir an seine Einsicht bzw. Vernunft: wir begründen die Norm mit Hilfe von einsichtigen Argumenten, die er zwanglos nachvollziehen kann.

Mit dem Motto „Scharfe Kritik an Positionen und nicht an Personen“ grüßt alle Diskussionsteilnehmer Eberhard.

p.s.: Dieser Beitrag ist ohne Kenntnis des letzten Beitrages von Urs formuliert.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am Heute, 13:35 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

Dort wird nicht mehr mit einem Urzustand argumentiert, sondern Kriterium der Legitimation ist die Frage: Hätte diese Rechtsordnung aus einem Vertrag freier Individuen hervorgehen können?
Was ist das Gemeinsame zwischen beiden Annahmen? Der Konjunktiv. Das heißt, argumentiert wird mit einer fiktiven Situation. Was begründet eine fiktive Situation? Das Denken. Wer denkt? Ein Subjekt. Also ist eine fiktive Situation immer subjektiv; ich könnte auch sagen: sie entspricht dem Wunschdenken. Damit etwas zu begründen halte ich nun mal für unsauber.

Die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Recht begründet die Vertragstheorie damit, dass freie Individuen niemals einer Ordnung zustimmen würden, indem sie selber minderen Rechts sind. Dies macht z. B. Rousseau sehr deutlich.
Hätte, würde, könnte. Und wie ist es tatsächlich?
Ich habe keine Zweifel, dass Rousseau keiner Ordnung zustimmen würde, in der er selbst minderen Rechts ist. Ich würde das auch nicht. Aber trifft das für alle Menschen oder auch nur die Mehrheit zu? Ist es nicht so, dass mindere Rechte von den davon Betroffenen selbst ohne weiteres akzeptiert werden? Auch wenn wir die Alternative haben, menschlich zu entscheiden, so bleibt die andere Alternative, so zu entscheiden wie jedes andere Viech auch. Im Rudel verlangt der Mitläufer selbstverständlich nicht die gleichen Rechte wie der Anführer. Er folgt - und dafür erhält er Sicherheit. Willst du behauptet, dass diese Alternative nicht tatsächlich oft gewählt wird? Dazu brauchst du noch nicht einmal in ferne Länder zu gehen. In jeder traditionellen Dorfgemeinde ist es selbstverständlich, dass die Honoratioren mehr Rechte haben als der Rest.

Wer ist das freie Individuum? Das freie Individuum ist biologischen Zwängen unterworfen, denn es muss leben. Es will leben. Es will sicher und ohne Sorgen leben. "Gib mir deine Freiheit und ich gebe dir Sicherheit" - wieviele würden wohl diesen Vertrag abschließen? Wenn Staaten und Gesellschaften jahrhundertelang auf der Basis eines solchen Vertrages existierten: wieso soll das auf einmal unmöglich sein? Vielleicht für unsere Rechtsordnung. Aber wieso soll man die mit so einem Vertragsspielchen begründen? Die ist doch ganz anders entstanden und gewachsen, z.B. aus negativen Erfahrungen. Reicht es nicht als Grund, das, was war (und dazu gehört z.B. auch die Ständegesellschaft) nicht mehr zu wollen? Sag: wer braucht solche Begründungsspielchen - und wen interessieren sie?

Das freie Individuum - wunderbar. Aber frag doch mal solche Individuen, die sich in hierarchische Gruppen begeben, was sie von ihrer Freiheit halten. Dann wirst du feststellen, dass Freiheit eine sehr unangenehme Begleiterscheinung hat, nämlich Verantwortung. Und dass es deswegen nicht wenige gibt, die ihre Freiheit liebend gerne verkaufen, wenn sie damit die Verantwortung los werden.

Bitte keine was-wäre-wenn-Spielchen. Es sind die Tatsachen, die zählen.

Zum Beispiel weiß ich nicht, ob Du mit Deinen kritischen Ausführungen zum glücksuchenden Individuum auch die Auffassung angreifen willst, dass die Menschen zuerst an sich selbst und ihresgleichen denken und dass das Wohl Fremder dagegen eher zweitrangig ist.
Ich habe festgestellt, dass das nicht in unserer Verfassung als Grundwert festgeschrieben ist. In anderen schon, aber nicht in unserer. Ich habe also auf einen Unterschied hingewiesen. Allerdings auf einen wichtigen. Denn solche Grundwerte gehören zu dem Rahmen, innerhalb dem sich eine Gesellschaft entwickelt.

Dadurch geht ihre Prägung durch die Gruppe ja nicht verloren, sondern wird gerade berücksichtigt.
Das wäre so, wenn Beeinflussung und Prägung zu fertigen, stabilen Eigenschaften führen würden. Leben in der Gemeinschaft ist aber ein dynamischer Prozess, und außerdem, wie bereits erwähnt, gehört ein Individuum mehreren Gruppen an.

Wenn wir sagen, dass wir eine Behauptung gegenüber einem Individuum begründen, dann appellieren wir an seine Einsicht bzw. Vernunft: wir begründen die Norm mit Hilfe von einsichtigen Argumenten, die er zwanglos nachvollziehen kann.
Aha. Und was sind einsichtige Argumente, die einer zwanglos nachvollziehen kann? Argumente, die unmittelbar auf die wahrnehmbare Welt verweisen.

Tatsachen, Eberhard. Nicht, wie Mensch und Welt sein sollen, zählt, sondern wie sie ist. Damit müssen wir fertig werden, das ist die Aufgabe. Um die können wir uns nicht herum mogeln, indem wir uns als Begründung etwas ausdenken, was wir gerne so hätten.

Gruß
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Heute, 14:52 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

da dieser Thread zu lang geworden ist, habe ich eine Fortsetzung eröffnet. See you later .. Eberhard.







Gemeinwohl und Wohl der Individuen II







PhilTalk Philosophieforen (http://www.philtalk.de/cgi-bin/YaBB.cgi) Praktische Philosophie >> Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsphilosophie >> Gemeinwohl und Wohl der Individuen II (Thema begonnen von: Eberhard am 05. Nov. 2005, 14:48 Uhr)



--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 05. Nov. 2005, 14:48 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

dies ist die Fortsetzung der Diskussionsrunde über "Gemeinwohl und Wohl der Individuen I" (aufzurufen unter www.philtalk.de/msg/1129452049.htm)

Ich hoffe, dass weiterhin so sachbezogen und produktiv diskutiert wird wie im Teil I.

Allen Diskusssionsteilnehmern meinen Dank (ausgenommen h.s.)!

Eine spannende und kontroverse Diskussion wünscht allen Eberhard.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 05. Nov. 2005, 14:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo urs,

Du fragst: „Ist jede Art von Gemeinschaft nur zu legitimieren, wenn sie auf die Interessen der Individuen zurückzuführen ist?“

Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man das Interesse eines Individuums definiert.

Wenn man unter dem „Interesse eines Individuums“ nur diejenigen Bestrebungen des Individuums versteht, die sich direkt auf sein eigenes Wohlergehen richten, so muss man wohl die Frage verneinen. Dies würde unter anderem bedeuten, dass überall nur nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut!“ gehandelt würde, und dass es deswegen z.B. schnurzpiepe ist, was in 80 Jahren ist, denn dann ist jeder von uns mausetot und sieht sich den Rasen von unten an.

Eine nach diesen Prinzipien arbeitende Wegwerfgesellschaft wäre dann das Einzige, was legitimiert werden könnte, was schwerlich akzeptabel wäre.

Ist deshalb der Ausgangspunkt von den Interessen der Individuen ein Irrtum?

Ich denke nicht. Der Fehler der obigen Konstruktion liegt darin, dass die Interessen der Individuen in Wirklichkeit nicht nur im engeren Sinne eigennützig sind, sondern dass sie weit über ihr eigenes individuelles Leben hinausgehen. Menschen haben Interesse daran, dass über ihr individuelles Dasein hinaus die von ihnen geschätzte Gesellschaft samt ihrer Kultur fortbesteht.

Deshalb wünschen sich die Individuen Nachkommen, fördern sie die nachwachsenden Generationen, machen Vermächtnisse und Stiftungen über ihren Tod hinaus oder opfern sich für die Gemeinschaft auf.

Menschen sind nicht so borniert individualistisch und egozentrisch. Ein Hinweis darauf gibt bereits die Biologie des Menschen: Jedes Individuum trägt in sich einen zweiten Satz Gene, die er an seine Nachkommenschaft vererbt, ohne dass diese Gene bei ihm selber zur Wirkung gekommen wären und ihn geprägt hätten.

Wenn man dies berücksichtigt und den Begriff des Interesses nicht unzulässig verengt, dann sehe ich keine Probleme, Deine obige Frage zu bejahen.

Es grüßt Dich und alle an altmodischen Begriffen wie „Gemeinwohl“ Interessierten Eberhard.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 05. Nov. 2005, 15:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

ich denke, das ist eine sehr gute Synthese, mit der man leben kann und die mit realem menschlichem Entscheiden und Handeln und seinen Motiven begründet ist.

Ein junger, mehr oder minder legaler Einwanderer aus armen Gegenden kommt zu uns in der Hoffnung, hier besser leben zu können. Aber dazu kommt die Hoffnung, dass er hier eine eigene Familie gründen kann, die eine bessere Zukunft hat als in seiner Heimat. Und dazu kommt die Hoffnung, seine daheim gebliebene Familie finanziell unterstützen zu können, damit die besser leben kann. Und weil das so ist, wird die Reise, wenn irgend möglich, von seiner daheim gebliebenen Familie mitfinanziert. Menschen handeln und entscheiden nun mal so.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 05. Nov. 2005, 18:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,
das geht ja in einem Affentempo weiter!

@ Abrazo (zu #148),
danke für die Zustimmung, dass die Vertragstheorie für das Zusammenwirken zwischen Individuum und Gemeinschaft nicht haltbar ist, weil das Individuum beiden Parteien zugehört (meinem #147).
Deine Bedenken, dass jeglichem Rechtfertigungszweck die Richtung "Ideologie" anhaftet, kann ich nachvollziehen. Ich stimme Dir zu, dass trotzdem der Problematik nachgegangen werden darf, die du wie folgt zusammenfasst: <Man kann der Ethik nicht entfliehen. Und das ist auch zwangsläufig so.>

@ Eberhard (zu #152),
Deine Kritik <Das ist nicht schlüssig> an Abrazo (#148) zielt darauf ab, dass Du Abrazo sagst: "Es gibt doch noch andere Begründungen!" Da magst Du ja recht haben, aber ich bin der Auffassung, dass Abrazos Überlegung doch noch gewürdigt werden sollte! Und zwar wie folgt: "Eine letzte Begründung, die in der wahrnehmbaren Welt liegt" ist hinreichend! Wobei das logische <Hinreichend> gemeint ist, das bekanntlich stärker ist als das logische <Notwendig>. Da sich Deine Argumente um das logisch schwächere drehen, gehe ich nicht darauf ein. Denn:


Falls es also gelingen sollte, eine Begründung in der wahrnehmbaren Welt zu finden, ist das Feld gedüngt (sprich: der Mist geführt) und mit etwas Geduld und Ausdauer wird's auch was zu ernten geben! Diesen Gedankengang verfolgte ich in den Beiträgen in denen ich die arrogante Kurzform <Fundamental-Ethik> kreiert habe. In der Meinung, dass gemeinsame Erlebnisse ein gutes Fundament sind für einen gemeinsamen Willen, habe ich versucht aufzuzeigen, dass solche gemeinsame Erlebnisse in der wahrnehmbaren Welt nicht ausgeschlossen sind. (siehe #115,#121, #123)

@Urs, (zu #151)
Danke für Deine Ausführungen. Ich schnuppere da an persönlichem Bildungsneuland.

Danke & Gruss --- Euer Alltag

p.s.: Abrazo, was heisst <imho>? Habe da offensichtlich eine Bildungslücke!


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 06. Nov. 2005, 02:42 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!



Quote:Wenn du, Urs, das Wort Ethik im Sinne von Ethos = Sitte verwendest, fragt sich, welches Wort du dann für die Grundnormen (z.B. nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen) nehmen willst.



Nach meinem Verständnis wäre eine „Grundnorm“ ein ethisches Prinzip (ein „Grundsatz“), dessen Funktion nur darin besteht, alle einzelnen Normen systematisch miteinander zu verbinden. Berühmtestes Beispiel: Kants kategorischer Imperativ. Die Grundnorm kann einerseits „entfaltet“ werden, indem man daraus weitere regionale Prinzipien ableitet (so gewinnt Kant sein Rechtsprinzip aus einer Anwendung des kategorischen Imperativs auf „äußere Handlungen“), es kann aber auch umgekehrt dazu dienen, vorkommende Normen zu beurteilen.
In einem weniger strengen Sinne besteht auch z.B. unser Grundgesetz aus „Grundnormen“. Ich kann nicht beurteilen, ob seine verschiedenen Paragraphen alle so konsistent sind, dass sie sich aus einem Prinzip ableiten lassen. Aber jedenfalls dient das Grundgesetz bei uns wirklich als Kriterium für die Normenkontrolle.

Die Imperative, die Du als Beispiel für Grundnormen anführst, würde ich keine echten Normen – also „Scheinnormen“ - nennen. Wir haben diesen Punkt schon berührt, als wir über solche Sätze diskutierten wie „Man soll vor der Ehe keinen Sex haben.“ Damals habe ich gemeint, dass eine echte Norm sich an einen bestimmten Kreis von Adressaten wenden muss. Inzwischen (durch Lektüre belehrt) würde ich noch hinzufügen, dass eine Norm sich auch auf eine eindeutige, aber wiederkehrende Situation – ein Situationsschema - beziehen muss.

(Fingiertes, aber realitätsnahes) Beispiel: „Unmittelbare Vorgesetzte und Inhaber höherer Dienstgrade sind militärisch zu grüßen.“ Aus dieser knappen Formel ergibt sich, dass jeder Soldat die (anderswo normierte) Grußformel aussprechen und die dazugehörige Körperhaltung einnehmen soll, wann immer er einem seiner unmittelbaren Vorgesetzen oder einem sonstigen höherrangigen Soldaten - im Dienst - begegnet. Jeder Soldat – gleichgültig, welchen Rang er selbst einnimmt – hat und kennt seine Vorgesetzten und weiß auch, welche Dienstgrade über dem seinen rangieren. Somit ist diese Norm für jeden Soldaten eindeutig verständlich und anwendbar.

Das gilt für „Du sollst nicht töten!“ keineswegs. Für Soldaten im Ernstfall oder für bestimmte Justizbeamte in manchen Bundesstaaten der USA z.B. gehört das Töten zu den Dienstpflichten. Sollen sie sich von diesem Gebot aus dem Dekalog angesprochen fühlen oder nicht? Gelten die Zehn Gebote nur für gläubige Juden und Christen? Unter allen Umständen? Aber auch Israel hat eine Armee. Und in die Koppelschlösser der Wehrmachtssoldaten war eingeprägt: „Gott mit uns!“


Was Du gegen mein Verständnis von „Ethos“ hast, verstehe ich nicht recht - zumal Du selbst immer wieder betonst, dass wir keine isolierten Individuen sind, sondern immer in historisch entstandene und sich verändernde Lebensformen hineingeboren und in ihrem Sinne erzogen werden.


Quote:Denn jede letzte Begründung kann immer nur in der wahrnehmbaren Welt liegen. Was anderes haben wir nicht. Irgendwo müssen also die Begründungen für unsere Werte aufhören und im Hinweis auf eine Tatsache enden, die nicht erdacht werden kann, sondern die sich zeigt: eben der humane ethische Willen in bestimmten konkreten Situationen. Davon kann man alles mögliche ableiten und abstrahieren, er selbst aber ist nicht ableitbar und abstrahierbar.



Eberhard hat dazu schon Kritisches geschrieben, das ich unterstütze. –

Aber es wäre hinzuzufügen: Zwar sind Normen insofern etwas Faktisches, als es an jedem Ort auf der Erde und zu jedem Zeitpunkt irgendwelche anerkannte Normen gibt. Aber die Normen selbst beziehen sich nicht auf Fakten, sondern auf zukünftige Handlungen. Ihre Funktion besteht darin, künftige Handlungen an die bisherige Praxis anzuschließen, also Ordnungsstrukturen in die Zukunft „fortzuschreiben“. Werden Normen geändert - siehe die Gesetzgebung -, so soll mit einer bestehenden Ordnung an bestimmten Punkten ausdrücklich gebrochen werden.

Nun finde ich ziemlich klar, dass eine solche angestrebte Veränderung nicht einfach aus der „wahrnehmbaren Welt“ begründet werden kann, sondern aus menschlichen Bewertungen der Welt, wie sie (bisher) ist. Und das macht darauf aufmerksam, dass auch die bestehende Ordnung nicht „einfach so ist, wie sie ist“, sondern stets in irgendeiner Weise eine gewollte oder nicht gewollte Ordnung ist. Nur erfahren wir bei eingespielten, eingewöhnten Lebensformen nicht immerzu unseren ausdrücklichen Willen oder unsere Bejahung. Es wäre ein absurdes, völlig verkrampftes Leben, wenn wir uns bei jeder noch so kleinen Routinehandlung neu entschieden und uns fragten, ob wir sie „wirklich wollen“. Entscheidung und „Wille“ treten nur auf, wo wir entweder über keine Routine verfügen oder wo wir mit einer Routine nicht einverstanden sind. Und es ist wohl zuzugeben, dass jederzeit der Fall eintreten kann, dass wir mit einer gängigen Praxis nicht einverstanden sind.

Die Gründe für unser Einverständnis oder unsere abweichende Bewertung können vielfältig und schwer durchschaubar sein, aber sie lassen sich nicht schlichtweg aus der „wahrnehmbaren Welt“ ableiten.


So, hier muss ich einfach abbrechen. Ich gehöre ins Bett.

Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 06. Nov. 2005, 11:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo abrazo,

in Deiner Kritik an den vertragstheoretischen Kriterien für legitime soziale Ordnungen(Hätten freie Individuen im Urzustand einer solchen Ordnung zugestimmt? bzw. Hätte eine solche Ordnung aus einer vertraglichen Übereinkunft freier Individuen hervorgehen können?) schreibst Du:

“Was ist das Gemeinsame zwischen beiden Annahmen? Der Konjunktiv. Das heißt, argumentiert wird mit einer fiktiven Situation. Was begründet eine fiktive Situation? Das Denken. Wer denkt? Ein Subjekt. Also ist eine fiktive Situation immer subjektiv; ich könnte auch sagen: sie entspricht dem Wunschdenken. Damit etwas zu begründen halte ich nun mal für unsauber.“

Diesen Gedankengang kann ich nicht nachvollziehen. Richtig ist, dass eine fiktive Situation etwas von einem Subjekt Erdachtes ist. Aber dass eine erdachte Situation immer dem Wunschdenken entspricht, folgt daraus keineswegs.

Ein Gegenbeispiel kann dies vielleicht am besten demonstrieren.

Wenn ich überlege, ob ich mir für das letzte Geld in meinem Portemonnaie lieber eine Kinokarte oder eine Pizza kaufen soll, dann denke ich mir fiktive Situationen aus, die im Konjunktiv formuliert sind, wie z.B.: „Wenn ich die Kinokarte kaufen würde, dann würde ich erst kurz vor Mitternacht aus dem Kino kommen und hätte inzwischen einen ziemlichen Hunger“ und dergleichen.

Solche Erwägungen verschiedener Möglichkeiten im Konjunktiv sind keineswegs Wunschdenken und ihre Verwendung im Rahmen einer Argumentation führt keineswegs zu logisch unsauberen Begründungen.

Zu der Frage, ob sich die Gleichheit vor dem Gesetz aus der Konstruktion eines freiwilligen Vertragsabschlusses ableiten lässt, schreibst Du:

„Im Rudel verlangt der Mitläufer selbstverständlich nicht die gleichen Rechte wie der Anführer. Er folgt - und dafür erhält er Sicherheit. Willst du behaupten, dass diese Alternative nicht tatsächlich oft gewählt wird?“

Ich halte es ebenfalls für fraglich, ob sich die Gleichheit vor dem Gesetz vertragstheoretisch herleiten lässt. Die Begründung für diesen Zweifel hatte ich ja bereits mit dem Hinweis auf die möglicherweise ungleiche Verhandlungsmacht gegeben.

Denken wir uns mal in die Fabelwelt hinein und nehmen an, dass die Tiere, vom Löwen über den Hirsch bis hin zum Hasen und der Maus, ihren rechtlosen Zustand durch einen Gesellschaftsvertrag beenden wollen. Für den Hasen wäre es sicher eine Verbesserung seiner Lage, wenn er sich gegenüber Wölfen, Hunden u.a. unter den Schutz des Löwen begeben könnte, selbst wenn er dann nicht rechtlich dem Löwen gleichgestellt ist.

Deshalb kann für mich der Vertrag auch nicht der Ursprung allgemeingültiger Normen sein.

Diese Kritik gilt m.E. jedoch nicht für die diskurstheoretische Normenbegründung, zu der ich neige. Bei der Suche nach einem zwangfreien Konsens kann der Löwe seine überlegene Kraft nicht als Argument für Sonderrechte einbringen, denn der Löwe hat ja kein bereits bestehendes Recht, diese Kraft einzusetzen. Auch über den Einsatz seiner Kraft wäre ja ein rein argumentativer, zwangloser Konsens herzustellen.

Deshalb ergibt sich für mich aus der Orientierung aller an einem zwangfreien Konsens die Schlussfolgerung, dass nur solche Normen konsensfähig sind, bei denen die Interessen aller Beteiligten unparteiisch berücksichtigt werden.

Ich ordne solche theoretischen Konstruktionen nicht unter die Rubrik: Was-wäre-wenn Spielchen ein. Du schreibst:

“Was sind einsichtige Argumente, die einer zwanglos nachvollziehen kann? Argumente, die unmittelbar auf die wahrnehmbare Welt verweisen. Tatsachen. … Nicht, wie Mensch und
Welt sein sollen, zählt, sondern wie sie ist.“

Ich sehe die Beziehung zwischen Tatsachen und Normen etwas anders. Für mich ist die Erforschung der Welt, wie sie ist, Aufgabe der empirischen Wissenschaften und hat sich an den Methoden zu orientieren, die für diese Art von Fragen entwickelt wurden. Hier ist nüchterner Realismus angesagt.

Aber aus noch so vielen Tatsachen lässt sich logisch keine einzige Norm ableiten.

Und es gibt zahlreiche Arten von Argumenten, die keine Verweise auf Tatsachen sind. In der gesamten Logik und Mathematik kommen z.B. keine empirischen Argumente vor.

Mit diesen Worten zum Sonntag seid alle gegrüßt von Eberhard.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 06. Nov. 2005, 13:35 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Alltag, hallo Eberhard!


Alltag hat m.E. hiermit durchaus auf etwas Wichtiges hingewiesen:


Quote:Da jedes Individuum auch Teil der Gemeinschaft ist, besteht doch im voraus bereits ein Abhängigkeitsverhältnis. Dieses (von Natur aus bestehende) Abhängigkeitsverhältnis ist doch stärker als die Bindung, die erst infolge eines Vertrages entsteht. Daher ist doch zu Fragen, ob das Model "Vertrag" dem Problem Gemein- und Individualwohl qualitativ angemessen ist?



Eberhards Antwort darauf ist m.E. auch richtig:


Quote:Dein Argument gegen die vertragstheoretische Begründung der Rechtsordnung trifft nicht, denn die gemeinschaftliche Ordnung wird dort ja erst durch die vertragliche Übereinkunft der Einzelnen hergestellt. Deshalb kann die wechselseitige Abhängigkeit der Individuen in der Gemeinschaft kein Argument gegen die unabhängige Entscheidung der Individuen für den Gesellschaftsvertrag sein.



Aber: Wechselseitige Abhängigkeit besteht zwischen den Individuen nicht erst im Rechtszustand. Die wechselseitige Abhängigkeit innerhalb der Rechtsordnung ist eine Abhängigkeit zwischen Rechtspersonen. Aber wir sind eben nicht nur Rechtspersonen. Um uneingeschränkt geschäftsfähige Rechtspersonen zu werden, sind wir auf viele Voraussetzungen angewiesen, die die Rechtsordnung selbst nicht erschaffen kann. Ich hatte das schon so formuliert, dass das Recht „nicht autark“ sei. Es ist auf Formen der Gemeinschaft angewiesen, die nicht nach dem Modell des freiwilligen Vertrags geformt und entstanden sind.

Zwar zieht ein Rechtsstaat jede Form von Gemeinschaft an sich, schützt oder regelt sie, wenn erforderlich. So bekommen auch ursprünglich nicht „auf dem Rechtsweg“ entstandene Gemeinschaften einen Stellenwert in der Rechtsordnung. So steht nicht nur das unmündige Kind unter rechtlichem Schutz, sondern auch die Familie, Partnerschaften, regionale Lebensformen, Glaubensgemeinschaften, politische Parteien, Gewerkschaften, „Interessengemeinschaften“ usw. Alle diese Zusammenschlüsse haben inzwischen auch eine Rechtsform, aber diese Rechtsform macht nicht ihr „Wesen“ aus, d.h. ist nicht das, was sie entstehen lässt und zusammenhält, sondern nur das, was sie mit der rechtsstaatlichen Ordnung insgesamt verträglich macht. Dass der Staat hier überall regelnd oder schützend eingreifen darf, ist Ausdruck seiner „Souveränität“. Aber ich denke, es ist leicht zu sehen, dass diese Souveränität nicht mit Autarkie verwechselt werden kann, dass also das Recht nur ein gesellschaftliches „System“ neben anderen gesellschaftlichen Systemen ist.

Außerdem gibt es zwischen verschiedenen Staaten, die alle nach dem Modell „Republik“ geordnet sind, doch erhebliche Unterschiede. Unsere föderale „Bundesrepublik“ etwa nimmt sehr stark Rücksicht auf die historisch entstandenen „Länder“, erkennt den Ländern ausdrücklich die „Kulturhoheit“ zu, während Frankreich wegen seiner ganz anders verlaufenen Geschichte viel „zentralistischer“ verfasst ist usw. - Kurz, eine Rechtsordnung ist immer eine Ordnung von etwas, das selbst nicht wieder aus Recht besteht oder aus dem Recht hervorgegangen ist. Oder systemtheoretisch ausgedrückt: Das ausdifferenzierte Rechtssystem kann nur bestehen in Abhängigkeit von und in Beziehung auf eine „Umwelt“, und zwar eine Umwelt, in der es auch andersartige Systeme gibt – wobei diese Systeme keineswegs durch die (räumlichen und rechtlichen) Grenzen der Staaten eingeschränkt sind.


Was bedeutet es, wenn der Staat schützend oder regelnd in gesellschaftliche Prozesse eingreift? Was wird da jeweils „geschützt“ – und wogegen? Doch offenbar nicht nur die Interessen einzelner Individuen, sondern auch die von „Interessengemeinschaften“. Und sie werden dagegen geschützt, dass die Abhängigkeiten, in denen sie sich jeweils befinden, von anderen ausgenutzt werden – damit sie ihre gemeinschaftlichen Interessen ungestört weiter verfolgen können. - So werden nicht nur Kinder gegen ihre Eltern geschützt, sondern auch Betriebsräte gegen die Unternehmensleitungen. Oder es werden Minderheiten (z.B. religiöse) gegen Diskriminierung geschützt oder Mehrheiten gegen die Übermächtigung durch ökonomisch starke Minderheiten.


Fazit: Die Rechtsordnung selbst erkennt an, dass es Gemeinschaften gibt, die jeweils ein eigenständiges „Gut“ anstreben und dabei auch eigenständig verfasst sind, also eigenständige Normen und Bewertungsmaßstäbe haben. Unser „Pluralismus“ ist eben ganz wesentlich ein Pluralismus von Gemeinschaften und Gemeinschaftsformen. Allerdings ist es in unseren „westlichen“ Republiken in der Tat so, dass den Individuen gewisse allgemeine und unveräußerliche Rechte zugestanden werden, die dann im „Konzert“ der Lebensformen letztlich immer Vorrang haben, wenn es zum Konflikt kommt.

Also, ich plädiere ganz entschieden dafür, den Gemeinwohlbegriff so differenziert zu verstehen, dass er sich auf den Pluralismus der Gemeinschaften anwenden lässt. Es kann nicht genügen, nur das Rechtsmodell im Blick zu haben und es zu generalisieren. – Diese Differenzierung verhindert dann allerdings, dass man eine für alle Gemeinschaften gültige „Formel“ aufstellt, nach der sich das Gemeinwohl immer bestimmen lässt.


Es grüßt Euch
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 06. Nov. 2005, 15:10 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Bezug: #4

Hi, Urs,

ich weiß, dass diese Ansicht weit verbreitet ist, vielleicht sogar die herrschende ist, ich halte sie trotzdem für falsch.

Ich behaupte: jede Begründungskette hat irgendwo ein Ende und das Ende ist eine Tatsache in der wahrnehmbaren Welt. Das gilt genau so für die Ethik.

Wenn ich von Herrn Hund rede, kannst du fragen: was meinst du? Dann kann ich dir den Herrn mit allen Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen beschreiben. Kannste fragen, ob es denn das, was ich beschreibe, überhaupt gibt. Die Fragen kannst du weiter führen bis zu dem Punkt, woher wir denn wissen können, dass es die Welt gibt. Dann sage ich dir, das ist Unsinn, was du da sagst, denn du kannst nicht fragen, ob es die Welt gibt ohne vorauszusetzen, dass es sie gibt. Wenn es die Welt nicht gäbe, könntest du an ihrer Existenz nicht zweifeln. Gut. Aber damit kannst du immer noch an der Existenz von Hunden zweifeln. Wie löst man diesen Zweifel? Nicht, indem man argumentiert, sondern indem man zeigt: siehst du das Objekt da? - Ja. - Das ist ein Hund. Das Ende der Begründungen ist also das, was sich zeigt.

Entsprechend sage ich: das Ende der Begründungen unserer Normen ist das, was sich zeigt, und das nenne ich die Ethik.

Wer an Gott/Götter glaubt, hat damit kein Problem. Denn der sagt, das Ende der Begründungen unserer Normen ist das göttliche Gebot, auf irgend eine Weise an seine Kinder / Diener / Priester / Propheten übermittelt. Problem gelöst.

Wer aber die Existenz eines Göttlichen bezweifelt oder einen Kommunikationsweg, muss sich mit der Begründung der Normen befassen.

Üblich ist, die Normen qua Vernunft zu begründen oder über unsere gesellschaftliche Entwicklung. Das funktioniert aber nur so lange, wie wir unsere Zivilisation als selbstverständlich und als einzige Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens voraussetzen. Sobald wir andere Möglichkeiten sehen, funktioniert das nicht mehr. Es funktioniert spätestens nicht mehr, seit es den Nationalsozialismus gibt, denn der ist eine Alternative.

Der Nationalsozialismus gründet letztlich auf der Biologie, also auf den biologischen Steuerungen, den Gefühlen, und die sind evident. Die kann man wahrnehmen. Den ganzen Bereich Humanität / Ethik / Moral erklärt er zu einer Lüge, insinuiert von den Juden zwecks Selbsterhalt einer ansonsten unterlegenen, nur durch Schmarotzen an anderen Völkern überlebensfähigen Menschenabart. Du sollst nicht töten heißt danach, du sollst die nicht töten, die dich aussaugen und von dir leben. Ein egoistisches Zweckgebot derjenigen, die auf sich gestellt nicht überlebensfähig sind und dazu noch die Weiterentwicklung der Fähigen verhindert, auf dass sie nicht so stark werden, dass sie sich doch über die 'Humanitätslüge' hinwegsetzen können.

Wie gesagt, hier enden die Begründungen in Evidenzen. Evidenzen sind stärker und einleuchtender als Glauben und Vernunft.

Der Schwachpunkt dieser Theorie ist, ist die Humanität eine Lüge oder nicht. Darauf mit der Vernunft, z.B. Kant zu antworten, zieht nicht. Denn die Frage ist, warum soll ich der Vernunft folgen, wenn meine Natur etwas anderes sagt. Also warum soll ich den Kerl nicht umbringen, wenn ich vom Gefühl her der Auffassung bin, dass für uns beide kein Platz auf dieser Erde ist. Ist für den Täter, das Individuum, kein Problem. Wohl aber für die Beobachter. Die reagieren nämlich auf das Ergebnis mit Abscheu und sehen deswegen zu, den Täter dingfest zu machen. Dieser Abscheu aber ist weder logisch noch vernünftig herleitbar, der ist. Der zeigt sich. Der ist evident. Dass er sich zeigt, scheint mir nicht zu einigen Kulturen zu gehören, sondern es scheint mir doch eine allgemein menschliche Eigenart zu sein.

Wenn du nun GG Art. 2 (2) nimmst: "jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" und mich fragst, wie willste dat begründen, würde ich dir entgegnen, weil wir das so wollen. Und wir wollen es deswegen so, weil das zu unserem Wesen als Menschen gehört. Kannste zeigen.

Mir scheint, wir haben mit der Ethik, also den Grundnormen, immer dann ein Problem, wenn wir das Individuum betrachten. Hier verweise ich auf unsere Diskussion über Möglichkeiten: das Individuum hat zwar die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen, aber warum soll es die vernünftige oder die menschliche Alternative wählen, wenn es zur biologischen viel mehr Lust hat und die für ihn auch von Vorteil ist. Wenn er aber diese Alternative wählt, tritt er damit aus der humanen Gemeinschaft aus, denn die lehnt das ab. Das Problem ist also für den Täter nicht die Tat, sondern die Isolation, durch die er auf genau den reinen Individualzustand geworfen wird, von dem manche Moraltheorien überhaupt erst ausgehen. Was mich nun zu der Frage bringt: ist deren Ansatz überhaupt richtig? Ist es überhaupt möglich, Ethik, Moral, Normen zu begründen, ohne den Menschen als vergesellschaftetes Wesen zu betrachten, nicht, weil er sich so entwickelt hat, sondern weil das nun mal zu seinem Wesen gehört?

Die These lautet: Ethik ist eine Eigenart der Menschheit, sie ist evident und zeigt sich in den Situationen, in denen ein Individuum (oder eine Gruppe) davon abweicht. Woraus folgt, je mehr ein Individuum sich als Teil der Menschheit begreift, desto mehr wird es sich im Konfliktfall für die ethische Alternative entscheiden.

Rechtssysteme (codifizierte Normen) werden letztlich aus den ethischen Evidenzen abgeleitet und durch sie begründet. Dass es dabei auch zu Differenzen und Fehlern kommen kann, ist klar - aber vom sozialen Aspekt aus betrachtet zeigt es auch, warum sie notwendig sind. Denn was ethisch verwerflich ist, ist zwar den Zeugen qua Evidenz klar, nicht aber notwendigerweise dem handelnden Individuum. Weswegen man ihm vorher beibringt, was es darf und was nicht.

Wenn wir nun die Gemeinschaft als das Primäre sehen, dann ist sie es, die das Wohl des Individuums einigermaßen garantiert - über die von ihr geschaffenen Normen, begründet letztlich durch die Ethik. Individuen, die dagegen verstoßen, werden von der Gemeinschaft - je nach Schwere der Tat - 'rausgeschmissen. Das würde, unabhängig von dem, was als solches definiert wird, bedeuten, dass auch Individuen oder gar Gruppen, die gegen das Gemeinwohl verstoßen (was immer das Wohl anderer Individuen ist), Gefahr laufen, von der Gemeinschaft abgestoßen zu werden; das könnte dem Interesse solcher Individuen oder Gruppen durchaus widersprechen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 06. Nov. 2005, 17:51 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,

Lieber Urs danke, dass Du den Gedanken, betreffs des Abhängigkeitsverhältnisses von Individuum und Gemeinschaft, nochmals aufnimmst und zugleich eingehst auf Eberhards Gegenargument.

Lieber Eberhard, ich bin auf Dein (soeben angesprochenes) Gegenargument noch nicht eingegangen, weil ich es ganz einfach noch nicht verstanden hatte. Die Erörterungen von Urs bringen mich aber weiter.

@All,
Vielleicht hilft uns ein einschlägiges Beispiel für ein eigenständiges, schützenswertes "Gut" weiter. Ich denke an <Treu und Glaube>. Es ist ein Gut, das sowohl dem Gemeinwohl als auch dem Individualwohl angehört: siehe /1/! <Treu und Glaube> ist also das Fundament für dauerhaftes Zusammenleben.

Nach meinem Verständnis ist <Treu und Glaube> jedoch keine Norm. Denn es wird nicht weiter definiert oder erörtert, sondern als selbsterklärend stehen gelassen. Obwohl oder weil es damit sehr schwammig bleibt, ist es in juristischen Prozessen eines der schlagkräftigsten Argumente. - Ich denke wir können an diesem beispielhaften Bezug zur Praxis, unsere Erwartungshaltung beim Problem <Gemein- und Individualwohl> messen.

Lieber Abrazo, der Bezug zur Praxis ist Teil der wahrnehmbaren Welt, oder?

In Treu und Glaube --- Euer Alltag :-)


/1/ In der CH Verfassung heisst es in:
Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns
1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2 Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig
sein.
3 Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.

Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben
Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 06. Nov. 2005, 19:08 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Tut mir leid, manche Deiner Ansichten sind in meinen Augen so verquer, dass ich an ein paar grundsätzlichen Erläuterungen nicht vorbei komme.

Quote:Das Ende der Begründungen ist also das, was sich zeigt.

Das ist richtig. Aber erstens muss es, damit etwas „sich zeigt“, jemanden geben, dem es sich zeigt. Und zweitens muss das, was „sich zeigt“, keineswegs eine „Tatsache in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“ sein. Es kann auch – wie Eberhard schon sagte - ein abstrakter Sachverhalt sein.

Darum stelle ich richtig: Das Ende der Begründung ist die unmittelbare Einsicht, dass sich etwas so und so verhält.


Wer braucht „Begründungen“ dafür, dass etwas sich so und nicht anders verhält? Jemand, der einen behaupteten Sachverhalt nicht einsieht. Wie hilft man ihm, den Sachverhalt einzusehen? Indem man ihn von einer Einsicht, die er hat, schrittweise zu dem fraglichen Sachverhalt hinführt.

Beispiel: Jemand findet „evident“, dass 1 + 1 = 2, aber nicht, dass 2 + 2 = 4. Wie kann man ihm zeigen, dass auch dieser zweite Satz „evident“ ist? Nun, man sagt z.B.: 1 + 1 = 2; 2 + 1 = 3; 3 + 1 = 4. Hier wird ihm also zuerst gezeigt, wie man durch wiederholte Addition von 1 bis zur 4 kommt. Und nun kann er den Schluss nachvollziehen: „Wenn 1 + 1 = 2 und 2 + 1 + 1 = 4, dann gilt auch 2 + 2 = 4.“
So hat man also den nicht evidenten Sachverhalt 2 + 2 = 4 schrittweise auf den evidenten Sachverhalt 1 + 1 = 2 „zurückgeführt“. Nun „zeigt sich“, dass 2 + 2 = 4.

Halten wir fest:

1. „Evident“ ist ein Sachverhalt nicht „an sich“, sondern immer für jemanden. „Evidenz“ ist also ein Wort für eine Relation zwischen einem Sachverhalt und einem „Subjekt“.

2. Eine Begründung braucht zwar nur derjenige, der etwas nicht unmittelbar einsieht. Aber die Begründung, die man ihm gibt, ist nicht nur für ihn persönlich gültig. Sondern diese Schrittfolge kann jeder nachvollziehen. Darum findet eine Begründung nur dann statt, wenn die „Evidenz“, in der sie endet, eine Evidenz für jedermann ist.

3. „Tatsachen in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“ haben einen kleinen Haken. Denn sinnliche Wahrnehmungen sind immer individuelle Wahrnehmungen, werden also von diesem oder jenem Individuum gemacht, folglich immer mit gewissen Varianzen. Außerdem sind sie flüchtig. Dass ein Blitz da und da eingeschlagen hat, kann ich allein dadurch verpassen, dass ich für eine Sekunde die Augen geschlossen halte. – Was heißt das für das Begründungsproblem? Dass sinnliche Wahrnehmungen nur dann in für jedermann gültige Begründungen eingehen können, wenn sie von jedermann höchstpersönlich nachvollzogen werden könnten. Diese Nachvollziehbarkeit muss unbedingt sichergestellt sein, weil man sonst gar nicht wissen kann, ob etwas eine „Tatsache in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“ ist.

Die Vorkehrungen, die getroffen werden müssen, um die Nachvollziehbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung zu sichern, gehören offensichtlich nicht zu den wahrgenommenen Sachverhalten selbst. Diese Vorkehrungen müssen die erkennenden Subjekte leisten und - untereinander verabreden. Erst wenn sie erfolgreich getroffen sind und wenn alle, die es angeht, sich über den Sachverhalt verständigt haben, dann kann man sagen: „So isses einfach.“ – „Das ist eine Tatsache“. – „Das und das zeigt sich.“ Also: Wenn eine Tatsache „sich zeigt“, dann bedeutet das: sie zeigt sich unter gleichen Bedingungen jedermann immer gleich.


Wenn dies eine zutreffende Erläuterung von „Begründung“ im Allgemeinen ist, dann muss sie auch für die Begründung von Normen gelten.

Nun sagst Du:


Quote:Entsprechend sage ich: das Ende der Begründungen unserer Normen ist das, was sich zeigt, und das nenne ich die Ethik.



Wenn Du meine Erläuterung von „Begründung“ akzeptierst, müsstest Du auch akzeptieren: Eine Norm kann dann als begründet gelten, wenn ihre Begründung von jedem eingesehen werden kann.

Eine Norm gilt ja, wie gesagt, nicht nur für eine einzelne Person, sondern für bestimmte Personen in einer typischen Situation. (Z.B. eine bestimmte Verkehrsregel für das Linksabbiegen: Sie gilt für jeden Verkehrsteilnehmer, der irgendwo links abbiegen will.) Und folglich muss die Begründung mindestens so allgemein sein, dass jeder, der von der Norm betroffen ist, sie nachvollziehen könnte.

Und jene theoretischen Vorkehrungen, die man zu einer solchen allgemeinen Begründung von Normen treffen müsste, würden dann zusammengenommen den Bereich der Philosophie ausmachen, den man gemeinhin „Ethik“ nennt.

Sicher: Normen müssen nicht notwendigerweise philosophisch begründet sein. Sie können ganz unbegründet sein und trotzdem befolgt werden. (Begründungen brauchen ja, wie oben gesagt, immer nur die Uneinsichtigen.) Normen können auch durch göttliche Gebote begründet sein – zumindest für diejenigen, denen ein „Gott will es so.“ genügt. Sie können auch willkürliche Diktate von Tyrannen sein, die mit Gewalt durchgesetzt werden. Und sicher sind Kerker, Folter, Tod sehr nachvollziehbare „Argumente“ für den Gehorsam. Aber es sind nicht die Art von Argumenten, mit denen die Philosophie Normen begründet.

Übrigens „zeigt sich“ ja gerade in diktatorischen Regimes immer wieder, dass viele Menschen sich auch von der Drohung mit Kerker, Folter, Tod nicht zum Gehorsam pressen lassen. Zwar sagt das Regime: „Das ist hier geltendes Gesetz – Vogel friss oder stirb!“, aber die Uneinsichtigen lassen sich von diesem „So ist es einfach!“ offenbar nicht beeindrucken. Ihnen beweist das nix.

Und das macht uns einmal mehr darauf aufmerksam, dass schiere Fakten niemals etwas begründen, sondern immer nur die Einsicht. Und Einsicht lässt sich nicht erzwingen, sie ist immer „spontan“.

Das ist das Schöne an der „vernünftigen Einsicht“. Allerdings ist es immer wieder auch eine Quelle der Frustration, wenn man diskutiert. Man kann sich „den Mund fusselig“ reden – der andere will es einfach nicht einsehen. Dagegen ist man machtlos...


Es grüßt Dich
Urs


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 06. Nov. 2005, 19:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Bezug: #5

Hi,

Eberhard, deine Analogie hinkt insofern, als dass du noch Geld im Portmonee hast. So, wie wir in einer organisierten Gesellschaft leben. Das, was ich in meinem Kontext meinte, war, welche Überlegungen würdest du denn anstellen, wenn du kein Geld im Portmonee hättest. Dann merkt man, wie unsinnig solche Überlegungen sind - denn du bist nun mal nicht in der Situation, und alle Überlegungen, wie du denn jetzt, wo du nicht in dieser Situation wärest, entscheiden würdest, wenn du in dieser Situation wärest, sind nun wirklich fiktiv, da du dir die Situation, über die du nachdenkst, vielleicht noch nicht einmal realistisch vorstellen kannst.

Die Tatsachen zu erforschen ist zweifellos Aufgabe der empirischen Wissenschaften. Aber kann eine Philosophie eine brauchbare und überzeugende Theorie entwickeln, ohne die Ergebnisse der Empirie zur Kenntnis zu nehmen, sie teils kritisch zu durchleuchten, teils, wenn sie der Kritik stand halten, aufzunehmen, auf gemeinsame Prinzipien zurück zu führen bzw. Prinzipien aus ihnen zu entwickeln? Und ist es nicht auch Aufgabe der Philosophie zu prüfen, ob Theorien insofern wahr sind, als dass sie Tatsachen nicht widersprechen?

Wir leben in einer komplizierten organisierten Gesellschaft. Und wir könnten gar nicht leben, weil wir mit nichts zu Potte kämen, wenn wir jede einzelne Handlung daraufhin überdenken würden, was wir denn nun wirklich wollen; mal abgesehen davon, dass das Subjekt, das Individuum sich dabei durchaus irren kann, entweder, indem es die Situation verkennt, oder indem es kurzsichtig seinen persönlichen oder natürlichen Impulsen folgt. Da stimme ich dir also zu. Ich lehne also ganz und gar nicht ab, dass wir Normen im Diskurs und im Konsens entwickeln müssen, im Gegenteil. Ich will aber, dass ein solcher Diskurs auf wahren, evident wahren Grundaussagen aufbaut. Sonst wäre er nämlich sinnlos, weil zum einen eine mögliche Norm tatsachenfremd, irreal wäre, zum anderen dürfte dann wohl kaum ein Konsens erzielt werden können; es könnte immer nur ein Konsens derjenigen sein, die sich die Welt und die Menschen so wünschen, während der, der unter anderen Verhältnissen lebt, ihn als unmöglich und unsinnig ablehnt.

Darum weise ich als Basis eines solchen Diskurses auf zwei imho (= in my humble opinion ;-)) evidente Aussagen hin.

1. Unwahr ist, dass der Mensch von Natur aus frei ist. Er ist den Zwängen unterworfen, die die Biologie zwecks Erhalt seines Lebens vorgibt. Der Mensch ist nur potentiell frei, weil er ein reflexionsfähiges Wesen ist. Wer den freien Menschen will, und das heißt, den Menschen, der zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann, muss dafür sorgen, dass er seine Grundbedürfnisse so befriedigen kann, dass er überhaupt die Muße hat, Entscheidungen kritisch zu überdenken. Wenn das für unsere Verhältnisse nicht zutrifft, so gibt es doch Verhältnisse, in denen die potentielle Freiheit des Menschen keineswegs verwirklicht ist. Wobei mit derartig unfreien Menschen kein freier Konsens zu erzielen ist - will sagen, die werden den Teufel tun, sich an entsprechende Vereinbarungen zu halten. Weil sie das aufgrund biologischer Zwänge gar nicht können.

2. Es gibt eine humane Ethik, die dazu führt, dass bestimmtes individuelles Verhalten von Menschen allgemein rigoros abgelehnt wird. Hier können wir sogar mit den Religiösen in einen Konsens kommen, denn auch wenn Menschen glauben, dass dieses Verhalten aufgrund göttlichen Gebotes abgelehnt wird, so müssen sie doch zugeben, dass Menschen diese Gebote erst einmal für wahr halten müssen, bevor eine Religion entstehen kann - und das liegt nun mal am Menschen. Überhaupt möchte ich hier bei den Religionen wildern: eine Handlung, durch die ein Individuum sich wegen der rigorosen Ablehnung von der menschlichen Gemeinschaft trennt, können wir Sünde nennen.

Mir scheint, was Menschen rigoros ablehnen, ist das Zufügen von Leid, das grundlose Vernichten und Vertrauensbruch (Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Wir akzeptieren z.B. nicht, wenn ein Tier stückweise bei lebendigem Leib gefressen wird, wir akzeptieren nicht, wenn aus Spaß am Feuerchen ein Wald in Brand gesetzt wird und wir akzeptieren es nicht, wenn gelogen, betrogen, bestohlen oder gar hinterrücks gemordet wird (merke den Unterschied zwischen Mord und Totschlag, der meines Wissens auch in allen Kulturen bekannt ist). Dass das Opfer das nicht akzeptiert, ist klar; aber maßgebend sind die unbeteiligten Zeugen des Geschehens, und die akzeptieren das auch nicht. Daraus folgt, im Diskurs zu entwickelnde Normen dürfen diesen sich aus ethischen Entscheidungen bzw. Urteilen ergebenden ethischen Prinzipien nicht widersprechen, widrigenfalls - werden sie nicht akzeptiert.

Und eine staatliche Ordnung, besonders das staatliche Gewaltmonopol, wird nur dann akzeptiert, wenn es diese Normen übernimmt. Eine Exekutive, die Betrug, Diebstahl und Mord je nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nur verfolgt, wenn Betroffene Opfer, nicht aber, wenn sie Täter sind, wird von anderen sozialen Gruppen nicht als rechtmäßige Exekutive anerkannt.

Es ist offensichtlich, dass der Hinweis auf diese beiden Grundaussagen einen Diskurs über moralische Normen nun wirklich nicht überflüssig macht.
:-)

Du schreibst:
Deshalb ergibt sich für mich aus der Orientierung aller an einem zwangfreien Konsens die Schlussfolgerung, dass nur solche Normen konsensfähig sind, bei denen die Interessen aller Beteiligten unparteiisch berücksichtigt werden.

Ich halte dagegen, konsensfähig sind nur solche Normen, die die anscheinend zum menschlichen Wesen gehörende Ethik berücksichtigen. Ich könnte mir vorstellen, dass die unparteiische Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten sich aus der Ethik ergeben könnte, denn die Ethik ist zwar keine Angelegenheit des sündhaft handelnden Individuums, sondern der dieses Handeln (bzw. dessen Ergebnis) beobachtenden Gemeinschaft, deren Urteil über diese Handlung aber offensichtlich dem Schutz jedes potentiell als Opfer betroffenen Individuums dient.

Daraus folgt aber auch, dass Versuche, das Gemeinwohl rücksichtslos über das individuelle Wohl zu stellen, dauerhaft zum Scheitern verurteilt sind, weil sie der humanen Ethik widersprechen, die genau dieses Individuum schützt (sofern es nicht selbst sündhaft handelt).

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 07. Nov. 2005, 00:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

offenbar meinen wir auch mit dem Wort Evidenz unterschiedliches.

Dass 1+1=2 ist, ist für mich ebenso wenig evident, wie dass 2+2=4 ist. Es sind Zeichen, die folglich für etwas stehen, und dass 2+2=4 ist erfasse ich nicht aufgrund der Evidenz, sondern weil ich eine Regel verstanden habe.

Was evident ist, ist, dass zwei Eier anders aussehen als ein Ei. Es ist auch evident, dass 1 anders aussieht als 2, aber wenn ich das feststelle, habe ich damit überhaupt nichts zu dem gesagt, was 1 und 2 bedeuten. Ich muss es noch nicht einmal wissen. Aber dass sie anders aussehen, ist nicht bezweifelbar.

Eine Argumentation kann mir einleuchten. Wenn ich die Reihe 0;1;3;6;10 habe, dann leuchtet mir ein, dass die 15 als nächste Zahl richtig ist, weil ich die Regel verstanden haben, nach der diese Reihe gebildet ist. Aber wir wissen, dass so etwas keineswegs zweifelsfrei ist. Wir können uns nämlich auch in der Regel irren - und dann leuchtet uns eben eine andere Zahl als Fortsetzung ein. Die dann natürlich falsch ist.

Als evident bezeichne ich etwas nur dann, wenn es zweifelsfrei ist.

Was ich wahrnehme, ist zweifelsfrei (nicht zweifelsfrei sind allerdings die damit verbundenen Zusammenhänge; die sind erdacht, also Irrtum möglich). Allerdings ist es subjektiv evident. Von einer objektiven Evidenz kann ich nur ausgehen, wenn etwas intersubjektiv evident ist.

Es gibt intersubjektive Evidenzen, sonst könnten wir nicht sprechen.

Mit dem Satz 'Wasser hat die Formel H2O' könnte ich nichts anfangen, wenn ich nicht wüsste, was mit Wasser gemeint ist. Was eine Formel ist, kann man erklären, was H und O sind, kann man erklären - aber irgendwo sind die Erklärungen zuende, dann ist eine weitere Erklärung nicht mehr möglich, dann muss man zeigen, was man meint.

Mit der Ethik läuft das genau so. Du kannst Normen vernünftig herleiten und begründen, die gut sind. Aber du kannst nicht vernünftig begründen, was gut ist. Du kannst Gegenstände oder Taten nennen, die gut sind, du kannst begründen, warum sie deiner Ansicht nach gut sind, aber du kannst nicht sagen, was gut ist. Die böse Wespe hat dich gestochen, der gute Weihnachtsmann bringt Geschenke - so lernt man gut und böse, wobei man aus dem Kontext weiß, nicht die äußere Beschreibung, sondern die eigene urteilende Empfindung ist gemeint. Und alles andere kommt erst danach. Auch die Kritik am erlernten - z.B. dass die Wespe gar nicht böse ist. Dafür vielleicht die eine oder andere Sache, die einem als gut begebracht wurde.

So weit erst mal.
Nur noch ne kleine Anmerkung: ich kann durchaus einsehen, dass und wie eine Norm begründet ist. Damit muss ich sie aber noch lange nicht akzeptieren. Auch bösartige Normen können vernünftige Begründungen haben, die auch manchem einleuchten.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 07. Nov. 2005, 10:33 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Du machst die Beantwortung der Frage, ob Gemeinschaft nur durch Rückgang auf die Interessen der Individuen zu legitimieren sei, davon abhängig, wie man das Interesse des Individuums definiert. Werde mit „individuelles Interesse“ nur das eigene Wohlergehen des Individuums gemeint, dann müsse man die Frage verneinen. Aber so strikt eigennützig seien Individuen in Wirklichkeit gar nicht:


Quote:Der Fehler der obigen Konstruktion liegt darin, dass die Interessen der Individuen in Wirklichkeit nicht nur im engeren Sinne eigennützig sind, sondern dass sie weit über ihr eigenes individuelles Leben hinausgehen. Menschen haben Interesse daran, dass über ihr individuelles Dasein hinaus die von ihnen geschätzte Gesellschaft samt ihrer Kultur fortbesteht.
Deshalb wünschen sich die Individuen Nachkommen, fördern sie die nachwachsenden Generationen, machen Vermächtnisse und Stiftungen über ihren Tod hinaus oder opfern sich für die Gemeinschaft auf.
Menschen sind nicht so borniert individualistisch und egozentrisch. Einen Hinweis darauf gibt bereits die Biologie des Menschen.



Liegt darin aber nicht eine Rückkehr zum aristotelischen Verständnis des Menschen als „zoon politikon“ und zu einer teleologischen Naturauffassung? Der Mensch ist faktisch ein Gemeinschaftswesen, und deshalb streben die menschlichen Individuen von Natur aus die Gemeinschaft als das größere Gut an. Das Ziel („telos“) der Gemeinschaftsbildung ist ihnen von der Natur einbeschrieben (modern gesprochen: ist ihr genetisches Programm). Sie streben also eigentlich immer das Gute an, nur können sie sich fallweise über ihr wahres Interesse irren, und dieser Irrtum ist die Quelle des Bösen, der Sünde, des Streits...

Ich habe ja auch verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Menschen Gemeinschaftswesen sind, und genau mit diesem Argument die Hobbes’schen anthropologischen Voraussetzungen über den Menschen im Naturzustand kritisiert. Und ich denke auch, das „aufgeklärte Eigeninteresse“ der Individuen schließt die Einsicht mit ein, dass es auf die Gemeinschaft zum schieren Überleben und zu seiner persönlichen Selbstverwirklichung angewiesen ist.

Mir scheint aber, dass man an diesem Punkt vorsichtig sein muss, wenn man die neuzeitliche (liberale) Würdigung des Individuums nicht wieder verspielen will. Es ist klar: Irgendwie muss jede Legitimation von Gemeinschaft und Gemeinwohl (und damit implizit auch von allgemein gültigen Normen) zeigen, wie individuelle Interessen mit den Forderungen der Gemeinschaft vermittelt sind. Dem Individuum muss gezeigt werden können, dass die Gemeinschaft nicht „das Andere“, das Fremde, der Zwang, die Unfreiheit ist.

Aber m.E. kommt es hier darauf an, diese Vermittlung nicht sozusagen hinter dem Rücken der Individuen stattfinden zu lassen. Und genau das wäre der Fall, wenn man sie in die Natur verlegt. Dann genügte als Legitimation von Gemeinschaftsforderungen an das Individuum, dass ein Experte ihm sagte: „Mein Guter, was regst du dich auf? Komm schon, eigentlich willst du es doch auch. Es liegt in deinen Genen.“

Das kann es ja wohl nicht sein. Vielmehr besteht das, was wir gesellschaftliche „Freiheit“ nennen, doch darin, dass die Vermittlung von individuellen Interessen und Gemeinschaftsforderungen im Gemeinschaftsleben selbst vollzogen wird. D.h. dass die Individuen mit ihren unterschiedlichen und abweichenden Meinungen daran kompetent beteiligt sein müssen, was bedeutet, dass man ihnen zutraut zu wissen, was für sie persönlich das Gute ist. Und es bedeutet auch, dass diese dauernde Vermittlung in gewisser Weise ergebnisoffen sein muss, so dass die Anpassung nicht immer nur vom Individuum gefordert wird, sondern umgekehrt die Form der Gemeinschaft auch vom Willen der Individuen abhängt, die sie bilden. Und das hätte zur Folge, dass es viele verschiedene Formen von Gemeinschaft gäbe, je nachdem, welche Individuen sich wie zusammenschlössen und wie sie sich gemeinsam weiterentwickelten.

Aus diesen Überlegungen heraus halte ich gerade den Pluralismus der Gemeinschaftsformen für einen (vermittelten) Ausdruck – und für einen Garanten - von individueller Freiheit.


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 07. Nov. 2005, 12:22 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

Hallo Urs,
es wäre ein Missverständnis, wenn meine Ausführungen zu den nicht nur egozentrischen Interessen der Individuen als eine Bestimmung der individuellen Interessen hinter dem Rücken dieser Individuen oder über deren Köpfe hinweg verstanden würde.

Die Bestimmung der Interessen bestimmter Individuen bleibt immer an das Kriterium der allgemeinen Konsensfähigkeit gebunden, und damit an die Zustimmung der betreffenden Individuen. Wer meine Interessen zu formulieren beansprucht, ohne dass ich diese Formulierung einsehen und teilen kann, der verkündet ein Dogma und verlässt damit die Ebene von Argumentation und rationaler Wahrheitsfindung.

Hallo abrazo,
die intuitionistische Ethik-Konzeption, die Du vertrittst, ist mit einer diskurstheoretischen Konzeption vereinbar. Wenn es einen gemeinsamen Satz von intuitiven ethischen Prinzipien gibt, der in der Motivation aller Menschen verankert ist, dann kommt das einer am zwangfreien Konsens orientierten diskurstheoretischen Konzeption entgegen, denn es ist in diesem Fall einfacher, zu einem einsichtig begründeten Konsens über die Normen des Umgangs miteinander kommen. Das, was alle am ehesten gemeinsam wollen können, wäre dann leichter zu ermitteln.

Wenn es diesen allgemeinmenschlichen ethischen Willen gibt, dann müsste er beim Diskurs über Normen des Handelns zum Vorschein kommen, so dass ein praktischer Konflikt zwischen beiden Ansätzen eigentlich ausgeschlossen scheint.

Noch eine Anmerkung zu der Frage, welchen Stellenwert das Individuum in der Verfassung der Bundesrepublik besitzt. Es gibt zwar im Grundgesetz nicht die Formulierung wie in der Erklärung der Menschenrechte, dass jeder das Recht hat, sein eigenes Glück zu verfolgen, aber es gibt im Grundgesetz stattdessen den § 2, der mit dem Satz beginnt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, der den Interessen der Individuen ebenfalls einen hohen Rang einräumt.

In der von alltag dankenswerter Weise eingebrachten Schweizer Verfassung heißt es: „Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen.“ Mir scheint, dass die Eidgenossen den Begriff des „öffentlichen Interesses“ viel selbstverständlicher gebrauchen als die Bundesdeutschen. Im angelsächsischen Raum ist der Begriff des „public interest“ ebenfalls ganz selbstverständlich.

Zum besseren gegenseitigen Verständnis will ich abschließend noch einmal kurz skizzieren, welche Funktion der Begriff des Gemeinwohls für mich hat.

Der Begriff „Gemeinwohl“ (bzw. „Gesamtinteresse“) dient der Anleitung von Entscheidungen und Handlungen im Namen der Gemeinschaft sowie der Orientierung bei der Gestaltung der Verfahren der Normsetzung.

1. Entscheidungen im Namen der Gemeinschaft (z.B. des Regierungschefs eines Staates), sollten sich am Gemeinwohl orientieren.

2. Die Institutionen zur Setzung verbindlicher Normen (z.B. Wahl- und Abstimmungsverfahren, Gerichte, Wirtschaftsordnung) sollten so gestaltet werden, dass deren Resultate dem Gemeinwohl möglichst entsprechen.

Der Begriff hat also seinen Platz innerhalb einer normativen politischen Philosophie.

Da er dort eine zentrale Stellung einnimmt, hat die Art und Weise seiner inhaltlichen Bestimmung erhebliche Konsequenzen.

Dieser begriffliche Bezugsrahmen enthält noch keinerlei Voraussetzungen über die Struktur der Gemeinschaft, die Art der Beziehungen zwischen den Individuen und Gruppen sowie die Art der Sozialisierung des Individuums. Er ist z.B. auch auf nicht-kapitalistische Gesellschaften oder Landkommunen anwendbar.

Wenn man davon ausgeht, dass die Gemeinschaft dem Wohl der Individuen zu dienen hat, dann lässt sich das Gemeinwohl nur auf der Grundlage des Wohls der Individuen bestimmen.

Dies ist vielleicht eine individualistische jedoch noch keine liberale Konzeption.

Dazu gelangt man erst, wenn man weiterhin festlegt, dass die Individuen ihre Interessen selbst formulieren (Mündigkeit), und wenn man Bereiche bestimmt, die den einzelnen Individuen zugeordnet sind und über die sie allein verfügen dürfen (Eigentumsordnung mit Vertragsfreiheit, also Marktwirtschaft).

Wenn man die gemeinsame Gestaltung der Rechtsordnung der gleichgewichtigen Entscheidung der als mündig angesehenen erwachsenen Individuen überlässt, kommt man zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen. Dies Verfahren ist nicht dem politischen Liberalismus entsprungen ist, der historisch immer Gegner des allgemeinen gleichen Wahlrechts war.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 07. Nov. 2005, 20:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

zum Verhältnis von Gemeinwohl und Wohl der Individuen.

Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten Staat beschränkt

Auch wenn abrazo mit Gedankenexperimenten (was wäre wenn) seine Probleme hat, will ich mal modellhaft etwas durchspielen.

Nehmen wir an, die Menschheit ist in verschiedenen souveränen Staaten organisiert, die alle das Bestreben haben, sich auszudehnen und deshalb immer wieder Krieg gegeneinander führen. Der jeweilige Sieger vernichtet oder versklavt die Bevölkerung des besiegten Staates.

Dann hängt Wohl und Wehe der Individuen eines bestimmten Staates entscheidend von dessen militärischer Stärke ab.

Wahrscheinlich würde unter diesen Bedingungen Nationalismus, Patriotismus, Heldentod fürs Vaterland vorherrschende Einstellungen sein und man würde nicht auf das Wohl der Individuen schauen, wenn man das Gemeinwohl bestimmen wollte, sondern auf die Bewaffnung und Stärke des Militärs.

Ich frage mich, ob das Verhältnis von Gemeinwohl und Individualwohl tatsächlich in der Weise von außenpolitischen Bedingungen abhängt, wie es hier scheint?

Grüße an alle von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 08. Nov. 2005, 10:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo,

"Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten Staat beschränkt." Eberhard

Das Verhältnis europäischen Gemeinwohl sowie Individualwohl war, seitdem westeuropäische Staaten aussenpolitisch chauvinistisch-militärisch auftraten, nationalistisch gestimmt. Angenommen, in der sogenannten Globalisierungs-Zeit erscheinen Völkern europäische Staaten aussenpolitisch nicht mehr einseitig-militärisch, innenpolitisch nicht mehr vaterländisch, sondern, im Gegenteil, völkerverbindend. Das besagte Verhältnis besteht auch dann weiterhin, ist auch weiterhin aussenpolitisch bedingt, nun jedoch nicht mehr mit nationalstaatlicher Kriegsorganisation ... , sondern u.a. von global-völkerbindenen Inhalten bestimmt. Nicht mehr soldatisches Heldentum, nationale Kriegswirtschaft ... vielmehr Verständnis und Solidarität mit den Völkern, die den Wohlstand der Industriestaatlichkeit mangeln, könnte die Zielrichtung abgeben, von dem das Verhältnis europäischen Gemeinwohl und Individualwohl bestimmt wird.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 08. Nov. 2005, 13:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten Staat beschränkt



Der Begriff des Gemeinwohls kann sich m.E. auf jede Form von Gemeinschaft beziehen, in die Menschen faktisch eingebunden sind. Das schließt eine globale Anwendung des Begriffs ein, aber es schließt seine universalistische Begründung aus.

Das Problem der universalistischen Normenbegründung liegt darin, dass sie von den konkreten Individuen methodisch abstrahiert. Das wird an Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“ besonders anschaulich. Die Individuen müssen so tun, als ob sie nicht wüssten, wer sie im Unterschied zu den anderen sind. Diese Unterschiede dürfen keine Rolle spielen.

Auch die diskurstheoretische Begründung von Normen, die Du favorisierst, hat dieses Problem. Zugelassen sind ja nur Argumente, die jeder vertreten könnte, die, wie Du sagst, „allgemein konsensfähig“ wären. Der faktische Konsens zwischen faktischen Betroffenen spielt keine Rolle. „Konsensfähigkeit“ ist eine normative Idee, die jeder Beteiligte beim Argumentieren anstreben soll, ohne jemals überprüfen zu können, ob seine faktischen Äußerungen, gerichtet an faktische Gesprächspartner, wirklich allgemein konsensfähig sind.

Bei der Begründung von intersubjektiv geltenden Tatsachenaussagen stellt sich das Problem der Individualität bei den Erfahrungen. Aber hier kommen ganz entscheidend die technischen Fähigkeiten ins Spiel, Erfahrungen so zu manipulieren, dass sie unter gleichen Bedingungen faktisch immer gleich sind. Eine technische Erzwingung von Gleichheit unter menschlichen Individuen ist aber, wo es um eine zwanglose Verständigung gehen soll, weder sinnvoll noch wünschenswert.

Das Mittel, mit dem Individuen gleiches Handeln unter gleichen Bedingungen ermöglichen, sind Normen. Normen können unter Zwang befolgt werden, aber auch mehr oder weniger freiwillig. Freiwillig normenkonform ist Handeln, wenn der Handelnde die Norm für sich akzeptiert – aus welchen Gründen auch immer.

Nun sollen, nach dem Credo der Philosophen, die eine universalistische Normenbegrünung vertreten, Normen nur dann eine „moralische“ Qualität aufweisen, wenn sie mit solchen Gründen gestützt werden können, die ausnahmslos jeder einsehen müsste. Nun ist aber Einsicht nicht erzwingbar. Und somit tritt an dieser Stelle mit systematischer Zwangsläufigkeit das Problem auf, dass jemand „logisch zwingend“ argumentiert, aber die Einsicht des anderen ausbleibt.

Bei Dir, Eberhard, wird in einer ziemlich krassen Weise deutlich, dass Du aus der logischen Zwangsläufigkeit von Argumenten auch die Berechtigung ableiten willst, andere zum konformen Handeln zu zwingen (siehe die Fußnote). Wenn der andere die Begründung der Norm nicht freiwillig einsieht, obwohl das Argument formal korrekt (und somit „wahr“) ist, so ist der Einsatz von Gewalt legitim und geboten.

Hier schlägt die Liberalität, der doch die Freiheit und das Wohl der Individuen so am Herzen liegt, in Zwangsherrschaft über die uneinsichtigen Individuen um. Mir ist klar, dass das Rechtssystem so verfährt, und ich sehe auch ein, dass es vernünftig ist, so zu verfahren. Große Zusammenschlüsse von Individuen, mit reicher Binnendifferenzierung, kommen ohne ein zwangsbewehrtes Recht nicht aus.
Aber ich bestreite energisch, dass das für das Recht charakteristische Verfahren geeignet sei, Moralität schlechthin zu begründen.

Moralisches Handeln – d.h. gemeinschaftsorientiertes Handeln – kommt zustande durch Bildungsprozesse, in denen die Individuen lernen, ihr Handeln und ihre Ansprüche mit dem Handeln und den Ansprüchen der andern abzustimmen. Auch in diesen Lernprozessen spielt Zwang immer wieder eine Rolle, und jeder kennt die Widerstände derjenigen, die lernen sollen, sich zu disziplinieren. Aber immer wieder dreht es sich in diesen Lernprozessen darum, dem Lernenden zur freiwilligen Einsicht zu verhelfen – mit Druck, mit Lockungen und Belohnungen, mit List (Hegel sprach von der „List der Vernunft“), und immer: mit möglichst viel „Spielraum“, mit persönlicher Anteilnahme und Anerkennung der Persönlichkeit des Lernenden.

Mit dem Verständnis dieser Prozesse fängt für mich Moralphilosophie eigentlich erst an - also dort, wo sie für Dich schon aufgehört hat. [1]

Freie Einsicht kommt nur zustande in faktischen Beziehungen zwischen Individuen, und zwar solchen Beziehungen, die den Individuen möglichst viel faktischen Spielraum lassen, sich zu entfalten. Spielraum wofür? Für ihre Eigenheiten. Denn es ist doch plausibel, dass sich Individuen auch im normenkonformen Handeln dann frei fühlen, wenn sie dabei „sie selbst“ bleiben, wenn sie ihre Eigenheiten „einbringen“ und diese auch anerkannt werden.
Ein Begriff von Gleichheit, der sich auf die Abstraktion vom Individuellen gründet, ist dieser Realität nicht angemessen.



(Ich wollte ursprünglich auf das Gemeinwohl zurück kommen, aber der Beitrag ist so schon sehr lang. Ein andermal.)

Es grüßt Dich
Urs



[1] So schreibst Du im Thread „Darf man sich zugrunde richten?“ im Beitrag Nr. 93:


Quote:Für die Moralphilosophie stellt der nicht Konsenswillige kein theoretisches Problem dar, weil er seine Normen ohne den Anspruch auf nachvollziehbare Begründbarkeit vertritt, womit sie wissenschaftlich irrelevant sind. (Was jedoch nicht ausschließt, dass der nicht Konsenswillige weiterhin ein großes praktisches Problem darstellt.)

Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine Bekämpfung kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.

Die „Bekämpfung“ des nicht Konsenswilligen... Das sind Worte, die in einem Zusammenhang mit Moral m.E. nichts zu suchen haben. Hier wird ganz deutlich, dass Dein Verständnis von Moral sich ausschließlich am zwangsbewehrten Recht orientiert.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 08. Nov. 2005, 15:13 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

Hallo Metin!

Ich glaube, Du hast ziemlich genau verstanden, was ich meinte. Du sagst in Deinen Worten etwas Ähnliches.

Was in unseren europäischen Staaten die Freiheit ganz wesentlich ausmacht, ist der Pluralismus. Und damit meine ich nicht nur einen Pluralismus der Meinungen (jeder darf öffentlich sagen, was er für richtig hält), sondern auch den Pluralismus der verschiedenen Lebensformen.

In einem Rechtsstaat sind alle Individuen vor dem Gesetz gleich. Naja, zumindest sollte es so sein, in Wirklichkeit stimmt das nicht immer.
Z.B. wäre wahrscheinlich jeder normale Bürger in Beugehaft genommen worden, der sich wie Helmut Kohl geweigert hätte, eine Zeugenaussage über kriminelle Handlungen ihm bekannter Personen zu machen. Aber Helmut Kohl ist eben Helmut Kohl, klarer Fall.
Auch die Vorgänge um den ehemaligen Münchener Staatsanwalt, der die Steuerhinterziehung von Max Strauß (Sohn von Franz-Josef Strauß) konsequent verfolgte, zeigen, dass nicht immer gleiches Recht für alle gilt. Denn dieser aufrechte Staatsanwalt erfuhr Druck von politischer Seite, Mobbing von seinen Kollegen und wurde schließlich strafversetzt. Er hat inzwischen eine Initiative von Juristen gegründet, die sich für mehr Unabhängigkeit der Staatsanwälte von politischen Instanzen einsetzt.

Nun gut, in einem Rechtsstaat sind – im Prinzip – alle Individuen vor dem Gesetz gleich. Aber deswegen bleiben sie trotzdem Individuen mit ihren Eigenheiten und Ansprüchen. Und nur, wenn sie diese Eigenheiten auch ausleben dürfen, können sie sich frei fühlen. Ja, ein Rechtsstaat muss auch die vielfältigen Lebensformen seiner Bürger als ein schützenswertes Gut anerkennen.

Außerdem denke ich, dass es gerade das pluralistische „Konzert“ der gesellschaftlichen Lebensformen ist, aus dem freiheitlich und zugleich verantwortlich denkende Staatsbürger hervorgehen. Ein Staat lebt eben nicht vom Recht allein. Er braucht als Staatsbürger solche Individuen, die auch im Sinne des Ganzen denken und handeln können. Und solches Denken und Handeln lernt man nicht in Gerichtsverhandlungen, wo jeder nur um sein persönliches Recht kämpft. Aber auch nicht in einem ökonomischen Handeln, bei dem jeder nur seinen persönlichen Vorteil sucht...


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 08. Nov. 2005, 17:45 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

Du siehst im diskurstheoretischen Ansatz bestimmte Probleme, auf die die ich später eingehen werde.

Zuvor möchte ich jedoch noch deutlich machen, dass ich mit Deiner Interpretation meiner Position nicht einverstanden bin.

Du schreibst:

“Bei Dir, Eberhard, wird in einer ziemlich krassen Weise deutlich, dass Du aus der logischen Zwangsläufigkeit von Argumenten auch die Berechtigung ableiten willst, andere zum konformen Handeln zu zwingen (siehe die Fußnote). Wenn der andere die Begründung der Norm nicht freiwillig einsieht, obwohl das Argument formal korrekt (und somit „wahr“) ist, so ist der Einsatz von Gewalt legitim und geboten.“

Die Fußnote, auf die Du diese Einschätzung stützt, enthält das folgende Zitat von mir:

„Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine Bekämpfung kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.“

Wenn man diesen Satz isoliert betrachtet, liegt tatsächlich die Interpretation nahe, dass der Nicht-Konsenswillige bekämpft werden müsse (obwohl dies nicht gemeint ist und auch so nicht explizit ausgesagt wird).

Dass eine solche Interpretation falsch ist, geht zweifelsfrei aus der folgenden Passage hervor, die kurz vor dem von Dir herangezogenen Satz steht. Dort schreibe ich:

„Wer sich nicht zwangfrei einigen will, der gehört für mich nicht zu den ‚Menschen guten Willens’, Vor ihm muss ich mich in Acht nehmen.

Das bedeutet noch nicht, dass ich ihn als Feind betrachte, den ich unschädlich machen muss. Ich kann aus meiner Sicht seine Interessen mit berücksichtigen und ihm seine Rechte erhalten in der Hoffnung, dass er doch noch einsichtig wird. Diesen Prozess kann ich mit pädagogischen oder therapeutischen Mitteln unterstützen.“

Ich beziehe den schwierigen Weg hin zur konsensorientierten Argumentation hier ausdrücklich mit ein. Dazu gehört z.B. das Erlernen der nötigen Begriffe, die Anwendung der Logik und die Beseitigung von Vorurteilen und emotional verankerten Denkblockaden. Ich erwähne ausdrücklich das pädagogische und das therapeutische Verhältnis zum nicht Konsenswilligen.

Um zukünftige Missverständnis zu vermeiden, werde ich den anstößigen Satz folgendermaßen umformulieren: „Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Die weitere Auseinandersetzung mit ihm kann nicht mehr auf der Ebene der Argumentation erfolgen sondern erfordert praktisches Handeln.“

Dies erstmal vorweg, damit sich hier nichts Falsches verfestigen kann von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 09. Nov. 2005, 00:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Moralisches Handeln – d.h. gemeinschaftsorientiertes Handeln – kommt zustande durch Bildungsprozesse, in denen die Individuen lernen, ihr Handeln und ihre Ansprüche mit dem Handeln und den Ansprüchen der andern abzustimmen.

Bedeutet das, dass unsere Normen sich in gegenseitiger Abstimmung der Individuen untereinander von der Steinzeit bis jetzt entwickelt haben? Dann frage ich allerdings, warum sie sich so etnwickelt haben und nicht anders und warum wir gesellschaftliche Entwicklungen, die uns für uns selbst nicht so geeignet erscheinen (Pol Pot) nicht als Entwicklung in gegenseitiger Abstimmung von Individuen von Gesellschaften ansehen, die nicht unserer Kultur angehören und die man deshalb so lassen sollte wie sie sind.

Wenn aber unsere Normen nicht oder nicht ausschließlich Ergebnis solcher Entwicklungen sind (und warum sonst sollte man sich um Normen bemühen?), dann kannst du doch nicht sagen:

Mit dem Verständnis dieser Prozesse fängt für mich Moralphilosophie eigentlich erst an
Denn was ist es, was da vor sich geht?
Und was wäre die Konsequenz?
Wenn ein achtjähriges Mädchen in der Szene ihrer Mutter beim Haschischdealen hilft, dann lernt sie die Normen dieser Szene, wie du es beschreibst. Aber - da kommt eben wieder die alte Frage: wollen wir das? Und wenn wir es nicht wollen: warum nicht?

Ich stimme Eberhards Bemühen um einen diskurstheoretischen Konsens zu - wenn mir auch dein individualistischer Ansatz nicht so recht gefällt. Aber das mag vielleicht daran liegen, dass ich mehr Vertrauen in den Willen von Gemeinschaften habe, das Individuum zu schützen. Deswegen habe ich wohl weniger Sorge um Totalitarismus. Er ist schlimm genug, aber in meinen Augen eine staatliche Organisationsform, die sich nicht bis in die menschlichen Gemeinschaften hinein durchsetzt.

Ich stimme zu, weil ich nicht sehe, wie man sonst Normen entwickeln und etablieren will. Ist nicht unser Rechtssystem auf einen Grundkonsens angewiesen? Und weicht es nicht überall da auf, wo dieser Grundkonsens nicht mehr gilt, sei es in Subkulturen, sei es aber auch, wo ich im Moment entsprechende Tendenzen sehe, im Konflikt zwischen Wohlhabenden und sehr Wohlhabenden, die sich zur Mehrung ihres Besitzes bei Strafe des Gefressen Werdens von anderen, wenn sie das nicht tun, über bisher geltende Normen hinwegsetzen, und Arbeitslosen, insbesondere Hartz IV-Empfängern, die die ihnen gesetzten Normen nicht mehr als rechtmäßig empfinden und deswegen offenbar vielfach zu torpedieren trachten?

Normen sind doch nur dann Normen, wenn man sich allgemein daran hält. Wenn allgemein anerkannt wird, dass sie richtig sind. Ist das nicht der Fall, dann sind es nur papierne Normen, die nur ein Teil der Gesellschaft lebt, wenn überhaupt. Welche Möglichkeit gäbe es denn, eine allgemeine Gültigkeit zu erreichen, außer dem Konsens?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 09. Nov. 2005, 02:00 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!



Quote:Bedeutet das, dass unsere Normen sich in gegenseitiger Abstimmung der Individuen untereinander von der Steinzeit bis jetzt entwickelt haben? Dann frage ich allerdings, warum sie sich so entwickelt haben und nicht anders und warum wir gesellschaftliche Entwicklungen, die uns für uns selbst nicht so geeignet erscheinen (Pol Pot) nicht als Entwicklung in gegenseitiger Abstimmung von Individuen von Gesellschaften ansehen, die nicht unserer Kultur angehören und die man deshalb so lassen sollte wie sie sind.



Ich wüsste nicht, wie sich unsere Normen anders als durch eine Art von „trial and error“ im Laufe der Geschichte sollten entwickelt haben. Es wurden ja eine Menge von Lebensformen entwickelt, viele sind wieder untergegangen, teils durch äußere Einwirkung, teils wegen innerer Brüchigkeit. Und da „wir“ nun mal Lebewesen mit Vernunft sind, haben immer auch Reflexion, Vernunft und gezielter Gestaltungswille ein Wörtchen mitgesprochen bei diesen Entwicklungen.

Über Pol Pot weiß ich nicht viel. Aber er scheint ja, wie die meisten Unglücksbringer unter der Sonne, im Namen einer Idee gehandelt zu haben. Hitler und die Seinen wollten ja auch nur das Beste für das deutsche Volk. Ich glaube, es gab überhaupt nur sehr wenige Tyrannen, die das Böse taten, weil sie das Böse wollten.

Tiere haben, ihren Artgenossen gegenüber, eine natürliche Tötungshemmung. Menschen haben sie eigentlich auch, aber sie ist überwindbar. Und zwar, wie uns die Sozialpsychologen gezeigt haben, durch Ideen, namentlich durch die feste Überzeugung, im Auftrag des Guten zu handeln. Diese Überzeugung scheint uns zu beflügeln und zu einer besonderen Konsequenz im Umgang mit dem Bösen anzuhalten...



Im Übrigen finde ich es schwer, Deine Position zu verstehen. Einerseits sprichst Du Dich im Namen des Glaubens vehement gegen vernünftige moralische Prinzipien aus, andererseits stimmst Du Eberhard zu, dem es nun ganz ausgeprägt um den Zusammenhang von Wahrheit – Vernunft – Normen geht, und der mit religiösen Autoritäten („Dogma“) nichts anfangen kann. Er setzt auf die Wissenschaft.
Einerseits betonst Du die Vielfalt der verschiedenen Gemeinschaften (z.B. Köln), andererseits siehst Du den erforderlichen Grundkonsens durch „Subkulturen“ gefährdet.

Was mich angeht, so bin ich nicht gegen Konsens. Ich bin nur gegen die Idee eines Konsenses, der die Individualität der Individuen nicht zu integrieren vermag. Ich bin gegen das „abstrakte Allgemeine“, das sich in die Wirklichkeit nur gegen die bzw. auf Kosten der Individualität umsetzen lässt. Diese Linie habe ich von Anfang an verfolgt.

Ich habe in fast jedem Beitrag irgendetwas Zustimmendes zum modernen Rechtsstaat und seiner (im Prinzip) egalitären Begründung gesagt. Aber ich habe immer betont, dass dieses (im Prinzip) egalitäre Recht nicht die einzige Form menschlicher Vergesellschaftung ist und sein kann.

I can’t help it – wir Menschen sind eine Art, die sich aufgrund ihrer art-allgemeinen Anlagen durch eine besondere Individualisierung des Handelns auszeichnet. Und ich bestehe hartnäckig darauf, dass DIESES Allgemeine, das sich IM Individuellen realisiert, nicht durch untaugliche philosophische Konzepte unter den Teppich gekehrt wird. Es gilt, das KONKRETE ALLGEMEINE zu verstehen und anzuerkennen, das jeder von uns auf seine unverwechselbare Weise ist. Dies anerkennen ist für mich gleichbedeutend mit „Humanität“.

Die universalistische Normenbegründung dagegen muss schon wegen ihres Ansatzes vor einem großen Teil der menschlichen Wirklichkeit die Augen verschließen. Diese Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, geht sie nichts mehr an. Wie könnte das deutlicher ausgedrückt werden als durch Rawls’ „veil of ignorance“? Oder durch Eberhards Satz, die Aufgabe der Moralphilosophie sei da beendet, wo der nicht Konsenswillige identifiziert sei?


Es grüßt Dich
Urs


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 09. Nov. 2005, 02:10 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
PS.

Zur Erinnerung zitiere ich mal, wie Du damals auf Eberhards Beitrag geantwortet hast, aus dem ich oben zitiert habe:


Quote:(Eberhard) Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert

(Abrazo) Um Himmels willen, Eberhard, denk mal daran, was du da sagst!
Wir dürften nicht den jeweiligen Kontext aus den Augen verlieren. Es gibt die nicht konsenswillige Einzelperson und die nicht konsenswillige Subkultur innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft. Es gibt aber auch andere nicht konsenswillige, Gruppen, die Millionen Menschen umfassen, nämlich Angehörige anderer Kulturen und Staaten. Soll es die Konsequenz der Moralphilosophie sein, zu ihnen Kontakte abzubrechen, ggf. Kriege zu führen? Das kann dann keine Moralphilosophie sein.

In der Theorie klingt das alles ja recht nett. Auch die Sache mit dem Verzichten auf eigene Interessen. Aber wie sieht das bitte in der Praxis aus?

Es ist wirklich nicht einfach, Deine Position zu verstehen...

:-)

Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 09. Nov. 2005, 11:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

Du schreibst:

“Wir Menschen sind eine Art, die sich aufgrund ihrer art-allgemeinen Anlagen durch eine besondere Individualisierung des Handelns auszeichnet. Und ich bestehe hartnäckig darauf, dass DIESES Allgemeine, das sich IM Individuellen realisiert, nicht durch untaugliche philosophische Konzepte unter den Teppich gekehrt wird. Es gilt, das KONKRETE ALLGEMEINE zu verstehen und anzuerkennen, das jeder von uns auf seine unverwechselbare Weise ist. Dies anerkennen ist für mich gleichbedeutend mit „Humanität“.

Die universalistische Normenbegründung dagegen muss schon wegen ihres Ansatzes vor einem großen Teil der menschlichen Wirklichkeit die Augen verschließen. Diese Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, geht sie nichts mehr an.“

Mit diesen Sätzen erweckst den Eindruck einer unzulässigen Gleichmacherei durch Ansätze wie z.B. die Diskurstheorie.

Dabei erscheint es so, als wollten derartige Konzeptionen die unverwechselbare Individualität der Menschen verschwinden lassen („unter den Teppich kehren“).

Dazu sind zwei Richtigstellungen nötig.

Zum einen ist nicht das ganze Leben durchmoralisiert und durchnormiert. Moral und Recht betreffen nur einen begrenzten Ausschnitt unseres Lebens. Weite Bereiche sind – zum Glück – fern aller Pflichten und Rechte. Der ganz individuelle Reiz von Leonardos Mona Lisa, die Freude an einem lustigen persönlichen Erlebnis, mein besonderes Verhältnis zu meinen Eltern, die Charakteristika meiner persönlichen Handschrift usw. usf. all diese inviduelle Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch diese beeinträchtigt werden. Ins Blickfeld der Moralphilosophie können nur moralisch relevante Eigenheiten der Individuen gelangen, und das sind m.E. vor allem solche, die zu Konflikten mit anderen führen können.

Zum Zweiten. Es ist in der Tat so, dass moralische und rechtliche Normen gewöhnlich von der spezifischen Identität der Individuen abstrahieren:
- In der christlichen Moral ist ganz allgemein vom „Nächsten“ die Rede,
- Kants Kategorischer Imperativ richtet sich an jedes beliebige Individuum,
- die Menschenrechte sollen für alle Menschen gelten,
- dem Utilitarismus geht es nur um das größte Glück als solchem, unabhängig davon, wessen Glück das ist usw.

Dies ist nun kein Zufall sondern ergibt sich aus dem Zweck, dem diese Normen dienen sollen, nämlich eine allgemein akzeptable Regelung des Umgangs miteinander zu schaffen.

Dieser Zweck kann meines Erachtens nur dann erreicht werden, wenn diese Regelungen unabhängig davon formuliert und angewendet werden, um welche Person oder Gruppe es gerade geht. Damit Normen allgemein akzeptabel sein können, müssen sie deshalb „personunabhängig“ formuliert sein.

Umgekehrt schafft eine singuläre Norm (also eine Vorschrift, die nur einen bestimmten individuellen Fall regelt) ein „Präjudiz“ für alle anderen, gleich gelagerten Fälle.

Wer die Einzelfallentscheidung billigt, der muss auch für alle andern Fälle, auf die dieselbe Beschreibung zutrifft wie auf den Einzelfall (also gleichartige Fälle), eine entsprechende Entscheidung billigen.

Abschließend noch zwei Punkte:

Die Herstellung einer Situation der Ungewissheit als Mittel zur Verhinderung eigeninteressierten Urteilens und Handelns und damit zur Erleichterung eines Konsens, ist keineswegs ein Mittel zur Gleichmacherei der Individuen. Diese Konstruktion kann man z.B. praktisch anwenden, wenn es um die Aufteilung eines Erbes auf 3 gleichberechtigte Erben geht. Man bildet zuerst einvernehmlich 3 möglichst gleichwertige Teile und lost erst danach diese Teile unter den 3 Erben aus.

Außerdem möchte ich den mir zugeschriebenen Satz: „die Aufgabe der Moralphilosophie sei da beendet, wo der nicht Konsenswillige identifiziert sei“ in seinen argumentativen Zusammenhang stellen, damit hier keine Missverständnisse entstehen (z.B. dass dies die einzige Aufgabe sei o.ä.).

Der zitierte Satz bezieht sich auf das Problem der Auseinandersetzung mit jemandem, der für die von ihm vertretene Norm allgemeine Geltung und Befolgung verlangt und der sich dabei auf intersubjektiv nicht nachvollziehbare Argumente stützt.

Die vorrangige Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft ist es in diesem Fall, die behauptete fehlende intersubjektive Nachvollziehbarkeit (und damit Konsensfähigkeit) einer solchen Position nachvollziehbar zu begründen. Mehr zu verlangen, etwa die Widerlegung seiner Ansichten oder gar die Herbeiführung der Einsicht des Betreffenden in die Falschheit seiner Ansichten, wäre der Situation nicht angemessen.

Die daran anschließenden Fragen, wie man psychologisch, pädagogisch, therapeutisch, taktisch oder politisch mit einem nicht Konsenswilligen umgeht, der seine Norm dogmatisch vertritt und Befolgung verlangt, überschreiten die Grenzen der Moralphilosophie. Dazu muss man z.B. die sozialpsychologischen Forschungen zu Vorurteilen, Einstellungsänderungen, Verinnerlichung von Normen etc. heranziehen.

In der Hoffnung, möglichen Missverständnissen zumindest etwas entgegengewirkt zu haben, grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 09. Nov. 2005, 13:41 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Wir haben unterschiedliche Auffassungen von der Aufgabe der philosophischen Ethik.

Du beschränkst Ethik auf normative Ethik, wobei Normen Dich interessieren als Regelungen für mögliche Konflikte.
Mich interessieren die „Bedingungen der Möglichkeit“ von moralischem Handeln insgesamt. Es geht mir also nicht nur um die Frage, wie Menschen handeln sollen, sondern wie sie gemeinschaftlich handeln können, ohne dabei ihre individuelle Freiheit einzubüßen.
Denn was nützt es zu wissen, wie Menschen handeln müssten, um für Gerechtigkeit auf der Welt zu sorgen, wenn man nicht weiß, ob und wie die Verwirklichung möglich ist, und was Menschen – Gruppen oder Individuen – konkret dazu beitragen können.



Quote:All diese individuelle Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch diese beeinträchtigt werden. Ins Blickfeld der Moralphilosophie können nur moralisch relevante Eigenheiten der Individuen gelangen, und das sind m.E. vor allem solche, die zu Konflikten mit anderen führen können.



Es kann der Philosophie in der Tat nicht darum gehen, die ganze individuelle Vielfalt auf Begriffe zu bringen. Wohl aber kann sie nach den allgemeinen Bedingungen fragen, unter denen Individuen moralisch handeln. Und sie kann, über Analyse und Begründung hinaus, auch jene „praktischen Probleme“ ins Auge fassen, die eine rein normative Ethik ausklammert.



Quote:Dieser Zweck [= eine allgemein akzeptable Regelung des Umgangs miteinander zu schaffen] kann meines Erachtens nur dann erreicht werden, wenn diese Regelungen unabhängig davon formuliert und angewendet werden, um welche Person oder Gruppe es gerade geht. Damit Normen allgemein akzeptabel sein können, müssen sie deshalb „personunabhängig“ formuliert sein.



Normen müssen „allgemein akzeptabel“ sein, ja. Und sie müssen so weit unabhängig von den Personen formuliert sein, dass sie für jede Person in einer bestimmten typischen Situation gelten können.

Es fragt sich aber, wie weit man hier die Allgemeinheit versteht. Meine Antwort: Es genügt die Allgemeinheit der faktisch Betroffenen. Es ist unnötig – und auch gar nicht zweckdienlich -, jede Norm universell begründen zu wollen. Die Gründe müssen einsichtig sein für jeden, der von einer Norm betroffen sein kann.


Wenn die Heiratsregeln bei den Kwakiutl vom Ehemann verlangen, dass er einen Brautpreis an die Eltern zu entrichten hat, so bin ich davon nur betroffen, wenn ich eine Kwakiutl heiraten will. Und sollte dies der Fall sein (man weiß ja nie, was alles passieren kann), werde ich nicht anfangen, mit den Eltern meiner Braut über die rationale Begründung dieser Norm zu diskutieren, sondern ich werde diesen Brauch respektieren oder – sollte der Preis mein Vermögen übersteigen – die Braut bei Nacht und Nebel entführen (ihr Einverständnis und ihre leidenschaftliche Liebe vorausgesetzt). Da aber Heiratsregeln keine Regeln zur Verhinderung von Heiraten sind, werden die Eltern schon keinen Preis verlangen, den kein Mensch bezahlen kann...
Es würde mich auch keine Verbiegung meiner selbst kosten, diesen Brauch zu respektieren. Alle liebenden Eltern auf der Welt möchten sicher sein, dass der künftige Mann ihre Tochter nicht unglücklich macht. Sie möchten als Eltern respektiert werden, sie möchten auch spüren, dass mir viel an ihrer Tochter liegt – lauter nachvollziehbare Motive, die hinter so einer Regel stehen mögen. Für mich, der ihre Tochter liebt, ist sie wie ein Geschenk; warum sollte ich den Eltern nicht ein Gegengeschenk machen?

Ich habe dieses Beispiel ausgewalzt, um zu zeigen: Wenn man sich auf Menschen handelnd einlässt, mit ihnen kommuniziert, sich in ihre Lage versetzt – dann wird ihr Handeln verständlich, dann lässt sich in der Regel (nicht immer, ich weiß) ein gemeinsamer Weg finden. – Diese faktische Kommunikation ist etwas ganz anderes als die Beurteilung einer kuriosen Heiratsregel nach universellen Prinzipien, die ein Philosoph fernab und unbeteiligt am Schreibtisch vornehmen mag.

Und nach allem, was wir über Konflikte zwischen Menschen und Völkern wissen, ist es in der Regel so, dass Abstraktionen - wie Vorurteile, Entdifferenzierungen, Generalisierungen - Konflikte auslösen oder verschärfen. Jeder Streit nimmt sofort an Schärfe zu, wenn es nicht nur um die Bereinigung der konkreten Sache geht, sondern „ums Prinzip“.

Die treibende Kraft moralischen Handelns liegt also darin, dass Menschen konkret miteinander umgehen, sich streiten und einigen, nicht in der Verordnung universeller Normen, die präventiv jeden Streit vermeiden sollen. Das ist eine Einsicht der praktischen Menschenkenntnis, die von wissenschaftlichen Generalisierungen nicht aufgewogen werden kann. Und da es in der Ethik um das konkrete Handeln konkreter Individuen geht, verfehlt die Ethik ihre Aufgabe, wenn sie sich auf Prinzipien zurückzieht.

Es grüßt Dich
Urs

-------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 09. Nov. 2005, 17:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo urs,

Du schreibst:

„Es ist unnötig – und auch gar nicht zweckdienlich -, jede Norm universell begründen zu wollen. Die Gründe müssen einsichtig sein für jeden, der von einer Norm betroffen sein kann.“

Da bin ich mit Dir einer Meinung. Eine Norm muss erstmal nur für diejenigen konsensfähig sein, von denen die Befolgung der Norm verlangt wird. Wenn irgendwelche Individuen oder Gruppen sich selber bestimmte Verhaltensregeln geben, so habe ich damit solange kein Problem, als diese Regeln nicht auch von mir befolgt und akzeptiert werden sollen. Insofern bin auch ich kein Anhänger universalistischer Prinzipien.

Deine Formulierung geht über den Kreis der Adressaten einer Norm noch hinaus und verlangt die Konsensfähigkeit der von einer Norm Betroffenen.

Dies ist insofern richtig, als eine Norm zwar für die Adressaten akzeptabel sein kann, aber nicht für Dritte, die von der Befolgung der Norm betroffen sind. Ein extremes Beispiel wären z.B. die Normen einer Mafia, die nur für deren Mitglieder gelten („Zeugen sind sofort für immer zum Schweigen zu bringen“).

Die potentiellen Zeugen wollen keineswegs erschossen werden, so dass durch die Befolgung der internen Norm ein Konflikt mit Außenstehenden geschaffen wird.

Die internen Normen stellen keine akzeptable Lösung dieses Konfliktes dar, im Gegenteil, sie erzeugen ihn erst. Wenn es um die inhaltliche Richtigkeit einer Norm geht, die einen bestimmen Konflikt regeln soll, so müssen alle am Konflikt Beteiligten zustimmen können

Abschließend noch einige Klarstellungen zum „moralischen Diskurs“ also zur Rolle der konsensorientierten, zwangfreien Argumentation bei der Beantwortung normativer Fragen (Wie soll ich handeln?).

Neben der Ebene des von praktischen Handlungszwängen entlasteten wissenschaftlichen Streits der Gelehrten um inhaltlich richtige Normen muss es noch die Ebene der verbindlich gesetzten Normen geben, wenn eine soziale Kooperation und Koordination erfolgen soll.

Warum reicht die Ebene der inhaltlichen Diskussion um das Für und Wider der normativen Alternativen nicht aus?

Die Diskussion darüber, welches die am ehesten gemeinsam akzeptierbare Normalternative ist, muss kein definitives Resultat haben. Selbst wenn es einen „ausdiskutierten Konsens“ gibt, so kann dieser mit neuen Argumenten jederzeit wieder in Frage gestellt werden.

(Insofern ist die Befürchtung unbegründet, dass aus dem Diskurs Philosophen-Könige hervorgehen könnten, die sich „im Besitze der Wahrheit“ wähnen und ein Zwangsregime errichten.)

Weil der an inhaltlicher Richtigkeit orientierte Diskurs kein praktikables Verfahren der Normsetzung ist (er muss kein definitives Resultat erbringen, er berücksichtigt weder Termindruck noch Entscheidungskosten), bedarf es daneben der ausdrücklichen Normsetzung. Dies kann durch die konkrete Auslegung einer heiligen Schrift oder der überlieferten Traditionen durch einen autorisierten Priester geschehen, dies kann auch durch eine Abstimmung in einer gesetzgebenden Versammlung geschehen.

Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Ebenen, die nicht zugunsten einer Ebene entschieden werden kann: Der Mehrheitsbeschluss ist zwar inhaltlich falsch aber er bleibt nichtsdestoweniger verbindlich.

Meines Erachtens ist die Berücksichtigung dieser beiden Ebenen (einerseits die durch Argumente begründete inhaltliche Richtigkeit einer Norm und andererseits die durch Verfahren - also institutionell - erzeugte Verbindlichkeit einer Norm) außerordentlich wichtig für das Verständnis des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.

Damit schließt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 09. Nov. 2005, 17:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Urs:
Quote:Und nach allem, was wir über Konflikte zwischen Menschen und Völkern wissen, ist es in der Regel so, dass Abstraktionen - wie Vorurteile, Entdifferenzierungen, Generalisierungen - Konflikte auslösen oder verschärfen. Jeder Streit nimmt sofort an Schärfe zu, wenn es nicht nur um die Bereinigung der konkreten Sache geht, sondern „ums Prinzip“.


Genau so ist es, bravo Urs, dies gilt auch für die Freiheit "als Prinzip"
Moral und Freiheit sind immer relativ.
Aber täuschen wir uns nicht, welche unglaublichen Handlungen und Baudenkmäler (Dom) hat der Mensch nur auf Grund seiner irrealen Hirngespinste vollbracht.
Salve
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 09. Nov. 2005, 23:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

wie wäre es, theoretische Überlegungen zur Normenfindung mal an einem praktischen Beispiel auszuprobieren (geklaut aus einer anderen Diskussion)?

Problem:
Das BVerfG hat heute über § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz verhandelt, also über die Befugnis der Bundeswehr, entführte Flugzeuge, von denen man ausgehen muss, dass sie "gegen das Leben von Menschen eingesetzt" werden sollen, auch dann abzuschießen, wenn sich darin (unschuldige) Besatzungsmitglieder und Passagiere befinden. Die Bf. (ua Burkhard Hirsch und Gerhart Baum) argumentieren zum einen, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden dürfe (obwohl Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ja unter einfachem Vorbehalt steht) und dass die Tötung Unschuldiger auch zur Rettung anderer die Menschenwürde verletze, weil die Unschuldigen zu bloßen Objekten staatlicher Opportunität gemacht würden. Die Bf. gehen wohl davon aus, dass eine Tötung Unschuldiger in Friedenszeiten immer menschenwürdewidrig sei. Aber auch sie erkennen an, dass die Täter selbst getötet werden dürfen. Auch sie meinen also, dass das Lebensrecht über die Menschenwürde hinausreiche, wenn auch nicht weit. Der Bundesinnenminister hat unter anderem argumentiert, dass die Unschuldigen im Flugzeug ja ohnehin bald tot seien. Gleichzeitig hat er bestritten, dass in dieser Erwägung ein Abwägen von Leben gegen Leben liege.

Antwort:
Der Erste Senat des BVerfG hat bereits in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 -- 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 -- ausdrücklich klargestellt, dass folgende (jeglicher militärischen Gewalt zugrunde liegende) Denk- und Handlungsweise mit der Verfassung nicht vereinbar sei:

"Die pauschale Abwägung von Leben gegen Leben, die zur Freigabe der Vernichtung der vermeintlich geringeren Zahl im Interesse der Erhaltung der angeblich größeren Zahl führt, ist nicht vereinbar mit der Verpflichtung zum individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens. "

BVerfGE 39, 1 ff - Dem kann man nur zustimmen und fragt sich, wie dann noch militärische Gewalt in staatlichem Auftrag zulässig sein soll.
Wer nachliest, findet des Rätsels Lösung: Es ging um die Verfassungsmäßigkeit der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.

Gemeinwohl, Individualwohl, Ethik, alles drin.
Und nu?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 10. Nov. 2005, 02:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Ein wichtiger Punkt meiner Kritik an einer rein normativen Ethik ist der Umstand, dass Normensysteme nicht „autark“ sind. Normen, deren Aufgabe in der Regelung von Konflikten besteht, setzen offenbar ein gesellschaftliches Zusammenleben voraus. Und damit es Individuen gibt, die überhaupt imstande sind, ihre Interessen mit „allgemein konsensfähigen Argumenten“ zu vertreten, ist eine gewisse, nicht ganz anspruchslose Sozialisation der Individuen nötig. Denn argumentierende Subjekte fallen nicht vom Himmel, wenn sie gerade für einen Normendiskurs gebraucht werden, es muss sie schon geben. Und mir scheint, dass eine Morallehre, die im Namen der Vernunft auftritt, die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit reflektieren sollte.

Das Recht begrenzt und schützt seinem Wesen nach Freiheitsspielräume, es sorgt für die Verträglichkeit individueller oder gemeinschaftlicher Interessen mit den Interessen anderer. Wie die rechtlich begrenzten Freiheitsspielräume genutzt werden, dazu schweigt das Recht. Wie Menschen die Kompetenz erwerben, ihre Freiheitsspielräume sinnvoll zu nutzen, ohne dabei mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, lässt sich aus Gesetzbüchern so wenig lernen wie aus Büchern über diskurstheoretische Normenbegründung.

Dabei liegt es im Interesse des Rechtssystems, dass es von den Bürgern nicht zu stark beansprucht wird. Wenn nämlich jeder kleine Nachbarschaftskonflikt, jeder Streit zwischen Mietern und Vermietern vor Gericht ausgetragen würde, würde das System zusammenbrechen. Es ist aber in Deutschland schon seit Jahrzehnten so, dass die Justizbehörden von der schieren Masse der zu bearbeitenden Fälle erdrückt werden. Die Gefängnisse sind überfüllt. Das macht deutlich: Das Rechtssystem ist keine Institution zur Erziehung von Staatsbürgern, im Gegenteil, wer erst einmal im Gefängnis angekommen ist, der wird dort allenfalls für eine Kriminellenlaufbahn „sozialisiert“.
(Gleichzeitig klagen die staatlichen Schulen über die zunehmenden Sozialisationsdefizite bei den Schülern. Und immer wieder wird gesagt, dass die Schulen keine elementare Erziehung leisten können.)

Ein Blick auf Frankreich und die dort ausgebrochenen Jugendkrawalle sollte ebenfalls deutlich machen, dass Normensysteme für den Konfliktfall nicht genügen, um ein friedliches und befriedigendes Zusammenleben der Bürger zu ermöglichen. Die Menschen, die da nun ihrer Frustration, ihrer Hoffnungslosigkeit gewaltsam Ausdruck verleihen, wurden vom Staat buchstäblich an den Rand gedrängt und sich dort selbst überlassen. Man hat sich mehr für die Ausbildung der Eliten interessiert. Und ein Innenminister, der dieses Problem in Kategorien der Hygiene (konkret: Reinigung der Straßen vom Abschaum) formuliert und es nur mit staatlicher Zwangsgewalt bekämpft, zeigt doch, wie ohnmächtig im Grunde ein Denken in rein rechtlichen Kategorien hier ist.

(Auch dieser Innenminister hat gewiss die "nicht Konsenswilligen als solche identifiziert". Es ist ja auch nicht so schwer, Gewalttätige als solche zu erkennen. Frage ist aber: Wie bekommt man konsenswillige Bürger, die argumentieren und friedlich protestieren statt durch Gewalt auf sich aufmerksam zu machen?)

Kurz: Normen für den Konfliktfall kommen eigentlich immer zu spät.

Die Frage nach dem Gemeinwohl weist nach meinem Verständnis in die Richtung, aus der die Defizite einer rein normativen Ethik ausgeglichen werden könnten. Denn das „Wohl“ der Individuen oder der Gemeinschaft ist ein positiver Begriff. Er bezieht sich gerade auf das, was von der normativen Ethik ausgespart wird – nämlich auf das gute Leben der Individuen und Gemeinschaften sowie die Voraussetzungen, die sie dazu brauchen.


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 10. Nov. 2005, 13:35 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Ich komme zur weiteren Verdeutlichung noch einmal auf diese Deine Sätze zurück:


Quote:Zum einen ist nicht das ganze Leben durchmoralisiert und durchnormiert. Moral und Recht betreffen nur einen begrenzten Ausschnitt unseres Lebens. Weite Bereiche sind – zum Glück – fern aller Pflichten und Rechte. (...) All diese individuelle Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch diese beeinträchtigt werden.

Nun hatte ich zuvor gesagt, ich sei gegen die „Idee eines Konsenses, der die Individualität der Individuen nicht zu integrieren vermag.“ Und ich denke: Weite Bereiche „nicht tangieren“ und „nicht beeinträchtigen“ – also nicht berücksichtigen oder sich selbst überlassen – ist etwas anderes als sie „integrieren“.

Deine Sätze beschreiben sehr treffend die Funktionsweise des liberalen Rechts: Es eröffnet und begrenzt Freiheitsspielräume, die von den Rechtspersonen in eigener Verantwortung genutzt werden können. Es schreibt nicht vor, wie die Bürger ihre Freiheit nutzen sollen, sondern zeigt nur negativ die Grenzen ihrer Freiheit auf und droht für den Fall der Grenzüberschreitung mit Zwang.

Dieses Modell – ich lege hiermit ein weiteres Bekenntnis zum Rechtsstaat ab („...und aus dem Keller drang das dumpfe Dröhnen der Bartaufwickelmaschine...“) – dieses Modell hat seine unbestreitbaren Vorzüge, die keiner von uns mehr missen möchte oder könnte. Nur, es basiert auf Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann. Es rechnet nämlich mit Bürgern, die ihre Freiheit aktiv wahrnehmen und die Verantwortung für ihr Handeln tragen können – also mit selbständigen Subjekten, die ein gewisses Maß an Normen schon verinnerlicht haben müssen und ihr Leben friedlich und befriedigend gestalten können.

Mit Massen von abhängigen Proletariern, Arbeitslosen, Drogen- oder Konsumsüchtigen und unmündig Gläubigen ist kein liberaler Staat zu machen. Dieser Gedanke stand ja hinter der sozialdemokratischen Idee des Sozialstaats und der Arbeiterbildung: Man sah ein: Die Staatsbürger, die selbständig für ihre Rechte eintreten und ihre gewonnene Freiheit zum eigenen Wohl nutzen können, müssen erst noch herangebildet werden. Und dieser Gedanke ist bis heute wahr, wenn auch in der Politik gegenwärtig nicht „en vogue“. Man predigt „Deregulierung“ und „Selbstverantwortung“ und verkleidet mit diesen schönen Begriffen: „Jeder möge selbst sehen, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle.“ Die Konsequenzen, die dieses politische Denken mittelfristig haben wird, zeichnen sich z.B. gerade in Frankreich ab oder an den Stacheldrahtzäunen, die Spanien um seine afrikanischen Enklaven hochgezogen hat oder ...

Eine normative Ethik, wie Du sie favorisierst, fasst dies alles unter „praktische Probleme“ zusammen, die bestenfalls einen Anhang zur eigentlichen Aufgabe bilden. Dagegen behaupte ich, dass eine so begrenzte Moralphilosophie sich blind macht für die notwendigen Voraussetzungen ihres Funktionierens. Der Umstand, dass diese Voraussetzungen reale sind – nämlich aus dem faktischen, historischen Zusammenleben von Menschen bestehen -, ist ein Problem nur dann, wenn man keine Kategorien ausbildet, die differenziert genug sind, um diese Voraussetzungen theoretisch zu erfassen. Ohne solche Differenzierung fallen in der Tat Begriffe/Normen/Prinzipien einerseits und die kontingente Wirklichkeit andererseits schroff auseinander.

Dass eine vernünftige - und mit dem liberalen Rechtsstaat sehr wohl vereinbare - Ethik möglich ist, die allgemeine Normen oder Prinzipien mit der kontingenten, historischen Wirklichkeit zusammenbringt, dafür gibt es Beispiele von Aristoteles bis zu Charles Taylor (oder noch jüngeren Philosophen).

Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 10. Nov. 2005, 17:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

vorweg zu abrazo: mir scheint es an dieser Stelle wichtiger, die Kontroverse über das Verständnis von Moralphilosophie fortzusetzen. Ich bitte da um Dein Verständnis.

Urs, Du bemängelst Defizite einer (normativen) Ethik, die sich auf die Frage konzentriert, wie Menschen handeln sollen bzw. welche Institutionen der Normsetzung angewendet werden sollen.

Eine solche Theorie setze vieles voraus. Z.B. setze die diskurstheoretische Begründung voraus, dass es Individuen gibt, die konsensorientiert argumentieren können. Diese Voraussetzungen, die den Diskurs erst möglich machen, müssten als "Bedingungen der Möglichkeit", die Theorie anzuwenden, mitreflektiert werden.

Da ich derartiger Kritik immer wieder begegne, will ich etwas grundsätzlicher darauf eingehen.

Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten will.

Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich.

Erst wenn man zeigen kann, dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer solchen Frage einen methodischen Fehler dar. (So ist z.B. für die Beantwortung der Frage, wie man eine irrationale heftige Angst vor dem Benutzen von Fahrstühlen beseitigen kann, vorweg die Beantwortung der Frage notwendig, in welcher Situation diese Angst zum ersten Mal aufgetreten ist.)

Ein Kritiker müsste also aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik sehe ich noch nicht.

Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass es mir nicht nur um rechtsförmige Normen geht, sondern um die Möglichkeit, inhaltlich für oder gegen vorgeschlagene Normen zu argumentieren.

Dass eine Gesellschaftsordnung auf der Angst vor rechtlichen Sanktionen nicht dauerhaft aufgebaut werden kann, sondern dass die Mehrheit der Menschen auch von der Richtigkeit dieser Ordnung überzeugt sein muss, ist unbestritten. Man kann nicht hinter jeden Menschen einen Polizisten stellen. Und selbst wenn man dies könnte: Wen soll man hinter den Polizisten stellen?

Urs, Du schreibst:

"Das 'Wohl' der Individuen oder der Gemeinschaft ist ein positiver Begriff. Er bezieht sich gerade auf das, was von der normativen Ethik ausgespart wird – nämlich auf das gute Leben der Individuen und Gemeinschaften sowie die Voraussetzungen, die sie dazu brauchen."

Ich sehe keinen Grund, warum diese Fragestellung nicht verfolgt werden könnte. Eine normative ethische Theorie ist da keineswegs ein Hindernis. Umgekehrt wird eine solche Ethik wahrscheinlich bald gebraucht werden, nämlich dann, wenn man sich uneinig ist, worin denn ein "gutes" Leben der Gemeinschaften besteht.

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 10. Nov. 2005, 18:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!

Quote:Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten will.
Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich. Erst wenn man zeigen kann, dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer solchen Frage einen methodischen Fehler dar.
Ein Kritiker müsste also aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik sehe ich noch nicht.

Meine Kritik ist keine Kritik an Deiner Methode, sondern eine an Deiner eingegrenzten Fragestellung. Und selbstverständlich kann man Fragestellungen kritisieren – z.B. als unangemessen oder zu eingegrenzt. Natürlich ist es Dir - wie jedermann - unbenommen, nur die Fragen zu stellen, die Du wichtig findest. Aber wenn unser Thema das Wohl der Individuen und das Wohl der Gemeinschaft ist, dann kann im Rahmen einer solchen Diskussion doch diskutiert werden, mit welchen Fragestellungen man dem sachlichen Problem beikommt.

Niemand verlangt von Dir, Deine Fragestellungen zu rechtfertigen. Niemand verlangt von Dir, einem Diskussionspartner Rede und Antwort zu stehen. Und selbstverständlich wäre es auch ein Ergebnis der Diskussion, wenn einfach zwei verschiedene Auffassungen von Moralphilosophie nebeneinander vertreten werden.

Quote:Ich sehe keinen Grund, warum diese Fragestellung nicht verfolgt werden könnte. Eine normative ethische Theorie ist da keineswegs ein Hindernis.

Dass eine normative Theorie ein Hindernis für eine Ethik des „guten Lebens“ sei, habe ich auch nicht behauptet. Ich sprach nur davon, dass die Beschränkung auf eine normative Ethik unzureichend sei, und zwar im Hinblick auf die realen gesellschaftlichen Probleme, bei deren Bewältigung philosophische Ethik und Sozialphilosophie helfen sollten (wie begrenzt ihre Möglichkeiten dabei auch immer sein mögen).

Quote:Umgekehrt wird eine solche Ethik wahrscheinlich bald gebraucht werden, nämlich dann, wenn man sich uneinig ist, worin denn ein "gutes" Leben der Gemeinschaften besteht.

Das kann gut sein. Allerdings lässt uns das Recht – wie Du selbst sagst - ja große Spielräume, innerhalb derer viele verschiedene Formen von Gemeinschaft – als Ausdruck gemeinsam genutzter Freiheit – möglich sind. Das geht von der Familie über den Sportverein, den Weltladen, das Technische Hilfswerk... bis zur Religionsgemeinschaft und zur politischen Partei. Alle diese Gemeinschaften streben ein je eigenes gemeinsames Gut an, dessen Verwirklichung auch zum „guten Leben“ der Mitglieder beiträgt. Auch erfüllen solche Gemeinschaften eine wichtige sozialintegrative Funktion – besonders bei Jugendlichen.
Selbstverständlich wären Gemeinschaften zur Förderung des Frauenhandels und der Prostitution mit dem Recht nicht vereinbar; auch könnte man nur sehr bedingt von einem „guten Leben“ der Beteiligten sprechen...


Es Grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 10. Nov. 2005, 23:01 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

was Du eine Ethik des guten Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen Bedürfnisse abhandeln.

Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt, wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen. Die Frage:_ Was ist ein "gutes" bzw. "bedürfnisgerechtes" Leben? verdient eine eigene Diskussionsrunde.

Es grüßt Dich und alle andern Eberhard.

p.s.: Ich werde wegen einer Reise in den nächsten Tagen nur begrenzt aktiv sein können.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 10. Nov. 2005, 23:16 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Metin,

krasses Beispiel: einer hat ein Kind. Und überlegt nun, wie hätte ich meinen letzten Urlaub verbracht, wenn ich kein Kind hätte. Wie kann er das wissen? Dann hätte er ganz andere Interessen, würde anders denken und fühlen - und hätte ein ganz anderes Leben geführt. Wie also will er diese Frage auch nur einigermaßen richtig beantworten können?

Das beantwortet auch gleich die Frage nach der Empathie. Die ist m.E. nur begrenzt möglich. Ich kann nicht sagen, wie einer denkt und fühlt, der in einer anderen Gesellschaft, in einer anderen Umgebung, in einem anderen Klima und mit einer anderen Sprache aufgewachsen ist. Weil ich dies alles nicht kenne. Ist aber nicht so schlimm, denn ich kann mit ihm reden und er kann es mir sagen, bzw. wir können im Gespräch versuchen, uns gegenseitig zu verstehen.

Für sehr wichtig halte ich dein Argument von den gemeinsamen Zielen. Mit deiner Beobachtung hast du meiner Ansicht nach recht. Das ist etwas, was wir vielleicht in unserer Normendiskussion vernachlässigt haben. Verlangen gemeinsame Normen nicht, dass wir gemeinsame Ziele haben? Müsste man also, bevor man über Normen diskutiert, sich nicht erst einmal über die Ziele einig werden?

Ich beziehe das mal auf die Flugzeugabschussdiskussion. Wenn unsere Gesellschaft die Verfassung akzeptiert und deswegen das Ziel hat, wesentliche Inhalte und Sinn zu erhalten, dann könnten wir uns auf eine Norm einigen, die dieses Ziel erfüllt - und darauf hin arbeiten. Denken wir aber nicht an ein gemeinsames Ziel, dann sind wir geneigt, nach unseren privaten Zielen zu entscheiden - und die dürften verschieden sein.

Welche Tatsache soll die empirische Wissenschaft erforschen
Die empirischen Wissenschaften = die Erfahrungswissenschaften. Z.B. Physik, Biologie, Soziologie. Solche Forschungen sind natürlich nicht Aufgabe der Philosophie. Aber sie wäre doch in lächerlicher Weise weltfremd, wenn die Ergebnisse solcher Forschungen sie nicht kümmern würden!

die Normen an hand einer Diskussion ermittelt willst, aber mit der Bedingung, dass die Aussage evident sein muss.
Evident ist für mich nur das, was unmittelbar einleuchtet, also letztlich die Daten, die ich wahrnehme (auch die inneren Wahrnehmungen). Normen müssen nicht evident sein, sonst bräuchten wir sie ja gar nicht zu entwickeln, denn dann wüssten wir, was in dieser oder jener Situation zu tun wäre. Was ich meine ist, dass solche entwickelte Normen stringent, also lückenlos auf Evidentes, und damit meine ich den ethischen Willen, rückführbar sein müssen. Gut, bei schlichten Spielregeln, wie Stopp-Zeichen in roter oder blauer Farbe, ist das nicht nötig. Aber bei allen moralischen Normen meine ich schon, sonst überzeugen sie nicht und wir bekommen keinen Konsens. Und schon gar nicht dürfen Normen dieser grundlegenden Ethik widersprechen. Auch hierfür das Beispiel Flugzeugabschuss: die Verfassungsklage hat ja die Begründung, dass das beanstandete Gesetz unserem Grundgesetz widerspricht, wenn man es analysiert.

ist eine Glaubensanschauung bzw. Weltanschauung zu verwirklichen, die sich gegen die Natur des Menschen richtet?
Setze statt Natur Wesen ein. Denn Natur ist Biologie, und die Biologie hat nichts dagegen, z.B. eine Frau zu vergewaltigen, wenn Mann gerade Lust hat und sie haben will. Der humane Mensch hat etwas dagegen, der ist es, der sich das selbst verbietet.
Ich denke nicht, dass Religionen, die dem Wesen des Menschen entgegen standen, zu Massenbewegungen geworden sind. Sie wurden eben nicht geglaubt oder nur von sehr wenigen. Die Menschen früher werden so viel dümmer als wir heute nicht gewesen sein. Und wir belächeln ja auch die zahllosen neuen 'Propheten' mit ihren selbstgebastelten Religionen, die häufig sehr hübsch romantisch klingen, aber bei genauerer Betrachtung ganz erhebliche Schwächen in der Ethik aufweisen. Die dürften früher auch belächelt worden sein. Religionen, die zu Massenbewegungen wurden, müssen schon was anderes aufgewiesen haben als hübsche (oder, je nachdem, grauslige) Geschichtchen.

Ich hoffe, ich konnte deine Fragen damit beantworten bzw. deine Überlegungen bestätigen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 11. Nov. 2005, 00:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Normativ oder nicht normativ,
das war hier die Frage.

Wenn sich alle an den einfachen Satz halten könnten:

"Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andren zu"

wären keine dicken Gesetzesbücher notwendig.

Sie sind aber notwendig.
Und da das Leben so vielschichtig ist, scheint mir jede Suche nach einer normativen Ethik suspekt und im Sinne von Urs eben auch einschränkend.
Diese normative Ethik a la Kant ist es doch, die die nach Freiheit schreiende Jugend Ethik sofort mit Altruismus gleichsetzen und ablehnen lässt, weil sie sich in ihr nicht glaubt ausreichend entfalten zu können.

Gerade die Verschiedenheit der Interessen macht einen strikten Kanon ethischen Verhaltens gleich einem Küchenrezept, wie bei vielen Religionen, immer unbefriedigend.

So hat denn unser lieber Aristoteles ganz auf einen solchen Kanon verzichtet und vereinigt statt dessen ethisches Verhalten mit persönlichem Glücksstreben!
Wie überaus aktuell,
das nenne ich einen grossen Geist.
Salve
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von JustEndlessWaves am 11. Nov. 2005, 01:23 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 11/10/05 um 17:15:37, Eberhard wrote:Hallo allerseits,


Da ich derartiger Kritik immer wieder begegne, will ich etwas grundsätzlicher darauf eingehen.

Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten will.

Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich.

Erst wenn man zeigen kann, dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer solchen Frage einen methodischen Fehler dar. (So ist z.B. für die Beantwortung der Frage, wie man eine irrationale heftige Angst vor dem Benutzen von Fahrstühlen beseitigen kann, vorweg die Beantwortung der Frage notwendig, in welcher Situation diese Angst zum ersten Mal aufgetreten ist.)

Ein Kritiker müsste also aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik sehe ich noch nicht.

Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass es mir nicht nur um rechtsförmige Normen geht, sondern um die Möglichkeit, inhaltlich für oder gegen vorgeschlagene Normen zu argumentieren.

Dass eine Gesellschaftsordnung auf der Angst vor rechtlichen Sanktionen nicht dauerhaft aufgebaut werden kann, sondern dass die Mehrheit der Menschen auch von der Richtigkeit dieser Ordnung überzeugt sein muss, ist unbestritten.



Hallo Eberhard, [user]

ich bin mir nicht sicher, ob ich das Geschriebene von dir angemessen interpretiere. Fast scheint es, als strebtest du eine Vermittlung antiker Glückstheorien mit der habermasschen Diskursethik an. Allerdings könnte ich mich dahingehend auch täuschen. [ruffle]
Dein Beispiel mit den "Polizisten", das ich jetzt hier aus Übersichtsgründen nicht zitiere, lässt vermuten, dass die "Diskurse der Macht" anderen ethischen Vorstellungen unterworfen sind als der Idealzustand eines herrschaftsfreien Diskurses. Vielleicht wäre ja auch einmal zu überdenken, in welchen diskursiven Zusammenhängen eine "Konsensfähigkeit" gegeben ist?

Gruß,[balloon]
Just
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 11. Nov. 2005, 13:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Hallo Urs,

was Du eine Ethik des guten Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen Bedürfnisse abhandeln.
Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt, wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen. Die Frage:_ Was ist ein "gutes" bzw. "bedürfnisgerechtes" Leben? verdient eine eigene Diskussionsrunde.



Meinen unwirschen Ausfall bitte ich zu entschuldigen. Ich nehme ihn zurück (und habe ihn also gelöscht). Im Sinne einer produktiven Fortsetzung der Diskussion ist es wohl besser, ich erkläre kurz, was ich - im Anschluss an die aristotelische Ethiktradition - mit einer Ethik des "guten Lebens" meine. (Kommt später)

Sicher verdiente die Gegenübsterstellung von normativer Ethik und ("eudaimonistischer") Strebensethik einen eigenen Thread. Aber da das Gemeinwohl-Problem damit eng zusammenhängt, können wir diesen Punkt nicht aussparen.


Mit Bitte um Entschuldigung grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 11. Nov. 2005, 14:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard!


Quote:Hallo Urs,

was Du eine Ethik des guten Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen Bedürfnisse abhandeln.
Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt, wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen.



Das ist ein Missverständnis. Denn eine Ethik des „guten Lebens“ will ja gerade die Fähigkeit des Menschen befördern, seine Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern sie auch zu beherrschen. Diese aktive Fähigkeit der Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung ist es im Grunde, was Aristoles die menschliche „arete“ nennt, und was mit „Tugend“ nur missverständlich auf Deutsch wiedergegeben wird. Die „eudaimonia“ – ebenfalls mit „Glück“ nur missverständlich zu übersetzen – ist die dauerhafte „Wohlgestimmtheit“ oder „Verfassung“ desjenigen Menschen, der seine verschiedenen Bedürfnisse und Bestrebungen zu einer gewissen harmonischen Einheit integriert hat und diese Einheit auch gegenüber den Wechselfällen des Lebens aufrecht erhalten kann – der sich also von glücklichen und unglücklichen Umständen bis zu einem gewissen Grade unabhängig zu machen weiß. Dass eine solche, auf eigener Leistung beruhende „Wohlgestimmtheit“ auch von dem Gefühl der Freude oder lustvollen Erfüllung begleitet wird, ist klar. Aber diese „Glücksgefühle“ sind eben nicht das Wesentliche. Vielmehr ist derjenige, der unkontrolliert und gierig nur nach immer neuen Glücksgefühlen strebt, alles andere als „sittlich vortrefflich“ und „glücklich“ im Sinne eines guten, gelingenden Lebens.

Das Missverständnis, dem die „eudämonistsche“ Ethik heute oft ausgesetzt ist, geht auf Kant zurück und hängt mit dem gewandelten Naturverständnis der Neuzeit eng zusammen.

Aristoteles hatte ein von der Biologie geprägtes Naturverständnis, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung des Lebewesens und seine funktionale „Ganzheit“ („Organismus“) steht. Und im Sinne einer solchen, sich entwickelnden „Ganzheit“ und „Integration“ betrachtet er auch das erfüllte Leben des Menschen. Da der Mensch rationale „Seelenteile“ hat, die ihn spezifisch von Tieren und Pflanzen unterscheiden, kann das Leben des einzelnen Menschen nur dann „naturgemäß“ und für ihn selbst „erfüllend“ sein, wenn darin die rationalen Seelenteile dauerhaft die Führung über die anderen Teile haben. („Führung über“ ist allerdings gemeint als sinnvolle Anordnung und Integration, nicht als tyrannische Diktatur oder gewaltsame Unterdrückung durch Askese.) Ein Mensch, der das zustandebringt, ist selbstbestimmt und „glücklich“, sprich er ist ein „Mensch“ im vollen Sinne.

In der Neuzeit wurde die Physik zu einer Wissenschaft von der unbelebten Natur. Zielstrebige Entwicklung, organische Integration sind in ihren mechanistischen Kategorien nicht mehr denkbar. Und das wirkt sich radikal z.B. in Hobbes’ Anthropologie und der Schilderung des Menschen im „Naturzustand“ aus. Menschen werden als isolierte Individuen (= „Atome“) angesetzt, die von Natur aus nur auf nackte Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung aus sind – nicht auf die Entfaltung eines kohärenten, in sich stimmigen Lebens. Ihre rationalen Anlagen entfalten dabei eher fatale Wirkung. Denn die Fähigkeit der Umsicht und Voraussicht löst beim Individuum eine dauernde Besorgnis um seine Zukunft aus. Den Menschen macht daher, wie Hobbes treffend sagt, schon sein zukünftiger Hunger hungrig. Diese Sorge entfesselt und entgrenzt also das Streben nach Macht und Vermögen, so dass das menschliche Individuum im Naturzustand eine gierige, getriebene Bestie ist. Sie kann nur durch äußere Gewalt – die souveräne „Staatsgewalt“ und ihre Normen eben – in Schach gehalten werden...

Das mag als Skizze genügen.


Ich finde es offensichtlich, dass der aristotelische Ethik-Ansatz nach wie vor aktuell ist. Denn jedem Menschen stellt sich die Aufgabe des gelingenden Lebens – also einer in sich stimmigen Lebensführung, die mit den individuellen Anlagen und gesellschaftlichen Gegebenheiten gestalterisch umgehen kann und das Beste daraus zu machen weiß. Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“ wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt. Aber ein Blick auf unsere Gesellschaft zeigt, dass sie keineswegs einfach vorausgesetzt werden kann, sondern immer wieder aufs Neue erworben werden muss. Und offenbar kann der Einzelne diese Fähigkeit auch nicht allein erwerben, er ist dabei auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen, in der er lebt.


Es grüßt Dich
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 12. Nov. 2005, 00:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

was ist hier eigentlich die Norm?

Wir werden in eine Gemeinschaft hinein geboren und wachsen in ihr auf. Unser ganzes Leben ist auf das Leben in einer Gemeinschaft hin ausgerichtet; wir haben eine Sprache und die wäre völlig unnötig, wenn wir primär allein lebende Individuen wären. Zu sagen, die Individuen hätten einen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen, ist also schon deswegen falsch, weil sie einen solchen Vertrag ohne Sprache gar nicht hätten abschließen können. Der Mensch ist also dem Wesen nach tatsächlich ein zoon politikon.

Wenn wir nun von Individuen ausgehen bei unseren Überlegungen, dann gehen wir nicht von dem aus, was ist, sondern von dem, was sein soll. Wir machen das Dasein des Individuums zu einer Norm. Und weil wir diesen Fehler machen, uns von den Tatsachen zu lösen, bekommen wir mit unseren Überlegungen Schwierigkeiten. Denn wie sollen wir von einem tatsächlich nicht bestehenden Zustand aus - nämlich, dass der Mensch primär ein Individuum sei - einen tatsächlich bestehenden Zustand - nämlich, dass der Mensch ein zoon politikon ist - begründen?

Wir haben die Sorge, dass, wenn es um das Gemeinwohl geht, Willen und Bedürfnisse des Individuums hintan gestellt werden könnten. Ist öfter mal vorgekommen, die Sorge ist also berechtigt.

Allerdings: wieso interessieren die Bedürfnisse des Individuums überhaupt, wenn der Mensch doch ein zoon politikon ist?

Wenn wir uns die grundlegenden Prinzipien der Moral anschauen, also das, was ich den evidenten ethischen Willen nenne (z.B. nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen), stellen wir fest, dass die sich alle auf ein Individuum beziehen. Ich brauche kein Gebot, mich nicht zu töten, mich nicht zu belügen, mich nicht zu bestehlen; das wäre unsinnig. Hier geht es immer um den anderen. Also behaupte ich: es ist nicht das Individuum, das seine Rechte und seine Freiheit garantiert, sie eventuell in einen Vertrag einbringt, sondern es ist die Gemeinschaft, die sie garantiert.

Daraus folgt, eine Gemeinschaft, die so verfasst wäre, dass sie die individuellen Bedürfnisse und Rechte nicht garantiert, widerspricht der humanen Ethik. Weil das der Fall ist, kann es hier zu keinem Konsens kommen, denn Normen, die der humanen Ethik widersprechen, sind nicht konsensfähig.

Das Gemeinwohl kann also aus ethischen Gründen nur so bestimmt werden, dass es das Wohl aller zu ihr gehörenden Individuen ist. Andernfalls ist der Konsens ausgeschlossen.

Wenn wir vom Individuum ausgehen, müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie denn das Individuum leben will oder leben soll. Wir müssen dies positiv definieren. Gehen wir von der Gemeinschaft aus, müssen wir uns nur Gedanken um die negative Definition machen, d.h. wie darf das Individuum nicht leben, weil dies der Gemeinschaft schaden würde. Alles andere überlassen wir ihm selbst.

Urs beschreibt nun den Begriff glückliches Leben im Zusammenhang mit dem Individuum. Hm. Mir würde so ein Leben nicht gefallen. Es wäre mir zu privat. Und außerdem kommt die Gemeinschaft, mit der ich leben will, gar nicht darin vor, höchstens als eine Art Bedrohung, vor der ich mich schützen muss. Ist dir, Urs, aufgefallen, dass in deinem Modell selbst die Gruppen privat sind? Selbst die Parteien in sich abgeschlossene soziale Gruppen, in denen man seinen gemeinsamen Neigungen fröhnt? Und wo ist die Regierung? Wo das Parlament? Wo das politische Engagement, die Einflussnahme, die Mitbestimmung? Es sieht mir danach aus, als ob das alles auf einer anderen Ebene wäre, mit der das private Individuum gar nichts zu tun hat. Aber wer ist dann derjenige, der über Staat und Gesellschaft bestimmt?

Aber etwas anderes beschreibt er damit für das Individuum: nämlich ein Ziel. Sein Lebensziel sei ein glückliches Leben. Könnte aber auch die Gemeinschaft ein Ziel haben? Oder wäre eine primär aus Individuen bestehende Gemeinschaft überhaupt in der Lage, sich ein Ziel zu setzen?

Und wer soll denn dem Individuum seine Freiheitsrechte garantieren? Die Normen? Nun, wer die Freiheitsrechte des Individuums abschaffen will, schafft auch diese beiseite.

Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“ wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt.
Das stimmt, Urs. Nur dass ich da nichts Negatives bei finde. Wenn du aber eine Norm setzen willst, wie das glückliche Leben des Individuums sein soll, dann lässt du ihm doch im Endeffekt weniger Freiheit als der, der es voraussetzt.

Das heißt: lässt (!) nicht eine normative Ethik, die sich auf das Gemeinwohl beschränkt und die auf den Prinzipien der humanen Ethik basiert, dem Individuum letztlich mehr Freiheit?

Gruß
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 12. Nov. 2005, 12:49 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
:-) Hallo Allseits,

Zurückschauend, kann man mit Fug und Recht sagen: Die Fülle der Beiträge hier sind ein Brainstorming. Heutzutage steht in aller Regel ein Brainstorming am Anfang eines Projekts. Ich möchte ausnahmsweise beim Neudeutsch bleiben und damit einige weitere Mosaiksteinchen beisteuern. Gemäss dem Projektmanagement folgt dem Brainstorming die Ausformulierung der Vision, der Fernziele und des Auftrags sowie die Erörterung der Mittel, der Randbedingungen usw. Dann geht es von der Konzeptphase über zur Planung und Umsetzung usw.

Bevor man sich aber dieser Arbeitsflut hingibt, schaut man sich besser noch kurz um: Es könnte ja sein, dass bereits was Pfannenfertiges vorliegt, das man sich, obwohl der Hunger dadurch nicht gestillt wird, als Zwischenverpflegung zu Gemüte führen kann. Daher Frage ich: Was ist denn beim Thema/Projekt <Gemein- und Individualwohl> Vision, Fernziel, Auftrag?

Auf der Zunge liegt mir jedoch eine noch drängendere Frage: An wen richtet sich denn das Produkt, das Ergebnis des Projekts <Gemein- und Individualwohl>? Ich mein da gibt es nur eine Antwort: An alle Mündigen! Und da sich das Brainstorming immer auch um Staat und Gesetz drehte, sind damit gewiss die Wähler und Wählerinnen gemeint, respektive die Abstimmenden, falls zu Sachgeschäften Stellung zu nehmen ist. Aber auch die übrigen Einwohner. Das Produkt, das ja nichts anderes sein kann als ein Text, muss also von jedermann konsumiert werden können! Das bedeutet, dass der Text selbsterklärend, verständlich und attraktiv sein muss. Der härteste Test ist (wie könnte ich bei meiner Herkunft etwas anderes behaupten) die Volksabstimmung!

So und nun kehre ich zurück zur Frage am Ende des zweiten Abschnitts: Was ist denn Vision, Fernziel, Auftrag? Als Antwort schlage ich vor, die Präambel der Verfassung oder des Grundgesetzes als Vision, Fernziel und Auftrag zu lesen. Beispielsweise:

Präambel
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das ....volk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht,
und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung
.......

Mit dem fett Gedruckten wollte ich deutlich machen, dass es hier offensichtlich um Auftrag und Fernziele geht, sowie insgesamt um eine Vision, also um den fernen Stern, der angepeilt wird. Übrigens mit dem ersten Satz der Präambel wird meiner Meinung nach einzig und allein deutlich gemacht, dass Mensch Grenzen anerkennt, z.B.: DIE Wahrheit nicht für sich gepachtet zu haben.

Danke & Gruss --- Euer alltägliches Mosaiksteinchen ;-) ;-) ;-)


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 12. Nov. 2005, 13:42 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!


Quote:Wenn wir vom Individuum ausgehen, müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie denn das Individuum leben will oder leben soll. Wir müssen dies positiv definieren. Gehen wir von der Gemeinschaft aus, müssen wir uns nur Gedanken um die negative Definition machen, d.h. wie darf das Individuum nicht leben, weil dies der Gemeinschaft schaden würde. Alles andere überlassen wir ihm selbst.



Diese beiden Perspektiven, denke ich, schließen einander nicht aus, sondern sie ergänzen sich Und das liegt daran, dass zu den persönlichen Zielen des Individuums auch solche gehören, die es mit anderen Individuen teilt, die also schon gemeinschaftliche Ziele sind. Und was einer Gemeinschaft schadet, hängt jeweils auch vom Selbstverständnis dieser Gemeinschaft ab, d.h. davon, welche Ziele diese Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt.

Eine universalistische normative Ethik wie die von Eberhard vertretene lässt jedoch die Frage nach den individuellen oder gemeinschaftlichen Zielen („Werten“, „Gütern“) insgesamt außen vor. Sie befasst sich nur mit der Form des Verfahrens, durch das Normen im Fall des Zielkonflikts von den Betroffenen gefunden werden sollen. Sie ist also eigentlich eine „Meta-Ethik“.

Meine These hierzu ist, dass der Begriff des Gemeinwohls sich gar nicht auf die Ebene der Form bezieht, sondern auf die Ebene der gemeinschaftlichen Ziele. Er meint also das, was eine Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt und was sich von einem isolierten Individuum gar nicht verwirklichen ließe.

Grundsätzlich müssten sich also eine Ethik der Ziele und eine Meta-Ethik nicht ins Gehege kommen. Was ich an Eberhards Konzept kritisiere, ist die Beschränkung von Ethik auf Meta-Ethik. Eine Meta-Ethik bekommt m.E. ein – so und so bestimmtes – Gemeinwohl gar nicht erst in den Blick. Ihr Universalismus ist eben erkauft durch ihren Formalismus.

Einer der Gründe, den ich gegen diese Beschränkung einwende, ist dieser: Die Meta-Ethik beansprucht, unparteilich zu sein, und zwar gerade deshalb, weil sie sich mit keinem bestimmten Ziel – sei es eines Individuums, sei es einer Gemeinschaft – identifiziert. Die Anwendung des von der Meta-Ethik postulierten Verfahrens aber, behaupte ich, wird faktisch niemals unparteilich sein können. Sie ist gewissermaßen ein Verfahren für Wesen aus einer anderen Welt, nicht für die wirklich existierenden Menschen.

Quote:Ist dir, Urs, aufgefallen, dass in deinem Modell selbst die Gruppen privat sind? Selbst die Parteien in sich abgeschlossene soziale Gruppen, in denen man seinen gemeinsamen Neigungen frönt? Und wo ist die Regierung? Wo das Parlament? Wo das politische Engagement, die Einflussnahme, die Mitbestimmung? Es sieht mir danach aus, als ob das alles auf einer anderen Ebene wäre, mit der das private Individuum gar nichts zu tun hat. Aber wer ist dann derjenige, der über Staat und Gesellschaft bestimmt?

Was verstehst Du unter „privat“? Ein gemeinnütziger Verein oder gar eine Partei gestalten doch gewisse Teile des gesellschaftlichen Lebens, d.h. sie bestimmen aktiv darüber mit, wie das Leben der Gesellschaft ist und sein soll. Sicher, es sind Zusammenschlüsse von „Privatleuten“, aber durch den Zusammenschluss hören diese doch auf, nur Privatleute zu sein.

Die Mitglieder eines Vereins mögen ganz verschiedenen Berufen angehören und für sich und ihre Familien jeweils unterschiedliche Interessen verfolgen. Wenn aber ein Vereinsmitglied als Vereinsmitglied spricht, spricht er eben im Interesse des Vereins, d.h. aller Vereinsmitglieder. Die Vereinigung im Namen eines gemeinsamen Interesses zieht also gewissermaßen eine neue Ebene in der komplexen Interessenstruktur jedes einzelnen Mitglieds ein, und diese ist für jedes Mitglied gleich. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft macht also die „Privatleute“ in einer bestimmten Hinsicht gleich. Und wirkt so auf die Individuen zurück und verändert ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Ziele.

Die Gemeinschaft greift also zunächst einmal schon gestaltend in das Leben ihrer Mitglieder ein und kann, je nachdem, sich darüber hinaus auch zum Ziel machen, über ihre Grenzen hinweg Einfluss zu nehmen – durch Anwerbung neuer Mitglieder, durch öffentliche Verbreitung ihres Programms, durch tätige Hilfe usw.

Da wir alle in der einen oder anderen Weise „Mitglied“ sind, ist die Vorstellung eines völligen Privatlebens eigentlich unrealistisch.

Wenn Du fragst: „Und wo ist der Staat?“ dann verhältst Du Dich gewissermaßen wie der Oxford-Besucher in Gilbert Ryles Beispiel (Du erinnerst Dich an den „Ich, Person, Subjekt“-Thread): Man zeigt ihm verschiedene Colleges, Bibliotheken, Verwaltungsgebäude, bis er irgendwann ungeduldig fragt: „Schön und gut, aber wo ist jetzt die Universität? Warum zeigt man mir nicht endlich die Universität?“
:-)
Quote:(Urs) Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“ wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt.

(Abrazo)Das stimmt, Urs. Nur dass ich da nichts Negatives bei finde. Wenn du aber eine Norm setzen willst, wie das glückliche Leben des Individuums sein soll, dann lässt du ihm doch im Endeffekt weniger Freiheit als der, der es voraussetzt.
Das heißt: lässt (!) nicht eine normative Ethik, die sich auf das Gemeinwohl beschränkt und die auf den Prinzipien der humanen Ethik basiert, dem Individuum letztlich mehr Freiheit?

Natürlich macht eine Ethik des „guten Lebens“ keine inhaltlichen Vorschriften darüber, welche Ziele die Menschen anstreben sollen. Aber sie nimmt die Probleme des Zusammenlebens aus der Perspektive des handelnden Individuums in den Blick, das bestimmte Ziele – wichtigere und langfristigere oder unwichtigere und kurzfristige – verfolgt. Die dabei auftretenden Probleme sind nun nicht unabsehbar verschieden, sondern haben eine gewisse Typik, die sich aus der Struktur des Lebens jedes Einzelnen ergeben.

Und so ermöglicht diese Art von Ethik es ihrem Adressaten, mit diesen bekannten „Klippen“ umzugehen, sich darauf einzustellen – kurz: aus der Erfahrung anderer zu lernen. Diese Ethik verfolgt somit einen „Bildungsauftrag“, sie greift unterstützend ein in den Prozess der „Sozialisation“, den jedes in Gemeinschaften lebendes Individuum ohnehin durchlaufen muss, wenn es seine Interessen verfolgt bzw. sein Lebensglück sucht. Sie hilft ihm also dabei, die Perspektive der Gemeinschaft in die eigene Perspektive zu integrieren.

Begrenzt eine solche Hilfe beim Durchschauen praktischer Problemfelder die Freiheit des Individuums? Ich würde eher sagen, ihr Sinn liegt gerade darin, ihm seine Freiheitsspielräume vor Augen zu führen und sie im Sinne seiner fundamentalen Interessen („Lebensglück“) zu nutzen.


Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 12. Nov. 2005, 23:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

dass zu den persönlichen Zielen des Individuums auch solche gehören, die es mit anderen Individuen teilt, die also schon gemeinschaftliche Ziele sind.

Ist es nicht so, dass die persönlichen Ziele des Individuums zumeist von der/den Gruppen, denen es angehört, bestimmt sind?

Und was einer Gemeinschaft schadet, hängt jeweils auch vom Selbstverständnis dieser Gemeinschaft ab, d.h. davon, welche Ziele diese Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt.

Zustimmung. Dat is relativ.

Eine universalistische normative Ethik wie die von Eberhard vertretene lässt jedoch die Frage nach den individuellen oder gemeinschaftlichen Zielen („Werten“, „Gütern“) insgesamt außen vor. Sie befasst sich nur mit der Form des Verfahrens, durch das Normen im Fall des Zielkonflikts von den Betroffenen gefunden werden sollen. Sie ist also eigentlich eine „Meta-Ethik“.

Meine These hierzu ist, dass der Begriff des Gemeinwohls sich gar nicht auf die Ebene der Form bezieht, sondern auf die Ebene der gemeinschaftlichen Ziele. Er meint also das, was eine Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt und was sich von einem isolierten Individuum gar nicht verwirklichen ließe.


Das ist ein schwieriges Kapitel. Die Bestimmung der Verfahrensform halte ich durchaus für wichtig. Es ist die Frage, wie müssen Normen überhaupt beschaffen sein, damit sie konsensfähig sind. Nehmen wir die Pazifismus-Norm. Keine Gewalt, auch im Falle kriegerischer Aggression soll man gewaltlos Widerstand leisten. Diese Norm ist nicht konsensfähig, weil sie einer in einer bestimmten Kultur gewachsenen Überzeugung universale Gültigkeit verschaffen will - was mit dem heiligen Verteidigungskrieg der Moslems kollidiert. Woraus folgt, dass solche universalen Normen auf etwas anderem basieren müssen als auf einer speziellen Kultur. Und das macht die 'Meta-Ethik' wiederum wichtig und interessant, nämlich mit der Frage, worauf könnten sie dann basieren.

Gehören nicht die gemeinschaftlichen Ziele ebenfalls, was die Frage betrifft, welche überhaupt möglich sind, zur 'Meta-Ethik'?

Die Meta-Ethik beansprucht, unparteilich zu sein, und zwar gerade deshalb, weil sie sich mit keinem bestimmten Ziel – sei es eines Individuums, sei es einer Gemeinschaft – identifiziert.

Die Frage nach den Zielen ist problematisch. Einerseits stimme ich Metin zu: eine Gruppe kann sich konstituieren, aber auch renovieren und erheblich festigen und stärken durch das gemeinsame Ziel. Andererseits, wenn wir uns mit universalen Normen befassen wollen, das wären dann Menschheitsnormen. Und welches Ziel hat die Menschheit? Hier würde ich eine Diskussion verweigern und sagen, beschränken wir uns erst mal darauf, das Beständige zu sichern, also das, was Menschen zu allen Zeiten und an jedem Ort brauchen und wollen (und damit meine ich auch kulturelles). Dann liegt das Ziel in den gegenwärtigen menschlichen Möglichkeiten - wobei die Ethik sich natürlich auch damit auseinander setzen müsste, welche Möglichkeiten sind akzeptabel und welche nicht.

Die Anwendung des von der Meta-Ethik postulierten Verfahrens aber, behaupte ich, wird faktisch niemals unparteilich sein können. Sie ist gewissermaßen ein Verfahren für Wesen aus einer anderen Welt, nicht für die wirklich existierenden Menschen.

Berechtigter Einwand. Ist aber letztlich die Frage, ob es eine zum Wesen des Menschen gehörende allgemeine Ethik gibt. Wenn ja, wäre ein solches Verfahren imho auch möglich. Natürlich würde eine solche Ethik nicht die kulturspezifischen Eigenarten berühren.

So, und der Rest kommt morgen - ich geh jetzt ins Bett.
Ciao!


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 13. Nov. 2005, 23:21 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Urs,

zweiter Teil.
Du hast geschrieben:


Allerdings lässt uns das Recht – wie Du selbst sagst - ja große Spielräume, innerhalb derer viele verschiedene Formen von Gemeinschaft – als Ausdruck gemeinsam genutzter Freiheit – möglich sind. Das geht von der Familie über den Sportverein, den Weltladen, das Technische Hilfswerk... bis zur Religionsgemeinschaft und zur politischen Partei. Alle diese Gemeinschaften streben ein je eigenes gemeinsames Gut an, dessen Verwirklichung auch zum „guten Leben“ der Mitglieder beiträgt. Auch erfüllen solche Gemeinschaften eine wichtige sozialintegrative Funktion – besonders bei Jugendlichen.

Das klingt mir zu privat. Wo bleibt da die Politik? Die Frage nach dem Gemeinwohl ist ja eine politische Frage - und es ist eine Frage, bei der das Privatwohl des Parteimitgliedes durchaus auch in den Hintergrund treten kann. Nach meiner Erfahrung gibt es gar nicht mal so wenige einfache Parteimitglieder, die feststellen, dass es ihnen so gut geht, dass sie eigentlich noch etwas abgeben könnten.

Auch die ehrenamtlichen Tätigkeiten sollte man nicht unterschätzen. Es gibt nicht wenige, die gerne ihre Privatinteressen dafür zurückstellen. Natürlich haben sie Freude an ihrer Tätigkeit. Aber die Freude schöpft daraus, dass sie anderen helfen, nützlich sein, bei ihnen etwas verbessern können (ich habe gerade eine einfache Frau im Kopf, die irgendwie per Zufall dazu gekommen ist, sich in einem Krankenhaus ehrenamtlich um allein stehende Schwerkranke zu kümmern). Also ist nicht nur der Mensch ein zoon politikon, auch seine individuellen Interessen können durchaus auf das Gemeinwohl hin ausgerichtet sein - so dass ich mich frage, ob die derzeitige extreme Individualisierung in der Gesellschaft tatsächlich 'artgerecht' ist, oder ob sie nicht eher einer Ideologie folgt, nach der das räuberische Individuum sowohl als Arbeitskraft als auch als Konsument die besten Gewinne verspricht (was will man auch wirtschaftlich mit einem Individuum anfangen, dass sozial gebunden, also immobil ist und kostenlose Arbeit für andere leistet).

für sich und ihre Familien jeweils unterschiedliche Interessen verfolgen.

Wenn ich mir vergegenwärtige, wie Menschen in meiner Umgebung handeln, dann kann ich nicht finden, dass sie dabei ständig die Interessen für sich und ihre Familien verfolgen. Es ist nicht so, dass die sozialen Gruppen in unserer Gesellschaft ausschließlich Interessenverbände sind, die sich zusammen geschlossen haben, um gemeinsam ihre Privatinteressen besser vertreten zu können. Ich behaupte: es gibt durchaus eine interessierte Basis in der Gesellschaft, die an Eberhards Normendiskurs teilnehmen würde.

Wenn Du fragst: „Und wo ist der Staat?“

Ich denke hierbei aber an etwas anderes. Ich denke an zahllose Bürger, die "den Staat" als Gegner ansehen, als aufgeblähten Fresssack, mit dem sie überhaupt nichts zu tun haben, der ihnen immer nur Geld weg nimmt und seinen Protagonisten zuschanzt, ohne das Geld im Sinne des Gemeinwohles auszugeben und zu verteilen. An "den Staat" der "Bonzen", in dem man zwar ab und zu mal wählen gehen kann, aber doch irgendwie nicht so richtig. An Bürger, die Staat und Gemeinwohl nicht zur Deckung bringen wollen und können.

Diese Ethik verfolgt somit einen „Bildungsauftrag“, sie greift unterstützend ein in den Prozess der „Sozialisation“, den jedes in Gemeinschaften lebendes Individuum ohnehin durchlaufen muss, wenn es seine Interessen verfolgt bzw. sein Lebensglück sucht.

Und hier wiederum, Urs, dieses 'Lebensglück' muss erst einmal möglich sein. Ist das möglich bei Kindern aus Problemfamilien? Ich bestreite das. Das einzige, was ihnen möglich ist, ist, sich kurzzeitig ein paar Krümel vom Kuchen widerrechtlich anzueignen. Z.B. indem sie einem Gleichaltrigen aus besseren Verhältnissen die Jacke oder das Handy abziehen.

Erziehung, Bildung, gute Sozialisation sind eine feine Sache. Aber hier halte ich die universalistische normative Ethik insofern für überlegen, als dass solche universalen Normen überhaupt erst die Voraussetzung dafür schaffen, dass Erziehung, Bildung und Sozialisation allgemein möglich sind. Was nützt dir denn das Ziel des guten Lebens, wenn es für viele aufgrund ihrer Lebensbedingungen gar nicht zu erreichen möglich ist?

Wie sie das gute Leben jeweils sehen, das kann man mit unterschiedlichen Gruppen diskutieren und wird jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aber es muss doch erst mal die Basis dafür geschaffen werden, dass solche Diskussionen überhaupt möglich sind - und dazu gehören die materiellen Voraussetzungen ebenso wie die Grenzziehung zwischen den unterschiedliche Gruppen, von denen jede im Zweifelsfalle behauptet, allein das richtige gute Leben verwirklichen zu wollen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 14. Nov. 2005, 19:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Urs,

Nach einigen Tagen Abwesenheit versuche ich den – inzwischen erheblich weitergesponnenen – Faden wieder aufzunehmen. Du schreibst (am 11.11.) :

"Eine Ethik des 'guten Lebens' will … die Fähigkeit des Menschen befördern, seine Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern sie auch zu beherrschen." Ziel ist ein Mensch, "der seine verschiedenen Bedürfnisse und Bestrebungen zu einer gewissen harmonischen Einheit integriert hat und diese Einheit auch gegenüber den Wechselfällen des Lebens aufrecht erhalten kann – der sich also von glücklichen und unglücklichen Umständen bis zu einem gewissen Grade unabhängig zu machen weiß."

Wenn ich dich richtig verstehe, so geht es in dieser Passage um spezielle Interessen des Individuums, die sich auf die Formung seiner eigenen Person richten, also um Ziele der Selbsterziehung. Das heißt, dass das Individuum, um dessen Wohl es geht, in seiner Persönlichkeit nicht als gegeben angesehen wird, sondern selber etwas Veränderliches darstellt.

Diesen Punkt halte ich für wichtig, weil er die spezifisch menschliche Fähigkeit zum Bezug auf sich selbst einbringt. Allerdings können die Ziele der Selbsterziehung dem Individuum nicht als fertige Ideale vorgegeben werden. Diese Ziele müssen vom Individuum selber gewollt werden. Das Individuum muss selber ein Interesse an dieser Entwicklung haben. Nur unter dieser Bedingung wird durch den Erwerb dieser Fähigkeiten sein Wohl auch wirklich gefördert.

Es stellt sich die Frage: Wie ist das mit den Fähigkeiten, die vorhanden sein müssen, damit ein Individuum überhaupt seine "echten" Interessen (einschließlich seiner Interessen an der Entwicklung und Reifung der eigenen Persönlichkeit) erkennen kann? Kann man das Interesse an der Fähigkeit zur klugen, fehlerfreien Bestimmung der eigenen Interessen immer voraussetzen? Muss dieses Interesse immer als gegeben angenommen werden? Oder speist sich die Motivation zur Rationalität aus den schlechten Erfahrungen mit unreflektierter Bedürfnisbefriedigung?

Gewöhnlich wird das Interesse an der eigenen Rationalität offenbar vorausgesetzt. Wenn einem Individuum dies Interesse fehlt, so wird es für unmündig erklärt und das Verhältnis zu ihm wird offen als ein (fürsorgliches) Herrschaftsverhältnis verstanden.

Soviel erstmal von Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 14. Nov. 2005, 21:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Zitat: Eine Katastrophe wird mit der andern Katastrophe konkurieren die Katastrophengruppierung zu verherrlichen. /homo_sapiens, 14.11.05 09:44 Uhr/

:-) Lieber homo_sapiens,
Es ist doch nicht die Frage, ob es Katastrophen gibt - Es gibt solche, da sind wir uns einig -, sondern Frage ist, wie mit Katastrophen umzugehen ist.
Manchmal ist das kinderleicht: In katastrophenträchtigen Situationen soll man nicht nur kein Öl ins Feuer werfen, sondern womöglich Energie entziehen.



Zitat: Und hier wiederum, ... dieses 'Lebensglück' muss erst einmal möglich sein. Ist das möglich bei Kindern aus Problemfamilien? Ich bestreite das. /Abrazo, 13.11.05 23:21 Uhr/

:-) Hallo Abrazo,
mit viel Geduld ist es nicht selten, doch möglich, meist indem man Energie herausnimmt.


Zitat: Wenn ich dich richtig verstehe, so geht es in dieser Passage um spezielle Interessen des Individuums, die sich auf die Formung seiner eigenen Person richten, .... /Eberhard, 14.11.05 19:50 Uhr/

:-) Hallo Eberhard,
Ich möchte Deinen Gedanken noch etwas zuspitzen: Was ist das Ziel der Erziehung? Angesichts dieser Frage, verwirft man schnell die Hände und wendet sich ab. Ich meine auf diese Frage eine zustimmungsfähige Antwort geben zu können: Das Ziel der Erziehung ist es, jemanden so zu erziehen, dass er sich selbst erziehen kann.

Für viele darf das nur eine Teilantwort sein, weil für sie die Richtung fehlt. Aber genau damit hat so manche Individualkatastrophe angefangen.

Du fragst: <Kann man das Interesse an der Fähigkeit zur klugen, fehlerfreien Bestimmung der eigenen Interessen immer voraussetzen? Muss .... ? Oder speist sich ....?> Und ich denke: Ach wie sind diese Fragen doch normenträchtig! Um alles in der Welt! Wie und wann soll einer etwas lernen, ohne "Versuch und Irrtum".

Danke & Gruss --- Euer fürsorglicher Alltag

P.S.: Irgendwie hat doch das noch mit dem Thema zu tun, oder?


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
--------------------------------------------------------------------------------
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 15. Nov. 2005, 11:43 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

es scheint mir angebracht zu sein, sich erst einmal darauf zu besinnen, was ein Gemeinwesen überhaupt ist. Wodurch wird es umschlossen? Da haben wir bei einem Verein die Mitgliederschaft. Die Mitglieder sind im Vereinsregister eingetragen und können sich meist auch als solche ausweisen. Es handelt sich also um eine klar definierte und begrenzte Menge. Das gleiche gilt für eine Gesellschaft, die einen Staat bildet. Ihr Mitgliedsausweis ist der Personalausweis.

In jedem Verein gibt es eine Minderheit, die sich engagiert oder die mit dem Verein bestimmte Privatinteressen durchzusetzen trachtet. Die Mehrheit zählt zu den Mitläufern oder gar Karteileichen. Sie gehören dem Verein zwar an, weil sie ihn wichtig finden, ihn unterstützen möchten oder sich im Notfall Vorteile durch die Unterstützung des Vereins erhoffen, beschränken sich aber ansonsten auf die Zahlung der Mitgliedsbeiträge.

Üblicherweise dominieren die Engagierten. Sie bilden Flügel und Parteien, raufen sich miteinander und sind auch wissensmäßig, sowohl was Sachthemen betrifft, als auch, was Informationen über Interna betrifft, allen anderen Mitgliedern weit überlegen.

Den übrigen Vereinsmitgliedern macht das nach dem Motto 'lass andere arbeiten' so lange nichts aus, wie ihre Interessen nicht vernachlässigt werden, ja, so lange, wie sie überhaupt noch als vorhanden wahrgenommen werden. Denn es kann vorkommen, dass die Dominierenden gar nicht mehr merken, dass es da auch noch andere Vereinsmitglieder gibt. Was nicht selten dazu führt, dass der Verein zerbricht.

Beziehen wir das auf den Staat. Auch da gibt es zweifellos dominierende Gruppen, die zumeist der bürgerlichen Lebensform angehören. Wenn ich mir einige Äußerungen hier anhöre, habe ich den Verdacht, dass es da noch andere, nicht bürgerliche Vereinsmitglieder gibt, wird übersehen. Das zeigt sich, wenn vom Thema Erziehung und Enkulturation die Rede ist. Die liberalen bürgerlichen Erziehungsmaßstäbe werden absolut gesetzt. Es wird nicht beachtet, dass die keineswegs allgemein als richtig anerkannt sind. Schon in kleinbürgerlichen Kreisen kann man mit Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung nicht viel anfangen; gefragt ist Anpassung, und zwar bis hinein in die unmittelbare persönliche Umgebung, und das Erziehungsziel ist ganz klar, dem Nachwuchs durch eben diese Anpassung zu ermöglichen, ein Leben auf möglichst sicherer materieller Grundlage zu führen. Hier ist eine Erziehung zur Selbsterziehung nicht gefragt, denn diese bietet die Gefahr, dass zum Einen das Individuum die Sicherheit aufgibt, die die materielle Grundlage bietet, dass das Individuum sich zum anderen von den sozialen Verpflichtungen löst, die den Lebensverlauf in seiner sozialen Gruppe bestimmt und von deren Einhaltung alle abhängig sind. Das Ergebnis eines solchen Verhaltens wäre wahrscheinlich Rausschmiss und Diskriminierung.

Wir können also von denen, die nicht die sichere materielle Basis des Bürgertums haben, nicht erwarten, dass sie sich für das Ziel der Verwirklichung bürgerlicher Freiheiten überhaupt interessieren. Ich komme eben immer wieder darauf zurück, dass die materielle Lebenswirklichkeit die Basis für die Humanisierung des Menschen ist. Das heißt, wenn in einer Gemeinwohldiskussion Konsens über die Förderung der Humanität bestehen sollte, dann folgt daraus notwendig, dass es im Sinne des Gemeinwohls ist, die materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen und dass es sinnlos ist, ohne die Schaffung der materiellen Voraussetzungen Humanität zu predigen und damit ein hehres Ziel an die Decke zu hängen, das mangels Vorhandensein von Leitern der größte Teil derer, die im Predigtsaal versammelt sind, auch nicht ansatzweise erreichen können.

Was folgt daraus, wenn man auf die herrlichen Geschenke weist, die jedermanns Ziel sein sollten - und übersieht, dass nur die ihrer habhaft werden können, die sich eine Leiter beschaffen können? Die anderen werden die Leitern zerbrechen. Und zwar schon dann, wenn sie merken, dass sie von den tollen Sachen nur ein paar Brosamen nach Gusto der Besitzenden abkriegen. Dies wird um so eher der Fall sein, wenn die Leiterbesitzer gar nicht mehr sehen, dass da unten etliche Leute herum krauchen, von denen sie behaupten, dass die leider nicht wollen, während sie in Wirklichkeit nicht können.

Fazit: wenn wir von Gemeinwohl reden wollen, müssen wir erst einmal feststellen, von welcher Gemeinde wir überhaupt reden - und wer alles dazu gehört. Sonst brauchen wir nämlich gar nicht erst mit einem Bemühen um einen Konsens anzufangen, denn unsere Vorschläge werden möglicherweise gar nicht konsensfähig sein. Vorstellungen von dem, was für das Individuum gut und richtig ist, werden in den meisten Fällen nicht konsensfähig sein, denn wenn die Gemeinde nicht definiert ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich hierbei um den Vorschlag handelt, eigenen Gruppennormen zur Allgemeingültigkeit zu verhelfen; als solche sieht man sie an, weil man gar nicht zur Kenntnis genommen hat, dass die Gemeinde nicht nur aus der eigenen Gruppe besteht.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 15. Nov. 2005, 17:10 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

Ich will noch einmal darlegen, in welchen Zusammenhängen ich die Fragen nach dem Wohl der Individuen und dem Gemeinwohl sehe.

Die Theorie der rationalen Entscheidung bemüht sich um die Beantwortung der Frage, welche Handlungen eines Subjektes dessen Wohl am besten verwirklichen. Es wird nach einer „klugen“ Entscheidung gesucht, die das Subjekt nicht bereuen muss.

Die Ermittlung der in diesem Sinne besten Entscheidung stellt an das Subjekt (bzw. dessen Ratgeber) folgende Anforderungen:

- es muss in der Lage sein, empirische Daten zu erfassen, um die Ausgangssituation in ihren entscheidungsrelevanten Aspekten richtig und möglichst vollständig zu beschreiben,

- es muss Wissen über empirische Regelmäßigkeiten besitzen, um die zu erwartenden Konsequenzen der möglichen Handlungsstrategien zu erkennen,

- es muss die Wahrscheinlichkeiten der zu erwartenden Konsequenzen abschätzen und bei der Entscheidung berücksichtigen können,

- es muss sich seiner verschiedenen Ziele bewusst sein und diese Ziele gewichten können, um die zu erwartenden Konsequenzen nach diesen Kriterien bewerten zu können.

Weil eine nach diesen Kriterien durchdachte Entscheidung einen Aufwand erfordert, der je nach Zeithorizont und Detailliertheit der Berechnungen auch sehr hoch sein kann, bedarf es gleichzeitig eines Überblicks über die Angemessenheit des betriebenen Entscheidungsaufwands.

Wenn ich ein Auto kaufe ist z.B. ein höherer Aufwand bei der Entscheidungsfindung gerechtfertigt als beim Kauf eines Rasierapparates.

Die Entscheidungskosten sind auch einer der Gründe, warum Individuen für wiederkehrende Typen von Situationen und Entscheidungen bestimmte Grundsätze oder Prinzipien ausbilden, nach denen sie gewohnheitsmäßig handeln. Die einmal gefundenen Entscheidungen gelten dann nicht nur für eine bestimmte Situation sondern für eine ganze Klasse gleichartiger Entscheidungssituationen.

Insofern das Subjekt in einer Welt mit anderen Akteuren lebt, die ebenfalls ihre Ziele verfolgen, muss es deren Handeln in seine Überlegungen mit einbeziehen. Das Handeln mehrerer Akteure, die unabhängig voneinander ihre Interessen verfolgen, wird modellhaft von der Spieltheorie untersucht. Das Resultat dieser Analysen sind Empfehlungen hinsichtlich der für einen Akteur besten Handlungsstrategie.

Die Frage, die ich stelle, unterscheidet sich von dieser Perspektive insofern, als ich voraussetze, dass die Individuen eine gemeinsame Entscheidung finden wollen. Sie wollen als Gemeinschaft handeln und stehen damit vor der Frage: Was ist die für uns alle beste Entscheidung? Welche Entscheidung entspricht am besten dem allgemeinen Wohl?

Dies beantwortet auch die Frage von Abrazo: Die Theorie des Gemeinwohls bezieht sich auf alle Kollektive, die in bestimmten Bereichen einheitlich handeln und die für alle Einzelnen, aus denen sich das Kollektiv zusammensetzt, geltende Normen aufstellen.

Mir geht es also um die Beantwortung der Frage, welche Entscheidungen, Normen und Handlungen das Gemeinwohl verwirklichen, wobei ich unter "Gemeinwohl" etwas verstehe, das von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft trotz unterschiedlicher und miteinander im Konflikt befindlicher Interessen akzeptiert und gemeinsam gewollt werden kann.

Abschließend noch ein Wort zur Begrifflichkeit: Ich würde in Bezug auf die skizzierte Fragestellung nicht von "Meta-Ethik" sprechen, da unter Metaethik üblicherweise die sprachanalytische Untersuchung ethischer Aussagen verstanden wird. Die Metaethik untersucht normative Sätze, sie behauptet selber aber keine Normen. Im Unterschied dazu dient die skizzierte Theorie des Gemeinwohls der normativen Regelung des Handelns angesichts unterschiedlicher Interessen der Individuen.

Es grüßt alle an normativen sozialen Fragen Interessierte Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 16. Nov. 2005, 11:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

" ... wenn wir von Gemeinwohl reden wollen, müssen wir erst einmal feststellen, von welcher Gemeinde wir überhaupt reden - und wer alles dazu gehört. Sonst brauchen wir nämlich gar nicht erst mit einem Bemühen um einen Konsens anzufangen, denn unsere Vorschläge werden möglicherweise gar nicht konsensfähig sein." Abrazo & Hund

Wenn das nicht auf provinzieller Vereinsebene verbleiben soll, scheint mir wichtig, nicht nur die Gruppen, mit denen sich Gemeinwohl und Individualwohl entfaltet, sondern auch die jeweiligen Strukturen dieser Gruppen zu berücksichtigen und herauszustellen. In welchem Verhältnis stehen etwa gesellschaftliche Gruppen die religiös strukturiert sind, zu gesellschaftlichen Gruppen die ihre praktischen Regeln nicht über Religion finden, für die Religion nicht das Entscheidene ist? Was bedeutet das, etwa für den Begriff des Allgemeinwohles? Einleitend, dazu:

Nach Fukuyama ist mit der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie die Geschichte an ihren Endpunkt angekommen. Die Entfaltung von Naturwissenschaft und Technologie, in Verbund mit Ökonomie, führe notwendigerweise zu liberaler Demokratie. Die Rationalität der Weltgesellschaft "basiere auf den Prinzipien technologischer Funktionalität und ökonomischer Effizens ebenso wie auf dem politischen Diskurs freier, mit Selbstbewusstsein ausgestatteter Bürger."

Dagegen liesse sich fragen, ob nicht auch die in Europa wurzelnde Demokratie mit dem Scheitern des Kommunismus und dem politischen Umbruch in Osteuropa zu ihren Ende gekommen ist? Und wenn ja, ob dann nicht ebenfalls abendländische Metaphysik, monotheistische Religion und die damit manifestierenden Moralen zu ihren Ende gekommen? Wenn nicht, welche Aufgabe übernehmen diese im favorisierten Rahmen der Rationalität der Weltgesellschaft. Was bedeuten dann Metaphysik, Philosophie ... bei der Definition des Allgemeinwolhes? Die seit 1789 institualisierte Demokratie, Volk und Nationalstaat, geben jedenfalls seit der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie nicht mehr den Rahmen der ökonomischen Unternehmungen Europas ab, an dem sich europäische Bürger orientieren. Westeuropäische Bürger finden ihre Freiheit nicht mehr mit ihren angestammten politischen Ordnungsgefüge; europäische Nationen werden, süd- mittel- und nahosteuropäische Innenpolitik wird nicht mehr von jener Nationalstaatlichkeit begrenzt und entgrenzt, die sich mit der kapitalistischen Expansion Westeuropas (Kolonialisierung, Weltriege) entfaltete. Die Bürger der liberalen Weltdemokratie "seien lediglich juristische Personen mit Rechten und Pflichten. Sie befinden sich in einem abstrakten Raum mit zunehmend ungewissen territorialen Grenzen. ... Es wird unerheblich sein, ob Privatunternehmen oder Verwaltungsbeamte eine Norm durchsetzen. Die Norm wird nicht mehr Ausdruck der Souveränität (etwa Religion, Metaphysik, p.) sein, sondern einfach ein Faktor, der Ungewissheit reduziert, ein Mittel zur Senkung der Transaktionskosten, indem sie die Transparenz der sozialen Interaktionen erhöht." Recht wird "reduziert auf einen Regelkodex und nur durch den täglich erbrachten Beweis seiner Funktionsfähigkeit legitimiert." Diese sozioökonomische Abstraktheit ist jene des Pragmatismus, da diese aus allem anderen resultiert, jedoch nicht, etwa aus monotheistischer Religion oder aus, weniger aktuell, Institutionen territiol begrenzter Staatlichkeit. Unterschiede somit Identität manifestieren sich nicht mit der Rationalen Norm us-amerikanischer und europäischer ökonomisch-kapitalischer Expansion, sondern mit jenem Bereich der beispielsweise als Glauben auftritt, d.h. mit Religionen (weltweit als Polytheismus) und entsprechenden Moralen. Dieser Bereich bietet Prinzipien, welche die, etwa von abendländischer Metaphysik, Kant ... entgrenzte Rationale Logik gesellschaftlicher Vernetzung somit auch liberale Demokratie nicht hergibt.

Nach Huntigton "eroberte der Westen die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Werte oder seiner Religion, ... sondern durch seine Überlegenheit in der Anwendung organisierter Gewalt ... Um die Kultur des Westens bei schrumpfender Macht des Westens zu bewahren, sei es ... unter anderem nötig, die technologische und militärische Überlegenheit des Westens über andere Kulturen zu behaupten. ... weil sie das mächtigste Land des Westens sind, falle diese Aufgabe überwiegend den USA zu."

Das Gesellschaft Zusammenhaltene ist nach Fukuyama und Huntigton also nicht Religion, abendländische Metaphysik sowie die damit auftretenden Moralen und Diskurse, auch nicht europäische Nationalstaatlichkeit, sondern die Rationalität liberaler Weltgesellschaft. Mit den "Prinzipien technologischer Funktionalität und ökonomischer Effizens" auftretend übernehme die liberale Weltdemokratie jene Sinnstiftung, die bisher in Europa monotheistische Religion, Metaphysik ..., aber auch Nationalstaatlichkeit, Patriotismus ... für sich in Anspruch nahm, Normen der Gesellschaft zu favorisieren. Sollten derartige Veränderungen struktureller Zusammenhänge nicht ebenfalls berücksichtigt werden, wenn die Frage nach dem Verhältnis Gemeinwohl sowie Individualwohl diskutiert wird? Wenn sich Identität von gesellschaftlichen Gruppen etwa über Religion und nicht über liberale Demokratie verzeitigt, sollte bei der Behandlung der Frage nicht vernachlässigt werden, die Strukturen dieser Gruppen näher zu bestimmen? Denn die mit der liberalen Demokratie expandierende Normativität findet ihre Begrenzung mit jenen gesellschaftlichen Gruppen, denen nicht institualisierte Diskurse der Maßstab der Freiheit sind. Das gilt ebenso für die Innen- wie auch der Aussenpolitik verschlankter Staatlichkeit im sogenannten globalen Zeitalter.

"Mir geht es also um die Beantwortung der Frage, welche Entscheidungen, Normen und Handlungen das Gemeinwohl verwirklichen, wobei ich unter "Gemeinwohl" etwas verstehe, das von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft trotz unterschiedlicher und miteinander im Konflikt befindlicher Interessen akzeptiert und gemeinsam gewollt werden kann." Eberhard

Was akzeptieren denn die unterschiedlichen Mitglieder einer Gesellschaft die, religiöse Identität und liberale Normativität favorisieren, als Gemeinwohl? Was ist denn überhaupt das Gemeinwohl der von diesen Ausrichtungen geprägten Gesellschaft im sogenannten globalisierten Kapitalismus? Sollte nicht erst diese Frage behandelt werden, bevor von Entscheidungen, Normen und Handlungen, mit denen Gemeinwohl verwirklicht werden soll, die Rede sein kann?

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 16. Nov. 2005, 11:57 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

Ich will meine Skizze zur Funktion des Begriffs "Gemeinwohl" noch etwas detaillierter ausführen.

Mehrere Einzelne, die eine Gemeinschaft bilden und gemeinsam handeln, stehen vor der Frage: Was ist die für uns alle gemeinsam beste Entscheidung? Oder kürzer: Welche Entscheidung entspricht dem allgemeinen Wohl?

Diese Frage wird gestellt unter der Annahme, dass diejenige Entscheidung, die dem allgemeinen Wohl entspricht, für alle Einzelnen normativ gilt und von diesen zu respektieren ist.

Wenn dies für den Einzelnen jedoch mehr sein soll als eine Forderung nach Gehorsam und Unterordnung, so muss das allgemeine Wohl so bestimmt werden, dass es auch allgemein konsensfähig ist.

An diesem letzten Satz scheiden sich gewöhnlich die Geister und ich gebe zu, dass der Begriff der „allgemeinen Konsensfähigkeit“ eine Reihe zum Teil noch unbefriedigend beantworteter Fragen aufwirft.

Zum einen handelt es sich um einen Möglichkeitsbegriff: die Zustimmung aller Einzelnen muss möglich sein, sie muss nicht tatsächlich stattgefunden haben.

Dagegen wird der Einwand erhoben, dass dies kein brauchbares Kriterium ist, denn man kann praktisch allem zustimmen, wenn die Zustimmung darin besteht, bei einer bestimmten Frage ja zu sagen, die Hand zu heben oder auf einem Zettel etwas anzukreuzen.

Dieser Beliebigkeit stehen jedoch bestimmte allgemeine Annahmen über den Menschen entgegen, die meist nicht explizit gemacht werden sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. So wird angenommen, dass kein Individuum einer Alternative zustimmt, zu der es andere verfügbare Alternativen gibt, die für das betreffende Individuum besser sind, die also seinem individuellen Wohl mehr entsprechen.

Die tatsächliche Zustimmung kann sinnvoller Weise kein Kriterium dafür sein, ob eine bestimmte Alternative dem Allgemeinwohl entspricht oder nicht. Wenn Individuum A sich aus Zeitmangel, aus Desinteresse oder weil es die ganze Argumentation nicht versteht noch gar nicht die Frage vorgelegt hat, ob es der Alternative x zustimmt oder nicht, dann kann die fehlende Zustimmung von A kein inhaltliches Argument gegen dagegen sein, dass Alternative x dem Gemeinwohl entspricht.

Wie man sieht, ist die Konsensusfähigkeit, um die es hier geht, nicht dasselbe wie ein Abstimmungsverfahren nach dem Prinzip der Einstimmigkeit.

Aus der Argumentation über das allgemeine Beste ergeben sich Überzeugungen der Individuen hinsichtlich des Gemeinwohls, jedoch bewegen sich diese Überzeugungen auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit.

Dies ist noch nicht automatisch auch das sozial Verbindliche. Dazu bedarf es besonderer institutioneller Aktivitäten.

So können die Überzeugungen der Individuen unterschiedlich bleiben, weil z.B. mehrere Ansichten zum Gemeinwohl rational vertretbar sind aufgrund unterschiedlicher empirischer Annahmen über die Auswirkungen bestimmter Handlungen.

Die inhaltliche Diskussion darüber, ob eine bestimmte Norm dem Gemeinwohl entspricht, kann deshalb auch stellvertretend geführt werden, indem man in Bezug auf die Interessenlage von Einzelnen oder Gruppen bestimmte Annahmen macht.

Dies entschärft etwas die von Abrazo betonte Problematik, dass es Lebensverhältnisse gibt, unter denen sich ein Mensch derartige Fragen weder stellen will noch kann.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 16. Nov. 2005, 21:38 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ich hatte geschrieben, dass der Begriff des allgemeinen Wohls eine normative Bedeutung für das Handeln der Einzelnen hat. Das, was dem allgemeinen Wohl dient, ist grundsätzlich zu verwirklichen, auch wenn es dem Einzelnen keinen Vorteil bringt sondern für ihn eine Einschränkung bedeutet.

Ich hatte jedoch die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen gemacht:

Erstens der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit.

Hier ist der inhaltliche argumentative Streit angesiedelt, ob ein bestimmtes gemeinsames Handeln dem allgemeinen Wohl dient oder nicht. Dabei treten all die Probleme auf, die auch bei der Entscheidungsfindung zum eigenen Wohl eine Rolle spielen (Prognose von Folgewirkungen, Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten, Bestimmung des Bereichs der verfügbaren Alternativen, Gewichtung und Abwägung von Interessen u.a.m.). Hinzu kommen die besonderen Probleme einer kollektiven Entscheidung, insbesondere die interpersonale Gewichtung und Abwägung von Vor- und Nachteilen für die Einzelnen.

Zweitens der Ebene der sozialen Verbindlichkeit.

Hier wird der „endlose Streit der Gelehrten“ verlassen und es werden „Nägel mit Köpfen“ gemacht. Angesichts eines konkreten Problems wird eine einzelne Entscheidung oder eine generelle Norm als verbindlich „gesetzt“. Dazu müssen Verfahren der Normsetzung institutionalisiert werden (Regierungen, Gerichte, Eigentumsrechte, Befehlsbefugnisse, Entscheidungsgremien, Verträge etc.). Die Verfahren der Normsetzung greifen dabei auf die inhaltlichen Diskussionsergebnisse zurück und stehen weiterhin unter dem Anspruch der Gemeinwohlorientierung.

Die Bestimmung des Gemeinwohls geschieht nach diesem Verständnis auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit. Die Probleme des praktischen Handelns (Zeitdruck, beschränkte Ressourcen, Informations- und Entscheidungskosten) spielen keine Rolle. Die theoretische Diskussion geschieht also „handlungsentlastet“.

Das Gemeinwohl ist zwar der Orientierungspunkt des individuellen Handelns und der verfahrensmäßigen Normsetzung, aber den Überzeugungen der Einzelnen vom Gemeinwohl kommt keine unmittelbare Verbindlichkeit für das Handeln zu. Dazu bedarf es eines kollektiven Entschlusses.

Ohne die Unterscheidung zwischen den zwei Ebenen der inhaltlichen Richtigkeit und der sozial gesetzte Verbindlichkeit und ohne Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen beiden Ebenen kann m.E. keine brauchbare normative Theorie des Gemeinwohls entwickelt werden.

Ich bitte um Nachsicht für diese zugegebenermaßen recht abstrakt geratenen theoretischen Erörterungen und hoffe auf eine Konkretisierung anhand von Beispielen.

Bis dann grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 18. Nov. 2005, 10:53 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ich gehe einmal von einer Gemeinschaft aus, die im Sinne des Gemeinwohls handeln will.

Angenommen, es würde innerhalb dieser Gemeinschaft immer wieder zu Konflikten kommen, weil sich Mitglieder der Gemeinschaft durch Lärm in ihrer Nachtruhe gestört fühlen.

Weiterhin sei angenommen, dass allen Mitgliedern ein ungestörter Nachtschlaf wichtiger ist als die Möglichkeit, zu nächtlicher Zeit Tätigkeit nachzugehen, die mit lauten Geräuschen verbunden sind. Das heißt, dass es für alle besser wäre, wenn die nächtliche Ruhe eingehalten würde.

In diesem einfach gelagerten Fall könnte man sagen, dass die Einhaltung einer solchen Norm dem Gemeinwohl entspricht, weil sie für alle besser ist als der ungeregelte Zustand.

Da die Menschen zwar verschieden sind, aber da es auch vieles gibt, was allen Menschen gemeinsam ist, gibt es zahlreiche Regelungen, die für alle einzelnen vorteilhaft sind. In diesem Fall – auch nur in diesem Fall – lässt sich das Gemeinwohl durch die Anwendung der Goldenen Regel bestimmen: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“

Diese Regelungen, die unter normalen Bedingungen und in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle dem Wohle aller Einzelnen und folglich auch dem Wohle der Allgemeinheit dienten, machen den Grundbestand der üblichen, von Generation zu Generation weitergegebenen Moral aus. In traditionellen Gesellschaften, in denen der Einzelne noch abhängiger war von seiner sozialen Umgebung, reichte für die Durchsetzung solcher Normen die moralische Verachtung der Mitmenschen gegenüber demjenigen, der diese Normen verletzte. Ein besonderer Apparat von Polizei, Gerichten und Strafvollzugsanstalten war dort nicht nötig, wo jeder jeden kannte und wo jeder auf sein soziales Ansehen achten musste, weil davon sehr viel für ihn abhing.

Es grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 18. Nov. 2005, 23:11 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Eberhards #58 stimme ich zu.

Philoschall, die Thesen Huntingdons und Fukuyamas kann man imho getrost auf den Müll werfen. Nach wenigen Jahren hat sich erwiesen, dass die USA das meist gehasste Land der Erde sind, als Kultur ein Negativbeispiel für eine Entwicklung, die man auf keinen Fall einschlagen möchte - und auch die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen, hat sich als äußerst begrenzt erwiesen. Mit anderen Worten: eine Seifenblase.

die Zustimmung aller Einzelnen muss möglich sein

Dieser kleine Halbsatz erscheint mir sehr wichtig. Was heißt, die Zustimmung muss möglich sein?

Nehmen wir als Beispiel unser Grundgesetz. Es ist von einer kleinen Gruppe entwickelt und niedergeschrieben worden und von einer weiteren kleinen Gruppe beschlossen worden. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der dem Grundgesetz nicht zugestimmt hätte. Einwände kamen stets aus formalistischer Richtung: es sei nicht in einer Volksabstimmung abgesegnet worden. Nie aber inhaltlicher Art. Das Grundgesetz war also zum Zeitpunkt, als es niedergeschrieben wurde, offenbar ein Normenkatalog, zu dem Zustimmung möglich war. Das hat eine Konsequenz: eine Ablehnung im Konsens erscheint mir unmöglich.

Vergleichen wir das mit Huntingdon und Fukuyama, oder auch mit dem islamischen Staatsideal. Ich will nicht ausschließen, dass die Zustimmung zu diesen Vorstellungen in einer Gesellschaft möglich ist. Global aber ist sie unmöglich. Global könnte eine 'Zustimmung' nur mit Gewalt erreicht werden, doch auch das ist so gut wie ausgeschlossen.

Daraus folgt die These, dass ein entwickelter Normenkatalog nur dann das Papier wert ist, auf dem er steht, wenn die Zustimmung zu diesem Normenkatalog in der sozialen Gruppe, für die er gelten soll, grundsätzlich möglich ist. Die Möglichkeit der Zustimmung kann man aber m.E. nicht von den individuellen Interessen abhängig machen (jedenfalls nicht bei größeren sozialen Gruppen), vielmehr ist sie abhängig von der Vereinbarkeit eines solchen Normenkataloges mit den im Zustimmungsbereich als gültig oder wahr angesehenen bestehenden Normen und Werten.

So wird angenommen, dass kein Individuum einer Alternative zustimmt, zu der es andere verfügbare Alternativen gibt, die für das betreffende Individuum besser sind, die also seinem individuellen Wohl mehr entsprechen.


Setzt diese Auffassung nicht voraus, dass das Individuum keine Gemeinschaftsinteressen hat - und ist nicht diese Auffassung falsch? Läuft nicht der politische Streit eher in die Richtung, welche Alternative besser für die Gemeinschaft ist und ist nicht das individuelle Interesse daran relativ unbeteiligt, taucht nur auf in der Berücksichtigung der Interessen aller unter dem behandelten Aspekt gleichartiger Individuen?

Ich bitte um Nachsicht für diese zugegebenermaßen recht abstrakt geratenen theoretischen Erörterungen und hoffe auf eine Konkretisierung anhand von Beispielen.


Nö. Wieso? Is doch auch so klar.
Ich sehe allerdings Probleme in dem Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher Richtigkeit (hm) und sozialer Verbindlichkeit. Denn: wie kann diese inhaltliche Richtigkeit behauptet werden?

Denken wir mal an den Ausdruck 'politisch nicht durchsetzbar'. Gemeint ist damit eine Norm, die als inhaltlich richtig erkannt ist, die aber nicht befolgt wird. Woraus ich schließe, dass sie weder konsensfähig noch richtig ist.

Jetzt doch ein praktisches Beispiel: das Hundegesetz. Wird bei uns in weiten Teilen nicht befolgt. Das heißt, die Junkie-Hunde sind weiterhin leinenlos in Gesellschaft ihrer Herrschaft auf der Domplatte anzutreffen, in den Vororten laufen Herr und Hund weiterhin ohne Leine über die Bürgersteigen und in Grünanlagen und Stadtwald läuft kaum ein Hund angeleint herum. Das zu unterbinden ist aussichtslos. So viele Kontrolleure kann die Stadt gar nicht einstellen - und Anzeigen aus der Bevölkerung gibt's so gut wie gar nicht, weil es die nicht stört. Wir haben hier also eine von einer Vielzahl Experten als inhaltlich richtig entwickelte Norm, die in etlichen Teilen mangels Zustimmung nicht durchsetzbar ist. Man sollte sich also keine Illusionen machen: eine theoretische inhaltliche Richtigkeit muss nicht notwendigerweise auch praktisch als inhaltlich richtig anerkannt sein. Dann nämlich, wenn die Prinzipien, aufgrund derer die Normen entwickelt wurden (hier: größere Hunde sind potentiell gefährlich), in der Gesellschaft für falsch befunden werden (Quatsch, der is nich gefährlich, den kennen wir doch).

Also weitere These: es ist nur sinnvoll, Normen zu entwickeln, die bereits auf allgemein anerkannten Prinzipien beruhen (womit wir im Grunde wieder bei meiner Behauptung des Vorhandenseins eines zum Wesen des Menschen gehörenden ethischen Willens wären - gut, betrifft nicht notwendigerweise die Hunde :-), wohl aber etliche andere Normenkomplexe).

Diese Regelungen, die unter normalen Bedingungen und in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle dem Wohle aller Einzelnen und folglich auch dem Wohle der Allgemeinheit dienten, machen den Grundbestand der üblichen, von Generation zu Generation weitergegebenen Moral aus.

Hier möchte ich ein Problem nur andeuten: sind diese Regelungen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienten, nicht abhängig von der Lebensform der Allgemeinheit? Ich denke hier an die alle-Jahre-wieder-kehrende Diskussion, ob und warum an Karfreitag und Allerheiligen die Discos geschlossen sein müssen - noch vor paar Jahrzehnten eine völlig undenkbare Diskussion.

Grüße
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 19. Nov. 2005, 20:29 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

"Philoschall, die Thesen Huntingdons und Fukuyamas kann man imho getrost auf den Müll werfen. Nach wenigen Jahren hat sich erwiesen, dass die USA das meist gehasste Land der Erde sind, als Kultur ein Negativbeispiel für eine Entwicklung, die man auf keinen Fall einschlagen möchte - und auch die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen, hat sich als äußerst begrenzt erwiesen. Mit anderen Worten: eine Seifenblase." Abrazo & Hund

Abrazo, leider stellst Du das Unwichtigste aus meinem Beitrag - mit einer Wertung auf die ich nicht eingehen werde - heraus. Wichtiger, und das versuchte mein letzter Beitrag, ist die von Eberhard gestellte Frage nach Gemeinwohl und Individualwohl in Zusammenhänge zu bringen, die von Dir hier bereits angesprochen worden.

"Hier möchte ich ein Problem nur andeuten: sind diese Regelungen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienten, nicht abhängig von der Lebensform der Allgemeinheit?" Abrazo & Hund

"Lebensform der Allgemeinheit?" ?

Die Zusammenführungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft auf staatsrechtlich begrenzter Räumlichkeit, deren unterschiedlich strukturierte Lebensausrichtungen nicht mehr ausschließlich durch Nationalstaatlichkeit organisiert werden, bedingt einen gravierenden Begriffswandel des Politischen, der auch bei der Behandlung des Gemeinwohles berücksichtigt werden kann. Theorie, demokratisches Ideal: Politische Repräsentanten transnationalen Staatsgefüges sowie deren "nationale" Wählerschaften sind Träger jener transnationalen Gesetzlichkeit, mit der das herausgestellt wird, was allen Menschen ihr Gemeinsames ist. Transnationale Gesetzlichkeit, d.h. nicht mehr (nur) im Rahmen des Nationalstaates auftretende Gesetzlichkeit gibt die Regel gesellschaftlicher Handlungen her. Politische Repräsentanten, da diese nicht mehr kulturelle Unterschiede zum Maß gesellschaftlicher Handlungen erheben, setzen sich ins Vermögen, Recht auf veränderter Grundlage zu definieren und zu praktizieren: Transnationales Recht sowie das "nationale" Handeln ist stimmig, wenn nicht mehr die kulturellen Unterschiede der Zusammengeführten das Auschlaggebende darstellen. Dass den "nationalen" Repräsentanten Gemeinsame, eben dass die Gleichheit verbürgende transnationale Recht, gibt die Richtlinie "nationalen" Handels ab. - Die Frage nach dem Allgemeinwohl verschiebt sich; auschliesslich im Rahmen von Nationalstaatlichkeit kann diese nicht mehr beantwortet werden. Dass von kultureller Vielfalt, dass von bisheriger bürgerlicher Nationalstaatlichkeit abstrahierte, d.h. das transnationale Recht soll jene Rechtsordnung darstellen, mit der "nationale" Gesellschaft geformt wird.

Der Alltag, gesellschaftliche Lebenspraxis, lehrt das genaue Gegenteil: Unterschiede der auf staatlich begrenzter Räumlichkeit sich "begegnenden" Lebensweisen werden von ihren Trägern herausgestellt; die Zusammengeführten entfalten sich nicht in jenem globalen Rahmen bürgerlich verschlankter Staatsgesetzlichkeit, mit dem die rechtliche Gleichheit der Menschen jenseits von "nationalen" 'Eigenschaften' favorisiert wird. Folge des nicht von diesen Trägern mitgetragenen globalen Ideals: Mit einem Schlagwort bezeichnet; gesellschaftliche Parallelwelten entstehen, denen mit von transnationaler Gesetzlichkeit bedingter, d.h. verschlankter Staatlichkeit, etwa mit Bildungsprogrammen, begegnet wird. Dass Interesse jener gesellschaftlichen Gruppen erreicht nicht mehr jene liberal-global ausgegebene Gleichheit, die bereits seit Jahrhunderten staatsrechtlich-formal, jedoch im Rahmen der Nationalstaatlichkeit ausgegeben und jene Interessen vermochte zu integrieren, bezw. nationalstaatlich auszugrenzen. Jede dieser gesellschaftlichen Gruppen erhebt den Anspruch, ihr Interesse sei das Richtige, mit dem Allgemeinwohl favorisiert wird. Solange derart strukturierte gesellschaftliche Gruppen liberale Gesetzlichkeit - und im sogenannten globalen Zeitaler wird das nicht mehr gelingen - nicht auf die Ebene ihres absolutgesetzten Individualwohles heruntergezogen, solange wird dieses Einzelinteresse auch nicht als rechtlich-verbindliches Gemeinwohl umgesetzt und praktiziert. Dass Verabsolutieren des Individualwohles wird jedoch auch dann praktiziert, wenn deren Träger das von ihnen favorisierte Gemeinwohl weder im Rahmen des "nationalen", noch im Rahmen des globalen Rechts vermögen durchsetzen. Die im "Nationalen" verbleibende mannigfaltige Konstruierung zwecks Ab- und Ausgrenzung, die nationalistische Herabsetzung des Menschen zum "Anderen" verbleibt innerhalb des Alltäglich-Moralischen, d.h. die Macht die hier gesellschaftlich geübt wird, vermag nicht mehr die "national-verbindliche" Rechtstaatlichkeit - da diese verschlankt auftritt - erreichen, dass Naturrecht vermag auch nicht - und diesen schon gar nicht - den Handlungsspielraum globaler Rechtsordnung erreichen.

Dass zeigt, dass Gemeinwohl ohne der Lebensform der Allgemeinheit, Theorie bleibt. Zeigt aber auch, dass, wenn verabsolutierte Einzelinteresse herrschen, wenn Naturrecht herrscht, kein Allgemeinwohl umgesetzt wird. Allgemeinwohl wird in der repräsentativen Demokratie umgesetzt, da die von unterschiedlichen Interessengruppen getragenen demokratischen Parteien aufgetreten. Dieser bürgerlich-demokratische Staatsaufbau vermag, da hier unterschiedlich ausgerichtete gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind, Allgemeinwohl organisieren. Die bürgerliche Volks-Parteien-Praxis somit das damit demokratisch sich manifestierende Allgemeinwohl (deren staatliche Institutionen ... ) wird ausser Kraft gesetzt, wenn verschlankte Staatlichkeit bezw. wenn globales Recht aufgetreten, bezw. wenn das (gegen politische Theorie ala Abrazo - Hund kann nichts dafür) was als Volk ausgegeben wird, ethisiert wird.

Bürgerliches Staatswesen, mit in Wählerschaften verankerten Volksparteien auftretend, vermag sich demokratisch legitimieren, vermag jedoch Wandlungen vollziehen, mit der demokratische Rechtsstaatlichkeit - wie bereits in Deutschland von 1933 bis 1945 vollzogen - ausser Kraft gesetzt wird. Die Rede vom Gemeinwohl tritt als Schein, als repräsentative Demokratie zersetzendes Gerede auf: Das ausgegebene Individualwohl, nicht mehr ausschließlich über Nationalstaatliches, etwa Parteiwesen formiert, wird an jenes globale Ideal gekoppelt, deren Inhalt sich des Politischen entledigt zeigt, dass Welt-Marktgesetzlich strukturiert, "nationale" Handlungen regelt.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 19. Nov. 2005, 21:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

vorweg eine Anmerkung: Soviel ich weiß, haben 1949 im Parlamentarischen Rat die Vertreter der Kommunisten und der Bayernpartei dem Grundgesetz nicht zugestimmt.

Zu Deinen Einwänden: Ich halte daran fest, dass eine Norm nur dann „richtig“ (und das heißt: richtig für alle) sein kann, wenn auch alle dies einsehen können. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Individuen nicht nur „egoistische“ Interessen haben.

Ich will dies jedoch hier nicht weiter vertiefen, in der Hoffnung, dass das, was ich meine, im Folgenden noch etwas klarer wird.

In meinem letzten Beitrag hatte ich den Fall (Schutz der Nachtruhe) erörtert, bei dem die Einhaltung einer Norm für alle Mitglieder besser ist als ein nicht geregeltes Verhalten. Das Gemeinwohl entspricht in diesem Fall dem Wohl aller Einzelnen (weil sich alle in einer annähernd gleichen Lage befinden und alle annähernd gleiche Interessen haben).

Eine Regelung kann nach meinem Verständnis jedoch auch dann dem Gemeinwohl entsprechen, wenn diese Regelung nicht für alle Einzelnen mit einer Steigerung ihres Wohlergehens verbunden ist, sondern für bestimmte Einzelne auch eine Verringerung ihres Wohlergehens bedeutet.

Es lassen sich hier die verschiedensten Regelungen denken: Z.B. ist das allgemeine Recht, private PKWs zu fahren, für Menschen, die kein Auto besitzen, eher nachteilig. Ähnliches gilt für das allgemeine Recht, Hunde zu halten.

Ich will als Beispiel die Entscheidung über den Standort einer Mülldeponie nehmen, die für die Anwohner immer mit Lärm- und Geruchsbelästigung verbunden ist. Dabei nehme ich einmal an, dass eine zentrale Mülldeponie grundsätzlich für alle besser ist als die Entsorgung des Mülls durch die einzelnen Haushalte. Aber für diejenigen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft die zentrale Deponie errichtet wird, bedeutet dies eine Verschlechterung ihres Wohlergehens.

Welcher Standort entspricht nun am ehesten dem Gemeinwohl? Eine Antwort hierauf könnte lauten: Derjenige Standort für die Mülldeponie entspricht am ehesten dem Gemeinwohl, bei dem möglichst wenig Menschen von deren unerwünschten Auswirkungen betroffen sind.

Ich will hier nicht auf alle denkbaren Komplikationen einer solchen Entscheidung eingehen. Ich will nur demonstrieren, dass im Sinne des Gemeinwohls auch eine Abwägung zwischen Vorteilen für bestimmte Individuen und Nachteilen für andere Individuen erforderlich sein kann.

Über die methodischen Probleme einer solchen Abwägung (u. a. ist dazu ein interpersonaler Nutzenvergleich nötig) bin ich mir im Klaren. Trotzdem halte ich eine solche Anwendung des Gemeinwohlbegriffs für sinnvoll und unverzichtbar.

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.

p.s.: Hallo Philoschall, da ich größte Schwierigkeiten habe, Dich und insbesondere Deine Kritik an meinen Vorstellungen zu verstehen, sehe ich mich auch außerstande, auf Deinen Beitrag sinnvoll einzugehen. Schade.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 20. Nov. 2005, 00:03 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
hallo Philoschall
Salve!


Quote:Dass Interesse einer gesellschaftlichen Gruppe setzt sich verabsolutierend über jene liberale Gleichheit, die bereits staatsrechtlich-formal ausgegeben wurde und wird. Jede dieser Gruppen erhebt den Anspruch, ihr Interesse sei das Richtige, sie vertrete DIE Wahrheit - wenn dieser Anspruch noch erhoben wird - mit dem Allgemeinwohl favorisiert wird.



das ist soweit ja noch in Ordnung, solange man sich, der erlaubten Durchsetzungsmittel bedient. Demokratisches Mehrheitsrecht ergibt zwangsläufig auch Ablehnung von Minderheitswillen.


Quote:Diese Verabsolutierung von Einzelinteressen wird jedoch auch dann praktiziert, wenn deren Träger das von ihnen favorisierte Gemeinwohl nicht als allgemeines, d.h. als verstaatlichtes Recht durchsetzen können.



genau das ist undemokratisches Verhalten und genau hier ist die Wurzel der jahrelangen berechtigten Einwanderungsdebatten. Demokratie muss wehrhaft bleiben und auf ihrem staatlichen Gewaltmonopol beharren. Das Ideal einer multikulturellen Toleranz führt zu ihrem Gegenteil, nämlich zur Einschränkung der persönlichen Freiheit. "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt".


Quote:vermag jedoch jene Wandlung ins niedrig Dämonische vollziehen, mit der nicht mehr liberale Rechtsstaatlichkeit, sondern Unrecht - welches Unrecht nicht als dieses, da im Gewand der Moral ... des "Allgemeinwohles" verkörpernd auftretend - ins "Recht" gesetzt wird. Die Rede vom Gemeinwohl tritt als Schein, als bürgerliche Demokratie zersetzendes Gerede auf.



Der Spruch: "der Klügere gibt nach" begründet ja u.U. die Herrschaft der Dummheit, nach der Emanzipation der Doofen erfolgt ja die Emanzipation der Bösen und man wundert sich schon gelegentlich dass gegen allgegenwärtige Maffia weniger unternommen wird als gegen den Falschparker.
Du sprichst hier vom gesetzlichen Minderheitsschutz ohne den jede Demokratie sicher wertlos ist. Rechtstaatlichkeit im Sinne der Gewaltenteilung ist das einzige was mir hierfür einfällt.
Ich sehe die Integration von Minderheiten allerdings als bewältigungsbares Problem an, die Geschichte hat es vielfach gelehrt.
Ich bin fest überzeugt, dass militärische Kriege prinzipiell überlebt sind und von ökonomischer Macht ganz abgelöst werden.
Gruss
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 20. Nov. 2005, 10:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits,

ich habe diese Diskussionsrunde bewusst unter der Rubrik „Politische Philosophie“ angesiedelt und nicht unter der Rubrik „Ethik“. Es geht mir hier um das Gemeinwesen, das Gemeinwohl, den Gemeinsinn – alles Worte, die etwas angestaubt klingen, die aber ein höchst zeitgemäßes Problem ansprechen: das Verhältnis der Einzelnen mit ihren spezifischen Interessen zur Allgemeinheit und den Institutionen, die diese Allgemeinheit verkörpern.

Dabei könnte der Eindruck entstehen, als sei das Wohl eines Menschen allein von äußeren Gegebenheiten abhängig, vom Handeln der anderen und von der Verfügung über Sachen.

Dieser Ansicht bin ich jedoch nicht. Meiner Meinung nach hängt die Zufriedenheit eines Menschen zum großen Teil von ihm selber, oder genauer, von seinem Verhältnis zu sich selber ab. Es gibt Menschen, die praktisch alles haben, was man sich so wünschen kann, und die trotzdem griesgrämig und ewig unzufrieden durchs Leben gehen. Und es gibt Menschen, die von schweren Schicksalsschlägen getroffen sind oder denen es nach üblichen Maßstäben „schlecht geht“, und die trotzdem nicht verlernt haben, sich an den schönen Dingen unserer Welt zu freuen.

Dabei spielen die grundlegenden Einstellungen zu sich selber und zu den Mitmenschen eine wichtige Rolle.

Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der sich Ziele setzt (oder sich von andern setzen lässt), die er niemals erreichen kann, der von sich auf Gebieten besondere Leistungen erwartet, wo seine Fähigkeiten und Begabungen eng begrenzt sind, und der sich keine Ziele setzt und keine Projekte verfolgt, die seinem Leben Sinn geben und ihm eine innere Befriedigung vermitteln können.

Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der mit tief sitzenden Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen herumläuft, deren frühkindliche Herkunft aus mangelnder Mutterliebe oder Vaterliebe er nie bewusst aufarbeiten konnte.

Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der aufgrund böser Erfahrungen mit Menschen in einen misstrauischen Egoismus flüchtet.

Solche Deformationen der eigenen Person tauchen alles in ein freudloses Grau.

Wenn es einem Menschen dann gut geht, wenn sein Leben so ist, wie er es sich wünscht, so kann dies Wohlergehen nicht nur durch die Befriedigung der vorhandenen Wünsche verbessern.

Man kann dies Ziel auch dadurch erreichen, dass man sich mit diesen Wünschen auseinandersetzt, sie auf ihre Entstehung hin überdenkt, sie daraufhin prüft, ob die damit assoziierten Befriedigungen tatsächlich eintreten, ob man sich damit nicht neue Probleme schafft etc. Wer sich so von manchen Eitelkeiten und fixen Ideen frei gemacht hat, lebt zufriedener und ist weniger abhängig von anderen und von den Wechselfällen des Lebens.

Auch wenn diese Bedingungen eines zufriedenen Lebens nicht im Mittelpunkt dieser Diskussionsrunde stehen, sollte man sie im Hinterkopf behalten.

In der Hoffnung, dass die Sonne das Novembergrau noch durchbricht, grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 20. Nov. 2005, 23:27 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?

aber sag mir bitte auch, was die geantwortet haben

Philoschall, ich bin nicht interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert.

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 21. Nov. 2005, 01:14 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 11/20/05 um 23:27:29, Abrazo wrote:Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?

aber sag mir bitte auch, was die geantwortet haben

Philoschall, ich bin nicht interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert.



Äh - ich aber, wir leben nun mal hier in Deutschland.
Philoschall ist der beste!
si tacuisses.......
Salve
[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 21. Nov. 2005, 22:30 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi,

es gibt zwei Dinge, die mir in dieser Diskussion nicht gefallen.

A: die Beschränkung auf die deutsche/europäische/abendländische Sicht, die dann automatisch auf die ganze Menschheit bezogen wird, als könnten wir voraussetzen, dass unsere Lebens- und Denkart für alle Menschen verbindlich sei. Das ist m.E. unphilosophisch. Tatsache ist, dass Menschen in unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen leben und dass unsere Kultur und Lebensform nur die einer Minderheit ist, eine unter vielen, die sich selbstverständlich dem kritischen Dialog mit anderen Kulturen und Lebensformen zu stellen hat und dabei auch in Kauf nehmen muss, dass nicht alles so wahnsinnig toll und vorbildlich ist, wie manche es sehen, dass es durchaus auch berechtigte Kritik geben kann. Wer dazu nicht bereit ist, verweigert den Diskurs mit dem Ziel, einen friedlichen Konsens zu erreichen.

B: der extreme Individualismus, der zwar von vielen Abendländern als großartige Errungenschaft hoch geprisen wird, den ich aber dennoch durchaus für kritikwürdig halte. Extremer Individualismus heißt, es wird ignoriert, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das außer seinem persönlichen Wohlergehen noch jede Menge anderer Wünsche, Ziele und Interessen hat. Wer dies ignoriert, ignoriert einen wesentlichen Teil menschlichen Wollens und Strebens.
---------------------------------------------------------

Du, Eberhard, sprichst von der Nachtruhe als Norm. Aber warum soll sie eine Norm sein? Das ist doch wohl nur dann nötig, wenn unsere Lebensform dies begründet. Wenn wir tagsüber arbeiten, nachts schlafen und am Wochenende frei haben, dann sind es letztlich diese Bedingungen, die die Norm sachlich begründen. In Kulturen, in denen ein Großteil der Aktivitäten bis in die späte Nacht verlegt werden, müssten die Normen ganz anders aussehen. Und auf Schichtarbeiter wird, da sie (noch) in der Minderheit sind, auch nicht viel Rücksicht genommen; geht auch gar nicht, weil man dann nicht mehr die Waschmaschine laufen lassen oder seinen Rasen mähen könnte.

Daraus folgt: die Voraussetzung für das Abfassen einer Norm ist der Wille, eine Norm zu errichten. Wie die dann ausgestaltet wird, folgt eher sachlichen Gründen. Die philosophische Frage - und das ist die Frage nach dem Gemeinwohl - ist doch die, warum wir überhaupt solche Normen wollen sollten. Da kommen wir, fürchte ich, mit dem Individualismus letztlich nicht unendlich weiter. Denn denkbar wäre auch zu sagen, wir brauchen keine solche Norm, wen der Krach stört, der soll sich doch auf eigene Kosten die Wohnung schallisolieren. Dann haben wir das sich von sozialen Bindungen und Verantwortungen isolierende Individuum, das Soziales nur noch als individuelles, von Fall zu Fall zu befriedigendes Bedürfnis begreift und auf das Gemeinwohl pfeift - sofern es sich nicht auf übergreifende Verwaltungsaufgaben beschränkt, wie die Ausgabe von Personalausweisen und die Instandhaltung von Autobahnen. Die Frage ist, ob wir das wollen.

Die Frage nach der interpersonellen Nutzenabwägung ist demgegenüber zweitrangig. Nicht, weil sie unwichtig wäre - im Gegenteil, ich denke, auch damit sollte sich die Philosophie befassen - sondern weil sie nur dann sinnvoll ist, wenn man sich erst mal für das Vorhandensein von Gemeinwohldenken und Gemeinwohlzielen entschieden hat.

Das Thema Zufriedenheit würde ich gerne vertagen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie tatsächlich so große Bedeutung für das Individuum hat. Hier erinnere ich an Faust, der eine Ahnung von möglicher Zufriedenheit erst bekam, als er an die eventuelle Trockenlegung eines Sumpfes dachte, während die Lemuren sein Grab gruben - und deswegen dem Mephisto doch noch abgeluchst wurde. Ist auch deutsches Denken, allerdings aus einer anderen Zeit, und das war vielleicht nicht die schlechteste.

"Ach, sprach er, die größte Freud ist doch die Zufriedenheit." Das stammt wieder aus einer anderen Zeit, dem Biedermeier, und Wilhelm Busch ließ es Lehrer Lämpel sagen, kurz bevor - rumms - seine Pfeife los ging.

Auch das Ziel Zufriedenheit erscheint mir also hinterfragenswert.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 22. Nov. 2005, 00:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo miteienander!

Nicht Desinteresse, sondern das "wirklich wahre Leben" hat mich abrupt aus dieser Diskussion gerissen. Mal sehen, ob ich mich wieder hineinarbeiten kann. Allerdings wird meine Zeit zum Philosophieren in den nächsten Wochen begrenzt sein, es gibt viel zu tun - u.a. so etwas Kafkaeskes wie "Umzugsvorbereitungen auf dem Lande"...
:-)

Grüß Euch!
Urs
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 23. Nov. 2005, 09:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

zu Deinen Kritikpunkten:

Woran machst Du die unzulässige Übertragung unserer Denkweise auf die ganze Menschheit fest? Ich lasse mich gerne von Menschen anderen Kulturen belehren, aber deswegen muss ich nicht von vornherein meine eigenen begründeten Ansichten aufgeben.

Deiner Ansicht, „dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das außer seinem persönlichen Wohlergehen noch jede Menge anderer Wünsche, Ziele und Interessen hat“ kann ich nur zustimmen und habe ich selber ausgeführt.

Die Diskussion über die Belastung zukünftiger Generationen durch unsere heutige Lebensweise geht zum Beispiel über diesen individuellen Egoismus hinaus.

Das Gebot der Nachtruhe war für mich nur ein für jedermann zugängliches Bespiel, um ein bestimmtes Verhältnis zwischen Gemeinwohl und individuellem Wohl zu diskutieren. Dass es Lebensformen geben kann, in denen eine andere Regelung des Schlafbedürfnisses im Interesse der Menschen liegt, ist unbestritten.

Die Frage nach dem Gemeinwohl ist Deiner Meinung nach die, warum wir überhaupt solche Normen wollen sollten.

Wenn die Frage gestellt wird: „Soll die Nachruhe geschützt werden?“, so ist die Antwort: „Wir brauchen keine solche Norm! Wen es stört, der soll sich selber vor Lärm schützen“ selber eine Norm, denn was nicht verboten ist, ist erlaubt. Jeder kann dann um Mitternacht zu seinem Geburtstag Böller und Raketen anzünden so viel er will.

Warum sollten wir dies nun verbieten?

Meine Antwort: Die Freude der Wenigen am Feuerwerk wiegt die Schlafstörungen (trotz Ohrstopfen) der Vielen nicht auf, insbesondere wenn praktisch jeden Tag jemand aus dem Wohnblock Geburtstag hat. Die Freigabe ist keine Norm, die dem allgemeinen Wohl entspricht.

Warum soll man überhaupt nach dem Gemeinwohl fragen und die Regeln des Zusammenlebens danach gestalten?

Meine Antwort: Weil wir - ob wir es wollen oder nicht – uns immer gegenseitig in die Quere kommen werden (schon als sexuelle Wesen mit starken Interessen am andern Geschlecht) und weil es mir besser erscheint, nicht per Fausthieb oder per Furcht vor dem drohenden Fausthieb zu entscheiden, wer jeweils bestimmt, wo es lang geht und wer zuerst geht.

Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 24. Nov. 2005, 22:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
"Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?" Abrazo & Hund

"das" ? Wovon redest du?

"Philoschall, ich bin nicht interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert." Abrazo & Hund

Nein? Wenn das nicht eine leere Behauptung bleiben soll, bitte jene politische Philosophie, die nicht "ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert" ist, darstellen. Vielleicht ist es möglich, diesen Gedankengang dabei zu berücksichtigen?: "B: der extreme Individualismus, der zwar von vielen Abendländern als großartige Errungenschaft hoch geprisen wird, den ich aber dennoch durchaus für kritikwürdig halte." Dass wird sicherlich der Diskussion "Gemeinwohl und Wohl der Individuen" förderlich sein.

Gruß
philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 25. Nov. 2005, 13:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

" ... ich aber, wir leben nun mal hier in Deutschland." delfi

Die Verabsolutierung von gesellschaftlichen Einzelinteressen im Rahmen liberaler Rechtsstaatlichkeit zeigte sich in Deutschland bereits in den Jahren 1933 -1945 mit dem Nationalsozialismus. In dieser Zeit manifestierte sich eine Problematik, die auch heute noch gegeben ist und, die u.a. wichtig bei der Behandlung des Allgemeinwohles ist. Die seit 1918 in Deutschland ausgegebene Politik gewährte die formal-rechtliche Gleichheit der Staatsbürger. Dass Interesse der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen entfaltete sich jedoch nicht im Rahmen der gesellschaftlichen Praktizierung des formalen-Rechtes der Liberalen Demokratie. 1933 wurde jenes Einzelinteresse ins "Staatsrecht" gesetzt, dass, auf Antidemokratisches, etwa Rassentheorie, Einheitspartei ...sich stützend, vermochte als Allgemeininteresse des deutschen Volkes aufzutreten. Bis 1945 wurde die deutsche Gesellschaft als "Volksgemeinschaft" ausgebaut, in der jene gesellschaftlichen Interessengruppen "rechtlich" ausgegliedert wurden, die auf der Ebene des Weimarer Parlamentarismus versuchten Politik durchzusetzen, die bis 1918, da die monarchistische Staatsform herrschte, nicht praktiziert werden konnte.

Politische Parteien sind personell und inhaltlich von den jeweiligen Interessen bestimmt. Pauschal formuliert: Diejenigen, welche die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, da diese besitzend, verteidigen (lassen). Diejenigen, welche an den Einrichtungen der Privaten Eigentumsordnung, etwa dem Parlamentarismus, als Gestaltende mit dem Anspruch teilnehmen, die Ausgestaltung der Gesellschaft nicht auschließlich den Kräften des Marktes zu überlassen, sondern Gesellschaft als soziales Gemeinwesen auszubauen. Parteibildungen, deren Programatik nicht aus dem Haben und der parlamentarischen Teilnahme an diesem Ordnungsgefüge resultiert, sondern aus dem Begehren daran teilzunehmen bezw. diese Ordnung zu stürzen und in ihrem Interesse zu formen. Erstere Parteibildung ist die liberale, zweitere die Sozialdemokratische, in der dritten werden sich jene finden, die als Opposition auftreten.

Politische Theorie, die mit dem Anspruch auftritt, nicht nur "auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert" zu sein, könnte sich beispielsweise von der Frage bewegen lassen, in welchen Allgemeinformen gesellschaftliche Interessen sich organisieren, deren Leitbild nicht der bürgerliche Individualismus ist.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 25. Nov. 2005, 20:30 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 11/25/05 um 13:59:22, philoschall wrote:......Diejenigen, welche die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, da diese besitzend, verteidigen (lassen).
(=liberal)......

Diejenigen, welche an den Einrichtungen der Privaten Eigentumsordnung, etwa dem Parlamentarismus, als Gestaltende mit dem Anspruch teilnehmen, die Ausgestaltung der Gesellschaft nicht auschließlich den Kräften des Marktes zu überlassen, sondern Gesellschaft als soziales Gemeinwesen auszubauen.
(=sozialdemokratisch)



hi, philoschall, ich vermisse eine Wertung deiner politischen Analyse:
die Einteilung in besitzend und nicht besitzend ist mir einfach zu klassenkämpferisch, sie wird der Realität unserer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft nicht gerecht. Diese Arbeitsteilung ist gleichzeitig auch eine Wissensaufteilung, -aufspaltung (Fachidioten). Keiner weis mehr alles, was jedoch das Selbstbewusstsein von Politikern in ihrem Nichtwissen nicht entschuldigt. Die Arbeitsteilung ist andererseits der deutlichste Ausdruck von Abhängigkeit und kollektivem Charakter des Spezies Mensch. Für mich ist es schwer nachvollziehbar dass dieser abhängige Teil im geäusserten Selbstverständnis des westlichen Bürgers (Individualismus) gerade zu geleugnet, ausgeklammert und verdrängt wird. Im Streben zur Selbstverwirklichung oder Emanzipation von allem und jedem wird das unabhängige Individuum verherrlicht, das nicht existiert.
Alle idealen Vorstellungen von extremem Liberalismus müssen vor dem Hintergrund dieser Begrenztheit individuellen Wissens und der damit verbundenen realen Abhängigkeiten scheitern.
Ich sehe ganz pragmatisch die völlig unverzichtbare Notwendigkeit einer staatlichen Ordnungsmacht (egal ob "rechts- oder links-orientiert") in der Aufstellung und Überwachung von Regeln, die verhindert, dass das Ende der "Produktionskette" also der Kunde oder Privatbürger nicht beschädigt wird. Das hört sich vielleicht etwas "technisch" an, aber der augenblickliche "Fleischskandal" zeigt was ich meine. Staatliche Ordnungsmacht meint hier weniger aktuelle Politik, die wird in ihrer Bedeutung m.E. stark überschätzt, sondern der ganze Unterbau mit sinnvollen Regeln etwa des Nahrungsmittel- Arzneimittel- und Produkt-Haftungsrechtes. Ein völlig freier Markt würde zu massenhafter Vergiftung und anderem des "Konsumenten" führen, der ja gar nicht mehr alleine wissen kann was gut oder schlecht für ihn ist.
Die Sicherheit, die der anonyme Staat dem einzelnen gewähren muss und auch gewährt, ist wiederum in seiner notwendig generalisierenden Betrachtung immer lückenhaft und es ist ja oft wie ein Hase und Igel-Spiel wenn der (schlechte) Gesetzgeber seiner mit heisser Nadel gestrickten neuen Gesetzte wegen unvorhergesehenen "Nebenwirkung" ständig nachbessern muss.
Es ist daher die technologisch fortgeschrittene Industriegesellschaft alleine, die eine sehr kompetente staatliche Ordnungsmacht erfordert. In weniger entwickelnder Ländern ist diese ins Detail gehende Regelung zunehmend entbehrlich, weshalb möglicherweise Überlebenshilfe noch stärker in kleinen Gemeinschaften, insbesondere im Familienverbund zu leisten ist.
Man könnte aus dieser Sicht beim modernen Industriestaat von einem Übergang familiärer Gemeinschaftsfunktionen auf den anonymen Staat sprechen. Ich sehe in dieser soziokulturellen Diskrepanz die Hauptschwierigkeit einer allumfassenden globalen Verhaltensethik. Mit der Feststellung "wir leben nun mal hier in Deutschland" meine ich also mehr den strukturellen kulturtechnischen Differenzierungsgrad als "nationale Charaktereigenschaften", die es sicher noch zusätzlich gibt.
Ich erinnere mich gerne an die letzte hier in Deutschland stattfindende Weltausstellung "Expo 2000" in Hannover.
Was mich hier fasziniert hat, war ausschliesslich der ferne Osten mit einer viel weniger individualistischen Selbstdarstellung trotz reichlichem Einsatz moderner Technologie. Sie erschienen mir viel glücklicher. Dies spricht für meine Bevorzugung für stärkere menschliche Bindungsbereitschaft. Aber ich weiss, dass ich damit hoffnungslos ausserhalb des "Trends" liege.

Salve

[skater]

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 26. Nov. 2005, 20:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo delfi und Interessierte,

" ... die Einteilung in besitzend und nicht besitzend ist mir einfach zu klassenkämpferisch, sie wird der Realität unserer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft nicht gerecht." delfi

Die von mir hier vorgetragene Einteilung wird erst dann klassenkämpferisch ausgedeutet, wenn das Interesse derjenigen politischen Interessengruppe, welche den gegebenen Zustand revolutionär stürzen will, favorisiert wird. Diese Ausdeutung der parteipolitischen Sphäre ist lediglich eine von mehreren, die diese Einteilung ermöglicht. Realität ist, dass die Produktionsmittel privatwirtschaftlich organisiert sind, dass die vom Lohnabhängigen geleistete Arbeit entsprechend geregelt wird. Mit den Parteiengefüge vollzieht sich Politik im öffentlichen Raum der Medien ..., - die Organisation der Wirtschaft dagegen bleibt diesem Raum entzogen.

"Für mich ist es schwer nachvollziehbar dass dieser abhängige Teil im geäusserten Selbstverständnis des westlichen Bürgers (Individualismus) gerade zu geleugnet, ausgeklammert und verdrängt wird. Im Streben zur Selbstverwirklichung oder Emanzipation von allem und jedem wird das unabhängige Individuum verherrlicht, das nicht existiert."

Die von Dir sogennannte "Abhängigkeit" wird nicht "geleugnet, ausgeklammert und verdrängt." Diese ist vielmehr die materialistische Grundlage der Dynamik der Demokratie, mit der auch die Anhänger liberaler Demokratie auftreten, denen die von ihnen ausgegebenen Abhängigkeiten gar keine sind. Dass bürgerlich-verabsolutierte Individuum ist die theoretische Ausrichtung - der Ausgangs und Endpunkt, der Dreh- und Angelpunkt der bürgerlichen Emanzipation von der mittelalterlichen Feudalherrschaft bis heute - mit der die Praxis der Privatwirtschaftsordnung einhergeht. Mit dieser Ausrichtung werden immer noch Ideen favorisiert, die der von dieser Privatwirtschaftsordnung geschaffenen Wirklichkeit der Alltagspraxis, etwa des Staatsbürgers als Konsument des Warenmarktes, entgegenstehen. Die Annahme, dass jeder Staatsbürger im Sinne des liberal ausgegebenen sich tatsächlich verwirklichen soll, beruht auf der weitverbreiteten Fehleinschätzung, deren Ideengehalt im Politischen für bare Münze zunehmen. Die Einlösung der verabsolutierten Idee des bürgerlichen Individualismus wäre nicht nur die Besiegelung der Abschaffung der politischen Parteien. Klappern gehört zum Handwerk.

Der von Dir angeführte freie Markt und deren angedeuteten Wirkungen auf den Staatsbürger als Konsument lässt sich im Sinne des Verbrauchers nur regeln, wenn der Staat einen "Unterbau mit sinnvollen Regeln etwa des Nahrungsmittel- Arzneimittel- und Produkt-Haftungsrechtes." organisiert. Dass sind Züge jener postmodernen Industriestaatlichkeit, der einer Politik geblieben ist die vor dem Umbau der Wirtschaft resignierend, den industriell-vergesellschafteten Staatsbürger als Konsumenten favorisiert - darauf reduziert? Diese Verbraucher-Staatspolitik ist eine postmoderne Spielart mit der die parteipolitischen Interessen von Volksparteien und Oppositionsparteien so bedingt werden, dass diese ausser Gefecht gesetzt werden. Nicht parteipolitische Einzelinteressen tragen zur Ausgestaltung der Gesellschaft bei, diese werden von Marktgesetzlichkeit sowie "verschlanker Staatlichkeit" ausgeblendet.

"Es ist daher die technologisch fortgeschrittene Industriegesellschaft alleine, die eine sehr kompetente staatliche Ordnungsmacht erfordert. In weniger entwickelnder Ländern ist diese ins Detail gehende Regelung zunehmend entbehrlich, weshalb möglicherweise Überlebenshilfe noch stärker in kleinen Gemeinschaften, insbesondere im Familienverbund zu leisten ist." delfi

Global auftretende Konzerne lassen sich die Grundlagen für die Umsetzung ihrer privatwirtschaftlichen Interessen in den Industriegesellschaften mittels "verschlankter Politik" schaffen. In weniger industriell entwickelten Gesellschaften wird der im Westen weiterhin ausgebenene verabsolutierte Individualismus ebenfalls favorisiert. Die praktische Aufgabe, die diese Idee im Politischen erfüllt ist jene, die im Abendland seit der bürgerlichen Revolution favorisiert wird: nicht-bürgerliche Lebensweisen im Namen der Gleichheit ..., getragen von priviligierten Gesellschaftsschichten, aufzulösen. Abendländische Postmoderne versucht das in aussereuropäischen Ländern einzuholen, damit die Kolonialisierung überholend, was bereits im Abendland seit Jahrunderten staatspolitisch praktiziert wird: nicht-demokratisierte Gesellschaft im Sinne der Privatwirtschaft umzubauen.

"Man könnte aus dieser Sicht beim modernen Industriestaat von einem Übergang familiärer Gemeinschaftsfunktionen auf den anonymen Staat sprechen. Ich sehe in dieser soziokulturellen Diskrepanz die Hauptschwierigkeit einer allumfassenden globalen Verhaltensethik."

Ist aussereuropäisch das umgesetzt, was bereits mit dem verabsolutierten Individualismus in den Industriegesellschaften seit Jahrhunderten demokratisch praktiziert wird, würde dort ebenfalls die oben vorgetragene Einteilung gesellschaftlicher Interessen und deren parteipolitischer Organisierung greifen. Weder die Wirtschaftsorganisierung in USA noch Asien weisen jedoch die gesellschaftlichen Muster auf, die etwa mit dem abendländisch-individualisierten Parteiengefüge aufgetreten. Nicht auszuschliessen, dass die seit der Neuzeit im Abendland aufgetretene Wirtschaftsorganisierung den öffentlichen Raum der Industrievergesellschaftung so ausgestalten lässt, dass der Staat im Rahmen globaler Marktgesetzlichkeit bereits entindivudalisierte Züge praktizierte. Die ALLTÄGLICHE LEBENSPRAXIS DER VIELEN - in der der theoretisch verabsolutierte Individualismus eine andere Funktion erfüllt, als dieser für deren Wenigen Protagonisten erfüllt - wurde in Deutschland bereits von 1933 bis 1945 entindividualisiert. Die ENTINDIVIDUALISIERUNG DER VIELEN wird bereits in den Industriegesellschaften seit längerem mit dem Rückbau der sozialen Marktwirtschaft praktiziert. Mit der Demontage die dem öffentlichen Gemeinwesen dienenden staatlichen Strukturen, geht die Entindividualisierung süd- und mitteleuropäischer Massen-Vergesellschaftung einher. Die süd- und mitteleuropäische Annäherung an jene aussereuropäischen Vielen und nahosteuropäischen Vielen des EU-Wirtschaftsraumes deren "Bindungsfähigkeit" nicht aus Parteiengefüge resultiert, deren individuelle Entfaltung mit der repräsentativen Demokratie sich nicht manifestiert, ist auf dem Weg gebracht. Die "Bindungsfähigkeit" der süd- und mitteleuropäischen Vielen wurde bereits nachhaltig umgepolt: diese resultiert zunehmend aus der von der Sozialstaatlichkeit entkernten Wirtschaftsorganisierung, die den Gewendeten nun als Glied der von dieser Wirtschaftsordnung bedingten Schicksalsgemeinschaft erscheinen lässt. Öffentliche Normen sozialen Gemeinwesens, in der weite Gesellschaftsschichten sich wiederfanden, werden im Sinne der Privatisierung demontiert; industrielle Gesellschaften werden entindividualisiert, wenn deren öffentliche Strukturierungen privatisiert werden, wenn staatliche Regelung auf den "Nachtwächterstaat" reduziert wird, der im Inneren die Ruhe und Ordnung organisierend, auftritt. Wäre die "Hauptschwierigkeit einer allumfassenden globalen Verhaltensethik" - jedenfalls von der Seite des EU-Wirtschaftsraumes! - überwunden, wenn der Industriestaatlichkeit gelungen, die süd-, mittel- und mitteleuropäischen Vielen so mitzunehmen, dass diese Mitträger des "verschlankten Staates" geworden? Mit diesem praktischen Entindividualisierungsprozess Süd- und Mitteleuropas geht der Liberalismus bereits jenen Weg der Annäherung, der für die Vielen des EU-Wirtschaftsraumes die Ankoppelung an den nicht erst zu entindividualierenden Gesellschaftsraum aussereuropäischer Wirtschaftsstandorte, etwa jenes Chinas, bedingt.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27. Nov. 2005, 00:14 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

also, ich hab doch extra für dich einen dicken Strich zwischen meine allgemeinen Bemerkungen und meine Bemerkungen auf dein Posting gemacht! :-)

Irgendwie scheinen wir an einem toten Punkt angekommen zu sein. Ich kann sagen, wir leben in einer bestimmten Lebensform, die, damit sie funktioniert, bestimmte Sachzwänge zur Folge hat, wie die ungestörte Nachtruhe. Das kann jeder vernünftige Mensch einsehen - nur, ist das ein Thema der Philosophie?

Die Sache lässt mich unbefriedigt zurück. Vielleicht verstehe ich auch nicht richtig, was du willst.

Aber vielleicht führt das Stichwort Sachzwang weiter. Lassen wir uns vielleicht von Sachen zwingen, die wir selbst geschaffen haben und die uns eigentlich gar nicht zwingen können? Könnte es eventuell sein, dass der Sachzwang das Gemeinwohl ersetzt, so dass es deswegen - scheinbar - unmodern geworden ist?

Sachzwang ist eine Frage der Notwendigkeit. Gemeinwohl eine Frage des Willens. Wenn ich mich Sachzwängen unterworfen sehe, ist mein Willen belanglos.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von karobra am 27. Nov. 2005, 12:59 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
[quote author=Abrazo
Sachzwang ist eine Frage der Notwendigkeit. Gemeinwohl eine Frage des Willens. Wenn ich mich Sachzwängen unterworfen sehe, ist mein Willen belanglos.

Gruß[/quote]

Hallo Abrazo!
Könnte es nicht auch genau umgekehrt sein? Denn: Sachen haben keinen Willen, wohl aber Personen. Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt. Wenn solche Sachzwänge viele oder alle betreffen, muss über sie in einem demokratischen Rechtsstaat Konsens vorhanden sein. Unrechtmäßiger Zwang ist nicht akzeptabel.
Daher gibt es "Sachzwänge", denen man sich widersetzen kann und muss, z.B. durch Wahrnehmung des Petitionsrechts. Fazit: Sachzwang ist keineswegs immer eine "Frage der Notwendigkeit".
Und Gemeinwohl ist nicht nur eine "Frage des Willens". Wenn alle nur noch auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, geht das Gemeinwohl zum Teufel, wird wieder der Mensch zum Wolf des Menschen ("homo homini lupus"), gibt es gar keinen
Rechtszustand mehr.
Folglich ist es eine zwingende Notwendigkeit, sich nicht nur um das eigene Wohl, sondern auch um das der Gemeinschaft (auch z.B. der Gemeinschaft der Völker) zu kümmern. Dabei ist der Wille des Einzelnen nicht immer unbedingt förderlich. Denn der Mensch ist nun mal ein egoistisches Wesen, das allerdings nicht umhin kann, irgend eine Balance von Egoismus und Altruismus (und sei es aus egoistischen Gründen!) herzustellen bzw. zu akzeptieren. Welche Probleme damit verbunden sein können, habe ich dargestellt in:
www.information-philosophie.de/philosophie/robraethik.html
MfG
k.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27. Nov. 2005, 13:49 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi karoba,

Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt.
Das kann man generell nicht sagen (Flüssigkeit aufnehmen zu müssen ist ein Sachzwang, der aber weder bewusst noch willentlich hergestellt wurde), aber sehr oft. Das Problem, auf das ich abziele ist, den natürlicherweise bestehenden Sachzwang vom hergestellten zu unterscheiden.

Wenn ich sage, in unserer Lebensform wird tagsüber gearbeitet, dann ist die Einhaltung der Nachtruhe ein Sachzwang. Dass sie das ist hängt aber ab von der Lebensform. Andere Lebensformen ziehen andere Sachzwänge nach sich; im Verhältnis zur Lebensform ist der Sachzwang hier also eine abhängige Variable.

Problematisch wird die Sache dann, wenn eine Gesellschaft abhängige und unabhängige Variable verwechselt. Dies ist imho bei Wirtschaftsfragen der Fall. Die Wirtschaft wird oft als quasi vom Menschen unabhängige Wesenheit begriffen, deren Sachzwängen der Mensch unterworfen ist wie dem Wetter.

Ich halte nicht viel davon sich zu überlegen, wie es denn sein sollte, ohne erst mal zu prüfen, wie es denn ist. Was ist, sind vielfach Denkfehler. Dinge, die für selbstverständlich gehalten werden (wir müssen uns wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen), die gar nicht selbstverständlich sind, sondern von bewussten oder unbewussten (tradierten) Willensentscheidungen abhängig sind, die man erst mal ans Tageslicht befördern muss. Tut man das nicht, muss man nämlich mit der Reaktion rechnen, is ja ganz nett, was du da sagst, bloß, die Verhältnisse, die sind nicht so.

In diesem Zusammenhang ist imho auch der extreme Individualismus zu sehen; da sehe ich mich gar nicht so weit entfernt von Philoschall. Humankapital besteht aus einer Menge von Individuen, die mehr oder minder beliebig zwecks Produktivität einsetzbar sind. Tatsächlich sind sie das nicht, weil sie in einen sozialen Kontext eingebunden sind. Hier dem wirtschaftlichen Sachzwang Priorität einzuräumen führt zu nicht-artgerechter Menschenhaltung.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von karobra am 27. Nov. 2005, 22:44 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
[quote author=Abrazo link=board=politik;num=1131198516;start=75#86 date=11/27/05 um 13:49:44]Hi karoba,

Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt.
Das kann man generell nicht sagen (Flüssigkeit aufnehmen zu müssen ist ein Sachzwang, der aber weder bewusst noch willentlich hergestellt wurde), aber sehr oft. Das Problem, auf das ich abziele ist, den natürlicherweise bestehenden Sachzwang vom hergestellten zu unterscheiden. ... <

Einverstanden! Aber: Was sind denn nun die "natürlicherweise bestehenden Sachzwänge"? Die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme halte ich nicht für einen "Sachzwang", sondern für einen Trieb, der einem elementaren körperlichen Bedürfnis des Menschen entspricht. Ein Trieb ist nicht einfach eine "Sache". Ob die Natur überhaupt "Zwang" ausübt, wage ich zu bezweifeln. Die Natur ist, wie sie ist, d.h. wie sie sich in Jahrmilliarden der Evolution entwickelt hat. Hier den eher bürokratischen Terminus "Sachzwang" zu verwenden, halte ich nicht für adäquat, auch wenn gelegentlich z.B. statt vom 'Harndrang' vom 'Harnzwang' die Rede ist... [grin]

Im Übrigen, wie gesagt, durchweg (d.h.: größtenteils) einverstanden!
MfG
k.
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 27. Nov. 2005, 23:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Ist die Nachtruhe ein philosophisches Thema? Wohl kaum, aber es ist ein philosophisches Thema, wenn es um die Frage geht, wie man für oder gegen eine bestimmte Regelung oder auch Nicht-Regelung zum Schutz der Nachtruhe argumentieren kann.

Ich habe ja Dein Beispiel aufgegriffen. Du hattest jahrelang unter dem fröhlichen Treiben in der Mensa nebenan zu leiden. Die Studenten hatten Spaß an ihren Feten und Du wolltest schlafen.

Es gab einen Widerspruch zwischen dem, was für die Studenten gut war, und dem, was für Dich gut war. Die philosophische Frage ist: Wie können Menschen mit dem (guten) Willen zur Einigung in einem solchen Fall argumentieren?

Was ist angesichts der miteinander nicht zu vereinbarenden Willensinhalte das gemeinsame Interesse? Welche Lösung des Konflikts entspricht einem Gemeinwohl, das auch allgemein akzeptabel, also konsensfähig sein sollte?

Es grüßt Dich und die ganze Runde Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27. Nov. 2005, 23:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

Die philosophische Frage ist: Wie können Menschen mit dem (guten) Willen zur Einigung in einem solchen Fall argumentieren?

Vielleicht müssten wir noch mal auf den guten Willen zurück gehen. Wenn einer sagt, ich bin für Liberalität, jeder hat die Freiheit, seine Behausung schalldicht zu machen und jeder hat das Recht, zu lärmen wie er will: können wir dann tatsächlich von mangelndem guten Willen zur Einigung sprechen? Wenn einer sagt: will ich nicht, mag ich nicht, gefällt mir nicht, ok. Aber wenn einer sagt, ich vertrete andere Grundprinzipien?

Was ist angesichts der miteinander nicht zu vereinbarenden Willensinhalte das gemeinsame Interesse?
Unter welchen Voraussetzungen können wir überhaupt davon ausgehen, dass es bei nicht zu vereinbarenden Willensinhalten ein gemeinsames Interesse gibt?
Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 28. Nov. 2005, 00:40 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, karoba,

Die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme halte ich nicht für einen "Sachzwang", sondern für einen Trieb, der einem elementaren körperlichen Bedürfnis des Menschen entspricht.
Ist m.E. eine Frage der Perspektive. Für das dürstende Individuum ist Durst ein Gefühl, der Drang zu trinken Trieb oder was auch immer.
Für das Wasserwerk ist die Beschaffung von Trinkwasser ein Sachzwang, der z.B. dazu führt, dass der Betrieb nicht ohne Not und Ersatz liquidiert werden kann.
Ebenso ist die Beschaffung von Wasser für einen Staat ein Sachzwang, dem er sich nicht entziehen kann.

Die Natur zwingt nicht? Insofern nicht, als dass sie keine selbständig agierende Wesenheit ist. Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der Tod. Und ich halte es für ausgesprochen nützlich, wenn man alle anderen tatsächlichen oder scheinbaren Zwänge an diesen natürlichen Zwängen misst; das relativiert nämlich.

Auf Literatur und Poesie nehme ich in der Philosophie keine Rücksicht. Wir nennen etwas so und ich gucke mir an, was das ist, das wir so nennen. Wenn ich dabei feststelle, etwas ist gleich, dann weise ich auch mit dem gleichen Namen auf die Gleichheit hin.

Woraus sich dann die nicht uninteressante Frage ergibt, wieso wird die 'Freisetzung' von Arbeitskräften ebenso zwingend genannt wie die Beschaffung von Zelten für Pakistan?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 28. Nov. 2005, 11:24 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

wenn jemand eine Position vertritt hinsichtlich der Frage, wie ein bestimmter Konflikt zu regeln ist, und

wenn er diese Position gegenüber beliebigen anderen –also allgemein – vertritt, und

wenn er diese Position nicht nur behauptet sondern sich dem Anspruch stellt, diese Behauptung durch intersubjektiv nachvollziehbare und übernehmbare Argumente einzulösen (was bedeutet, dass er für die von ihm behauptete Position Gründe hat, die er den andern mitteilen kann und die für die andern ebenfalls Gründe sind),

dann kann man ihm den „guten Willen“, den Willen zur zwangfreien Einigung, zum argumentativen Konsens nicht absprechen.

Aus diesem Willen zur Einigung, zur Orientierung auf den Konsens lassen sich nun Kriterien für die Güte der Argumente gewinnen, indem man jeweils fragt: Kann dies Argument dazu beitragen, den Konsens zu erreichen oder bekräftigt es nur den Konflikt?

Beispiele für konsensuntaugliche Argumente der Feten-Befürworter wären z. B.:

“Der alte Griesgram gönnt uns ja nur nicht unseren Spaß“ (Motivunterstellungen gehen auf die Argumente des andern nicht ein, sondern „unterlaufen“ sie),

“Uns bringt die Fete Spaß – und das ist für uns das Entscheidende“ (Egozentrische Prinzipien verhindern einen Konsens),

Beispiele für konsensorientierte und deshalb geeignete Argumente der Feten-Befürworter wären:

“Solche Feste bedeuten uns sehr viel. Hier kann man sich kennen lernen und es sind zugleich die festlichen Höhepunkte des Uni-Lebens. Zum Beginn und zum Abschluss eines Semesters, also vier Mal im Laufe eines Jahres müsste das deshalb für die Anwohner zumutbar sein.“

“Denken Sie doch mal zurück, wie das war, als sie selber jung waren! Dann verstehen sie uns vielleicht etwas besser. Wir machen das doch nicht, um zu provozieren oder um Sie zu ärgern. Wenn man tanzen will, dann muss die Musik schon eine gewisse Lautstärke haben.“

Während sich diese Argumente auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit bewegen, gibt es andere Argumente, die sich auf diesen inhaltlichen Streit nicht einlassen, sondern die auf der Ebene der Verbindlichkeit von Normen argumentieren, die von anerkannten Institutionen gesetzt sind.

Ein Beispiel für diese Art der Argumentation wäre:
„ Sie wissen doch, dass gemäß geltender Lärmschutzverordnung nach 22:00 Uhr Uhr ruhestörender Lärm zu unterlassen ist.“

Ein solches Argument setzt die Anerkennung der bestehenden Verfahren der Normsetzung voraus.

Gegen ein solches Argument, das sich auf der Ebene verbindlich gesetzte Normen bewegt, ist es deshalb auch unzulässig, rein inhaltlich von den Interessen der Beteiligten her zu argumentieren und zu fragen, ob es in diesem speziellen Fall richtig ist, die Fortsetzung der Fete zu gestatten oder nicht.

Normsetzende Verfahren sind gerade deswegen notwendig, weil der inhaltliche Konsens häufig nicht – oder zumindest nicht rechtzeitig – erreicht wird.

Deshalb kann man die Verletzung einer verbindlich gesetzten Norm auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass man diese Norm für inhaltlich (sachlich) falsch halte.

Allerdings kann man die Verfahren der Normsetzung, also die Verfassung der Gesellschaft, ebenfalls in Frage stellen. Dabei muss man sich jedoch darüber klar sein, dass eine solche Haltung erheblich Konsequenzen hat, die letztlich bis zum offenen Bürgerkrieg gehen können.

Mit Grüßen an die Runde Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 28. Nov. 2005, 11:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo und Interessierte,

"Ich halte nicht viel davon sich zu überlegen, wie es denn sein sollte, ohne erst mal zu prüfen, wie es denn ist. ... In diesem Zusammenhang ist imho auch der extreme Individualismus zu sehen; da sehe ich mich gar nicht so weit entfernt von Philoschall. Humankapital besteht aus einer Menge von Individuen, die mehr oder minder beliebig zwecks Produktivität einsetzbar sind. Tatsächlich sind sie das nicht, weil sie in einen sozialen Kontext eingebunden sind. Hier dem wirtschaftlichen Sachzwang Priorität einzuräumen führt zu nicht-artgerechter Menschenhaltung." Abrazo

Das wirtschaftliche Interesse ist das Auschlaggebende; dieses Interesse gibt seit der bürgerlichen Revolution die, u.a. politisch-theoretischen Vorgaben für die gesellschaftlichen Felder ab, auf dem auch die Frage nach Sachzwang sowie menschlichen Willen - solange nicht, etwa in philosophisch-theoretischen Diskursen der Willensfreiheit verblieben wird - zum Austrag kommt. Mit der Entfaltung abendländischer Naturwissenschaft, der damit verbundenen Technisierung auch der Arbeitswelt wird die industriale Ausgestaltung der betreffenden Gesellschaften praktiziert, deren (soziologische) Ausgestaltung beispielsweise mit der Anwendung oben angeführter Einteilung greif- somit begreifbar wird.

Wirtschaftliches Interesse ist nicht daran orientiert, soziale Kontexte in ihrem jeweiligen Dasein zu belassen und zu akzpetieren - das ist aufgrund der bürgerlich-technischen Expansion und des abendländisch-politisch-theoretischen Ideengehaltes, des in mannigfaltigen Formen auftretetenden verabsultierten Individualismus, ausgeschlossen. Ausser- sowie Innereuropäische Lebensweisen, die nicht der bürgerlichen Existenz entsprechen, werden, u.a. mit politisch-theoretischen Vorgaben - deren Ideen stets um den verabsolutierten Individualismus kreisen - so geformt, dass diese, da in dem Sog des wirtschaftlichen Interesses gezogen, verwertbar werden. Liberale Demokratie ist die politische Ausgabe derjenigen wirtschaftlichen Interessengruppe, die, auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftretend, jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert, die mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen.

Der von Abrazo angeführte Begriff des Sachzwanges trifft die Sache - wie ich meine - nicht genau genug. Den wirtschaftlichen Interessengruppen ist das, dass anderen gesellschaftlichen Interessengruppen als Sachzwang (Ohnmacht) erscheinen vermag, alles andere als Notwendigkeit: die Verfügbarkeit über die Produktionsmittel, der damit gegebene Gestaltungsspielraum (Macht), lässt den menschlichen Willen - jedenfalls in der ökonomisch-soziologischen Sphäre - als Relativen auftreten. Bürgerliche Gesellschaft wäre nicht, wenn Menschen - um Abrazos Begriff aufzunehmen - artgerecht vermögen zu leben.

"Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der Tod. Und ich halte es für ausgesprochen nützlich, wenn man alle anderen tatsächlichen oder scheinbaren Zwänge an diesen natürlichen Zwängen misst; das relativiert nämlich." Abrazo

Ja! Jedoch, diese Nützlichkeit ausgeben, bleibt ohne Einsicht in die Lebensnotwendigkeit somit auch ohne Erkenntnis und Wissen, etwa von Selbstverständlichkeiten wie den westlichen Verabsolutierungen des Denkens sowie des Handelns als menschlich-grandiose Irrtümer, lediglich Schall und Rauch. Aber immerhin, die Richtung stimmt - philosophische Rodungsarbeiten sind hier zu favorisieren.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch am 28. Nov. 2005, 16:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo!

Kurze, aber elementare Überlegung zum Begriff des „Zwangs“. Du schreibst:

Quote:Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der Tod.

Das leuchtet mir nur bedingt ein. Denn nur in extremen Lagen wird die Befriedigung elementarer Bedürfnisse zum„Zwang“. So z.B. die Nahrungszufuhr während einer Hungersnot oder für einen Menschen im Hungerstreik oder einen Magersüchtigen. Normalerweise aber ist das Essen kein Zwang, sondern eine Lust. Selbst eine Sucht kann, wenn sie sich in einem kontrollierbaren Rahmen hält, als Lust erfahren werden. Siehe den Werbespruch „Ich rauche gern“ - den ich übrigens voll unterschreiben könnte, obwohl ich mir keine Illusionen über meine Nikotinabhängigkeit mache.

Aber ich bin ja auch „nahrungssüchtig“ und – seit der Entfernung meiner Schilddrüse vor vielen Jahren – „süchtig“ nach einer täglichen Dosis von 125 Mikrogramm Thyroxin. Außerdem bin ich ein totaler „Junkie“, was grünen Tee angeht; schon oft hab ich morgens, mit der ersten dampfenden Tasse „Temple of Heaven“ in der Hand, gebrummelt: „Ohne Tee ist das ganze Leben ein Dreck!“
:-)


Ist das Wachstum für eine dem Sonnenlicht entgegenwachsende Pflanze ein Zwang? Ist es für heranwachsende Kinder ein Zwang, „groß“ zu werden? Nein, es ist ihr eigener, sehr starker Wunsch und Antrieb.
Ist es für den Radfahrer ein Zwang, das Gleichgewicht zu halten? Nur für den Anfänger, der es noch nicht richtig kann. Sind Grammatikregeln Zwänge? Nur für den, der sie nicht beherrscht. Ist das Verbot des Diebstahls ein Zwang? Nur für den, der nie gelernt hat, das Eigentum anderer Menschen zu achten. Ist es für den Autofahrer ein Zwang, auf der rechten Fahrbahn zu fahren, um den Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr zu vermeiden? Wohl nur für einen schwachsinnigen oder betrunkenen Fahrer...

Und so weiter.

Es hängt also offenbar vom Standpunkt bzw. vom Bezugssystem ab, ob die Einwirkung einer Kraft, ob ein Bedürfnis oder eine Regel als „Zwang“ bestimmt werden kann oder nicht. D.h. es gibt hier eine wichtige Pluralität von möglichen Standpunkten.
Welchen von den verschiedenen möglichen Standpunkten nimmst nun Du ein, wenn Du lebensnotwendige Bedürfnisse grundsätzlich als Zwänge einordnest?

Es grüßt Dich
Urs

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29. Nov. 2005, 22:28 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

soweit so gut, Eberhard, aber:

Kann dies Argument dazu beitragen, den Konsens zu erreichen oder bekräftigt es nur den Konflikt?

Setzt dies nicht etwas voraus, nämlich einen wie immer gearteten gemeinsamen Hintergrund? Ein gemeinsames Weltbild?
Nimm ein anderes Beispiel. Nimm den Karfreitag. Der ist bei uns im heiligen Köln ein stiller Feiertag, das heißt, es gibt keine Kneipe, keine Disco und kaum was anderes als Parzival in der Oper. Sind viele natürlich nicht mit einverstanden. Wie willst du da argumentieren? Als Gegenargument kommt letztlich immer nur heilig, heilig, das heißt, das ist Glaubenssache. Kann man einem Gläubigen wirklich Konsensunwilligkeit unterstellen? Er sieht die Sache eben so. Und meint, seine Sicht sei wahr und alles andere falsch.

intersubjektiv nachvollziehbare und übernehmbare Argumente
Da sagt dir der Evangelikale, du musst dein Herz für Jesus öffnen, dann erkennst du die Wahrheit genau so wie ich und meine Glaubensbrüder.

In Sachen Notwendigkeit von Normen stimme ich dir zu. Allerdings:
Deshalb kann man die Verletzung einer verbindlich gesetzten Norm auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass man diese Norm für inhaltlich (sachlich) falsch halte.

Das stimmt nun nicht so ganz. Wenn es so wäre, gäbe es heute immer noch den Schwulenparagrafen. Man kann gegen Normen genau so mit vernünftigen Argumenten angehen wie gegen jede andere Behauptung auch (fragt sich natürlich, je nach Gesellschaftsform, wie einem das bekommt).

Und auch Verfassungen und Staatsformen sind im Laufe der Geschichte veränderlich. Es gibt da nichts stabiles. Auch deswegen sage ich ja, vor einer Diskussion über spezielle Normen müsste eruiert werden, ob es nicht kultur- und geschichtsunabhängige allgemeine Normen der Humanität gibt.

Was alles die Notwendigkeit von Normen nicht in Frage stellt.

Mir ist nur die Basis nicht tragfähig genug. Wenn wir für unsere Gesellschaft Normen entwickeln wollen, auf der Basis von dem, was uns selbstverständlich und richtig erscheint, dann geht das natürlich. Aber diese Normen gelten dann eben nur für unsere Gesellschaft. Sie sind also beliebige, keine absoluten Normen. Die praktische Gefahr, die ich sehe ist, dass wir dazu neigen, solche im innergesellschaftlichen Diskurs gefundenen Normen absolut zu setzen - und das gibt erst recht Konflikte.

Deswegen sage ich auch, auf der Basis unserer Verfassung wollen wir das so. Mag sein, dass andere Gesellschaften das anders wollen, ist ihr gutes Recht, aber wir wollen das nun mal so.

Das ist zwar praktikabel, aber unbefriedigend. Nimm die Todesstrafe. Sagen wir, bei uns ist die abgeschafft, die USA sehen das anders, ist ihr gutes Recht, kann man ebensogut auch so machen?

Oder würde eine islamische Gesellschaft sagen, in Deutschland ist die Prostitution als Beruf legalisiert worden, wir in unserer Gesellschaft wollen das nicht, aber man kann das ebenso gut auch anders machen?

Und damit zurück zum Liberalismus. Würden wir sagen: heute noch verbieten wir das nächtliche Lärmen, aber man kann das ebensogut auch anders machen und jeden seinen eigenen Lärmschutz zahlen lassen, wenn wir mal mehrheitlich liberal werden?

Ich denke, da steckt noch ein Konfliktpotential drin, das man erst mal klären müsste.

Denn der Weg der Normenfindung im Diskurs selbst, da kann ich im Moment keine Probleme erkennen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29. Nov. 2005, 22:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Philoschall,

gegen deine Analyse habe ich kaum etwas einzuwenden. Allerdings mahne ich, auf die innewohnende Gefahr zu achten:

Marx war kein Ethiker. In dem Sinne, dass er sich mit Ethik nicht befasste; er setzte eine bestehende allgemeine humane Ethik voraus. Was seine missratenen Epigonen dazu brachte, sich ebenfalls nicht mit Ethik zu befassen und dabei den gleichen Weg gingen, wie alle Orthodoxen und Esoteriker: die Theorie verselbständigt sich zu einer inhumanen Ideologie. Sein muss das nicht.

Setzt man allerdings, wie er, die humane Ethik voraus und kritisiert von dieser Basis aus die bürgerlichen Ideologien, so ist dies m.E. eine sehr wertvolle und klärende Sicht.

Den wirtschaftlichen Interessengruppen ist das, dass anderen gesellschaftlichen Interessengruppen als Sachzwang (Ohnmacht) erscheinen vermag, alles andere als Notwendigkeit
Das sehe ich nicht so. Unternehmer, die ihre Mitarbeiter entlassen, tun das nicht selten mit sehr ungutem Gefühl, sehen sich aber von der wirtschaftlichen Lage gezwungen. Der Wesenheit Wirtschaft (die ja tatsächlich keine Wesenheit, sondern menschliches Handeln ist) fühlen sie sich genau so unterworfen wie ihre entlassenen Opfer. Es ist m.E. ein Fehler zu denken, Ideologien würden gemacht, produziert. Das kann in Grenzen manchmal sein, aber im Kern werden sie nicht gemacht, sondern entstehen - als Fortentwicklung angenommener Selbstverständlichkeiten. Nicht: der Mensch soll ein unabhängiges, mobiles Individuum werden, sondern der Mensch wird ein unabhängiges mobiles Individuum. Das ist der evolutionäre Lauf der Dinge. Ist natürlich Ideologie - wird aber als Wissenschaft gesehen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29. Nov. 2005, 23:15 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Urs,

Denn nur in extremen Lagen wird die Befriedigung elementarer Bedürfnisse zum"Zwang".
Dass es uns hier in Deutschland (zumeist) gut genug geht, dass wir diesen Zwang nicht spüren, heißt nicht, dass er nicht besteht. Er kann jederzeit wieder auftreten - teilweise ist er das beim Schneefall und Stromausfall im Bergischen. Da wird die Notwendigkeit von Wärme für das Überleben durchaus schon wieder als Zwang erlebt.

Ist es für heranwachsende Kinder ein Zwang, „groß“ zu werden? Nein, es ist ihr eigener, sehr starker Wunsch und Antrieb.
Da sind wir schon fast beim Problem Willensfreiheit. Werden sie groß, weil es ihr Wille ist, oder haben sie den Willen, weil sie darauf programmiert sind, groß zu werden?

Es hängt also offenbar vom Standpunkt bzw. vom Bezugssystem ab, ob die Einwirkung einer Kraft, ob ein Bedürfnis oder eine Regel als „Zwang“ bestimmt werden kann oder nicht. D.h. es gibt hier eine wichtige Pluralität von möglichen Standpunkten.

Ist es nicht so, dass ich (mal vom Fahrradbeispiel abgesehen, da würde ich doch lieber von Lernen sprechen) etwas nur dann als Zwang empfinde, wenn es meinem Willen entgegen steht? Aufs Klo zu müssen empfinde ich nur dann als Zwang, wenn ich von der Veranstaltung nichts verpassen will. Arbeiten um Geld zu verdienen ist dann ein Zwang, wenn ich lieber etwas anderes machen möchte. Und atmen betrachte ich dann als Zwang, wenn ich lieber tauchen möchte.

Ebenso verhält es sich mit gesellschaftlichen Zwängen. Kopftuchtragen betrachten wir als Zwang - etliche Musliminnen machen das aber gewollt und freiwillig.

Ich bin dafür, Zwang oder nicht Zwang lieber von objektiven Gründen abhängig zu machen als vom subjektiven Empfinden.

Womit ich nicht sage, dass es nicht eine hoch interessante Frage ist, was man unter welchen Bedingungen als Zwang empfindet und was nicht - interessant auch für unsere Fragestellung nach Normen im Zusammenhang mit dem Gemeinwohl.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 30. Nov. 2005, 11:02 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

ich komme wohl nicht umhin, mich mit Deiner Art zu formulieren etwas genauer auseinanderzusetzen, denn ich finde es reichlich anstrengend, immer wieder - und oft vergeblich, nach dem genauen Sinn Deiner zum Teil sehr umfangreichen Beiträge zu suchen.

Ich nehme mal eine zentrale Passage aus Deinem letzten Beitrag.

Dort schreibst Du:

“Liberale Demokratie ist die politische Ausgabe derjenigen wirtschaftlichen Interessengruppe, die, auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftretend, jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert, die mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen.“

Ich kann mit diesen kunstvoll verschrobenen Sätzen leider wenig anfangen und ich frage mich, wie es anderen dabei geht. Ich habe von der zitierten Passage zwar den atmosphärischen Eindruck, dass darin irgendeine Kritik an der liberalen Demokratie steckt, aber was genau mit diesen Sätzen gesagt wird, bleibt mir unklar.

Fangen wir mit der „liberalen Demokratie“ an. Was verstehst Du darunter? Was versteht man darunter? Meine Frage an Dich: Bedeutet „liberale Demokratie“ für Dich ein politisches System, in dem es ein allgemeines gleiches Wahlrecht gibt? Ich vermute, dass dem so ist.

Dem steht aber entgegen, dass das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht auf dem Programm der Liberalen gestanden hat, sondern vor allem von den Sozialdemokraten (für die Arbeiter) und den Frauenrechtlerinnen (für die Frauen) erkämpft wurde und deshalb in Deutschland erst 1918 und gerade nicht von einer liberalen Partei eingeführt wurde.

Die liberale Demokratie ist nun bei Dir „die Ausgabe einer wirtschaftlichen Interessengruppe“. Was das heißen soll, ist mir unklar. Ich kenne zwar die Ausgabe einer Zeitung („ .. in der gestrigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung konnten man lesen …“), aber dass politische Programme wie die liberale Demokratie „ausgegeben“ werden, erscheint mir sprachlich etwas eigenwillig und nicht sehr geglückt.

Mit der „wirtschaftlichen Interessengruppe“ meinst Du wohl die „Kapitaleigner“ und „Unternehmer“, also diejenigen, die Marx als „Bourgeoisie“ oder „Kapitalistenklasse“ bezeichnet und die umgangssprachlich als „Fabrikbesitzer“ bezeichnet werden.

Diese Begriffe sind für mich wesentlich aussagekräftiger, denn eine „wirtschaftliche Interessengruppe“ sind auch die Gewerkschaften oder die Bauernverbände, aber die meinst Du offenbar nicht.

Entsprechendes gilt für Deinen Begriff des „wirtschaftlichen Interesses“, womit du offenbar auch nur das Interesse der Kapitalisten/Unternehmer meinst, obwohl die Beschäftigten bzw. die Lohnarbeiter natürlich ebenfalls wirtschaftliche Interessen haben.

Du nennst die Interessengruppe nicht direkt, sondern bezeichnest sie als diejenige Gruppe, „die jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert.“

Mit „jenen Veränderungen“ ist offenbar die weiter oben angesprochene „Technisierung der Arbeitswelt“ und die „industriale Ausgestaltung der betreffenden Gesellschaften“ gemeint,

Aber „verschleiern“ die Fabrikbesitzer die Technisierung? Eher zeigen sie doch voll Stolz ihre Maschinen, mit denen so viel schneller und billiger produziert werden kann.

Haben die Fabrikbesitzer die Technisierung der Arbeitswelt und die industrielle Ausgestaltung der Gesellschaft „kultiviert“?

Die Fabrikbesitzer können eigentlich auch nicht gemeint sein, denn denen geht es vorrangig nicht um die Kultivierung der Maschinerie sondern um deren Rentabilität.

Außerdem soll die wirtschaftliche Interessengruppe „auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftreten“. Was kann damit gemeint sein? Welche Ideen werden da in die Politik herabgezogen? Handelt es sich bei dem Geist oberhalb der Politik um die Philosophie?

Schließlich sprichst du davon, dass die gesellschaftlichen Veränderungen "mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen“. Dabei meinst Du mit „industrial“ offenbar „industriell“ und mit „verzeitigen“ vielleicht „verwirklichen“ oder „verbreiten“, vielleicht aber auch etwas anderes.

Da all diese Fragen nach der genauen Bedeutung offen bleiben, kann ich mich nur unter Schwierigkeiten mit Deinen Beiträgen auseinandersetzen. Sie zeigen zwar eine deutliche politische Richtung, aber es mangelt nach meinem Eindruck bei allem stilistischen Anspruch an begrifflicher Klarheit und logischer Stringenz der Argumente. Und das ist schade

meint Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 30. Nov. 2005, 12:18 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

vorweg: Ich finde es immer schade, wenn Philosophen an der Wirksamkeit vernünftiger Argumente zweifeln oder darauf verzichten, an deren besserer Wirksamkeit zu arbeiten. Wer sonst als die Philosophen wäre eher für diese Aufgabe zuständig?

Auf meine Aufforderung, nach intersubjektiv nachvollziehbaren und übernehmbaren Argumenten zu suchen, entgegnest du: „Da sagt dir der Evangelikale, du musst dein Herz für Jesus öffnen, dann erkennst du die Wahrheit genau so wie ich und meine Glaubensbrüder.“

Willst Du diese Pseudoargumentation auf eine Stufe stellen zum Beispiel mit den Intersubjektivitätskriterien der Erfahrungswissenschaften, wo genau angegeben wird, welche Wahrnehmungen man macht, wenn man eine bestimmte Versuchsanordnung durchführt oder wenn man sich an einen zeiträumlich bestimmten Ort begibt?

Als rational denkender Mensch muss ich den Evangelikalen doch zurückfragen: „Was meinst Du denn mit der Bildersprache ,das Herz für Jesus öffnen’?“

Wenn er den Anspruch auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Begründung erhebt, dann muss der Evangelikale Handlungen angeben, deren Ausführung jedem möglich ist und deren Ausführung sich unabhängig vom behaupteten Resultat (dass der Betreffende die christliche Wahrheit erkennt) intersubjektiv übereinstimmend feststellen lässt.

Andernfalls handelt es sich um ein Pseudoargument.

Denn wenn man zum Ergebnis kommt: „Ich kann die christliche Wahrheit nicht erkennen“, dann sagt der Schlaumeier: „Dann hast Du eben Dein Herz noch nicht genügend weit für Jesus geöffnet.“

Nach diesem Muster lassen sich beliebig abstruse und einander widersprechende Theorien „begründen“, was zur Konsequenz hat, dass es sich eben um keine Begründung von Erkenntnis handeln kann. Denn beliebige Antworten sind gar keine Antwort.

Außerdem darf der Evangelikale dabei selbstverständlich nicht dasjenige bereits zur Voraussetzung machen, was gerade strittig ist (die Überzeugung von der Wahrheit der christlichen Lehre).

(Fortsetzung folgt.)

Erstmal tschüs sagt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 30. Nov. 2005, 21:46 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Eberhard,

Ich finde es immer schade, wenn Philosophen an der Wirksamkeit vernünftiger Argumente zweifeln
Ich zweifle aber daran. Ich bin gezwungen, daran zu zweifeln, weil mich das die Lebenspraxis gelehrt hat.

oder darauf verzichten, an deren besserer Wirksamkeit zu arbeiten.
Das folgt nicht. Aber daran arbeiten heißt erst mal zu erkennen, dass ich da mit meinen üblichen rationalen Argumenten nicht durch komme. Und dann muss ich überlegen, welche anderen Wege vielleicht möglich wären. Ich neige dazu zu sagen, sie interpretieren meine Worte nach ihrem Weltbild. Wenn ich verstanden werden will, muss ich ihr Weltbild ändern. Ein Weltbild kann ich aber nicht im Diskurs ändern, das kann ich nur dann ändern, wenn ich auf Widersprüche zeige, auf Widersprüche in den Daten, wo etwas anders geglaubt wird, als es tatsächlich und nicht ignorierbar ist - wenn man darauf hingewiesen wird. Ich kann ihm den Widerspruch nicht erklären, das nützt nichts. Er muss sich ihm zeigen. Das geht nicht von jetzt auf gleich.

Argumente im Diskurs haben dann keinen Sinn, wenn sie auf Daten basieren, die der andere nicht oder so nicht hat. Das ist für mich das Hauptproblem, auf das ich in dieser oder jener Form immer wieder zurückkommen muss.

Als rational denkender Mensch muss ich den Evangelikalen doch zurückfragen: „Was meinst Du denn mit der Bildersprache ,das Herz für Jesus öffnen’?“

Dat darfste nich machen. Dann kriegste ne endlose Predigt, in die er sich bis zur totalen Kommunikationsunfähigkeit hinein steigert.

Andernfalls handelt es sich um ein Pseudoargument.
Und? Eberhard? Auf wievielen Pseudoargumenten basierten kollektiver Mord und Totschlag?
Ich habe nicht das geringste gegen vernünftige Argumente einzuwenden. Auch nicht das geringste gegen deine Methoden, deren Klarheit ich schätze. Aber ich sage, schau dir die Lebenspraxis an: das reicht nicht. Es reicht mir und es reicht dir und allen vernünftigen Leuten, mit denen man so zu tun hat.
Aber das ist im Zweifelsfalle nicht die Mehrheit.

Zu meinen Lieblingsmetaphern gehört der den Vögeln predigende Franz von Assisi. Das war ja nicht Tierliebe. Das war eine Demonstration dafür, dass er genau so gut den Vögeln predigen könne wie seinen Landsleuten; die seien genau so wenig in der Lage, zuzuhören und zu verstehen.

Was nützt es, wenn alles, was du sagst, vollkommen richtig ist, aber niemand versteht es? Nicht von den Worten und Verknüpfungen, sondern von der Bedeutung, vom Sinn her?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 30. Nov. 2005, 22:38 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Eberhard,

"Meine Frage an Dich: Bedeutet „liberale Demokratie“ für Dich ..." Eberhard

Auch noch den Letzten auf dem Planeten Erde zum Wählen mobilisieren, damit dieser demokratisiertes Glied privatwirtschaftlicher Grossunternehmung wird.

"Dem steht aber entgegen, dass das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht auf dem Programm der Liberalen gestanden hat, sondern vor allem von den Sozialdemokraten (für die Arbeiter) und den Frauenrechtlerinnen (für die Frauen) erkämpft wurde und deshalb in Deutschland erst 1918 und gerade nicht von einer liberalen Partei eingeführt wurde." Eberhard

Bis 1914 waren in Deutschland Träger dieser Forderungen nicht, oder nur unwesentlich an der Regierungsbildung, an der politischen Ausgestaltung der deutschen Gesellschaft beteiligt. Die grossbürgerlichen und die junkerlichen Kräfte in Deutschland verhinderten dieses bis 1918, als auch in Deutschland demokratischer Liberalismus eingeführt wurde. Die u.a. während des Bestehens des Preussenstaates geformte Parteiprogramatik der Sozialdemokratie Deutschlands sowie Ideen des bereits ausserhalb Deutschlands praktizierten Liberalismus schliessen sich nicht aus.

"Die liberale Demokratie ist nun bei Dir „die Ausgabe einer wirtschaftlichen Interessengruppe“." Eberhard

Wie die Sozialdemokratie im Rahmen bürgerlicher Expansion auftauchende Ideen -manchmal, wie in Deutschland von 1871-1918 auf Umwegen- auf ihre Fahne geschrieben, so weisen andere politische Parteien ebenfalls typische Merkmale auf, mit denen parteipolitische Unterschiede gegeben sind. Parteibildungen in Europa sind (noch) der Ausdruck dafür, dass deren aktiven Träger im Namen gesellschaftlicher Einzelinteressen auftreten, die im Sinne ihrer jeweiligen Parteiprogramatik auf der Ebene der Parlamente versuchen Gesellschaft auszugestalten. Wie das Beispiel von 1918 zeigt, gab erst die liberalistische Favorisierung den politischen Boden in Deutschland ab, auf dem deutsche Bürger vermochten demokratisch-parteipolitisch-parlamentarisch aufzutreten. Nicht nur das antipluralistische deutsche Bürgertum musste sich jedoch von jenen antidemokratisch-junkerlichen Kräften lösen, die mit Beendigung des ersten Weltkrieges kapitulierten, mit denen dasselbe Bürgertum zuvor Deutschland als innere Schicksalsgemeinschaft formierte dessen Wohl von einer imperalistischen Aussenpolitik der militärischen Eroberung von geographischen Gebieten abhängig sei, die westliche Wirtschaftsinteressengruppen bereits kolonialistisch eroberten. Der Auflösung der zum imperialistischen Militarismus heruntergewirtschaften deutschen Monarchie (unter Kaiser Wilhem II) folgte jedoch beispielsweise nicht, dass das deutsche Volk zusammen mit der deutschen Sozialdemokratie sich seine politischen Formen gab. Jenes politische System, d.h. die liberale Demokratie wurde in Deutschland eingeführt, mit der amerikanische sowie französische und englische Wirtschaftsinteressen bereits ihre Globalunternehmungen beispielsweise auf europäischen Boden, nach innen, d.h. innenpolitisch europäisch-nationalistisch sowie aussereuropäisch, d.h. aussenpolitisch-kolonialistisch praktizierten. Deutsches Großbürgertum, von 1871 bis 1918 mit den antidemokratischen Junkern im Verbund, deutsches Großbürgertum 1918 mit der Einführung der westlich liberalen Demokratie in Deutschland nicht nur von der Einflußnahme des Wirtschaftsinteresses Westeuropas und den USA unmittelbar, sondern auch von der nun auf der Ebene des Weimarer Parlamentarismus auftretenden in der deutschen Sozialdemokratie organisierten Arbeiterschaft konfrontiert, ließ die deutsche Gesellschaft seit 1918 abermals zu einer, nun antibolschewistischen Schicksalsgemeinschaft formieren, die ab 1933 politisch von der NSDAP geführt wurde .............

"Du nennst die Interessengruppe nicht direkt, sondern bezeichnest sie als diejenige Gruppe, „die jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert.“ ... Aber „verschleiern“ die Fabrikbesitzer die Technisierung? ... Haben die Fabrikbesitzer die Technisierung der Arbeitswelt und die industrielle Ausgestaltung der Gesellschaft „kultiviert“? ... Die Fabrikbesitzer können eigentlich auch nicht gemeint sein, denn denen geht es vorrangig nicht um die Kultivierung der Maschinerie sondern um deren Rentabilität." Eberhard

Mit der Anwendung neuzeitlicher Technik, mit der seit der bürgerlichen Revolution sich vollziehenden privatwirtschaftlichen Aneignung der Produktionsmittel vollzog sich jener Umbau westlicher Gesellschaften, der sich auch dadurch kennzeichnen lässt, dass die Arbeitskraft des abendländischen Menschen aus dem feudalherrschaftlichen Ordnungsgefüge des religiös ausgerichteten Mittelalter genommen wurde: um Arbeitskraft industriell ... zu verwerten. Mit diesem Produktionsumbau verändern sich nicht nur die Arbeitsverhältnisse; die Staatspraxis passt sich ebenfalls dem mit der Expansion der Grossbürgerlichen Unternehmung gegebenen gesellschaftlichen Umbau an. Staatlichkeit wird zum Ordnungsgefüge jener bürgerlichen Kräfte, die bis heute im Besitz der Produktionsmittel sind, welche bürgerliche Staatlichkeit den Parlamentarismus abgibt, auf deren Bühne diejenigen auftreten, die den Besitzstand parteipolitisch verteidigen (Liberale), die, mit Gesellschaftsreformen auftretend, diesen Besitzstand unangetastet lassen (Volksparteien, demokratische Oppositionparteien). Der bürgerliche Staat, politische Parteien treten mit Ideen auf, mit denen die jeweiligen Wählerschaften umworben werden. Diese Ideen, mit der bürgerlichen Expansion Westeuropas industriell ... seit 1918 auch in Deutschland zur Wirkung kommend, können nationalistisch und/oder internationalistisch ausgerichtet sein; diese Ideen werden favorisiert um die Nicht-Besitzenden Bürger mit ihren jeweilig zugestandenen wirtschaftlichen Interessen auf dem kapitalistischen Kurs "mitzunehmen". Mit in der parteipolitischen Sphäre auftretenden Ideen wird Kultivierung jener Gesellschaften betrieben, die vom privatwirtschaftlichen Einsatz der Technik bedingt sind. Menschliche Handlungen vollziehen sich in der bürgerlich-politischen Sphäre als zivilisierte; jene Bürger dürfen nun medial glänzen, die verstehen, Einzelinteresse, etwa derjenigen die nicht über Produktionsmittel verfügen, als Allgemeininteresse erscheinen zu lassen.

"Außerdem soll die wirtschaftliche Interessengruppe „auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftreten“. Was kann damit gemeint sein? Welche Ideen werden da in die Politik herabgezogen? Handelt es sich bei dem Geist oberhalb der Politik um die Philosophie?" Eberhard

Bürgerliche Staatlichkeit tritt mit Verfassungen auf, in der Geistiges, etwa das vom abstrahierenden Denken entworfene Ideal der praktischen Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, verankert ist. In der Sphäre der praktischen Politik, und hier besonders vollzieht sich menschliches Handeln jedoch so, dass dieses vom abstrahierenden Denken selten bewegt wird. Dass Einzelinteresse, in dessen Vermögen steht, als Allgemeininteresse zu erscheinen, bleibt, wenn unterschiedliche politische Parteien vermögen aufzutreten, demokratischer Faktor. Wird die praktisch-demokratische Ausrichtung zurückgenommen fällt das parteipolitische Kräftespiel. Der Liberalismus verliert seine demokratische Favorisierung die mit den unterschiedlichen sowie entgegengesetzten Parteibildungen gegeben ist. Globalisierendes Besitzstandsinteresse setzt sich ins Vermögen antidemokratisch aufzutreten; Staat als "Nachtwächterstaat", d.h. im Inneren als Garanten der bürgerlichen Ruhe und Ordnung, aussenpolitisch als Sicherung ihrer wirtschaftlichen Interessen auftreten zu lassen. Die auf dem Papier vom geistiges Ideal inspirierte politische Verfassung, die bürgerlich-formale Staatsrechtlichkeit als geistiger Hintergrund des gesellschaftlichen Nicht-Zustandes, die bürgerliche Idee der politisch zu verwirklichenden Gleichheit der unterschiedlichen Menschen vor dem Staatsgesetz ist -wird menschliche Ungleichheit von jenem Globalverwertungsinteresse bedingt, dessen Macht nicht aus demokratisch-parteipolitischen Kräftespiel resultiert- ausser Kraft gesetzt. Dass vom philosophisch-abstrahierende Denken inspirierte politische Sein vermag dem verabsolutierten kapitalistischen Verwertungsinteresse der Postmoderne ebensowenig etwas entgegensetzen, wie Denken dem verabsolutierten religiösen Wahn des europäischen Mittelalters vermochte etwas entgegenzusetzen. Philosophie bleibt. Wandel wird sich in jener praktischen Sphäre wieder vollziehen, in der geistige Grundlagen des menschlichen Strebens stets vermischt mit verabsolutierten Intesssen auftreten.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen IIEs ist m.
Beitrag von philoschall am 01. Dez. 2005, 11:06 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

ich teile den von Dir vorgetragenen Gedanken, dass statt Ethik, wird Theorie des gesellschaftlichen Einzelinteresses absolut gesetzt -etwa derjenigen welche den Begriff der Arbeiterklasse oder derjenigen welche die privatwirtschaftlich angeeigneten Produktionsmittel verabsolutieren, gewinnt dieses verabsolutierende Theoretisieren, gewinnt dieses Technik-Fetischisierte Handeln Macht im Staatsbereich, verselbstständigt sich somit das gestalterische Handlungsvermögen über Gesellschaft- alles andere favorisiert wird. Allerdings gibts nicht nur Theorie-Fetischisten mit staatspolitischen Machtanspruch auf der Linken, diese finden sich ebenso auf der politischen Rechten (Stichwort: Konservative Revolutionäre, erstmals in der Weimarer Republik aufgetreten). Gegenwärtige Politik tritt unter Rahmenbedingungen auf, die der späten Phase der ersten Einführung liberaler Demokratie in Deutschland ähnlich sind: Verordnung eines rigiden Sparkurses der öffentlichen Haushalte, Privatisierung zuvor Staatlich Verwalteten, hohe Arbeitslosigkeit ... - in der davon geprägten staatspolitischen Sphäre gewannen sogenannte konservative Revolutionäre Einfluss auf die deutsche Gesellschaft, welcher Einfluss 1933 zur parlamentarischen Demontage ihren Beitrag leistete.

"Es ist m.E. ein Fehler zu denken, Ideologien würden gemacht, produziert. Das kann in Grenzen manchmal sein, aber im Kern werden sie nicht gemacht, sondern entstehen - als Fortentwicklung angenommener Selbstverständlichkeiten. Nicht: der Mensch soll ein unabhängiges, mobiles Individuum werden, sondern der Mensch wird ein unabhängiges mobiles Individuum. Das ist der evolutionäre Lauf der Dinge." Abrazo

Siehe hierzu meine Ausführungen an Eberhard (Beitrag 100) Danke.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 01. Dez. 2005, 20:17 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

die zentrale Frage ist: Kann es eine konsensfähige, am Allgemeinwohl orientierte Politik und Gesetzgebung geben angesichts von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Weltbildern, Wertordnungen und Interessen?

Kann es eine gemeinsame, konsensfähige Politik geben für Gesellschaften, die aus Katholiken und Protestanten, Christen und Muslimen, Gottgläubigen und Atheisten, Iren und Schotten, Flamen und Wallonen, Kapitaleignern und Lohnempfängern, aus Deutschstämmigen und Türkischstämmigen, aus Weißen und Farbigen, aus Frauen und Männern, aus Jungen und Alten besteht?

Wie weit reicht angesichts derartiger Unterschiede oder Gegensätze eine „vernünftige“ Argumentation, die allgemein akzeptabel ist?

Nehmen wir das konkrete Beispiel von Abrazo: Wie können Christen und Nichtchristen, die um einen Konsens im Sinne des Allgemeinwohls bemüht sind, argumentieren, wenn es um die Öffnung von Diskotheken am Karfreitag geht, also dem Tag, an dem die Christen der Hinrichtung Jesu gedenken und der als der höchste Feiertag der Christenheit gilt.

Wie müssten Karl Fromm und Heinz Gottlos argumentieren?

F: Diskotheken und ähnliches dürfen am Karfreitag nicht öffnen, denn Tanzvergnügungen sind mit der Trauer um die Kreuzigung Jesu nicht vereinbar, der als Gottes Sohn mit diesem Opfergang die Sünden der Menschen auf sich genommen hat.

G: Das sind doch religiöse Phantasien, die ich als nüchtern denkender Mensch nicht akzeptieren kann. Diese Argumentation kann doch nur ein gläubiger Christ akzeptieren. Da wir hier aber um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen bemüht sind, sind Argumente, die ein religiöses Glaubensbekenntnis zur Prämisse haben, ungeeignet.

F: Wollen Sie so tun, als gäbe es keine christliche Religion? Wollen Sie alles ignorieren, was wir vom christlichen Glauben aus zu sagen haben? Das wäre ja das Ende der freien Religionsausübung.

G: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass Ihre Argumentation für Nicht-Christen nicht nachvollziehbar ist und deshalb ungeeignet ist für die Bestimmung einer Politik, die dem allgemeinen Wohl entspricht.

F: Sie vergessen, dass wir ein Land mit abendländisch christlicher Kultur und Tradition sind, woraus folgt, dass die christlichen Feiertage zu respektieren sind.

G: Es mag ja sein, dass in der Vergangenheit das Christentum unsere Kultur geprägt hat und dass die Christen auch heute noch die Mehrheit der Bevölkerung darstellen. Aber Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es einen erheblichen Prozentsatz von Nicht-Christen gibt, wie mich. Aber davon ganz abgesehen: die Frage, wie viele Menschen einer bestimmten Weltanschauung anhängen, ist für die Lösung unseres Problems nicht von entscheidender Bedeutung. Dadurch, dass sich die Christen in der Mehrheit befinden, wird ihr Weltbild nicht richtiger. In anderen Gesellschaften befinden sich die Christen z.B. in der Minderheit.

F: Soll das heißen, dass der Charakter des Karfreitags, in dem die zahlreichen Christen in diesem Land um das Leiden des Mensch gewordenen Gottessohns trauern, einfach ignoriert werden kann, weil es keine wissenschaftliche Begründung des christlichen Glaubens gibt?

G: Das folgt aus dem, was ich gesagt habe, noch nicht. Ich sage nur, dass die Schließung der Diskotheken nicht für mich und auch nicht für die Allgemeinheit auf diese Weise nachvollziehbar begründet werden kann,

Ich bin mir wohl bewusst, dass es in diesem Land viele Menschen gibt, die christlichen Glaubens sind. Aber es gibt eben auch Nicht-Christen und für diese ist ihre Begründung nicht akzeptabel.

F: Sie fordern also, dass die christlichen Gemeinden in ihrer Trauer und ihren Gottesdiensten mit dem lautstarken Rummel von Rockkonzerten, Bundesligaspielen, Straßenfesten, Flohmärkten oder Tanzveranstaltungen gestört und belästigt werden dürfen? Von Respekt vor dem, was heilig ist, haben Sie wohl noch nie etwas gehört!

G: Was Ihnen heilig ist, ist anderen vielleicht nicht heilig. Aber ich teile Ihre Forderung, dass die Trauer und die Gefühle von Menschen respektiert und nicht durch lärmende Fröhlichkeit gestört werden sollten. Und dies gilt für religiöse Gefühle genauso wie für andere Gefühle. Dass derartige Verletzungen von Gefühlen etwas Unerwünschtes sind, kann wohl von jedermann nachvollzogen werden.

F: Na also, sie scheinen langsam zu begreifen!

G: Nicht zu voreilig. Für mich folgt daraus nur, dass den Christen eine ungestörte Feier des Karfreitags zu gewähren ist. Das heißt aber zugleich, dass Aktivitäten und Veranstaltungen, die niemanden stören, der dies nicht will, zugelassen werden müssen, sei es ein Radiosender mit Tanzmusik, ein Fernsehsender mit einer Komödie, sei es eine Diskothek fernab von der Stadt oder ähnliches.

Mit diesem kleinen Beispiel konsensorientierter Argumentation grüßt Euch Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 01. Dez. 2005, 23:29 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi, Philoschall,

konstruiere mir doch mal bitte diesen Satz nach den üblichen grammatikalischen Regeln, denn ich bin dazu leider nicht in der Lage:

ich teile den von Dir vorgetragenen Gedanken, dass statt Ethik, wird Theorie des gesellschaftlichen Einzelinteresses absolut gesetzt -etwa derjenigen welche den Begriff der Arbeiterklasse oder derjenigen welche die privatwirtschaftlich angeeigneten Produktionsmittel verabsolutieren, gewinnt dieses verabsolutierende Theoretisieren, gewinnt dieses Technik-Fetischisierte Handeln Macht im Staatsbereich, verselbstständigt sich somit das gestalterische Handlungsvermögen über Gesellschaft- alles andere favorisiert wird.


Zum anderen vermisse ich bei dir leider klare Aussagen über das Subjekt. Du beschreibst - aus deiner Sicht - Vorgänge, oft mit Analogieschlüssen, die ich nicht akzeptiere (wenn eine Katze mit dem Schwanz wedelt, ist sie kein Hund), machst aber keine zumindest für mich erkennbaren Angaben darüber, wer der Urheber oder was die Ursache dieser Vorgänge sein soll. Dadurch fehlt mir die Stringenz in deiner Argumentation, sie erscheint mir wie zusammenhangloses Stückwerk. Und mit irgendwelchen obskuren Mächten kann ich nichts anfangen. Also nenne doch bitte Ross und Reiter: wen oder was meinst du mit den Mächten?

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 01. Dez. 2005, 23:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

Da wir hier aber um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen bemüht sind, sind Argumente, die ein religiöses Glaubensbekenntnis zur Prämisse haben, ungeeignet.


Darauf würde Herr Fromm antworten:
Selbstverständlich sind wir um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen bemüht. Wir sind immer diejenigen, die auf die Nichtchristen zugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen trachten. Wir wissen, dass Nichtchristen die Bedeutung des Karfreitags nicht verstehen und bemühen uns darum und beten und hoffen, dass sie das einmal begreifen. Aber Sie können von uns doch nicht verlangen, dass wir tatenlos zusehen, wenn egoistische, einzig ihrem persönlichen Vergnügen folgende Menschen die Mahnung und die Erinnerung an die göttliche Wahrheit öffentlich in Vergessenheit zu bringen trachten!

Du setzt einen Konsens zwischen unterschiedlichen Interessen von Individuen voraus. Genau darum geht es solchen Leuten aber nicht. Es geht ihnen nicht darum, ihren Glauben ungestört privat zu leben, sondern es geht ihnen darum, eine ihrer Ansicht nach allgemeingültige Wahrheit zu achten und möglichst zu verbreiten, die weit über individuellen Interessen steht, für die individuelle Interessen überhaupt nicht relevant sind.

Wobei in politischen Strömungen oft genug die gleichen Absichten zu finden sind.

Im Grunde handelt es sich hier um eine Interpretation des Gemeinwohls, wonach das Gemeinwohl Vorrang hat vor den jeweiligen individuellen Interessen, weil diese nur momentan, lustbetont und ohne Blick auf Zukunft und Ziel des Ganzen wahrgenommen werden. Insofern sie dies nicht sehen, sehen sie damit auch nicht ihre eigenen tatsächlichen Interessen. Vulgo: das Individuum ist im Zweifelsfalle ein ahnungsloser, hin- und hergeworfener Dummkopf, über dessen Aussagen man mit gütigem, verständnisvollem Lächeln hinweg geht.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 02. Dez. 2005, 09:02 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

als Heinz Gottlos las, was Karl Fromm Dir zum Karfreitag gesagt hat, schrieb er an Karl Fromm:

Sehr geehrter Herr Fromm,

ich freue mich, dass Sie mit mir das Ziel teilen, einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen in Bezug auf die Gestaltung des Karfreitags zu erreichen.

Wenn man aber diese Einigung wirklich will, dann kann man nicht für eine bestimmte Position allgemeine Geltung verlangen, ohne diese allgemeine Geltung auch mit allgemein nachvollziehbaren Argumenten einsichtig begründen zu können. Eine solche Argumentation ermöglicht keinen Konsens, sondern verhindert ihn.

Wenn Sie folglich auf der allgemeinen Geltung Ihrer christlichen Position bestehen, wenn diese Position auch für mich gelten soll, obwohl es für diese Position keine allgemein nachvollziehbare und überprüfbare Begründung gibt, dann war ihr anfängliches Bekenntnis zur vernünftigen Einigung nur Augenwischerei, ein Lippenbekenntnis, das Sie nicht ernsthaft gemeint haben.

Zum Vorschein kommt bei Ihnen ein nicht zu begründendes autoritär gesetztes Dogma, dem sich alle unterzuordnen haben.

Eine Wahrheit, die nicht einsichtig ist, ist von der Unwahrheit nicht zu unterscheiden.

Eine selbsternannte Rechtgläubigkeit schafft keinen Konsens.

Solche Orthodoxie ist gegenüber den anders Denkenden nicht mehr als eine Aufforderung zu gehorchen.

Wenn Sie das nicht wollen sondern einen vernünftigen, auf nachvollziehbaren Argumenten aufgebauten Konsens, dann überdenken Sie bitte Ihre Position in dieser Frage noch einmal.“

Hat Heinz Gottlos damit Recht?

fragt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 02. Dez. 2005, 12:47 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

Abrazo an Eberhard: "Was nützt es, wenn alles, was du sagst, vollkommen richtig ist, aber niemand versteht es?"


Eberhard an philoschall: "Du vermisst bei der Fragestellung den historischen Kontext und Du befürchtest, dass ohne diesen Kontext die zentralen Begriffe im Dunkeln bleiben müssen.

Diese Befürchtung teile ich nicht, denn Begriffe wie Gemeinwohl, Wohl der Individuen, Gesamtinteresse oder Einzelinteresse haben bereits umgangssprachlich eine mehr oder weniger bestimmte Bedeutung, und es hindert uns niemand daran, diese Begriffe - falls nötig - noch schärfer zu definieren." Eberhard (Teil 1, Antwort 2)

Dass erinnert mich an David Hume: Es gab und wird keinen Staat geben der durch einen ursprünglichen Vertrag des Volkes entstanden ist, bezw. entstehen wird. Nach Hume entsteht Staat - im Zusammenhang mit dem Staat sind nicht nur Begriffe wie Gemeinwohl, Einzelinteresse ... zu behandeln - durch physische Gewalt: diese zwinge das Volk erst zur nachträglichen Anerkennung der Herrschaft. Diese nachträgliche Anerkennung durch die (Volks)Menge nennt Hume "stillschweigende Zustimmung", die er vom historisch verstandenen Vertrag (ich glaube Hume argumentiert gegen Locke) unterscheidet. Nicht um die Legitimierung irgend eines Staates geht es Hume, sondern um Favorisierung der Loyalität der Bürger, mit der die physische Gewaltanwendung stabilisiert wird: Allgemeine Interessen und Bedürfnisse des Volkes müssen berücksichtigt werden, und zwar hinsichtlich Reformen der Verfassung des Staates. Vertragstheorie ist nicht historisch orientiert, die Entstehungsgeschichte eines Staates sowie historisch orientierte Kritik wird nicht favorisiert. Entscheidend ist hier (wie auch bei Kant) anderes: die ideelle bezw. normative Komponente, mit der die Legitimität einer Rechts- und Staatsauffassung öffentlich bestätigt werden soll. Diese ideelle Vertragstheorie setzt den universalen Anspruch vorraus, dass jeder der Vertragsteilnehmer sein Naturrecht aufgibt, dass er bei seiner Verfolgung des Zieles, seiner Selbsterhaltung, die Rationalisierung seiner Interessen im Rahmen der Staatsgesetze, der Insititutionen, praktiziert.

Diese normative Vertragstheorie - ich geh hier mal davon aus, Eberhard ist ein Vertreter dieser Theorie - arbeitet also mit einem Menschenbild, dass die Bürger nur dann Vernünftige sind, wenn diese den Naturzustand aufgeben, damit diese ihren Strebenszustand, den juridisch-politischen Zusammenhang rational erfassen. Wenn das, was hier von Eberhard immer wieder vorgetragen wird, alles richtig sein soll, dieses aber niemand versteht -ausser denen die dieses Menschenbild denken und dieses favorisieren- kann hier wohl etwas nicht richtig sein. Ich meine, dass dieser Rationalität ihre Grenzen von der Lebenspraxis aufgezeigt werden. Nicht unwichtig wird sein, in welchem Verhältnis die Rationalität der normativen Vertragstheorie sich zu Religion positioniert. Politische Theorie könnte bei der Berücksichtigung der Lebenspraxis, dass Selbsterhaltung selten die vernünftige Rationalisierung der Interessen aufweisst, davon ausgehen, die anthropologischen Grundlagen der hier favorisierten Rationalität zu reflektieren. Angenommen, dass Naturrecht ist identisch mit dem Gesetz der Natur. Naturrecht, nicht Naturzustand!, d.h., nicht, beispielsweise "ein VORPOLITISCHER Kriegszustand (Hobbes, p.), der mit der (Be-) Gründung eines juridisch-politischen Zustandes aufgehoben wird." Dann gibt es "keine Spannung zwischen naturrechtlicher und naturgesetzlicher Norm, freilich auch keine aufhebende Synthese beider. Eine normative Dynamik, die jedes Individiuum zur spontanen Übertragung des Naturrechtes verpflichten würde, ist also nicht zu finden."

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03. Dez. 2005, 00:05 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

da meine Antwort der Server gefressen hat, beschränke ich mich auf das Zitat von Augustinus (Bekenntnisse):

Wie kannst du nur, verführte Seele, deinem Fleische folgen? Kehre um, so wird es dir folgen. Was du fleischlich wahrnimmst, ist Stückwerk. Das Ganze bleibt dir verborgen, an dessen Teilen, die du allein vor Augen hast, du dich gleichwohl erfreust. Aber auch wenn deines Fleisches Sinn imstande wäre, das Ganze zu fassen, wenn er nicht selbst dir zur Strafe in einem Teil des Universums die ihm zukommende beschränkte Rolle spielen müsste, würdest du wollen, dass das heute Gegenwärtige vorüberginge und du am All um so größere Freude habest. Auch die Worte, die man spricht, vernimmst du ja mit demselben Fleischessinn und willst nicht, dass die Silben stehen bleiben, sondern dahin eilen und anderen Platz machen, damit du das Ganze vernehmest. So ist's immer mit allen Teilen, daraus ein Ganzes besteht. Die Teile, aus denen es besteht, können nicht alle zugleich sein. Alle zusammen, wenn man sie in ihrer Gesamtheit wahrnehmen kann, erfreuen mehr als die einzelnen. Aber hoch über ihnen steht, der sie alle gemacht hat, er selbst, unser Gott, der nicht entweicht, weil nichts an seine Stelle treten kann.

Mit anderen Worten: Herr Fromm könnte damit argumentieren, dass du als beschränkter Mensch gar nicht in der Lage bist zu erkennen und zu entscheiden, was richtig, wahr und gut ist.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 03. Dez. 2005, 11:31 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Herr Fromm ist sehr gebildet, wie ich sehe. Er zitiert sogar die Kirchenväter, um die Position des Herrn Gottlos anzugreifen. Der alles zermalmende geistige Hammerschlag ist die Feststellung, dass Heinz Gottlos „als beschränkter Mensch gar nicht in der Lage ist zu erkennen und zu entscheiden, was richtig, wahr und gut ist“.

Kleiner Mann was nun?

Aber Heinz Gottlos gibt sich noch keineswegs geschlagen, sondern sendet an die Adresse von Karl Fromm folgende E-Mail:

“Sehr geehrter Herr Fromm,

dass Sie meine Argumente mit dem Hinweis auf meine Beschränktheit entkräften wollen, habe ich nicht ohne eine gewisse Betroffenheit zur Kenntnis genommen.

Ihnen muss dabei doch klar sein, dass eine solche pauschale Unmündigkeitserklärung kein Argument innerhalb einer konsensorientierten Diskussion sein kann, weil sie gleichzeitig einer derartigen Diskussion die Grundlage entzieht.

Das erklärte Ziel eines Konsenses ist damit aufgekündigt, denn jedes von mir vorgebrachte Argument kann von Ihnen jetzt mit dem Hinweis entkräftet werden, dass ich in meiner Beschränktheit nicht in der Lage sei, zu erkennen was wahr und gut ist. Das ist natürlich das Ende jeder vernünftigen, erkenntnisorientierten Diskussion.

Sie müssen sich also entscheiden: Entweder Sie bleiben bei unserm gemeinsamen Ziel eines allein durch Argumente zu erreichenden Konsenses oder Sie geben offen zu, dass es Ihnen nur um die Durchsetzung Ihrer religiösen Vorschriften geht.

In diesem Fall verlassen Sie die Ebene der argumentativen Auseinandersetzung und begeben sich auf die Ebene der machtbezogenen Auseinandersetzung, wo nicht Argumente sondern Druckmittel und Sanktionsmöglichkeiten zählen.

Ich hoffe, dass Sie, Herr Fromm, unter diesem Gesichtspunkt Ihre Diskussionsstrategie noch einmal überdenken und zu einer nachvollziehbaren Argumentation zurückkehren. Ansonsten muss ich Ihre Berufung auf die allgemeingültige Wahrheit und Ihr Bekenntnis zum Ziel eines Konsenses bezeichnen als das, was es ist: ein leeres Wortgeklingel, dass die nackte Forderung auf Unterwerfung unter ein Dogma nur unvollkommen verbergen kann.

Mit freundlichen Grüßen Ihr Heinz Gottlos.“

Soweit die E-Mail an Herrn Fromm. Wie mir Herr Gottlos erzählte, ist ihm die Strategie der pauschalen Unmündigkeitserklärung nicht nur von religiöser Seite bekannt. Auch andere Weltanschauungen „argumentieren“ damit.

Ein Beispiel ist der Marxismus („Als Teil der Bourgeoisie bist Du in Deinem Denken der Ideologie Deiner Klasse verhaftet, denn das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Dir muss das Verständnis für die Wahrheit des wissenschaftlichen Sozialismus verschlossen bleiben!“. Auch die Psychoanalyse eignet sich für diese Diskussionsstrategie. („Sie können mir über Ihre Motive erzählen, was sie wollen. Entscheidend für ihr Handeln bleiben die in ihr Unterbewusstsein verdrängten Triebmotive“.)

Mit Grüßen an alle Interessierten schließt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03. Dez. 2005, 14:30 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

In diesem Fall verlassen Sie die Ebene der argumentativen Auseinandersetzung und begeben sich auf die Ebene der machtbezogenen Auseinandersetzung, wo nicht Argumente sondern Druckmittel und Sanktionsmöglichkeiten zählen.


Genau das wird Herr Fromm tun. So, wie es seine Vorfahren getan haben und so, wie seine Verwandtschaft in aller Welt, ob religiös oder nicht, auch da stimme ich dir zu, es heute noch tut. Bekanntermaßen sind Argumente, die auf der Vernunft beruhen und den friedlichen Konsens zum Ziel haben, dagegen wirkungslos. Vernünftige Argumente deswegen, weil ja die Zuverlässigkeit der menschlichen Vernunft generell abgestritten wird. Vgl. Paulus: und der Friede Gottes, welcher höher ist denn jede Vernunft ... der Friede ist das Ziel. Doch der Weg dorthin rechtfertigt das Gemetzel.

Ich war noch ein Kind, da faszinierte mich eine große Briefmarke aus der DDR (damals noch Sowjetzone genannt), darauf ein tapferer Streiter mit dem üblichen Blick in die weite Ferne; darunter: kämpft für den Frieden in der Welt. Ich betrachtete das als Widerspruch: für den Frieden kann man nicht mit Streitzeug in der Hand kämpfen.

Dieser Widerspruch zieht sich durch all diese Ideologien. Vor dem hehren Ziel in ferner Zukunft wird das Leben in der Gegenwart belanglos. Doch Leben findet in der Gegenwart statt. Das kann man nicht nachholen. Vertrösten is nich. Tatsache.

Wir haben hier also zunächst mal ein Zeitproblem.

Nehmen wir mal das psychologische Phänomen der Rechthaberei an. Ich kann dir zwar nicht beweisen, dass ich Recht habe, aber die Zukunft wird diese Beweise liefern, dessen bin ich gewiss - und für diese Zukunft kömpfe ich. Die Gewissheit entstammt aber nicht der Zukunft. Sie entstammt Vergangenheit und Gegenwart. Die Frage ist, welcher Vergangenheit und welcher Gegenwart? Also: wie konstruiert sich so ein Weltbild?

Ich denke, Marx liefert hier durchaus brauchbare Ansätze - vorausgesetzt, man entkleidet ihn seiner missratenen Epigonen. Marx war Antiidealist und Antiideologe. Den Arbeiter sah er deswegen als Motor des Fortschrittes an, weil gerade der keine Ideologie habe und den wissenschaftlichen Materialismus betrachtete er als ideologieunabhängige Alternative. "Das Sein bestimmt das Bewußtsein", dieser Kernsatz zielt auf die Daten ab, die logisch zu einem zusammenhängenden Weltbild konstruiert werden. Diese Weltbilder sind, je nach den von der jeweiligen Lebensform bestimmten Daten, selbstverständlich verschieden. Und führen zu verschiedenen Interpretationen neuer Daten und zu verschiedenen Entscheidungen. Auch wenn Marx ein sehr früher Vogel war, der viel gemistet hat, die Flugrichtung stimmt imho.

Wer ungefähr das gleiche Weltbild hat, wird eine Konsensmöglichkeit finden. Bei stark unterschiedlichen Weltbildern aber wird ein solcher Konsens schwierig bis unmöglich. Ein Problem, das nach einer Lösung verlangt.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 03. Dez. 2005, 21:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

offenbar sind Herrn Fromm die Argumente ausgegangen und Herr Gottlos hat überzeugend demonstriert, dass die Position des Herrn Fromm nicht allgemein einsichtig begründbar ist. Wenn Herr Fromm trotzdem für seine Position allgemeine Geltung verlangt (und am Karfreitag kein Fernsehsender eine Komödie bringen darf), dann fordert er Gehorsam, dann appelliert er nicht an Einsicht.

Dies Ergebnis ist schon etwas wert, denn diejenigen, die sich in einer Machtstellung befinden und ihre Normen den andern aufzwingen, hängen sich dabei gerne ein Mäntelchen der Rechtfertigung um und stehen nicht gerne nackt da (weshalb diese Machthaber besonders empfindlich gegen Kritikfreiheit und Meinungsfreiheit sind). Keine Gewaltherrschaft mag gern als das erscheinen, was sie ist.

Wenn Du schreibst, dass ein vernünftiger, auf Argumenten beruhender Konsens umso leichter herzustellen ist, je ähnlicher die Weltbilder sind, dann widerspreche ich Dir nicht. In einer Gruppe wird man umso leichter zu einer gemeinsamen, von allen getragenen Entscheidung zum Wohle der Gruppe kommen, je einiger sich die Gruppenmitglieder zumindest über die tatsächliche Lage, in der sie sich befinden.

Worauf es mir ankommt ist die Aussonderung von Scheinargumenten, die nur vortäuschen, dass es ihnen um das geht, was allgemein gültig ist und deshalb auch allgemein einsichtig sein sollte. Es kommt darauf an, diejenigen Argumente herauszuarbeiten, die uns dem Konsens über das, was zum Wohle der Allgemeinheit ist, näher bringen.

Mit einem Gruß zum 2. Advent schließt Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03. Dez. 2005, 23:37 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,

Herr Fromm gibt auf?

Schau dir den Irak-Krieg mit allem drum und dran an. Herr Fromm gibt mitnichten auf. Herr Fromm lässt dich am ausgestreckten Arm verhungern.

Was nützt es dir, Herrn Fromm nachzuweisen, dass seine Argumente aus deiner Sicht (!) Scheinargumente sind? Das interessiert ihn nicht, weil er deine Sicht für falsch hält.

Keine Gewaltherrschaft mag gern als das erscheinen, was sie ist.
Nun, sie will sich als das darstellen, wofür sie sich hält: als Kampftruppe zur Durchsetzung des Ideals des Guten in der Zukunft.

Es gibt ein rudimentäres gemeinsames Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein - und nur auf dieser Basis wird es möglich sein, Scheinargumente auch als Scheinargumente einleuchtend nachzuweisen.

Der ach so unmoderne Herr Descartes kann uns da weiter helfen: und wenn ich nicht fähig wäre, auch nur einen Fitzel Wahrheit über die Welt und ihre Zusammenhänge zu erkennen, wenn ich mich in allem täuschen, über alles irren würde, so könnte ich mich darin nicht irren, dass ich bin. Und zwar hier und jetzt. Gleich, welche Ideologie er anbetet, ich glaube nicht, dass hier irgend einer dem Konsens widersprechen würde.

Ich werde morgen früh beim Kerzenscheine einen zweiten Lebkuchen für dich mit verputzen! ;-)

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 04. Dez. 2005, 11:03 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Halllo Abrazo,

ich hoffe, die Lebkuchen haben gut geschmeckt.

Dass Herr Fromm seine Absicht aufgibt, die eigene Position durchzusetzen, habe ich auch nicht erwartet. Aber er hat offensichtlich aufgehört zu argumentieren, weil er gemerkt hat (und andere haben es auch bemerkt), dass er seine Position gegenüber Herrn Gottlos nicht begründen kann.

Du entgegnest:

“Was nützt es dir, Herrn Fromm nachzuweisen, dass seine Argumente aus deiner Sicht (!) Scheinargumente sind? Das interessiert ihn nicht, weil er deine Sicht für falsch hält.“

Das erinnert mich an eine Situationen, die ich schon häufiger erlebt habe. Nachdem ich ausführlich mit jemandem diskutiert habe und nachdem sich dessen Position als völlig unhaltbar gezeigt hat, kommt als letztes „Argument“ gegen meine Position schließlich der Satz: „Das ist DEINE Meinung!“, so als hätte es die vorangegangene Diskussion überhaupt nicht gegeben.

Der Andere hat zwar recht damit, dass es sich um dabei um meine subjektive Meinung handelt, aber es ist NICHT NUR meine Meinung, die ich vertrete, sondern nach der abgelaufenen Diskussion habe ich auch gute Gründe, diese Meinung für richtig zu halten und ich kann den Anspruch auf deren allgemeine Geltung rechtfertigen. Darin besteht nach erfolgter Diskussion der entscheidende Unterschied zwischen meiner und seiner Meinung. Mit dem Satz: „Das ist DEINE Meinung“ versucht der Andere nun, diesen Unterschied wieder zu verwischen.

Die Situation stellt sich so dar. Jede Meinung ist die Meinung eines Subjektes und insofern subjektiv. Jede Meinung enthält aber allein dadurch, dass sie vom Betreffenden für richtig gehalten wird, den Anspruch auf allgemeine Geltung. Das entscheidende Problem ist festzustellen, welche der verschiedenen Meinungen diesen Anspruch zu recht enthält, welche Ansicht „allgemeingültig“ ist.

Die soziale Institution, auf der allgemeine Geltungsansprüche in Bezug auf bestimmte Behauptungen geprüft werden, ist die Diskussion (Diskurs, Streitgespräch, Disput, Erörterung etc.).

In einer Diskussion werden die verfügbaren Argumente für und wider eine strittige Behauptung zusammengetragen und auf ihre eigene Richtigkeit geprüft. Außerdem wird geprüft, inwiefern diese Argumente den Anspruch auf allgemeine Geltung der strittigen Behauptung stützen oder untergraben.

Zu den Grundregeln der Diskussion gehört, dass nur solche Diskussionsbeiträge Argumente sein können, die auch für die andern Diskussionsteilnehmer nachvollziehbar (teilbar, übernehmbar) sind.

Diese Regeln der Argumentation, die man nicht bestreiten kann, ohne dass man sie dabei bereits selber in Anspruch nimmt, stellen meiner Meinung nach einen allgemein tragfähigen Ausgangspunkt unseres Denkens dar.

Aber ich schließe nicht aus, dass man auf dem von Dir skizzierten Weg ebenfalls zu brauchbaren Ergebnissen kommt.

Noch ein Letztes. Wenn Herr Fromm die Ebene der Diskussion völlig verlässt und sich auf etwas beruft, das „höher ist denn alle Vernunft“, dann argumentiert er nicht mehr, dann geht es ihm nicht mehr um “allgemeingültig oder nicht“, sondern dann geht es nur noch um wirkungsvolle „Menschenfischerei“. (In den Philtalk-Foren bewegen sich ja immer etliche dieser Spezies, die etwas Höheres als Vernunft anzubieten haben und deren „Argumente“ dann auch entsprechend kläglich ausfallen.) Wenn diese Gurus und Apostel nach ihrer Absage an die Vernunft dann noch von Wahrheit, Erkenntnis oder Wissen reden, dann fällt das unter die Rubrik „Etikettenschwindel“.

Mit diesen unchristlichen Gedanken verabschiedet sich Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am 04. Dez. 2005, 12:04 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

"Es gibt ein rudimentäres gemeinsames Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein - und nur auf dieser Basis wird es möglich sein, Scheinargumente auch als Scheinargumente einleuchtend nachzuweisen." Abrazo

Alle Menschen werden aufbegehren, wenn sie zu einem Verhalten gezwungen werden, dass mit dem Streben der Selbsterhaltung unverträglich ist. Selbsterhaltung ist ein Prinzip, dass jedem Individuum seine Verhaltensweise vorgibt. Da jedes Individuum in seinem Zustand strebt zu verharren, da sich die Macht dieser Selbsterhaltung vollzieht BEVOR bestimmte individuelle Handlungen, BEVOR bestimmte politische Maßnahmen gerechtfertigt werden, stellt dieses Streben nur den "prinzipiellen Ansatz" dar - der jedoch missachtet wird, wenn die im juridisch-politischen Zusammenhang praktizierte Vernunft sich zur Unvernunft verkehrend vollzieht.

Was kann von einem Individuum verlangt werden, ohne dass dieses Prinzip verletzt wird? Bezüglich jenen Vielen, denen die konsequente Rationalisierung der Interessen hinsichtlich des Gemeinwohls nicht gegeben ist, deren Strebenszustand nicht von der Vernunft, vielmehr von ihrer Motivation, etwa Religion über den Staat zu stellen, geleitet ist. Diese Vielen verharren ebenso im Strebenszustand wie die Wenigen, die absolutgesetzte, etwa religiöse Ansprüche hinsichtlich des Staates, im Rahmen einer staatlichen Rechtsordnung abweisen (lassen).

Heute wenig Zeit, bis später.

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 04. Dez. 2005, 14:56 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 12/03/05 um 23:37:03, Abrazo wrote:...
Es gibt ein rudimentäres gemeinsames Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein ...



:-) Hallo allseits,

Das ist noch nicht die ganze Aufgabenstelleung. (Wie bei Differentialgleichungssystemen braucht es noch Randbedingungen, sonst gibt es unendlich viele Lösungen). Welche Randbedingungen muss die Lösung/Antwort erfüllen?

Danke & Gruss --- Euer sphärischer Alltag


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 04. Dez. 2005, 22:48 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

klar haben die Lebkuchen geschmeckt. Aber auch nur, weil ich aufgrund zunehmener räuberischer Überfälle inzwischen ein Blech pro Woche kalkuliere - damit ich auch was abkriege [indifferent]

Zu den Grundregeln der Diskussion gehört, dass nur solche Diskussionsbeiträge Argumente sein können, die auch für die andern Diskussionsteilnehmer nachvollziehbar (teilbar, übernehmbar) sind.

Frage: wann sind sie das?
Hier kommt das rudimentäre gemeinsame Weltbild ins Spiel. Was aufgrund gleicher Konstitution gleich erkennbar ist, ist auch gleich nachvollziehbar.

Gleich ist bei uns allen die Fähigkeit der Wahrnehmung. Egal, was wir wie und mit welchem Sinn wahrnehmen, wir nehmen nur das wahr, was sich von seinem Hintergrund unterscheidet. Das wahrgenommene Objekt ist also ungleich seinem Hintergrund. Ergebnis dieser Überlegung: die Logik.

Wer ihr widerspricht, spielt wie mit Murmeln mit bedeutungslosen Sätzen herum, die deswegen eben nicht mehr nachvollziehbar sind, steigt aus dem Dialog aus und monologisiert. Typisch übrigens für unsere Esoteriker. Weswegen sie sich auch so relativ ungerne in Esoterikforen aufhalten: wird auf Dauer irgendwie langweilig, wenn jeder für sich so vor sich hin monologisiert; geht man lieber Philosophen nerven.

Das ist die Ebene der Verknüpfungen; gleich ist aber ebenfalls die Ebene der Wahrnehmungsdaten.

Wenn ich sage, guck mal da, ein Baum, und du sagst, ja, dann sind wir uns darüber einig, dass da ein Baum ist.

Wenn ich frage: hast du den Baum vor dem Rathaus gesehen? Und du sagst: ja, dann sind wir uns darüber einig, dass vor dem Rathaus ein Baum zumindest stand.

Wenn ich aber sage, guck mal den Keim, da wächst ne Eiche und du sagst, ne, das wird ein Walnussbaum, dann sind wir uns darüber nicht einig. Und wenn wir nicht in der Lage sind, anhand wahrnehmbarer Tatsachen festzustellen, ob das nun ne Eiche oder ein Walnussbaum wird, dann werden wir uns darüber auch nicht einigen.

So, wie wir uns nicht über Wiedergeburt und Jenseitsglaube einigen können. Daten, über die wir uns einigen können, sind immer nur gegenwärtige oder - mit Einschränkungen - vergangene, niemals aber zukünftige. Ereignisse in der Zukunft können wir kalkulieren, anhand gegenwärtiger oder vergangener Daten und ihrer logischen Verknüpfungen. Aber es bleiben immer erdachte und damit möglicherweise irrige Prognosen, es sind keine Daten. Sie mit Daten gleich zu setzen, ist unredlich. Hier ist ein Konsens im Zweifelsfalle nicht möglich.

Philoschall sagt:

Alle Menschen werden aufbegehren, wenn sie zu einem Verhalten gezwungen werden, dass mit dem Streben der Selbsterhaltung unverträglich ist. Selbsterhaltung ist ein Prinzip, dass jedem Individuum seine Verhaltensweise vorgibt.

'werden aufbegehren' ist eine Prognose. Er begründet sie mit dem Prinzip der Selbsterhaltung. Nun bin ich bereit, von Sokrates über Pater Maximilian Kolbe über Selbstmordattentäter bis hin zum ganz normalen Selbstmörder jede Menge Beispiele anzuführen, die nicht diesem Prinzip folgen. Damit ist imho die Prognose nicht konsensfähig (nebenbei bemerkt: den Ausdruck 'strebt zu verharren' verstehe ich als logischen Widerspruch).

Daraus folgt: wer den Konsens will, muss willens und bereit sein, seine Kalkulation auf Wahrnehmbares logisch zurückzuführen. Klingt harmloser als es ist - wenn wir an den Konstruktivismus denken.

Wenn wir Vernunft als logische Folge und logisches Folgen dem biologisch programmierten Ziel Überleben verstehen, dann gibt es etwas, was höher ist als die Vernunft: nämlich die humane Ethik. Denn der ethische Wille bietet eine alternative Enscheidungsmöglichkeit zur biologisch programmierten Entscheidung, und die ist vernünftig. Allerdings ist der ethische Wille subjektiv wahrnehmbar. Und da es im Laufe der Geschichte sehr viele Menschen gab, die diesen Willen offenbarten, ist er intersubjektiv wahrnehmbar; nicht für alle, doch für mehr als einen. Da er wahrnehmbar ist, ist er ein Datum, mit dem man wiederum logisch kalkulieren kann. So stellt sich mir die Frage, was ist mit dem 'höher als jede Vernunft' gemeint, wenn das von mir eben gesagte nicht gemeint ist, wie es ja offenbar der Fall ist, wenn gesagt wird, der Mensch könne nichts Wahres erkennen. Denn Wahrnehmungen sind immer wahr. Selbst der Schizophrene kann sich nicht darin irren, dass er die Stimmen, die er hört, hört; irrig ist nur die von ihm erdachte Zuordnung.

Damit erst mal Schluss.
Das imho nun folgende Problem bezüglich der Normendiskussion wäre die Frage, inwieweit wir auf dieser Basis zu einem Willenskonsens kommen könnten.

Gruß

P.S. @ Alltag: was sind die Randbedingungen von Peanos Axiomen?

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am Vorgestern, 13:06 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

Abrazo schreibt: "Nun bin ich bereit, von Sokrates über Pater Maximilian Kolbe über Selbstmordattentäter bis hin zum ganz normalen Selbstmörder jede Menge Beispiele anzuführen, die nicht diesem Prinzip folgen. Damit ist imho die Prognose nicht konsensfähig."

Ein Beispiel steht hier bereits für Viele. Die individuelle Handlung, etwa des Sokrates den Schierlingsbecher zu trinken, verletzt dieses "Prinzip" nicht. Sokrates, seine individuelle Handlung der Selbsttötung ist lediglich (ohnmächtiger) Teil-Ausdruck des individuellen sowie gemeinsamen Selbsterhaltungsstrebens der menschlichen Gattung. Die individuelle Handlung der Selbsttötung ist im Zusammenhang der Biographie, des Umfeldes der Selbsttötung zu betrachten. Sokrates beispielsweise besuchte Mitbürger unter freien Himmel, um mit ihnen auf seine Art über die Dinge zu diskutieren, die ihm wichtig waren. Auch wenn ihm zur Last gelegt wurde, dass er, da er seine Mitbürger verunsichere, dass er mit öffentlichen Diskussionen gegen bestehende Staatsgesetze handelt, wird er davon ausgegangen sein, im Sinne des griechischen Allgemeinwohls zu handeln. Wird das eigene, als gerecht beurteilte Handeln von anderen vergesellschaften Individuuen jedoch derart bestimmt, dass dieses in Selbsttötung umschlägt, bewirkt diese individuelle Handlung nicht die Beendigung des Naturrechts: dass "Prinzip" des menschlichen Selbsterhaltungsstreben bleibt unangetastet. Zugestanden, mehrere Individuuen beschliessen ihre kollektive Selbsttötung, wie etwa von Sekten vollzogen, deren Mitglieder in ihrer Handlung von inadäquaten Ideen bewegt, beispielsweise den Zeitpunkt des Weltunterganges zu kennen - auch mit dieser vergesellschafteten Handlung der Selbsttötung bleibt das Naturrecht der menschlichen Gattung bestehen. Verhielte sich dieses anders, dass mit der individuellen oder fanatisch-gemeinsamen Handlung der Selbsttötung dass menschliches Selbsterhaltungsstreben ausser Kraft gesetzt wird, könnten wir beispielsweise hier nicht schreiben.

Wie abwegig und absurd dein Hinweis ist, zeigt sich schlagend, wenn er im juridisch-politischen Kontext, bei der Behandlung der Frage nach Allgemeinwohl, betrachtet wird. Bei der (Be) Gründung von Gemeinwohl vom Interesse der Selbsttötung ausgehen, steht derart der Vernunft entgegen, dass die öffentliche Favorisierung dieses individuellen und dieses fanatisch-gemeinsamen Handelns das Aufbegehren der nicht-fanatisierten Menschen, d.h. denen die nicht völlig der Logik ledig, folgen wird. Wer diese Logik nicht teilt, erweisst sich bei der (Be) Gründung der Frage nach Gemeinwohl als nicht konsesfähig, da von ihm der Lebenspraxis Verkehrendes favorisiert wird. Keine Regel ohne Ausnahme. Mit diesen ohnmächtig-individuellen und ohnmächtig-fanatischen Gruppenverhalten zeigt sich lediglich die vergesellschaftete Verkehrung des Selbsterhaltungstrebens der menschlichen Gattung, deren Individualisierung, als vernünftige und/oder unvernünftige sich vollziehend, vom empirischen Ausnahmefall der Selbsttötung nicht angetastet.


"Was aufgrund gleicher Konstitution gleich erkennbar ist, ist auch gleich nachvollziehbar. Gleich ist bei uns allen die Fähigkeit der Wahrnehmung." Abrazo

Zustimmung. Die Fähigkeit der Wahrnehmung ist Kennzeichen (nicht nur) des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens. Dass Denken des V o r g e s t e l l t e n der Dinge, z.B. die Aussage, dass Haus A von Haus B 500 Meter entfernt ist, entspricht nicht notwendigerweise dem Wissen von dieser Entfernung das mit mathematischen Ordnungssystem gegeben ist, sondern (zunächst) der körperlichen, d.h. des Menschen sinnlicher Auffassung der Objekte A und B und der damit gegebenen sinnlichen Auffassung der Entfernung. Mit der in der Sinnenerfahrung verbleibenden Urteilskraft ist jedoch nicht grundsätzlich das Urteil der Falschheit gegeben. Irrtümer der Sinnenerfahrung beruhen beispielsweise darauf, dass die Entfernung zwischen A und B nicht in ihrer, von den mannigfaltigen Vorstellungen sich distanzierenden, etwa mathematischen Ordnungsgesetzlichkeit erfasst werden. Irrtum ist der Mangel des adäquaten Denken wahrgenommener Ausdehnung, d.h. Dinge. Die in der Sinnenwahrnehmung verbleibende Urteilskraft kann von der Entfernung zwischen Objekt A und Objekt B, da Wahrgenommenes nicht in das adäquat Gesetzliche Denken gekommen, keine vom inadäquaten Wissen völlig bereinigte Aussage leisten.

Entscheidend ist jedoch nicht die von dir angeführte Gleichheit. Entscheidend ist hier das Ordnungssystem, mit dem die mit dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben gefundenen und ins Denken erhobenen Sinnesdaten zwecks Lebenspraxis geordnet wurden und werden. Und hier gibt es gravierende (graduelle!) Unterschiede des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens, mit dem das innerhalb der westlichen Kultur zur Entfaltung gekommene mathematisch-technische Ordnungssystem lediglich als eines von unterschiedlichen sowie entgegengesetzten Ordnungssystemen aufgetreten. Bevor das mit dem Globalanspruch aufgetretende us-amerikanische und westeuropäische Denken und Handeln tiefgreifend Kulturen vermochte zu beeinflussen, leisteten bereits Bezugssysteme Ordnung der mit dem menschlichen Körper gegebenen Sinnenerfahrung zwecks Lebenspraxis, die mit, etwa theoretischer Auseinandersetzung von Erkenntnistheorie gewonnenen Resultaten oder den industriell-vergesellschafteten Resultaten von Naturwissenschaft nicht vergleichbar sind. Wird hier nicht Bescheidenheit, die Verrelativierung des Verabsolutierten us-amerikanischer sowie westeuropäischer Selbstverständlichkeiten geübt (was mit den Begriffen Humane Ethik bezeichnet werden könnte), verkommt dann nicht die Rede, beziehungsweise die Auseinandersetzung mit der mit dem menschlichen Körper gegebenen Gleichheit als Voraussetzung der Behandlung von Gemeinwohl zum Gerede?

Gruß

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am Vorgestern, 21:54 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------

on 12/04/05 um 22:48:44, Abrazo wrote:....was sind die Randbedingungen von Peanos Axiomen?
:-) Hi Abrazo,

Zählen lernt man seit eh und jeh und wo auch immer durch die widerholte und regelmässige Bewegung der Finger. Diese Lebenspraxis ist die Randbedingung der Peanos Axiome, die in der Sprache der Logik nichts anderes beschreiben als "zählen". Beim Lesen der Peanos Axiome - ich habe sie im Duden Lexikon gefunden - lernt man nicht "zählen" sondern die Sprache der Logik.

Die Logik fusst auf ein derartig rudimentäre gemeinsame Lebenspraxis (Weltbild) und erfreut sich grosser beliebtheit, weil wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben.

Führt uns die Logik deshalb zum Gemeinwohl und Individualwohl? Ich denke, nein, denn es fehlt noch etwas: Die Vorstellung, dass es eine Lösung geben muss, die transparent, nachvollziehbar, konsistent, komplet und daher korrekt ist.

Du sagst "Dahin müssen wir zurück." Ja! Zurück zu der Quelle aus der diese Vorstellung sprudelt. Wenn wir diesen Quellort kennen, können wir vermutlich auch verstehen, dass die Bedingung der Möglichkeit von Gemeinwohl (trotz Individualwohl) gegeben ist. Alsdann können wir vermutlich die eigene Ideologie loslassen und uns auf die Basis des Grundkonsens einlassen.

Können wir uns vorstellen, dass dieser Quellort phänomenologischer Natur ist und beispielsweise durch (logisches) denken ortbar ist? Und zwar für Jederman, in jedem Alter, allerorts und seit eh und jeh, /1/! --- Danke & Gruss --- Euer randbedingte Alltag

/1/ Dieser Satzinhalt ist die Randbedingung!

Post script: Die Wellengleichung ist unter den komplizierten Differentialgleichung eine der bekannten und anschaulichen. Ihre Lösungen sind Wellen. Ob Pfeiffton oder Geigenklang, Wasserwellen oder Tsunami, Paukenschlag oder Erdbeben, wird einzig und allein durch die mathematisch zu formulierenden Randbedingungen (inklusive Materialeigenschaften) bestimmt. --- Übertragen auf die Philosophie (nicht die Esotherik) entsprechen die Randbedingungen der Lebenspraxis (ohne sie ist Alpraum, Wahn usw. statt Philosophie)

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am Vorgestern, 23:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi zusammen,

Philoschall, du sollst Abrazo nicht interpretieren.

1.
Unbestritten ist Selbsterhalt eines der zentralen Prinzipien biologischer Programmierung. Mensch hat aber die Möglichkeit, selbst dazu alternativ zu entscheiden. Damit verbinde ich keine Bewertung, ich stelle nur fest, dass es so ist.

Wer nun Selbsterhaltung als oberstes Prinzip für den Menschen zementieren will, zementiert damit kein humanes, sondern ein biologisches Prinzip. Das halte ich grundsätzlich für gefährlich.

2.
Wahrnehmen ist nicht denken. Zwischen Wahrnehmen und Entfernungen feststellen liegen etliche Schritte, angefangen damit, dass man erst einmal darüber nachdenken muss, was eine Entfernung eigentlich ist und dass man sie mit anderen Entfernungen vergleichen kann.

3.
'Ordnungssystem' ist mir ein zu schwammiger Begriff. Wer ordnet was wonach?
Was die Kulturen betrifft, so mache ich darauf aufmerksam, dass ihre Bedeutung verschieden ist.
Nach dem Niedergang des Römischen Reiches kam in der alten Welt ne Zeit lang gar nichts, denn Europa versank in mittelalterlicher christlicher wissensfeindlicher Dogmatik. Ab dem 7. Jahrhundert kamen die Araber und die von ihnen eroberten und geprägten Regionen zur Blüte und pflegten und entwickelten die Wissenschaften. Europa begann erst im 13. und 14. Jahrhundert wieder zu erwachen, entscheidend dazu beigetragen hat der Einfluss islamischer Kultur und Wissenschaft. Während die islamische Welt langsam wieder einschlief, nicht zuletzt unter der religiösen Orthodoxie, die sich verbreitete, begann Europa eben diese religiöse Orthodoxie abzuwerfen und neu zu denken. Wie's weiter geht, weiß ich nicht - auf jeden Fall sind Momente der Dekadenz wie weiland zu römischen Zeiten in der westlichen Welt (in diesem Sinne ist Nordamerika ein Ableger Europas) schon lange zu beobachten. Auch aus historischen Gründen halte ich den Eurozentrismus für fehlerhaft.

Und der Begriff Gemeinwohl ist in anderen Kulturen noch sehr lebendig.

@ Alltag:
Zählen lernt man seit eh und jeh und wo auch immer durch die widerholte und regelmässige Bewegung der Finger. Diese Lebenspraxis ist die Randbedingung der Peanos Axiome, die in der Sprache der Logik nichts anderes beschreiben als "zählen".
Ich fürchte, da wirst du eine Menge Mathematiker und Logiker gegen dich haben. So einfach ist das nicht.

Die Logik fusst auf ein derartig rudimentäre gemeinsame Lebenspraxis (Weltbild)
Umgekehrt wird ein Schuh draus: unsere Weltbilder fußen auf der Logik. Denn die Logik ist keine Erfindung, sondern eine Entdeckung.

Ohnehin bin ich der Ansicht, dass wir nicht das, was entwickelt wurde (Differentialgleichung z.B.) auf das anwenden können, woraus es sich entwickelt hat. Das Vorher-Nachher sollte man imho schon unterscheiden.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am Gestern, 13:12 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo zusammen,

"1.
Unbestritten ist Selbsterhalt eines der zentralen Prinzipien biologischer Programmierung. Mensch hat aber die Möglichkeit, selbst dazu alternativ zu entscheiden. Damit verbinde ich keine Bewertung, ich stelle nur fest, dass es so ist.

Wer nun Selbsterhaltung als oberstes Prinzip für den Menschen zementieren will, zementiert damit kein humanes, sondern ein biologisches Prinzip. Das halte ich grundsätzlich für gefährlich." Abrazo

Eberhard begrüsst hier öfters alle an Politischer Theorie Interessierten. Ich grüsse heute mit folgenden Ausführungen zurück. Hume gelingt mit seiner Kritik an historisch begründeter Vertragstheorie -es gibt keinen und wird keinen Staat geben, der durch einen sogenannten ursprünglichen Vertrag des Volkes entstanden und entstehen wird- den empirisch begründeten Nachweis, dass Staat als Ausdruck physischer Gewalt vom Volk bereits vorgefunden wird, dass es darum geht, dass Bürger, soll Staat nicht als pure Gewaltherrschaft auftreten, Staat nachträglich, mit stillschweigender Zustimmung, anerkennen. Nicht die bereits vorgefundene physische Gewalt, nicht bereits vorgefundener Staat soll legitimiert werden, nicht diese mit physischer Gewalt gegebene Einrichtung soll aufgrund von Moral, mit einem "neuen", gewaltfrei abzuschließenden Gesellschaftsvertrag, aufgelöst werden. Die allgemeinen Interessen und Bedürfnisse des Volkes sollen ausreichend berücksichtigt werden; dass Recht ist weder auf die absolute Legitimierung des bestehenden Staates und seiner Verfassung noch auf Revolution angewiesen. Hume favorisiert die ausreichende Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse des Volkes hinsichtlich R e f o r m e n d e r V e r f a s s u n g. Auch Kant setzt auf d i e s e Berücksichtigung: er favorisiert den Vertrag als normative I d e e. Die jeweilige juridisch-politische Verfassung soll vermittels dieser I d e e ständig zu Gunsten der Bürger verpflichtet werden; soziale Dynamik zur ständigen Verbesserung des politischen Systems ohne Anspruch auf Revolutionen wird favorisiert. Dass jeder Vertragsteilnehmer auf sein eigenes Naturrecht völlig bezw. teilweise verzichtet, ist universale Vorraussetzung auch deutscher ideeller Vertragstheorie. Hinsichtlich angelsächsischer Philosophie, beispielsweise Hobbes: Im Naturzustand besitzt jeder Mensch Naturrecht, welches bei ihm eine vorstaatlich-provisorische Rechtfertigung der Freiheit des Menschen ist, zu seiner Selbsterhaltung alles zu tun, was dazu tauglich zu sein scheint. Im Naturzustand entstehen aus dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben nach Hobbes jene Konflikte, die gelöst werden müssen: Die Lösung erfolgt dadurch, dass die Menschen ihr Naturrecht suspendieren, dieses einer allen gemeinsamen Autorität übertragen, mit der die Verhältnisse der Individuen zueinander geregelt werden. Dass Ziel des menschlichen Selbsterhaltungsstreben ist nach Hobbes die normative Bindung des Menschen, die dann gelungen ist, wenn er konsequent Rational sich erhalten will. Dass Naturrecht des Menschen wird hier gewissermaßen aufgehoben, wenn menschlichen Selbsterhaltungsstreben gelungen Rational die Interessen zu verfolgen, wenn damit eine höherrangige Norm sich herausgebildet.

Wenn die Selbsttötung, beispielsweise des Sokrates ebensowenig Unrecht ist, wie die staatsrechtliche Auslegung seiner Ankläger Recht ist - wenn also sowohl die individuelle Handlung, etwa die des Sokrates wie auch das im Namen des Staatsrechtes begründete Urteil der Ankläger als Ausdruck des Naturrechtes genommen werden - : wie kann dann, wenn also jeder vergesellschaftete Mensch wie im Naturzustand soviel Recht besitzt wie er Macht bezw. Ohnmacht besitzt, jene mit der ideellen Vertragstheorie favorisierte wie auch mit der Hobbeschen Aufhebung favorisierte Vertragsgesetzlichkeit überhaupt wird auftreten können, deren Rechtsbegriffe für sich beanspruchen im Gegensatz zu dem Machtbegriff zu stehen? Doch wohl unter der Voraussetzung, dass Bürger, bezüglich Hobbes, die konsequente Verfolgung der Rationalisierung der Interessen praktizieren, dass Bürger, bezüglich Kant, die Interessen geleitet von normativer Idee (Moral) praktizieren.

Und die alltägliche Lebenspraxis? Was lehrt diese, berücksichtigend ideelle Vertragstheorie sowie Hobbescher Aufhebung und Rationalität? Verfolgen die Bürger die Interessen denn wenigstens Rational, d.h. plangemäß und konsequent oder, hinsichtlich ideeller Vertragstheorie sogar mit normative Idee (Moral), mit der Höherrangige (!), die, vom angenommenen Naturrecht des Menschen sich im Diesseits (er!)lösende (Welt!)Gesellschaft sich manifestieren soll? Muss der Politischen Theorie Westeuropas -hier Frankreich ausser Acht lassend- angesichts des alltäglichen Strebenszustandes des sogenannten Volkes (in demokratisierten Gesellschaften immerhin Souverän) ihre Unternehmung nicht selber als Seifenblase, als Luftnummer, erscheinen? Wem nützen gebetsmühlenartig vorgetragene gut gemeinte Appelle an jene die schlagend beweisen, dass Interessen nicht konsequent Rational verfolgt werden. Diese Litanei wird sich auch nicht ändern, bevor die alltägliche Praxis des Selbsterhaltungsstreben der politischen Theorie nicht als jenes Streben begrifflich aufgegangen, dass vorallem anderen dem verhaftet bleibt, dass von angeführter Politischer Theorie v ö l l i g unzureichend berücksichtigt wurde und wird: dass mit dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben stets gegebene (Spannungs)Verhältnis Vernunft und Affektivität. Politische Theorie, die s o z i a l e Dynamik der Affekte des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens im juridisch-politischen Zusammenhang hervorhebend, vermag einen anderen Zugang zum Verständnis des vergesellschafteten Menschen leisten. Dazu gehört jedoch (abermals) nicht nur theoretisch Selbstverständlichstes, d.h. politischer Theorie wie auch Philosophie betreffend, als nicht nur Unzureichendes, sondern als die Lebenspraxis Verkehrendes zu begreifen.

philoschall

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am Gestern, 18:50 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo allerseits, hallo Abrazo,

wann sind Argumente für andere (also intersubjektiv) nachvollziehbar?

Behauptungen darüber, wie die Welt beschaffen ist, können durch intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmungen der Individuen – in Verbindung mit logischen Schlussfolgerungen - bestätigt werden. Deshalb sind Sätze wie; „Ich sehe das Leuchten des Stoffes nicht nicht, das die Theorie T voraussagt“ geeignete Argumente. Hier gilt Deine Feststellung: Wer den Konsens will, muss willens und bereit sein, seine Kalkulation auf Wahrnehmbares logisch zurückzuführen.

Für normative Behauptungen darüber, wie Amtsinhaber handeln sollten, wenn sie dem Gemeinwohl verpflichtet sind, reicht jedoch das Kriterium der logischen Widerspruchsfreiheit und der übereinstimmenden Wahrnehmungen nicht aus.

Dazu müssen Willensinhalte bzw. Interessen der Beteiligten, Urteile über die relative Größe der Vor- und Nachteile für die verschiedenen Interessengruppen herangezogen werden, und die sind nicht direkt beobachtbar oder empirisch messbar.

Hinzu kommt das Prinzip der unparteiischen Berücksichtigung aller Betroffenen, ohne das kein Konsens erreichbar ist.

Ich sehe eine Möglichkeit zur Einschätzung der Interessenlage eines andern grundsätzlich dadurch gegeben, dass ich mich – wenn es geht real, und wenn das nicht geht, zumindest vorstellungsmäßig - in die Lage des andern hineinversetze und versuche, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu beurteilen.

Menschen haben diese Fähigkeit zum Nachempfinden, zur Empathie, zur Identifkation mit anderen. Wäre dem nicht so, dann gäbe es keine Belletristik und keine Schauspielkunst. Und die meistgestellte Frage in unserer Gesellschaft (Wie geht es Dir?) wäre sinnlos.

Es grüßt Dich und alle Interessierte Eberhard.


--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am Gestern, 23:34 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hi Eberhard,


on 12/06/05 um 18:50:17, Eberhard wrote:Ich sehe eine Möglichkeit zur Einschätzung der Interessenlage eines andern grundsätzlich dadurch gegeben, dass ich mich – wenn es geht real, und wenn das nicht geht, zumindest vorstellungsmäßig - in die Lage des andern hineinversetze und versuche, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu beurteilen.

Menschen haben diese Fähigkeit zum Nachempfinden, zur Empathie, zur Identifkation mit anderen. Wäre dem nicht so, dann gäbe es keine Belletristik und keine Schauspielkunst. Und die meistgestellte Frage in unserer Gesellschaft (Wie geht es Dir?) wäre sinnlos.



Das funktioniert nicht. Vergiss es.

Um dir etwas vorstellen zu können, musst du es erlebt haben. Was du nie erlebt hast, kannst du dir auch nicht vorstellen. So wie ein Blinder sich nicht die Farbe vorstellen kann.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich ein Junkie ohne Stoff fühlt, nicht, wie sich einer fühlt, der gerade verhaftet wird, nicht, wie eine Prostituierte sich bei der Arbeit fühlt. Und da dieses für ihr Leben wesentlich ist, kann ich mir nicht vorstellen, wie ihr Leben ist.

Ich kann mich auch nicht in körperlich und geistig Behinderte hinein fühlen, nicht in Hungernde, nicht in Erdbeben- und Tsunami-Opfer, nicht in Iraker und Palästinenser, die mit Krieg leben müssen.

Ich denke es ist wichtiger zu wissen, dass man genau das nicht kann: sich ein Leben vorstellen, von dem man nichts kennt. Dann versucht man es nämlich gar nicht erst - und trifft dann auch keine falschen Entscheidungen.

Auch viele Amerikaner haben sich vorgestellt, wie sich die Iraker über ihren siegreichen Einmarsch freuen.

Wenn wir wissen wollen, wie andere Leute leben und was sie am dringendsten brauchen, müssen wir sie fragen.

Und ansonsten bleibt das Übliche: wahrnehmbare Tatsachen feststellen und logisch kombinieren.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Familie im pakistanischen Erdbebengebiet lebt. Ich weiß aber anhand der Tatsachen, dass sie schneegeschützte Unterkünfte brauchen. Und wenn sie nicht in die Täler hinab, sondern in ihren Bergen bleiben wollen, dann weiß ich, dass es sich als Menschen um vernunftbegabte Wesen handelt und dass sie dafür möglicherweise vernünftige Gründe haben; welche, das muss ich erfragen.

Gruß

--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am Heute, 17:13 Uhr
--------------------------------------------------------------------------------
Hallo Abrazo,

Deine rigorose Verneinung der Möglichkeit, sich in einen andern Menschen vorstellungsmäßig hineinzuversetzen und so seine Interessenlage nachzuvollziehen, erscheint mir etwas überzogen.

Wenn ich nicht nur auf mein individuelles Wohl bedacht bin, sondern auch das Wohl der anderen mit berücksichtigen will, so muss ich wissen, was dem andern wohl- oder wehtut, was ihm größere Freude und was ihm geringere Freude macht, was ihm größere Schmerzen und was ihm geringere Schmerzen bereitet.

Zum einen kann ich an seinen Wahlhandlungen, seinen Präferenzen, ablesen, was ihm lieber ist: Ich sehe z. B., dass er sich lieber dort aufhält, wo es warm und trocken ist, als dort, wo es kalt und nass ist. Natürlich kann ich ihn auch fragen, was ihm lieber ist, welche Probleme ihn am meisten belasten oder die Erfüllung welcher Wünsche ihm am wichtigsten ist.

Ich denke, dass keine unüberwindlichen Hindernisse bestehen, über solche Feststellungen zum Wohlergehen eines Menschen zu einem Konsens zu kommen.

Man kann auch Vergleichen zwischen dem Wohlergehen eines Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten anstellen indem man fragt: Wird Person A durch eine bestimmte Veränderungen besser oder schlechter gestellt? Durch die Beschreibung der jeweiligen Lebensbedingungen und anhand von Äußerungen des Betreffenden über seine Lage gelangt man so zu intertemporalen Vergleichen des Wohlergehens und Urteilen wie: Früher ist es mir einmal besser ergangen als heute.

Schwieriger ist es schon, das Niveau des Wohlergehens verschiedener Menschen oder Gruppen miteinander zu vergleichen, etwa wenn man sagt: So gut wie du möchte ich es auch einmal haben! Oder: Den Beamten des Öffentlichen Dienstes geht es wesentlich besser als den Beschäftigten in der Privatwirtschaft.

Bei solchen interpersonalen Vergleichen zwischen dem Wohlergehen verschiedener Individuen und Gruppen muss man abwägen zwischen verschiedenen Gütern und deren Bedeutung für die betreffenden Menschen, wie etwa Sicherheit des Arbeitsplatzes und Höhe des Arbeitseinkommens.

Aber muss man selber schon einmal arbeitslos geworden sein, um einschätzen zu können, was die Sicherheit des Arbeitsplatzes für einen Menschen bedeutet? Haben wir nur für etwas Verständnis, wenn wir es selber einmal erlebt haben? Kann uns der Andere nicht auch durch seine Schilderungen eine Vorstellung vermitteln von seiner Lage und den daraus resultierenden Interessen (Zielen, Wünschen, Nöten, Problemen)? Sehen wir es einem Menschen nicht an, ob er sich glücklich oder hundeelend fühlt?

Gehört es nicht zu den wesentlichen Elementen der sozialen Intelligenz, dass man abschätzen kann, wie einem andern zu Mute ist, wenn diesem bestimmte Dinge widerfahren oder wenn man ihm bestimmte Dinge zumutet? Kann ich Mitleid nur mit demjenigen haben, in dessen Lage ich mich selber schon einmal befunden habe?

Dass man sich vor voreiligen Schlüssen von sich auf andere hüten muss – insbesondere wenn es sich bei den andern um Angehörige eines andern Kulturkreises handelt – ist davon unbenommen.

Es grüßt Dich und alle Zaungäste dieser Runde Eberhard.


  ______________________________________________________________________________________________
 

_______________________________________________________________________________________________
-->Übersicht       -->Alphabetische Liste aller Texte       -->Info zu dieser Website       -->Lexikon       -->Startseite

zum Anfang

Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Gemeinwohl und Wohl der Individuen 1" / Letzte Bearbeitung siehe Beiträge / Eberhard Wesche u.a.

*** Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, Freunde, Kollegen und Bekannte auf die Ethik-Werkstatt hinzuweisen ***

Ethik-Werkstatt: Gemeinsohl und Wohl der Individuen 1