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Gemeinwohl und Wohl der Individuen I
(Diskussion bei PhilTalk)
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PhilTalk Philosophieforen
Praktische Philosophie >> Politische Philosophie, Rechtsphilosophie,
Wirtschaftsphilosophie >> Gemeinwohl und Wohl der Individuen
(Thema begonnen
von: Eberhard am 16. Okt. 2005, 10:40 Uhr)
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Titel: Gemeinwohl und Wohl der Individuen I
Beitrag von Eberhard am 16. Okt.
2005, 10:40 Uhr
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Hallo allerseits,
die Frage, um die es in dieser Diskussionsrunde gehen
soll, lautet:
Lässt sich ein Gemeinwohl (Gesamtinteresse, kollektives
Interesse, allgemeines Interesse Gemeinwillen etc.) bestimmen, und wie verhält
sich dieses zum individuellen Wohlergehen (Einzelinteresse, Einzelwille, Glück
des Einzelnen o.ä.)?
Für manch einen stellt sich vorweg allerdings noch
die Frage, wozu man überhaupt so etwas wie Gemeinwohl oder Gesamtinteresse
bestimmen soll.
Diese Begriffe werden häufig als bloße Leerformeln
abgetan, die nur zur Vernebelung der Gehirne dienen.
Andererseits sind
sie offenbar unentbehrlich für die inhaltliche Rechtfertigung politischer
Entscheidungen, die ja immer eine Vielzahl von Individuen mit unterschiedlichen
Interessen betreffen.
Warum sollte ein Bürger auch einer Entscheidung
der Regierung inhaltlich zustimmen, die seinen individuellen Interessen nicht
entspricht?
Dass die Entscheidung im Interesse der Regierenden liegt,
kann dafür kein Grund sein. Die Einsicht, dass die Entscheidung dem Wohle des
Ganzen dient bzw. dem Allgemeininteresse entspricht, kann dagegen ein Grund
sein, der Entscheidung zuzustimmen.
Die Frage, um die es geht, ist die
Beziehung zwischen individuellem und allgemeinem Interesse: Lässt sich aus der
Zusammenfassung der individuellen Interessen ein Gesamtinteresse gewinnen und
wenn ja wie?
Oder ist es verkehrt, von den Individuen und ihrem
Wohlergehen bzw. Willen auszugehen? Muss das Wohl des Volkes bzw. des Staates
unabhängig davon bestimmt werden?
Meiner Ansicht nach ist eine
Abkoppelung des Gemeinwohls vom Wohlergehen der Einzelnen nicht akzeptabel. Das
Gemeinwohl muss stattdessen aus einer „gerechten“ Berücksichtigung des
Wohlergehens (der Interessen, des Willens, der Bedürfnisse, des Glücks o.ä.)
aller Betroffenen gewonnen werden. Insoweit folge ich den Utilitaristen.
Mal sehen, wie weit man mit diesem Ansatz kommt und welche Einwände dagegen
erhoben werden.
Auf eine kontroverse aber sachbezogene Diskussion hofft
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 16.
Okt. 2005, 17:43 Uhr
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Hallo Eberhard,
"Die Frage, um die es geht, ist die Beziehung zwischen
individuellem und allgemeinem Interesse: Lässt sich aus der Zusammenfassung der
individuellen Interessen ein Gesamtinteresse gewinnen und wenn ja wie?
Oder ist es verkehrt, von den Individuen und ihrem Wohlergehen bzw. Willen
auszugehen? Muss das Wohl des Volkes bzw. des Staates unabhängig davon bestimmt
werden?" Eberhard
Zunächst etwas zum Staat. Auch dieser Begriff sollte
historisch gefasst werden. Der Staatsbegriff der Neuzeit beispielsweise kann
nicht unabhängig von den mit den von Naturwissenschaften ermöglichten
Anwendungen der Technik, wie diese sich bis heute, etwa in der Produktionsweise
manifestieren, erläutert werden. Mit dem technischen Wandel der Produktionsweise
verändert sich auch die Auffassung des Staates zur Gesellschaft. Der
neuzeitliche Begriff der Gesellschaft somit auch der Begriff des Individuum
entfaltet sich etwa mit der (neuzeitlich-technisch bedingten) Herausnahme des
menschlichen, auf den EINEN Gott bezogenen Streben, um menschliches Streben im
kapitalistischen Markt und seinen, beispielsweise nationalen Einrichtungen,
aufgehen zu lassen. Auch aufgrund der technischen Veränderungen wurde möglich,
dass Mensch, da aus mittelalterlicher Stände- und Gottesordnung entlassen, sich
als Wesen definierte, dessen Freiheitsbegriff sich mit der privaten
Eigentumsordnung setzte. Das Interesse definierte sich nun mit dem privaten
Eigentumsbegriff, deren entfalteter Machtbereich im Diesseits ermöglichte, den
Staat als den Ort auftreten zu lassen, von dem jenes Recht praktiziert wird,
dass sich um den kapitalistischen Markt dreht.
Aus individuellen
Interessen lässt sich, wie beispielsweise seit der französischen Revolution das
Gesamtinteresse kapitalistisch zaubern, indem der von der mittelalterlichen
Ständeordnung gelöste Staats- und Gesellschaftsbegriff an die kapitalistische
Wirtschaftsordnung gekoppelt wurde. Seitdem gilt, dass Individuum ist das Maß
der Dinge, welche Dinge kapitalistisch-strukturiert produziert werden und mit
dem das sogenannte Allgemeininteresse, dass definierte Gemeinwohl, konstruiert
wurde und wird.
In deinem Text vermisse ich den historischen Kontext.
Wird dieser nicht berücksichtigt, müssen dann Begriffe wie Gemeinwohl, Wohl der
Individuen, inhaltliche Rechtfertigung politischer Entscheidungen ... nicht
dunkel bleiben?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 17.
Okt. 2005, 12:20 Uhr
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Hallo Philoschall,
Du vermisst bei der Fragestellung den historischen
Kontext und Du befürchtest, dass ohne diesen Kontext die zentralen Begriffe im
Dunkeln bleiben müssen.
Diese Befürchtung teile ich nicht, denn Begriffe
wie Gemeinwohl, Wohl der Individuen, Gesamtinteresse oder Einzelinteresse haben
bereits umgangssprachlich eine mehr oder weniger bestimmte Bedeutung, und es
hindert uns niemand daran, diese Begriffe - falls nötig - noch schärfer zu
definieren.
Sollte sich herausstellen, dass die gestellten Fragen nicht
beantwortet werden können, ohne bestimmte historische Annahmen zu machen, so
werden wir diese historischen Fragen natürlich mit einbeziehen.
Solange
diese Notwendigkeit jedoch nicht besteht bzw. plausibel dargelegt wurde, sehe
ich keinen Grund dafür, zusätzlich historische Fragen aufzuwerfen.
Ich
denke, dass jeder von uns die Begriffe Interesse, Wohlergehen oder
Rechtfertigung politischer Entscheidungen hinreichend versteht, um in diese
Diskussion einzusteigen.
Eine Möglichkeit, den Begriff des Interesses
genauer zu fassen, ist die in der Ökonomie gebräuchliche Darstellung durch eine
Rangordnung der zur Entscheidung anstehenden Alternativen. So kann man zum
Beispiel die Interessenlage eines Individuums hinsichtlich der Gestaltung einer
freien Woche durch die Präferenzrangfolge
1. eine Woche nach London
verreisen
2. eine Woche Zuhause faulenzen
3. eine Woche die Küche
renovieren
darstellen.
Das Spannungsverhältnis zwischen
Einzelinteresse und Gesamtinteresse zeigt sich z.B. an der Alltagsfrage, wie
gehandelt werden soll, wenn 3 Leute einer Wohngemeinschaft ihre freie Woche
gemeinsam verbringen wollen und die Vorlieben hinsichtlich der in Frage
kommenden Alternativen verschieden sind. Kann man aus den individuellen
Präferenzen eine Gruppenpräferenz ableiten, die zum Wohle der Gruppe ist und
deshalb gewählt werden sollte?
Dies etwas banale Bespiel macht dennoch
deutlich, um welche Problemstellung es hier geht.
Soweit erstmal von
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der IndividuenHallo Eberha
Beitrag von
philoschall am 17. Okt. 2005, 15:06 Uhr
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Hallo Eberhard,
"Dies etwas banale Bespiel macht dennoch deutlich, um
welche Problemstellung es hier geht."
Dein Beispiel zeigt, dass, da keine
anderen Individuen am Entscheidungsprozess 1.-3. des Individuums unmittelbar
beteiligt sind, Entscheidungen sozusagen souverän, d.h. von anderen Individueen
unabhängig, vollzogen werden können. Dass Einzelinteresse scheint hier sozusagen
das Auschlaggebende zu sein. Der Einzelwillen, die Entscheidung des
Einzelinteresses vollzieht sich jedoch nicht an sich, sondern bewegt sich u.a.
im ökonomisch-gesellschaftlichen Rahmen. Beispielsweise könnte die individuelle
Entscheidung eine Woche faulenzen dadurch entschieden werden, dass Geld weder
für die Reise nach London noch für die Renovierung der Küche vorhanden ist.
(Auch in der Gegenwart des Geiz-ist-Geil könnte der Baumarkt und der Billigflug
den Rahmen des Finanziellen sprengen) Der Entscheidungsrahmen des
Einzelinteresses ist hier jedenfalls nicht von anderen Individueen bestimmt die,
in selbiger oder ähnlicher Interessenlage sind und sich vereinigen, sondern von,
sagen wir, objektiven Faktoren, etwa dem Arbeitsmarkt, der keine Möglichkeit
bietet, Geld für eine Woche London zu sparen.
Die "Souveränität" des eben
aufgezeigten Einzelwillen wird modizifiziert, wenn Individueen ins Spiel kommen,
die zumindest ein Interesse zusammenführt, etwa das gemeinsame Wohnen zwecks
finanzieller Ersparniss. Nun ist nicht mehr der oben bezeichnete objektive
Faktor dasjenige, von dem der Einzelwille in seiner Entscheidung sich
unmittelbar konfrontiert findet. Der objektive Faktor tritt vor jenem
Einzelwillen sozusagen zurück, der sich etwa in dem Interesse ausweisst, mit der
Wohngemeinschaft eine Woche in London zu verbringen. Damit ist jedoch ein
Interessengegensatz aufgetreten. Der Einzelwille mit einen grösserem
finanziellen Handlungsvermögen (ermöglicht etwa durch einen besser bezahlten
Arbeitsplatz) stösst auf einen Einzelwillen der sich mit weniger
Handlungsvermögen (kein Geld für die Reise nach London) setzt. Die
Wohngemeinschaft, das Gemeinschaftliche könnte gefährdet sein, wenn sich ein
Einzelwille zum Nachteil des eigentlichen Zweckes (Wohnfläche zwecks
Geldersparnis zu teilen) inzeniert.
"Kann man aus den individuellen
Präferenzen eine Gruppenpräferenz ableiten, die zum Wohle der Gruppe ist und
deshalb gewählt werden sollte?" Eberhard
Dass Beispiel der
Wohngemeinschaft zeigt, dass aus Individualinteressen, Wohnfläche etwa zwecks
Geldersparnis zu teilen, Gemeinschaft und Gemeinsschaftsinteresse entstehen
kann. Dass Wohl dieser Gruppe ist solange stabil, solange deren Träger sich
einig sind, ihr Einzelinteresse über das Gesamtinteresse nicht zu stellen. Der
gemeinsame Zweck, Wohnfläche etwa aus finanziellen Erwägungen zu teilen und
nicht das von diesem Gesamtinteresse losgelöste, gegebenfalls über das
Gruppeninteresse gestellte Einzelinteresse ist hier das Bindeglied. Dieses
Gruppeninteresse ist in dem Sinne souveräner als die "Souveränität" des
Einzelwillen im Entscheidungsprozess mit den obengenannten objektiven Faktor,
dass hier MEHRERE Individuuen EIN Ziel bei ihren gemeinsamen
Entscheidungsprozessen berücksichtigen, bezw. voraussetzen.
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 17.
Okt. 2005, 22:43 Uhr
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Hallo Philoschall,
Du thematisierst die Entstehungsbedingungen von
Interessen. Die Frage ist, was daraus für die Lösung des Problems (Bestimmung
eines Gesamtinteresses angesichts divergierender Einzelinteressen) folgt.
Richtig ist, dass sich die Interessen der Individuen mit Veränderung der
Lage, in der sie sich befinden, ändern. Ein bekanntes Beispiel ist der sinkende
Nutzen zusätzlicher Einheiten desselben Gutes aufgrund von Sättigungsphänomenen
(Das 10. Paar Schuhe ist weniger dringlich als das 1. Paar).
Für die
Fragestellung bedeutsam ist der Fall, dass Individuum A Einfluss auf die
Beschaffenheit der Interessen von Individuum B ausübt.
Im Extremfall
kann ein mächtiger A durch Drohungen die Situation von B so gestalten, dass es
im Interesse von B liegt, A zu gehorchen.
Es versteht sich von selbst,
dass solche Interessen ungeeignet sind, um auf ihrer Grundlage ein
Gesamtinteresse zu formulieren.
Die andere Frage, die Du aufwirfst ist
die, ob es als Grundlage des Gesamtinteresses nicht gemeinsame Interessen oder
Ziele der Individuen geben muss. Was kann als Interesse bei allen Individuen
einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?
Es grüßt Dich und alle an
politischer Theorie Interessierten Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 18.
Okt. 2005, 13:19 Uhr
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Hallo Eberhard,
"Die Frage ist, was daraus für die Lösung des Problems
(Bestimmung eines Gesamtinteresses angesichts divergierender Einzelinteressen)
folgt." Eberhard
Ergänzen wir unser Beispiel einer gesellschaftlichten
Übereinkunft, wie diese sich etwa in der Wohngemeinschaft manifestiert, mit
einer Betrachtung des Staates. Wenden wir uns der Angelegenheit zu, wo
Individuen n i c h t in freiwilliger Übereinkunft in ihrer gemeinschaftlichen
Lebenspraxis ihre Einzelinteressen umsetzen. Als weiteren sogenannten objektiven
Faktor schlage ich also vor, den Staatsbegriff zu berücksichtigen. Hier ist
weder die "Souveränität" des Einzelinteresses wie diese sich bezüglich des
objektiv genannten Arbeitsmarktes findet (etwa Faulenzen oder Wohnung
renovieren), noch ist das in freiwilligen Zusammenschluss einer Wohngemeinschaft
sich gemeinschaftlich auseinandersetzende Einzelinteresse das Auschlaggebende.
Berücksichtigen wir weiterhin, dass die Rechtfertigung des Staates -
theoretisch etwa mit der Bezugnahme auf Hobbes - aus der klassischen
Voraussetzung resultiert, ohne den bürgerlichen Staat steht nicht im Vermögen
der Individuen das Zusammenleben zu organisieren. Um auszuschliessen, dass A
mittels Drohungen sein Einzelinteresse umsetzt, somit B von dieser
Handlungsmacht etwa in die Position des Befehlsempfängers versetzt wird - welche
gesellschaftliche Einzelinteresse, wie von Dir zu Recht angenommen, verhindert
"ein Gesamtinteresse zu formulieren" - wird, Mir nichts Dir nichts, dass
entfaltete Handlungsvermögen von A und das dadurch eingeschränkte
Handlungsvermögen von B ausgeschaltet. Weder die gesellschaftliche
Auseinandersetzung der "Souveränität" des Einzelinteresses in Abhängigkeit etwa
des Arbeitsmarktes, noch die mit der in gemeinsamen Übereinkünften gefundene
gesellschaftliche Souveränität/Solidarität der Individuen (welches in
gesellschaftlichen Zweckgemeinschaften sein Recht auf Einzelinteresse nicht
aufgibt, dass sich, bestenfalls, die gesellschaftlichen Bündnisse stabilisierend
einbringt) sondern dass von diesem Handlungsvermögen der Gesellschaft
abgezogende Recht, genauer das Recht des Staates setzt sich als die Gewalt, die
sich über die Produktivität der Gesellschaft erhebt. Vom Inhalt des bürgerlichen
Recht abgesehen, bürgerliches Staatsrecht wird praktiziert, wenn das
gesellschaftliche Vermögen nicht mehr das Primäre ist. Dass Handlungsvermögen
der "Souveränität" des Einzelinteresses, dass solidarische Handlungsvermögen
gesellschaftlicher Übereinkünfte - nicht auf diese Produktivität gründet sich
Staatsrecht, sondern mit deren Verwertung manifestiert sich u.a. Staatsrecht.
Nicht gesellschaftliches Handlungsvermögen, dass diesem, etwa vom Arbeitslohn
bedingten Sein transzendente Handlungsvermögen verschafft den Begriff des
Staates zu seinem Recht. Vom produktiven Vermögen sich abgrenzende Gesetzgebung
wird praktiziert mittels Staatspolitik die sich als demokratisches
Ausführungsorganisation des Souverän, des Volkes, behauptet, die jedoch versteht
das n i c h t aus der Produktivität resultierende Einzelinteresse als das
Gesamtinteresse des Volkes erscheinen zu lassen.
"Was kann als Interesse
bei allen Individuen einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?" Eberhard
Die von den angeführten Faktoren (Arbeitsmarkt, Staatsbegriff, demokratische
Politik) bedingten Einzelinteressen (welche sich etwa in der Entscheidung
äussern, Faulenzen, da Geld um in den Urlaub fahren, um die Wohnung renovieren
nicht vorhanden ist) und die diese mit den sogenannten objektiven Bedingungen
erscheinenden Einzelinteressen setzenden Einzelinteressen, wie diese sich etwa
auf der Ebene der Staatspolitik als das Allgemeininteresse der Gesellschaft
äussern - welches könnte hier d a s Interesse sein, dass sich mit den
Bestrebungen aller Individuen völlig deckt? Kann, berücksichtigend die
kategorische Unterscheidung von Gesellschaftsrecht und Staatsrecht, überhaupt
davon die Rede sein, dass die Interessen so gelagert sind, dass allen Menschen
ein Interesse gemeinsam ist? Ist Deine Frage, "Was kann als Interesse bei allen
Individuen einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?" nicht bereits völlig
verkehrt gestellt? Was kann Eberhard anführen, dass ihn diese Frage logisch
erscheinen lässt? Deine Frage zielt ja nicht darauf, ist da überhaupt Interesse,
dass von allen Menschen einer Gesellschaft geteilt wird. Du setzt ein Interesse
als allen Individuen Gemeinsames voraus, obwohl doch bereits der Begriff
Interesse allgemein so genommen wird, dass damit Gegensätze gesetzt werden: und,
"über" gesellschaftlichen Gegensätzen Stehendes - "über" dem relativen Sein der
Lebenspraxis stehende Einheit, Wahrheit, mit der Relatives Sein in seinen
egoistischen Begrenzungen, die sich als gesellschaftliche Interessen
manifestieren überwunden wird, - keine Aussage vollzogen wird. Im Gegenteil
beharrt doch das Einzelinteresse in seinem Streben, dass mit dem Streben seiner
gesellschaftlichen Gruppe zusammenfällt, darauf, dass nicht andere
Interessenvertretungen das Richtige und Wahre darstellen. Ist der
LEBENSPRAKTISCHE INHALT des Begriffes Interesse nicht verdunkelt, wenn dieser
Begriff, mit dem gesellschaftliche Unterschiede formuliert werden, als der
Begriff genommen wird, mit dem nicht Einzelinteressen gesetzt werden, sondern so
etwas wie gesellschaftliches Gesamtinteresse?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 18.
Okt. 2005, 18:34 Uhr
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Hallo allerseits, hallo philoschall,
ich muss gestehen, dass ich
zunehmend Schwierigkeiten habe, Dich zu verstehen. Das geht soweit, dass ich die
grammatische Struktur Deiner Sätze nicht immer erkennen kann. Zum Beispiel weiß
ich bei mehreren Sätzen nicht, was das grammatische Subjekt ist (z.B. beim
ersten Satz des letzten Absatzes.)
Ich kann auch nicht erkennen,
inwiefern Deine Ausführungen eine Antwort auf die von Dir zitierten Fragen
darstellen.
Ich komme deshalb noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück:
Lässt sich ein Gemeinwohl (Gesamtinteresse) bestimmen, und wie verhält sich
dieses zum individuellen Wohlergehen (Einzelinteresse)?
Nehmen wir als
Allgemeinheit bzw. Gesamtheit einmal das staatliche Gemeinwesen der heutigen
Bundesrepublik Deutschland (und sehen wir einmal davon ab, dass dieser Staat
genau genommen nicht die Allgemeinheit darstellt, sondern etwas Partikulares,
insofern er nur einen Bruchteil der Menschheit umfasst.)
Die designierte
Bundeskanzlerin spricht häufig davon, dass politisch das getan werden muss, was
gut für Deutschland ist, auch wenn es für den einzelnen Bürger Belastungen mit
sich bringt.
Der noch amtierende Bundeskanzler spricht häufig davon,
dass die Systeme der sozialen Sicherung wie Rentenversicherung,
Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Pflegeversicherung durch
Einschnitte in den Leistungen vor dem finanziellen Kollaps bewahrt und für die
kommenden Generationen erhalten werden müssen.
Damit berufen sie sich auf
das Wohl des Ganzen und rechtfertigen so Nachteile für die einzelnen Individuen
bzw. Bevölkerungsgruppen.
Selbst der Vorsitzende der Freien Demokraten
rechtfertigt seine politischen Absichten mit dem Wohl des Ganzen und begründet
sie nicht damit, dass damit den Interessen der „besser Verdienenden“ entsprochen
wird.
Die Frage ist: Lässt sich entscheiden, ob eine bestimmte Politik am
Wohl des Ganzen ausgerichtet ist oder am Wohl aller Bürger? Wie kann man hier
argumentieren?
Hat jemand dazu eine Meinung? fragt Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Sheelina am 19.
Okt. 2005, 06:55 Uhr
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on 10/18/05 um 18:34:19, Eberhard wrote:
Die Frage ist: Lässt sich
entscheiden, ob eine bestimmte Politik am Wohl des Ganzen ausgerichtet ist oder
am Wohl aller Bürger? Wie kann man hier argumentieren?
Hat jemand dazu
eine Meinung? fragt Eberhard.
Ja, ich habe eine Meinung dazu.
on 10/17/05 um 15:06:27, philoschall wrote:Dieses Gruppeninteresse ist
in dem Sinne souveräner als die "Souveränität" des Einzelwillen im
Entscheidungsprozess mit den obengenannten objektiven Faktor, dass hier MEHRERE
Individuuen EIN Ziel bei ihren gemeinsamen Entscheidungsprozessen
berücksichtigen, bezw. voraussetzen.
Vertragsbruch.
Grüße
Lina
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 19.
Okt. 2005, 08:48 Uhr
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Vertragsbruch?
Grüße
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von
philoschall am 19. Okt. 2005, 12:10 Uhr
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Hallo Eberhard,
ist Deine Frage, "Was kann als Interesse bei allen
Individuen einer Gesellschaft vorausgesetzt werden?" nicht bereits völlig
verkehrt gestellt? Was kann Eberhard anführen, dass ihn diese Frage logisch
erscheinen lässt? Deine Frage zielt ja nicht darauf: ist da überhaupt Interesse,
dass von ALLEN Menschen einer Gesellschaft geteilt wird. Du setzt EIN I N T E R
E S S E (!) voraus, dass ALLEN Individuen ihr Gemeinsames sein soll, obwohl doch
bereits der Begriff Interesse allgemein so genommen wird, dass damit Gegensätze
gesetzt werden ... beharrt doch das Einzelinteresse in seinem Streben, dass mit
dem Streben seiner gesellschaftlichen Gruppe zusammenfällt, darauf, dass andere
Interessenvertretungen nicht das Richtige und Wahre darstellen.
Wird mit
Deiner Frage nach einen Interesse aller Individuen die Konsesfähigkeit der
Pluralität, die sich mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen
sowie mit ihren jeweiligen Vertretungen lebenspraktisch manifestieren, wenn
nicht ausser Kraft gesetzt, so doch begrifflich verschleiert?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 19.
Okt. 2005, 12:37 Uhr
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Hallo allerseits, hallo philoschall,
ohne die Antwort in irgendeiner
Weise vorwegzunehmen und ohne irgendetwas zu verschleiern (welcher Tatbestand
sollte denn verschleiert werden?) stelle ich die Frage, ob das "Interesse des
Ganzen", das Gemeinwohl (nur? auch?) aus solchen Interessen besteht, die jeder
Bürger als Einzelner hat:
Gibt es Interessen, die allen Bürgern der
Bundesrepublik Deutschland gemeinsam sind?
Um ein beliebtes Bild zu
gebrauchen: "Sitzen wir alle in einem Boot" und hat deshalb jeder das Interesse,
dass das Boot nicht umkippt, überladen wird oder leck schlägt?
Bilden die
Bürger der Bundesrepublik eine "Schicksalsgemeinschaft" in der Weise, dass
eintretende Verbesserungen oder Verschlechterungen nicht nur Teile der
Bevölkerung betreffen sondern alle?
Greifen wir einen einzelnen Punkt
heraus:
Ist es im Interesse aller Bürger, dass die Zahl derjenigen sinkt,
die einen Arbeitsplatz suchen, mit dessen Entgelt sie ihren Lebensunterhalt
bestreiten können?
Ist es im Interesse aller Bürger, dass die
Verschuldung des Bundes, der Länder und der Gemeinden nicht noch größer wird?
Wenn beide Fragen mit "ja" beantwortet werden, was ist im Falle von
Zielkonflikten, wenn z.B. Maßnahmen, die die Zahl der Arbeitslosen senken, nur
durch neue Schulden bezahlt werden können?
Ist es auch dann noch
berechtigt, vom "Wohl des Ganzen" zu reden, wenn nicht alle Gruppen der
Bevölkerung unter Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit gleich stark zu leiden
haben?
fragt Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 19. Okt.
2005, 16:55 Uhr
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Hi, Eberhard,
du weißt, ich werde gern konkret.
Nach klassischer
Definition besteht ein Staat aus Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsgewalt.
Staatsvolk und Staatsgewalt bestehen beide aus Menschen.
Somit lässt
sich die Frage "Gibt es Interessen, die allen Bürgern der Bundesrepublik
Deutschland gemeinsam sind?" klar damit beantworten, dass alle Bürgern der
Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen das Interesse haben, dass das, was sie
zum Überleben notwendig brauchen, gesichert ist (selbstverständlich für uns,
aber selbstverständlich nicht für alle Staatsgewalten). Woraus folgt, dass
diejenigen, die mehr produzieren als sie brauchen, die zu unterhalten haben, die
weniger produzieren, als sie brauchen. Tun sie das nicht, mutiert die
Staatsgewalt zu einer für einen Teil der Staatsbürger lebensfeindlichen
Diktatur. Ob uns das passt, ist eine Frage der humanen Ethik. Gehen wir mal
davon aus, dass uns eine Diktatur nicht passt.
Dann schauen wir uns die
Lebensbedingungen an. Die sehen so aus, dass nur eine Minderheit der Bürger
autark ist. Nur eine Minderheit hat Land, auf dem sie durch Ackerbau und
Viehzucht ihren überlebensnotwendigen Unterhalt sichern kann. Die Möglichkeit,
sich im Notfall selbiges anzueignen (wie zur Zeit der Besiedelung Amerikas z.B.)
besteht nicht, da alles schon jemandem gehört. Auf die Möglichkeit der Bürger
zur Eigenversorgung zu bauen ist also irreal.
Das Problem zeigt sich bei
hoher Arbeitslosigkeit. Da die meisten Bürger darauf angewiesen sind, für andere
Arbeiten zu erledigen, um im Gegenzug Geld für die Finanzierung ihres
notwendigen Unterhaltes zu bekommen, muss ein demokratischer Staat, wenn dies
mangels Angebot an Arbeitsplätzen nicht möglich ist, entsprechende Konsequenzen
ziehen, um den Lebensunterhalt der Arbeitslosen zu sichern. Das heißt, entweder
er alimentiert die Arbeitslosen, was bedeutet, dass viele Arbeitslose viel Geld
kosten, das man denen, die Einkommen haben, nehmen muss, oder der Staat tritt
selbst als Anbieter auf dem Arbeitsmarkt auf. Was ebenfalls viel Geld kostet, da
er die Löhne zahlen muss. Muss er auch denen, die Einkommen haben, nehmen. Der
zweite Fall hat den Nachteil, dass es mehr Geld kostet, dass dieses Geld aber
nicht nur in reinen Konsum fließt, sondern dass dafür Werte geschaffen werden.
Womit Staat langfristig ein Geschäft macht. Ein Geschäft, das dem Gemeinwohl
dient, denn die geschaffenen Werte kommen allen zu Gute.
Wenn also die
Notwendigkeit besteht, den Unterhalt aller Bürger, so oder so, zu sichern,
stellt sich eigentlich weniger die Frage, wie man das machen soll (da könnte man
die beste Möglichkeit berechnen), sondern eher die Frage, warum man es nicht
machen will.
Und da guckt bei allen schönen Verkleisterungen meiner
Ansicht nach zuletzt immer das gute, alte Dschungelrecht des Stärkeren heraus.
Drache Fafner, der Wotan, der ihn aus friedensstiftenden Gründen weckt,
anwortet: "Ich lieg und besitz, lass mich schlafen." Als nächstes bekam Fafner
bekanntlich Besuch von Siegfried, woraus sich ergibt, dass die Ablehnung des
Gemeinwohlgedenkens auch schon mal gegen die Freunde des Dschungelrechtes
ausschlagen kann.
Womit die Frage "Bilden die Bürger der Bundesrepublik
eine "Schicksalsgemeinschaft" in der Weise, dass eintretende Verbesserungen oder
Verschlechterungen nicht nur Teile der Bevölkerung betreffen sondern alle?
mit "längerfristig ja" beantwortet werden kann.
Sagt der Pragmatiker.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 20.
Okt. 2005, 10:56 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Abrazo,
Ich hatte gefragt, ob das "Interesse des
Ganzen", das Gemeinwohl (nur? auch?) aus solchen Interessen besteht, die jeder
Bürger als Einzelner hat: Gibt es Interessen, die allen Bürgern der
Bundesrepublik Deutschland gemeinsam sind?
Du antwortest: dass alle
Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen das Interesse haben, dass
das, was sie zum Überleben notwendig brauchen, gesichert ist.
Hier liegt
ein Missverständnis bezüglich des Ausdrucks "gemeinsames Interesse aller Bürger"
vor.
Bürger A hat das Interesse, dass er selber versorgt ist. Bürger B
teilt dies Interesse an der Versorgung von A jedoch nicht: B hat das Interesse,
dass er selber versorgt ist. Die Versorgung von A ist insofern kein gemeinsames
Interesse von A und B.
Wenn jeder Bürger ein Interesse an der je eigenen
Versorgung hat, so schlage ich vor, dies als "gleichartiges Interesse" zu
bezeichnen.
Ein gemeinsames Interesse an der Versorgung gibt es dann,
wenn die Versorgung nur durch ein kollektives Gut erreicht werden kann.
Ein Beispiel hierfür ist z.B. der Schutz vor Überschwemmung durch einen Deich.
Ein Deich ist insofern ein kollektives Gut, als von seiner Nutzung niemand
ausgeschlossen werden kann, ob er sich nur an den Kosten des Deiches beteiligt
hat oder nicht.
Das gleichartige Interesse (Ich will nicht, dass meine
Wohnung überschwemmt wird) führt in diesem Fall zu dem gemeinsamen Interesse
(Ich will einen Deich. Du willst einen Deich. Wir wollen gemeinsam ein und
denselben Deich).
Da Deutschland nicht New Orleans ist, bleibe ich bei
dem ursprünglichen Beispiel und der Frage:
Ist es im (gemeinsamen)
Interesse aller Bürger, dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt?
Unmittelbar gibt es hier wohl kein gemeinsames Interesse. Durch die
Arbeitslosigkeit anderer sind meine Interessen erstmal nicht berührt.
Durch die sozialstaatlichen Regelungen (Anspruch auf Bezahlung der Kosten von
Wohnung, Lebensunterhalt, Kranken- und Rentenversicherung durch die
Allgemeinheit) ist jedoch Bürger B indirekt ebenfalls von der Arbeitslosigkeit
des Bürgers A betroffen. Denn das Geld, das für den Arbeitslosen verwendet wird,
fehlt bei der Befriedigung anderer Interessen der Bürger – z.B. bei der
Beseitigung von Löchern im Straßenbelag oder bei der Einstellung von Lehrern
zugunsten kleinerer Klassen mit nicht mehr als 20 Kindern.
Unter der
Voraussetzung, dass die Allgemeinheit verpflichtet ist, für die Arbeitslosen
aufzukommen, ist es für alle Bürger demnach offenbar besser, wenn es weniger
Arbeitslose gibt. (Dem entspricht, dass die Vermeidung von Arbeitslosigkeit auch
als politisches Ziel im Stabilitätsgesetz verankert ist.)
Damit stellt
sich die Frage, wie die Verpflichtung der Allgemeinheit zur Sorge für
Arbeitslose begründet werden kann. Diese Frage hat Abrazo bereits erörtert.
Aber ich will hier erstmal abschließen.
Bis dann Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 20. Okt.
2005, 22:50 Uhr
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Hi, zusammen, hi Eberhard,
du hast einen wichtigen Punkt meiner
Ausführungen überlesen:
Tun sie das nicht, mutiert die Staatsgewalt zu
einer für einen Teil der Staatsbürger lebensfeindlichen Diktatur. Ob uns das
passt, ist eine Frage der humanen Ethik.
Ich bringe hier den
Gesellschafter der GmbH ein, Herrn Hund, ein stolzer, kräftiger, dominanter
Haudegen mit der Neigung zur Rudelbildung. Dessen Boss er natürlich dann ist.
Weswegen er auch Anspruch erhebt auf alle Weiber, alle Bälle, alle milden
Hundekuchengaben (ich zuerst!) und alle vom Rudel erlegten Karnickel (die Beute
'verteilt' er). Das macht ihn für die Weiber außerordentlich attraktiv; sie
lieben ihn und bekunden ihre Unterstützung dadurch, dass sie bei potentiellen
Konflikten mit anderen Rüden diese, um den 'Ring' stehend, giftig kläffend
irritieren (was ja auch bei Menschens nicht unüblich ist). Er liebt sie auch.
Junghunde betrachten ihn als Vorbild, folgen ihm nach und sind auch schon mal
bereit, sich für ihn zu schlagen (auch von irgendwoher bekannt, ne?). Und
schwächere Rüden bitten, nachdem er sie verhauen hat, demütig und vorsichtig um
Aufnahme in den illustren Kreis. Denn er sorgt auch für Sicherheit und Ordnung
innerhalb des Rudels. Alles funktioniert, es gibt keinen Zoff, jeder fühlt sich
sicher und geborgen, prima. Das Gemeinwohl des Rudels ist er, denn er
konstituiert es.
Aus der Verhaltensforschung wissen wir, dass in
Notzeiten die stärkeren Rudeltiere überleben. Die schwächeren werden durch
Wegbeißen und Verhungern entsorgt. Das Territorium ist Lebensmittel und wird
keinesfalls mit fremden Rudeln geteilt; wer es haben will, muss es kriegerisch
erobern. Mit dieser Gesellschaftsordnung hat das Viehzeug genau so lange
überlebt wie wir. Sie ist natürlich und sie ist vernünftig.
Schon seit
langem überlieferte Tatsache ist, dass wir Menschen so eine Gesellschaftsordnung
nicht wollen. Religionen sanktionieren Hilfeleistung und Unterstützung auch in
Notzeiten, verbieten Töten und Verweigerung von Nothilfe und wer meint, hier
handle es sich nur um eine Weiterentwicklung normalen vernünftigen
Rudelverhaltens, der möge sich mal mit dem 'heiligen Gastrecht' befassen;
undenkbar bei den Viechern (wenn es sich nicht gerade um läufige Weiber
handelt).
Wegen der humanen Ethik wird aus dem gleichartigen Interesse
ein gemeinsames Interesse. Und nicht nur ein Interesse, sondern auch eine humane
Pflicht. Das wird zwar sehr häufig vergessen. Aber unmittelbar vor die Situation
gestellt empfinden oft sogar hartgesottene Egozentriker inneren Widerstand gegen
die natürliche Ordnung der Viecherei. Praktisch zu erkennen ist das z.B. an der
Spendenbereitschaft bei Katastrophen. Voraussetzung ist allerdings, dass man
solche Katastrophen quasi vor Augen hat, durchs Fernsehen z.B. Hat man die nicht
vor Augen, sind viele offenbar geneigt, die Sache theoretisch zu verarbeiten,
indem sie sich ein Gedankenmodell zurecht legen, wonach die anderen an ihren
Problemen selbst schuld sind, die sie folglich auch selbst lösen müssen. Nicht
umsonst haben die Nazis Ghettos und KZ's sorgfältig vor den Augen des
landläufigen Bürgers verborgen.
Mensch denkt üblicherweise nicht an die
ethischen Grundlagen einer menschlichen Gesellschaft. Vor allem deswegen, weil
die meisten die Probleme ja gar nicht vor Augen haben. Scham und Empörung
darüber, dass in unserer Gesellschaft in manchen Gegenden kostenloses Essen an
Schulkinder verteilt wird, damit die nicht hungern müssen, empfinden nur die,
die das aus eigener Anschauung wissen. Für die anderen ist es eine theoretische
Überlegung, über deren Ursache und Hintergründe man sich zwar die Köpfe heiß
diskutieren kann, das reicht dann aber auch schon. Andererseits ist gut
bekanntlich nicht gut gemeint. Wer den ethischen Willen verspürt, unerträgliche
Situationen zu beseitigen, muss auch das Können dazu haben. Und beides zusammen
heißt, dass es sehr wohl nötig ist, eine Staatsmoral zu entwickeln, die auf der
Ethik als Prinzip basieren muss und sicher stellt, dass die ethischen Prinzipien
auch verwirklicht werden. Denn es kann nicht in unserem Interesse liegen, dass
uns die Lage mangels Überschaubarkeit in die natürliche Sozialordnung des
Viehzeugs entgleitet.
Dass das leicht passiert, lässt sich an
Wirtschaftstheorien erkennen. Beispielhaft Friedman's Rossäpfel-Theorie: man
muss den Gaul (die Unternehmen bzw. die Unternehmer) nur genug füttern, dann
fällt hinten auch was für die Spatzen ab. Gesetzt den Fall, das würde stimmen
(was durchaus zweifelhaft ist): und wenn man für den Gaul nicht genügend Futter
hat (oder den Hafer in die Silos packt, weil zwar die Spatzen, nicht aber die
Gäule so viel brauchen)? Dann passiert das, was vor paar Jahren mal einer der
Nestlé-Chefs von sich gab: man muss halt damit leben, dass ein Teil der Menschen
in einer Gesellschaft überflüssig sind. Findet das Wolfsrudel auch, wenn die
Zeiten schlecht sind.
Deinen sachlichen Ausführungen stimme ich voll und
ganz zu. Aber das Problem, das ich sehe, ist eben, ob uns bewusst ist, welchem
Prinzip unsere Gesellschaftsordnung folgt. Da finden wir heute 3 Meinungen vor:
- die eine folgt dem Prinzip des unabänderlichen status quo: wir haben
nun mal die Gesetze, die wir haben, eine Änderung wäre vielleicht im momentanen
Interesse einiger wirtschaftlich Handelnder, ist aber politisch nicht
durchsetzbar. Folglich geht es darum, diese gesetzlichen Verpflichtungen mit
minimalem Kostenaufwand zu erfüllen, damit auf der anderen Seite, gerne
Leistungsträger genannt, ein Maximum überbleibt.
- dann die Caritas: edel
sei der Mensch, hilfreich und gut. Christliche Nächstenliebe verpflichtet dazu,
den Armen aus Gnade und Barmherzigkeit zu erhalten.
- das gemeinsame
Interesse sieht die Sache anders: unabhängig vom individuellen Interesse
einzelner Bürger liegt es im Interesse unserer Gesellschaft als Ganze, dass
jeder, der zu ihr gehört, nicht nur in Freiheit, und das bedeutet m.E. in erster
Linie in Freiheit vor Existenznot leben kann, sondern dass er auch als in dieser
Gesellschaft Handelnder leben kann. Und das bedeutet eben: dass er arbeiten
kann. Denn arbeiten heißt nicht nur gewinnbringend produzieren, sondern
Mitwirkung am Weiterbau unserer Gesellschaft. Wer das einem Teil der Bürger
verweigert, weil er Arbeitskraft als Humankapital betrachtet und feststellt,
dass die vorhandenen Ressourcen nicht benötigt werden, schließt damit diese
Bürger von der Mitwirkung aus - und das ist wölfisch und widerspricht der
humanen Ethik.
Für unsere Gesellschaft betreffende Entscheidungen braucht
man halt ein bisschen mehr als wirtschaftliches-, juristisches- und
Verwaltungsfachwissen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von MultiVista am 21.
Okt. 2005, 18:25 Uhr
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GEMEIN- und Individual- WOHL?
Etwa
"DU bist DEUTSCHLABND" ??
Multi meint:
Werden wir erst einmal wir sebst!
Nicht: WAS bin ich
-
sondern WER bin ich?!
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 21.
Okt. 2005, 21:54 Uhr
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Hallo Multi,
danke für den Ratschlag, aber ich bin schon ich selbst und
ich weiß auch wer ich bin. Deshalb möchte ich weiter über die Frage diskutieren,
ob es so etwas wie allgemeine Interessen oder kollektive Interessen gibt und wie
diese sich zu den Interessen der Einzelnen verhalten. Ich halte den Begriff
Interesse mit seinen vielfältigen Variationen für einen der zentralen und
schwierigsten Begriffe der politischen Philosophie. Mit einer Klärung dieses
Begriffs hätte man einen großen Schritt vorwärts getan.
Es grüßt dich
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 21.
Okt. 2005, 22:28 Uhr
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Hallo Abrazo,
du schreibst:
"Wegen der humanen Ethik wird aus dem
gleichartigen Interesse ein gemeinsames Interesse. Und nicht nur ein Interesse,
sondern auch eine humane Pflicht."
Dabei setzt du wieder ganz auf das in
uns bereits vorhandene humane Ethos, das aus Egoisten sozial orientierte Wesen
macht.
Da ich den ethischen Intuitionen der Menschen nicht so viel
intersubjektive Gemeinsamkeit zutraue, besteht für mich das Problem, aus den
Interessen der Einzelnen ein allen gemeinsames Interesse abzuleiten. Dies kann
bei vielen moralischen Fragen nicht intuitiv geschehen, sondern erfordert einen
besonderen Denkprozess bei der Zusammenfassung und Gewichtung der zu
berücksichtigenden Interessen.
Leider kann ich heute nicht so ausführlich
auf Dich eingehen, wie ich es möchte, aber das wird sich wieder ändern.
Es grüßt Dich und alle am Problem (Gemeinwohl, Gesamtinteresse, volonté generale
bzw. maximum happiness principle) Interessierten Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von MultiVista am 22.
Okt. 2005, 21:32 Uhr
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Abrazo schrieb:
"Aus der Verhaltensforschung wissen wir, dass in Notzeiten
die stärkeren Rudeltiere überleben. Die schwächeren werden durch Wegbeißen und
Verhungern entsorgt. Das Territorium ist Lebensmittel und wird keinesfalls mit
fremden Rudeln geteilt; wer es haben will, muss es kriegerisch erobern. Mit
dieser Gesellschaftsordnung hat das Viehzeug genau so lange überlebt wie wir.
Sie ist natürlich und sie ist vernünftig.
Schon seit langem überlieferte
Tatsache ist, dass wir Menschen so eine Gesellschaftsordnung nicht wollen.
Religionen sanktionieren Hilfeleistung und Unterstützung auch in Notzeiten,
verbieten Töten und Verweigerung von Nothilfe und wer meint, hier handle es sich
nur um eine Weiterentwicklung normalen vernünftigen Rudelverhaltens, der möge
sich mal mit dem 'heiligen Gastrecht' befassen; undenkbar bei den Viechern (wenn
es sich nicht gerade um läufige Weiber handelt)."
Kannst Du das
ausführen. Also bei aller Kritik, der christliche Glaube beauftragt doch eher
dazu, dass man den anderen helfen solle > Idee des Urchristentums.
[cry]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 23.
Okt. 2005, 09:31 Uhr
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Hallo Eberhard und Co,
da habt Ihr Euch ja mal wieder ein Thema vorgenommen,
an dem ich seit 15 Jahren arbeite. Meine Arbeitsergebnisse sind kurz
zusammengefasst:
Wenn der Mensch atmet, trinkt und isst, vollzieht er
Handlungen, die (vordergründig) dem Eigenwohl dienen, nämlich der
Selbsterhaltung des Individuums.
Und dann hörts praktisch schon auf und die
Tätigkeiten zum Nutzen des Gemeinwohls beginnen.
In der Kindheit ist es der
Schulbesuch und die Berufsausbildung, die im Interesse des Gemeinwohls liegen.
Später sind es das Balzverhalten (Discobesuche), der Geschlechtsverkehr und die
Brutpflege, die dem Gemeinwohl dienen, nämlich der Selbsterhaltung und
Selbstentfaltung der Gruppe oder Horde oder des Staats.
Das
Kinderzeugen,-kriegen und -aufziehen liegt nämlich nicht im Interesse des
Individuums, sondern im Interesse der Allgemeinheit, der Staates, der ohne
Kindernachschub nicht existieren kann.
Das Individuum hat allerdings etwas
Freiheit darüber, welche "Objekte" (Freud) es sich zum Beispiel als Partner
aussucht und mit welchen "Objekten" (also anderen Menschen) es seine
Brutpflegebedürfnisse befriedigt. An die Stelle der eigenen Kinder können andere
schwache Mitmenschen oder von Not betroffene Tsunamiopfer treten. Dann kommt
sich das Individuum genauso "gut" vor, als wenn es den eigenen Nachwuchs
durchbringt, und bezeichnet sein Verhalten als "ethisch". Derartige, vom
natürlichen Ursprung abgewandelte (am anderen Objekt befriedigte)
Verhaltenweisen, kann der Mensch auch ideologisieren, also eine Religion oder
eine weltliche Ideologie draus basteln.
Im Berufsleben ist der Mensch sowieso
als Effektor für seine Mitmenschen tätig.
Kurz: es gibt kaum menschliche
Verhaltenswiesen, die nicht dem Gemeinwohl dienen.
Verhaltensweisen, die dem
Gemeinwohl schaden, also aggressive Verhaltensweisen, sind die Ausnahmen, und
sind meist krankhaft und eben nicht gesund.
Im Prinzip ist der Mensch ein
Gemeinschaftswesen und alle seine Verhaltensweisen, soweit sie gesund sind,
dienen dem Allgemeinwohl.
Dem "Wohl" der Individuen dient also lediglich
die Krankheit, um es mal so richtig auf die logische Spitze zu treiben, auch
wenn das paradox klingt.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 23.
Okt. 2005, 10:32 Uhr
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Hallo Abrazo,
Deine Skizzierung der sozialen Ordnung, die bei den
gesellig lebenden höheren Säugetieren herrscht, ist von der bekannten und von
mit geschätzten deutlichen und drastischen Art.
Ich bin auf diesem
Gebiet zwar Laie, aber ich vermute einmal, dass die Menschen in ihrer Frühzeit
ähnliche soziale Strukturen besaßen: im Innenverhältnis streng hierachische
Strukturen entsprechend der Körperkraft und im Außenverhältnis Revierverhalten
mit Feindschaft gegen alles Fremde.
Dieses Muster bricht ja immer wieder
durch.
Ein zentraler Unterschied zwischen Wolfsrudel und Menschenhorde
besteht meines Erachtens darin, dass die Menschen in unvergleichlich stärkerem
Maße schöpferisch sind. Es ist sicher kein Zufall, dass die Prähistoriker die
Perioden der Menschheitsgeschichte nach den Erfindungen beim Werkzeugbau
einteilen (Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit etc.)
Mit dieser Kreativität
des Menschen geht eine unvergleichlich stärkere Dynamik der sozialen
Veränderungen einher.
Die Vorteile dieser Entwicklungen konnten nur
Gemeinschaften für sich nutzen, die in ihrem Verhalten nicht instinktgebunden
waren, sondern die Normensysteme besaßen, die sich den neuen Möglichkeiten
anpassten, deren soziale Ordnung also ebenfalls nicht statisch sondern dynamisch
waren.
Eine sich verändernde Gesellschaft und Umwelt bedarf der
fortlaufenden Erfindung neuer Institutionen und Regeln, wenn sie nicht
konkurrierenden Gemeinschaften unterlegen will.
Ich verstehe das Bemühen
um eine einsichtig begründete Moral und Rechtsordnung in diesem Zusammenhang.
Durch veränderte technische Möglichkeiten (Empfängnisverhütung, Erfindung neuer
chemischer Drogen, Gentechnologie, Wasserstoffbombe, globaler Verkehr und
Kommunikation usw. usf.) werden einerseits tradierte Normen hinderlich und
bedürfen der Korrektur und andererseits müssen neue Gefahren durch entsprechende
Normen entschärft werden.
Einen Sonntagmorgen ohne Sorgen wünscht allen
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 23.
Okt. 2005, 11:55 Uhr
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Hallo Eberhard,
zu meinem Beitrag #25 von heute früh, den Du anscheinend noch
nicht studiert hast, noch eine Ergänzung:
die von Dir angesprochene
Krativität ist tatsächlich ein wichtiger Unterschied zum Wolfsrudel, und auch
zur Primatenhorde.
Und der wichtigste kreative Akt, der den Affen zum
Menschen gemacht hat, war die Erfindung des Geldes.
Die von Euch so geliebte
Ethik ist leider nur ein ideologischer Überbau.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 23. Okt.
2005, 20:47 Uhr
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Hi, zusammen,
Dies kann bei vielen moralischen Fragen nicht intuitiv
geschehen, sondern erfordert einen besonderen Denkprozess bei der
Zusammenfassung und Gewichtung der zu berücksichtigenden Interessen.
Bitte
keine Klischees, Eberhard. Es gibt Leute, die mit dieser Begründung die Fahne
der Anarchie hissen. Ich entgegne dem, dass Ethik immer konkrete Situationen
beurteilt, die in unseren komplizierten Gesellschaften nur sehr wenigen direkt
vor Augen stehen. Schon aus diesem Grund ist die Entwicklung einer
gesamtgesellschaftlichen Moral unabdingbar. Die allerdings auf den an den
Urteilen der humanen Ethik erkennbaren Prinzipien basieren muss. Schließlich
kann man auch nicht verlangen, jeder potentielle Täter und jeder Richter solle
die Frage, ob eine Handlung strafbar ist oder nicht, von Art. 1 GG herleiten.
Auf der anderen Seite ist Mensch ein Tier mit menschlichem Potential. Das
menschliche Potential wird bekanntlich nicht immer verwirklicht. Eine
gesellschaftliche Moral muss also auch die Verwirklichung des menschlichen
Potentials als Norm setzen und gleichzeitig im Einzelfall nach den Ursachen
suchen, warum es hier nicht verwirklicht wurde bzw. sich nicht verwirklichen
konnte. In der Praxis sind das die Normen des Strafrechtes und die
Milderungsgründe.
Also bei aller Kritik, der christliche Glaube
beauftragt doch eher dazu, dass man den anderen helfen solle > Idee des
Urchristentums.
Da hat Multivista mich wohl missverstanden. Natürlich
gebieten Religionen Hilfeleistungen, nicht nur die christliche.
Das
Interessante an den Religionen ist jedoch nicht, was sie ge- und verbieten,
sondern warum sie geglaubt wurden. Es wurde wahrscheinlich zu allen Zeiten genau
so viel Stuss verbreitet wie heute. Das meiste davon wurde umgehend auf ewig
vergessen. Wieso einige Sachen nicht vergessen wurden, sondern jahrhunderte-
oder gar jahrtausendelang überlebten, ist eine imho nicht unwichtige Frage. Da
erzählt einer etwas, und Millionen Menschen finden, dass er recht hat und
glauben das. Fänden sie nicht, dass er recht hat, würden sie es auch nicht
glauben. Ich denke, das hat weniger mit Gott zu tun (an den kann man auf sehr
unterschiedliche Weise glauben oder auch nicht) sondern mit dem, was in der
jeweiligen Religion für (göttliches) Recht erkannt wird.
Es ist sicher
kein Zufall, dass die Prähistoriker die Perioden der Menschheitsgeschichte nach
den Erfindungen beim Werkzeugbau einteilen
Welche anderen handfesten
Fundstücke lagen ihnen denn vor, nach denen sie eine Einteilung hätten machen
können?
Womit ich keineswegs bestreite, dass die Erfindungen im Werkzeugbau
entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaften hatten. Wenn
einer erstklassige Faustkeile herstellen kann (wozu andere vielleicht auch keine
Lust haben), dann sind die Möglichkeiten, ihn zur Herstellung mit Gewalt zu
zwingen, begrenzt. Wurde und wird aber immer wieder versucht (siehe Sagen und
Märchen, z.B. Entführung Freias oder Rumpelstilzchen). Arbeitsteilung führt
jedoch zu besserem Erfolg, die begehrten Keile zu bekommen. Und dann ist auch
immer noch die Frage, ob human denkende Menschen zur Herstellung von Werkzeug
zwingen wollen.
Bei all diesen Überlegungen sollte man jedoch nicht
übersehen, dass es sehr viele verschiedene menschliche Gesellschaften gab und
gibt, die durchaus im Konflikt miteinander stehen können. Eine Erklärung also,
die funktioniert, wenn man eine Gesellschaft isoliert betrachtet, erklärt u.U.
überhaupt nichts mehr, wenn unterschiedliche Gesellschaften zusammen treffen.
Deswegen mein Hinweis auf das 'heilige' Gastrecht. Der Gast gehörte nicht zur
eigenen Gesellschaft - und stand trotzdem unter Schutz.
Das ist übrigens
Doc rudis Hauptproblem. Er tut immer so, als hätte es stets nur eine allgemeine
menschliche Gesellschaft gegeben. Tatsächlich gab es die nie.
Kurz: es gibt
kaum menschliche Verhaltenswiesen, die nicht dem Gemeinwohl dienen.
Das ist
bei Kriegen eine Frage der Sichtweise. Der Aggressor wird dir zustimmen, dass
seine Aggression dem Gemeinwohl dient. Der Verteidiger sieht das anders.
Und
inwiefern dienten Raubrittertum, Piraterie und Kreuzzüge dem Gemeinwohl? Oder
willst du behaupten, diese Leute seien alle krank gewesen?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 23.
Okt. 2005, 22:31 Uhr
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Hallo Abrazo,
ich möchte ein kleines Missverständnis klarstellen. Es gab und
gibt immer verschiedene menschliche lebende Systeme höherer Ordnung, die man zu
den Staaten rechnen kann. Ich habe nie behauptet, dass die alle auf dem gleichen
Entwicklungsstand sind, sondern nur, dass sie sich nach gleichen Regeln
verhalten. Ich habe im übrigen stets gesagt, dass es gleiche und divergierende
Interessen zwischen dem Individuum und dem Staat, in dem es lebt, gibt, und dass
sich das Individuum bei einer Handlung stets fragen sollte, ob die in seinem
Interesse oder im Interesse des Staats liegt.
Bei Kriegen ist es doch ganz
klar, dass nicht nur die Individuen des Staates, den Du als Aggressor bewertest,
sich im Interesse ihres Staats abschlachten lassen, sondern die Individuen des
sogenannten verteidigenden Staates kämpfen ebenfalls für die Interessen ihres
Staats, für dessen Erhaltung. Und dabei opfern sie sich genauso für die
Interessen des Systems höherer Ordnung, in dem sie leben. Beides ist aus der
Sicht des Individuums der gleiche Irrsinn. Das Individuum hat ein elementares
Interesse am Frieden. Wenn es sich an Angriffs- oder Verteidigungsaktionen
seines Staats beteiligt, handelt es gleichermaßen gegen sein individuelles
Interesse an seiner Selbsterhaltung. Und das ist ein Irrsinn, es ist
unvernünftig. Denn in einem anderen Staat, unter einer anderen Herrschaft,
könnte das Individuum genauso gut leben, vielleicht sogar noch besser.
Nun
sage ich auch stets, dass dies Aufopfern für den Staat die biologische
Verhaltensprogrammierung des Individuums ist, die ihren Sinn in der Evolution
der Gene hat. (Im konventionellen Krieg werden die männlichen Genträger des
Feindstaates eliminiert und mit den weiblichen findet eine Vermischung statt, so
dass neue Genkombinationen auftreten können). Im nuklearen Krieg ist das etwas
anders,
Und ganz besonders hat sich im Lauf der Geschichte geändert, dass das
Individuum sich immer mehr vom Staat distanziert und seine Eigeninteressen denen
des Staats, der Gemeinschaft, entgegensetzt. Heute gibt es mehr und mehr gesunde
Menschen, die ihre Eigeninteressen höher bewerten als das
Gemeinschaftsinteresse. Diese tun das bewusst und sind deshalb auch nicht krank.
Krankheit als Hinwendung zu sich selbst und Abwendung vom Gemeinwohl ist
hingegen ein unbewusster Vorgang, deshalb unbeeinflussbar durch den Willen und
insofern Krankheit.
Piraterie und Raubrittertum, wenn es den Handelnden um
ihre persönliche Bereicherung geht, sind Aktionen, in denen das Individuum (der
Raubritter) seine Eigeninteressen höher bewertet als die Interessen des Staats.
Insofern waren Raubritter fortschrittlich.
Die Kreuzzüge waren nun allerdings
eine Aktion der heiligen christlichen (katholische) Kirche, also eines Systems
höherer Ordnung mit einem gemeinsamen ideologischen Überbau ihrer Anhänger (in
diesem Fall einer religiösen Ideologie). Die Teilnehmer waren der Meinung, dem
Gemeinwohl zu dienen und haben in dieser Überzeugung, sich dem Gemeinwohl
unterworfen zu haben, die Menschen in Jerusalem und anderswo abgeschlachtet.
Natürlich mit gutem Gewissen. Das ist ja gerade die Funktion einer religiösen
Ideologie: dem Individuum das schlechte Gewissen zu nehmen, damit es guten
Gewissens andere Individuen ermordet.
Soweit meine Klarstellung.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 23. Okt.
2005, 22:53 Uhr
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Hi, doc rudi,
überzeugt mich nicht.
Danach wäre der vogelfreie Villon
entweder krank oder ein besonders fortschrittlicher Mensch gewesen?
Und
diejenigen Kreuzfahrer, die gar nicht nach Jerusalem, sondern einfach nur
ziemlich wahllos plündern wollten - und dabei mit den einheimischen Juden
anfingen und dann zum christlichen Byzanz übergingen - standen unter religiösem
Diktat?
Wie erklärst du Bürgerkriege?
und dass sich das Individuum bei
einer Handlung stets fragen sollte, ob die in seinem Interesse oder im Interesse
des Staats liegt.
Es fragt aber nicht. Allein schon deswegen, weil es in der
Regel gar nicht weiß, ob seine Handlung im Interesse des Staates liegt. Dafür
waren selbst die mittelalterlichen Gesellschaften schon viel zu komplex.
Nä.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
24. Okt. 2005, 01:43 Uhr
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Hallo miteinander!
Einer der „Knackpunkte“ des Gemeinwohlverständnisses
liegt wohl in diesen Sätzen aus Eberhards Eröffnungsbeitrag:
Quote:Die Frage, um die es geht, ist die Beziehung zwischen individuellem und
allgemeinem Interesse: Lässt sich aus der Zusammenfassung der individuellen
Interessen ein Gesamtinteresse gewinnen und wenn ja wie?
Oder ist es
verkehrt, von den Individuen und ihrem Wohlergehen bzw. Willen auszugehen? Muss
das Wohl des Volkes bzw. des Staates unabhängig davon bestimmt werden?
Die neuzeitlichen, vertragstheoretischen Entwürfe des gerechten Staates
(Hobbes, Locke, Rousseau) nehmen einen vorstaatlichen Zustand an, in dem es nur
Individuen ohne gegenseitige Verpflichtungen gibt. Besonders klar ist
diesbezüglich Hobbes. Seine Anthropologie geht von intelligenten Naturmaschinen
aus, die nur ihr eigenes Überleben und Wohlergehen interessiert, und das mit
einem Hang zur Maßlosigkeit. Was sie allein überzeugen kann, auf ihr
„natürliches Recht auf alles“ zu verzichten und sich einer souveränen
Staatsmaschine zu unterwerfen, ist die Einsicht, dass die uneingeschränkte
Freiheit aller in einen „Krieg aller gegen alle“ umschlägt.
Der
Freiheitsverzicht, den der Rechtszustand verlangt, wird also damit begründet,
dass nur er dem natürlichen Streben der Einzelnen (Kampf ums Überleben,
Steigerung von Sicherheit und Glück) zum Erfolg verhelfen kann. Wenn man hier
von einem „Gemeinwohl“ überhaupt sprechen mag, so liegt es allein darin, dass
alle Individuen weiterhin „sozialverträgliche Egoisten“ bleiben dürfen.
Für die kritische Rekonstruktion des Typs „Gemeinschaft“, den man „liberalen
Rechtsstaat“ nennt, ist der vertragstheoretische Ansatz m.E. einleuchtend, weil
das (bürgerliche) Recht egalitär von gleichen „Rechtssubjekten“ ausgeht, die
jeweils strategisch im eigenen Interesse handeln. Aber als anthropologisches
Modell und somit als Modell für jede Art von menschlicher Gemeinschaft ist er
natürlich wirklichkeitsfremd und absurd.
Es ist Unsinn, menschliche
Individuen als „Systeme“ zu konstruieren, deren elementares Motiv ihre
Selbsterhaltung und Selbststeigerung sei. Diese Idee konnte erst aufkommen, als
es vielfältig individualisierte Lebensformen und hinreichend große
marktwirtschaftliche Verbände gab, deren Grundeinheit der arbeitende und
konsumierende Einzelne ist (und dazu ein mechanistisches Naturverständnis).
Darum ist zumindest eine Differenzierung nötig zwischen
(ökonomisch-rechtlicher) „Gesellschaft“ einerseits und „Gemeinschaft“
andererseits und somit auch verschiedene Auffassungen von Gemeinwohl.
Das eine wäre das „abstrakte“ Gemeinwohl, bei dem ausgegangen wird von
Individuen mit konkurrierenden Interessen, zwischen denen ein Ausgleich gefunden
werden muss. Hier ist eigentlich nicht Gemeinschaft der Ausgangspunkt, sondern
die Konkurrenz, der Konflikt. Das Gemeinwohl muss erst noch
„verfahrenstechnisch“ gefunden werden (nach dem Modell des Rechtsstreits).
Das andere wäre ein „institutionelles“ Gemeinwohl, bei dem von
gemeinschaftlichen Lebensformen ausgegangen wird, deren Mitglieder sich ihrer
gegenseitigen Abhängigkeit und Verpflichtung bewusst sind. Hier existiert
bereits Gemeinschaft, sie prägt Lebensweise und Bewusstsein der Mitglieder. Was
erfahrungsgemäß nicht verhindert, dass zwischen den Mitgliedern fallweise
Interessenkonflikte auftreten.
(Das Beispiel mit der Wohngemeinschaft
weist eigentlich in diese zweite, „institutionelle“ Richtung, nur dass Eberhard
allein auf die Interessengegensätze eingeht, die bei einer einzelnen Gelegenheit
auftreten und nach Ausgleich verlangen. Der Umstand, dass die Mitglieder der WG
durch ihr Zusammenleben schon „vorgängig“ eine Gemeinschaft bilden, die von
Sympathie, Solidarität. Rücksicht, vielfältigem gegenseitigem Geben und
Nehmen... zusammengehalten wird, geht nicht in die Überlegungen ein.)
So weit erst mal.
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24.
Okt. 2005, 09:42 Uhr
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Hallo Urs u.a.,
nehmen wir uns mal die von Dir angeführten "neuzeitlichen"
vertragstheoretischen Entwürfe des gerechten Staats vor und prüfen ihre
Voraussetzungen: im vorstaatlichen Zustand gäbe es nur Individuen ohne
gegenseitige Verpflichtungen und die Staatsbildung sei ein Vertrag zwischen
diesen intelligenten Naturmenschen, der aus der Einsicht resultiert, die
Befriedigung des Vergrößerungsstrebens jedes Einzelnen führe zum Kampf jeder
gegen jeden.
Es wird also auf individuelle Selbstentfaltung verzichtet und
dafür Sicherheit der Überlebens, also Selbsterhaltungsgarantie, gewonnen. So
würde ich dies kurz übersetzen. Ein durchaus vorstellbarer Vertrag mit Vor- und
Nachteilen.
Nur: die Voraussetzungen, dass der Naturmensch (oder der
Jetztmensch) entsprechend bewusst gefassten Vorsätzen handelt und sich zu
Großgruppen zusammenschließt, stimmt meines Erachtens nicht.
Diesen
nichtgruppengebundenen Einzelmenschen gab es tatsächlich nicht, sondern schon
vor der Bildung von Staaten lebten die Menschen in Gruppen, Clans usw., eben wie
auch jetzt Primatenverbände. Der Gruppenzusammenhalt ergibt sich meines
Erachtens nicht aus rationalen Entscheidungen, sondern ist das Resultat
familiärer Verbundenheit, die auf angeborenen Verhaltensweisen der Brutpflege
beruht. Schon bei Primaten ist es so, dass sich nicht nur die Eltern um ihrer
persönlichen Kinder kümmern, sondern dass Aufgaben verteilt werden, einige
Individuen sich um die Kinder der Gruppe kümmern und andere Individuen andere
Aufgaben für die Gruppe übernehmen, zum Beispiel den Schutz nach außen
übernehmen usw.. In einem Verband von Primaten herrscht eben nicht ein "Krieg
aller gegen alle".
Aus meiner Sicht haben diese natürlichen Verhaltensweisen
in menschlichen Verbänden lediglich einen ideologischen Überbau erhalten. Dies
mag seinen Grund darin haben, dass die Anführer die Einsicht hatten, dass
derartige soziale Verhaltensweise für das Überleben der Gruppe vorteilhaft waren
und abweichende Verhaltensweise (zu starke Aggression innerhalb der Gruppe) sich
negativ auf den Gruppenzusammenhalt auswirken, so dass Regeln (religiös oder
vertraglich begründet) geschaffen wurden.
Dies scheint mir jedoch
nebensächlich zu sein, wenn ich wissen will, warum sich die Individuen daran
halten. Die Einsicht und die Angst vor Strafe (auf Erden oder im Jenseits) mögen
Faktoren sein, die Hauptrolle scheint mir jedoch die biologische Ausstattung des
Menschen zu spielen und nicht die rationale Einsicht. Der Mensch benötigt zum
Leben nämlich nicht nur Luft und Nahrung, sondern auch narzisstische
Befriedigung. Diese erhält er von seinen Mitmenschen. Das Lob und die
Bestätigung der Mitmenschen ist es also meines Erachtens, was das Individuum
dahin steuert, dass es in der Gruppe einen Platz einnimmt, den es auch gut
ausfüllen kann. Dies betrachte ich als biologische Steuerung, die auf das
Überleben der Gruppe zielt.
Deshalb beantworte ich die Frage, ob das
Gemeinschaftsinteresse sich sozusagen als Summe der Interessen der Individuen
ergibt, mit einem NEIN:
Das Gruppeninteresse ist etwas von Einzelinteresse zu
unterscheidendes. Das Gruppeninteresse ist sozusagen ein höherwertiges
Interesse, dem sich das Individuum unterwirft, indem es sich mit der Gruppe und
deren Normen identifiziert. Durch diesen Akt der Identifizierung nimmt es an den
Erfolgen der Gruppe (des Staates) teil, erhöht sein Selbstwertgefühl, erlangt
narzisstischen Gewinn und handelt im Konfliktfall (z.B. im Krieg) auch gegen
sein individuelles Überlebensinteresse.
So weit erst mal.
Aber noch ein
Ausblick: die Entwicklung geht dahin, dass das Individuum sich vom Gruppenwesen
zum Einzelwesen emanzipiert, also zum System Mensch wird, und sich Staaten
auflösen. Und dies setzt allerdings eine bewusste Entscheidung des Individuums
voraus: nämlich eine Entscheidung dazu, seine Selbstentfaltung im materiellen
Bereich einzuschränken und im geistigen Bereich fortzusetzen. Das ist der
Gesellschaftsvertrag der Zukunft: auf materielle Selbstentfaltung zu verzichten,
damit die Menschheit überleben kann.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt.
2005, 10:22 Uhr
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Hi, doc rudi,
die Entwicklung geht dahin, dass das Individuum sich vom
Gruppenwesen zum Einzelwesen emanzipiert, also zum System Mensch wird, und sich
Staaten auflösen.
Wie lauten deine Argumente gegenüber anderen Kulturen, die
genau diese Ansicht als Zeichen westlicher Dekadenz betrachten?
Und dies
setzt allerdings eine bewusste Entscheidung des Individuums voraus: nämlich eine
Entscheidung dazu, seine Selbstentfaltung im materiellen Bereich einzuschränken
und im geistigen Bereich fortzusetzen.
Auf welche Selbstentfaltung im
materiellen Bereich sollen die Menschen in Pakistan, Bangladesh, brasilianischen
Favellas und Schwarzafrika z.B. verzichten? Wie steht es mit der geistigen
Selbstentfaltung bei Menschen, die gerade mal den Hauptschulabschluss erreicht
haben und die für geistige Betätigung nicht allzu viel übrig haben, sondern sich
statt dessen in materieller Betätigung verwirklichen? Und wie steht es damit bei
denen, die gar nicht die Möglichkeit haben, Schulen zu besuchen?
Gruß
--------------------------------------------------------------------------------
Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 24.
Okt. 2005, 11:31 Uhr
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Hallo allerseits,
Urs plädiert in seinem Beitrag für eine Differenzierung
zwischen (ökonomisch-rechtlicher) „Gesellschaft“ einerseits und „Gemeinschaft“
andererseits, womit auch verschiedene Auffassungen von Gemeinwohl einhergehen.
Beim „abstrakten“ Gemeinwohl wird von konkurrierenden Interessen
ausgegangen, zwischen denen ein Ausgleich gefunden werden muss.
Beim
„institutionellen“ Gemeinwohl wird von gemeinschaftlichen Lebensformen
ausgegangen wird, deren Mitglieder sich ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und
Verpflichtung bewusst sind.
Diese Unterscheidung halte ich ebenfalls für
wichtig und In der deutschen Soziologie ist diese Unterscheidung ja seit langem
etabliert.
Die Familie ist danach eine gemeinschaftliche Gesellungsform,
die nicht aus Verträgen isolierter Individuen hervorgeht, sondern auf
gefühlsmäßigen Bindungen von Man und Frau, von Eltern und Kindern, von
Geschwistern untereinander beruht.
Ein anderes Beispiel für eine
Gemeinschaft ist der Stamm (bzw. die Ethnie) mit der je spezifischen Sprache
bzw. Mundart und Kultur, in den das Individuum hineingeboren wird und mit dem es
sich identifiziert („Wir“-Gefühl, Heimatverbundenheit, je eigene Trachten und
Hausformen etc.).
Die Frage ist, was daraus für die Bestimmung eines
normativ verpflichtenden Gemeinwohls folgt.
Konsequenzen hat die
Existenz derartiger Gemeinschaften auf jeden Fall für das Verständnis der
Individuen und ihrer Interessen im weitesten Sinne.
Der Einzelne hat
demnach nicht nur Interessen, die auf das eigene Wohlergehen gerichtet sind
(diese Interessen würde ich als „Eigeninteressen“ bezeichnen), sondern die
Interessen eines Individuums (deren Gesamtheit man zur besseren Unterscheidung
als „individuelle Interessen“ bezeichnen könnte) beziehen sich in Form von
Liebe, Sympathie, Mitleid oder Wohlwollen auch auf das Wohlergehen anderer
Individuen, seien es die eigenen Kinder, die eigenen Verwandten oder Freunde
oder aber auch Not leidende Fremde.
Allerdings können sie sich auch
negativ in Form von Neid, Eifersucht, Schadenfreude etc. auf Feinde oder
Konkurrenten beziehen.
Weil die Einzelnen nicht nur eigeninteressiert
sind, haben sie z.B. auch Interessen über ihren eigenen Tod hinaus und versuchen
durch entsprechende Vermächtnisse Einfluss auf das zu nehmen, was nach ihnen
kommt.
Insofern teile ich nicht die enge Sicht doc_rudis von den
Interessen der Individuen, wenn er schreibt: „Das Kinderzeugen, -kriegen und
-aufziehen liegt … nicht im Interesse des Individuums, sondern im Interesse der
Allgemeinheit, der Staates, der ohne Kindernachschub nicht existieren kann.“
(Ich habe im Übrigen immer Probleme, auf Deine Thesen einzugehen, doc_rudi,
weil Deine Theorie der Beschreibung und Erklärung, dessen, was ist, dienen soll,
während ich danach frage, wie die Verfahren der politischen Willensbildung
vernünftigerweise gestaltet sein sollten und wie sich die Bürger oder
Amtsinhaber verhalten sollen.
Die politische Theorie, um die es mir
geht, ist also handlungsanleitend und normativ, sie stellt nicht das positiv
Gegebene fest. Deshalb kann ich für meine Fragestellung auch wenig mit
Feststellungen anfangen wie: „Im Prinzip ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen
und alle seine Verhaltensweisen, soweit sie gesund sind, dienen dem
Allgemeinwohl.“)
Aber noch einmal zurück zu Gemeinschaft und
Gesellschaft. Ich teile die Auffassung, dass der Mensch seiner Natur nach ein
gesellig lebendes Wesen ist und starke soziale Bindungen besitzt, die in seine
individuellen Interessen eingehen.
Ich halte jedoch daran fest, dass es
unzulässig ist, ein die Individuen verpflichtendes Gemeinwohl unabhängig von
deren individuellen Interessen und deren individueller Einsicht zu behaupten.
Derartige Behauptungen entziehen jeglicher Diskussion die Grundlage.
Wenn die tatsächlichen Interessen und Überzeugungen eines Individuums als „nur
individuell“ abgetan werden und nicht mehr zählt, was dies Individuum an
Argumenten vorbringt, dann verwandelt sich der Wahrheitsanspruch gegenüber
diesem Individuum in einen bloßen Glaubens- und Gehorsamsanspruch.
Um es
in Parolen der Nationalsozialisten auszudrücken: Aus „Gemeinnutz geht vor
Eigennutz“ wird unversehens „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“, mit all
seinen mörderischen Konsequenzen.
Und es kommt zu der makabren Situation,
dass einem Deutschen vorgehalten wird, was „deutsch“ ist und was als „undeutsch“
oder „entartet“ zu bekämpfen ist.
Ich will hier niemandem derartige
Positionen unterstellen, sondern will anhand dieses krassen Beispiels nur
deutlich machen, dass „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“ (z.B. in Bezug auf ein
verpflichtendes Gemeinwohl) ein Geltungsanspruch ist, der von bestimmten
Individuen gegenüber anderen Individuen erhoben wird, und dass dieser Anspruch
auch nur interindividuell bzw. intersubjektiv als gültig eingelöst werden kann,
niemals jedoch über die Köpfe der beteiligten Individuen hinweg.
Es grüßt
Euch Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt.
2005, 12:31 Uhr
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Hi, zusammen,
Eberhard schrieb:
Ich halte jedoch daran fest, dass es
unzulässig ist, ein die Individuen verpflichtendes Gemeinwohl unabhängig von
deren individuellen Interessen und deren individueller Einsicht zu behaupten.
Der olle Pragmatiker fragt sich zunächst einmal: wer soll das denn behaupten
- sprich: setzt so eine Aussage nicht eine Diktatur voraus?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
24. Okt. 2005, 12:50 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Ich halte jedoch daran fest, dass es
unzulässig ist, ein die Individuen verpflichtendes Gemeinwohl unabhängig von
deren individuellen Interessen und deren individueller Einsicht zu behaupten.
(...)
Ich will hier (...) nur deutlich machen, dass „Wahrheit“ oder
„Richtigkeit“ (z.B. in Bezug auf ein verpflichtendes Gemeinwohl) ein
Geltungsanspruch ist, der von bestimmten Individuen gegenüber anderen Individuen
erhoben wird, und dass dieser Anspruch auch nur interindividuell bzw.
intersubjektiv als gültig eingelöst werden kann, niemals jedoch über die Köpfe
der beteiligten Individuen hinweg.
Diese Auffassung teile ich
ohne Abstriche. Und ich bin mir auch im Klaren darüber, dass die Begriffe der
„Gemeinschaft“ und des „Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile“
ideologisch missbraucht werden können. Nämlich dann, wenn „Gemeinschaft“ als
Naturbegriff verstanden wird, der sich auf eine gemeinsame Abstammung bezieht
(Familie, Clan, Stamm, Nation). Die Begriffe „Volk“ (urspr. „Haufe“,
„Kriegsschar“) und Ethnie (zurückgehend auf das „Ethos“, also die gemeinsamen
Lebensformen und Normen) sind diesbezüglich weniger verdächtig. Nur hat seit dem
Nationalsozialismus der Begriff des Volkes einen solchen naturalistischen
(rassistischen) Klang angenommen. Aber muss man posthum immer noch die
Definitionshoheit der Nazis anerkennen?
Wie dem auch sei, ich
verstehe Gemeinschaft nicht als Naturverband, sondern als Lebensform, die durch
die gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen der Mitglieder definiert ist.
Das ist etwas ganz anderes als eine faktische oder vermeintliche oder
ideologisch behauptete Verwandtschaft. Und es ist etwas anderes als bloß
"gefühlsmäßige Bindungen" ("Wir"-Gefühl).
Sicher: Ohne gewisse
anthropologische Voraussetzungen kommt man dabei nicht aus, insbesondere die,
dass Menschen bedürftige, soziale Wesen sind, die ohne irgendeine Form von
Gemeinschaft nicht existieren können. Diese Bedürftigkeit oder Abhängigkeit ist
eine Quelle der gegenseitigen Verpflichtung.
Das vertragstheoretische
Modell macht ja seinerseits auch gewisse Annahmen über die Natur des Menschen,
m.E. aber falsche. Und wenn man als „Basiseinheit“ das maßlos egoistische
Individuum annimmt (eine Art einzelgängerisches Raubtier wie bei Hobbes), bringt
man sich schon im Ansatz um die Chance, einen angemessenen Begriff von
Gemeinschaft zu bilden. Ein angemessener Begriff von Gemeinschaft muss m.E. die
Gegenseitigkeit der Beziehungen als nicht reduzibles normatives Prinzip
anerkennen. Das vertragstheoretische Modell aber reduziert Gemeinschaft auf die
Fiktion „atomarer“ Individuen. Darum bleibt auch das Gemeinwohl auf
„sozialverträglichen Egoismus“ beschränkt (vgl. auch Schopenhauers populäre
„Stachelschweine“).
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24.
Okt. 2005, 14:13 Uhr
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Hallo,
die Frage, ob der Staat Eigeninteressen hat oder sein Interesse eine
Summenbildung (nicht mathematisch, sondern als Übereinkunft gedacht, nehme ich
an) ist, beantworten Eberhard, Abrazo und Urs also im letzteren Sinn. Mein
Hauptargument für ein bestehendes Eigeninteresse des Staats ist der Krieg. Im
Krieg handelt meines Erachtens des Staat als solcher und nicht die Individuen,
und die Menschenopfer, von denen alle Beteiligten vorher wissen, und die
materiellen Opfer natürlich auch, liegen aus meiner Sicht nie im Interesse der
Individuen.
Das müsstet Ihr mir bitte einmal klar machen, wie Ihr Euch das
vorstellt, dass die Individuen auf eine solche Entscheidung kommen sollen, ihr
Leben und ihr Eigentum durch eine Kriegführung zu riskieren. Selbst wenn ein
sogenannter Sieg antizipiert wird und ein Zugewinn an Land für einen der
Kontrahenten, hat das Individuum davon gar nichts, weder im Sieger- noch im
Verliererstaat, falls es den Krieg überhaupt überlebt. Profitieren tun doch
höchstens der Staat oder irgendwelche Konzerne, die sich dabei etwas aneignen.
Da jedoch das Verlustrisiko stets beim Individuum liegt, kann ich nicht
nachvollziehen, mit welchen rationalen Argumenten ein Individuum für einen Krieg
votieren sollte. Da bitte ich um Aufklärung. Schon die Propagandamaschinerien
der Presse zeigen doch, dass die Individuen von etwas überzeugt werden sollen,
was gerade nicht in ihrem objektiven Interesse liegt. Es sind lediglich
archaische Gefühle, die die Individuen zum Krieg treiben und die durch
Propaganda verstärkt werden. Unter "Interesse am Krieg" verstehe ich jedoch
etwas anderes.
Der von mir intendierte "Gesellschaftsvertrag" schließt im
übrigen ein, dass nicht nur die Menschen der westlichen reichen Kulturen auf
materielle Selbstentfaltung verzichten müssen, sondern dass die Staaten der
armen Kulturen im Gegenzug auf ihre Selbstentfaltung durch Geburtenüberschuss
verzichten müssen, weil beides zu einer nicht länger tragbaren Belastung unserer
Umwelt führt.
Das beantwortet wohl die Frage von Abrazo, auf welche
Selbstentfaltung die Menschen in Schwarzafrika verzichten sollen. Und Deine
zweite Frage, was ich denen antworte, die die Entwicklung der Menschen vom
Gruppen- zum Einzelwesen als Dekadenz erleben, beantworte ich so: sie Erleben es
richtig. Die Dekadenz liegt darin, dass der westliche Einzelmensch so viel
Energie verbraucht, wie die Bewohner 1000 afrikanischer Dörfer. Deshalb ja mein
Appell an den westlichen Menschen, seine materielle Selbstentfaltung zu
begrenzen.
Darin besteht ja gerade ein Vertrag, dass jede Vertragspartei auf
etwas verzichten muss.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
24. Okt. 2005, 15:09 Uhr
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Hallo Rudi!
Dafür, dass Du Dich schon so lange mit dem Thema
“Gemeinwohl” beschäftigst, sind Deine Ausführungen doch recht konfus und
inkonsistent. (Z.B. ist recht unklar, in welchem Verhältnis die Selbsterhaltung
und Selbstentfaltung der Individuen zur Selbsterhaltung und Selbstentfaltung des
„Genträger“-Verbandes stehen. Ich sehe auch überhaupt nicht, wie sich ein
rechtlicher, also normativer Begriff wie der des Vertrages in einen biologischen
Kontext einfügen können soll.)
Aber grundsätzlich hat Dein
Sozial-Biologismus in meinen Augen starke Anklänge an die Nazi-Ideologie, in der
biologische Begriffe und Metaphern („Abstammung“, „Rasse“, „gesund“, „krank“,
„Volkskörper“, „Parasiten“, „artfremd“, „Entartung“, „Dekadenz“...) ins
Politische gewendet wurden.
Quote:Im Prinzip ist der Mensch ein
Gemeinschaftswesen und alle seine Verhaltensweisen, soweit sie gesund sind,
dienen dem Allgemeinwohl.
Dem "Wohl" der Individuen dient also lediglich
die Krankheit, um es mal so richtig auf die logische Spitze zu treiben, auch
wenn das paradox klingt.
Nun sage ich auch stets, dass dies Aufopfern für
den Staat die biologische Verhaltensprogrammierung des Individuums ist, die
ihren Sinn in der Evolution der Gene hat. (Im konventionellen Krieg werden die
männlichen Genträger des Feindstaates eliminiert und mit den weiblichen findet
eine Vermischung statt, so dass neue Genkombinationen auftreten können).
Solche Äußerungen rufen in mir eine frische Erinnerung wach. Nämlich
an das kranke Gewäsch des „Führers“, der noch in seinen letzten Tagen Sätze
absonderte wie: „Die sogenannte Menschlichkeit – das ist das Geschwätz der
Schweinepfaffen.“ – „Die Starken können sich nur behaupten, indem sie die
Schwachen und Minderwertigen vernichten. Ich selbst habe mir, diesem eisernen
Gesetz der Natur gehorchend, stets jedes Mitgefühl versagt. Die Affen z.B.
trampeln jeden Außenseiter als gemeinschaftsfremd tot. Was für den Affen gilt,
muss doch in erhöhtem Maße auch für den Menschen gelten.“ (zit. nach dem Film,
„Der Untergang“)
Allen Freunden des Biologismus und des Tiervergleichs
sollte bewusst sein, welche Abgrenzungsprobleme sie sich einhandeln...
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt.
2005, 15:44 Uhr
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Das müsstet Ihr mir bitte einmal klar machen, wie Ihr Euch das vorstellt, dass
die Individuen auf eine solche Entscheidung kommen sollen, ihr Leben und ihr
Eigentum durch eine Kriegführung zu riskieren.
Wessen Leben nicht
gesichert ist und wer kein Eigentum hat, riskiert auch nicht viel.
Er hat
aber die Chance, eine Menge zu gewinnen: für seine Angehörigen.
Siehe z.B.
die Schwarzafrikaner, die unter Lebensgefahr versuchen, über Marokko nach Europa
zu gelangen.
Siehe auch diverse Revolutionen.
Was is mit Bürgerkrieg?
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24.
Okt. 2005, 16:19 Uhr
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Hallo Urs,
auf Deine Abgrenzungsprobleme (Nazi-Rassenideologie und
Philosophie lebender Systeme) kann ich in diesem Zusammenhang nicht tiefer
eingehen. Was das Biologische anbetrifft, ist die Rassenideologie
widernatürlich, weil die Evolution Fortschritt durch Mischung erzielt und
Reinrassiges zu Verblödung führt. Du übersiehst jedoch offensichtlich die
historische Dimension meiner Philosophie, die nämlich zum Ergebnis kommt, dass
Staaten misamt der genetischen Evolution durch die geistige Entwicklung der
Menschen, also die Wissenschaften, überflüssig geworden sind. Sie sind überholt.
Der Biologismus ist nur gut zur Erklärung der Vergangenheit, nicht der Zukunft.
Im übrigen sind biologische Wurzeln menschlicher Handlung nicht dadurch nichtig,
dass man sie verleugnet. Man sollte ihnen ins Auge sehen und sie genauer
beschreiben. Das tue ich und komme zum Ergebnis, dass es sich um zielorientierte
Regelkreise handelt, die unser Handeln über unangenehme Gefühle beim Abweichen
von Sollwerten und angenehme Gefühle bei Annäherung an die Sollwerte steuern.
Deshalb ist der Biologismus nur das Eine, das Andere die Kybernetik und die
Tiefenpsychologie.
@Abrazo: "Wessen Leben nicht gesichert ist und wer kein
Eigentum hat, riskiert auch nicht viel. Er hat aber die Chance, eine Menge zu
gewinnen: für seine Angehörigen. Siehe z.B. die Schwarzafrikaner, die unter
Lebensgefahr versuchen, über Marokko nach Europa zu gelangen." Diese Aktionen
sind verzweifelte Taten von Individuen, die ihre Selbsterhaltung (und die ihrer
Familien) in ihrer Heimat nicht sichern können. Und eben kein Krieg.
Selbst
wenn man, wie ihr, annimmt, dass eine Situation von Massenarmut dazu führen
kann, dass sich in einem Staat eine allgemeine Kriegsstimmung ausbreitet und zu
einer Entscheidung zum Krieg führen könnte, trifft das tatsächlich nicht auf die
großen Kriege des letzten Jahrhunderts zu. Deutschland befand sich 1918 und 1938
eben nicht in einer Massenarmut, sondern in einem wirtschaftlichen Aufschwung.
Wenn die Massen hungern, also ihre Selbsterhaltung nicht gesichert ist, führt
das nicht zu Krieg, sondern zu Revolution oder Bürgerkrieg - oder zu
Massenauswanderung. Aber nicht zu Krieg. Zum krieg entscheidet sich kein
Individuum, weil der Frieden Voraussetzung für seine Entwicklung ist.
Inzwischen gibt es zum Glück auch eine "Einwanderung" von Arbeitsplätzen in
"Billiglohnländer". Im Grunde ist diese "Globalisierung" ein Zeichen dafür, dass
meine These, Staaten würden sich auflösen, sich in der Praxis als richtig
erweist. Diese Wanderungsbewegungen von Menschen und Arbeitsplätzen machen
Staaten und Kriege überflüssig. Das nur nebenbei.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 24.
Okt. 2005, 18:22 Uhr
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Hallo Eberhardt ...
"Ist es auch dann noch berechtigt, vom "Wohl des
Ganzen" zu reden, wenn nicht alle Gruppen der Bevölkerung unter
Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit gleich stark zu leiden haben? " Eberhard
Fällt Gesamtwohl, dass mittels Innenpolitik unterschiedlichen
Bevölkerungsgruppen dargestellt wird, notwendigerweise mit den Interessen jeder
dieser Bevölkerungsgruppen zusammen? Wäre dem so, ist der Staat, ist
Parteienpolitik jene Unternehmung, welche die Interessen unterschiedlicher
Bevölkerungsgruppen sich einverleibt. Dagegen steht (noch) der demokratische
Staat, deren Parteien - wie diese sich in Deutschland etwa als Volksparteien
(bisher) präsentieren - (noch) unterschiedliche Interessen der
Bevölkerungsgruppen repräsentieren.
Sind die Repräsentanten der
sogenannten Volksparteien sich jedoch einig, dass Gemeinwohl nicht mehr aus
unterschiedlichen Interessen der Bevölkerungsgruppen resultiert, dass vielmehr
dass Einzelinteresse einer Gruppe höher gestellt wird als die Interessen anderer
Bevölkerungsgruppen: verändert sich dann nicht die staatliche Repräsentation?
Mit dieser, etwa auf der parlamentarischen Ebene vollzogenen Veränderung, welche
sich nicht notwendigerweise mit dem Wechsel des politischen Personals vollziehen
muss, verändert sich notwendigerweise der I n h a l t dessen, dass
beispielsweise mit dem Begriff des Allgemeinwohl ausgegeben wird.
Der
Inhalt, die Zielsetzung, etwa von Innenpolitik kann sowohl aus nationalen
Interessen (gespeist etwa von völkischen Anhängern der Rassenlehren) wie auch
aus internationalen Interessen (gespeist etwa von liberalen Vertretern globaler
Marktauffassungen) resultieren. Beiden Interessengruppen, der Gesellschaft
antagonistisch sich präsentierend, ist ein Mittel um ihre jeweiligen Interessen
- stets im Namen des Gemeinwohls - umzusetzen: dass Staatsgefüge. Ist mit der
Eroberung des Staates von Seiten absolut gesetzten Einzelinteresses (egal ob in
nationalen und/oder internationalen Spielarten sich manifestierend) überhaupt
noch möglich im Namen des Wohl des Ganzen zu handeln? Doch wohl verbindlich nur
dann, wenn den von staatlich-verabsolutierten Zielrichtungen ausgehenden
verabsolutierenden Einzel-Interesse das Kunststück gelingt, die Anderen - d.h.
jenen denen nicht das, etwa den Staat verabsolutierende Handlungsvermögen
gegeben - zu überzeugen, dass die favorisierte Zielrichtung mit dem
Allgemeinwohl identisch ist. Wird davon ausgegangen, dass es kein metaphysisches
und kein politisches Ausserhalb jenes Staates mehr gibt: Lässt sich, erscheint
das verabsolutierte Einzel-Interesse auch der Allgemeinheit als Allgemeinwohl,
überhaupt noch entscheiden, ob dieses Sein berechtigt ist, mit dem Begriff des
Wohl des Ganzen zu argumentieren?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 24. Okt.
2005, 19:07 Uhr
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on 10/24/05 um 18:22:45, philoschall wrote:Ist mit der Eroberung des Staates
von Seiten absolut gesetzten Einzelinteresses (egal ob in nationalen und/oder
internationalen Spielarten sich manifestierend) überhaupt noch möglich vom Wohl
des Ganzen zu reden? Doch wohl verbindlich nur dann, wenn .... das Kunststück
gelingt, die Anderen zu überzeugen, dass die favorisierte Zielrichtung mit dem
Allgemeinwohl identisch ist. ... Lässt sich ... überhaupt noch entscheiden, ob
dieses Sein berechtigt ist, mit dem Begriff des Wohl des Ganzen zu
argumentieren?
:-) Hallo philoschall und Interessierte
Ein Beispiel gefällig? Im Bewusstsein, dass Partikulärinteressen in der Praxis
meist solche einer Monderheit sind, lässt sich das Allgemeininteresse in der den
Namen verdienenden Demokratie in etwa wiefolgt formulieren: "Respektiere
diejenigen Minderheiten, die dieses Allgemeininteresse nicht missbrauchen".
Vorlaut wie meist formuliere ich auch gelich noch eine zugehörige Regel:
"Allgemininteresse ist nur, was sich selbst einschränkt"
Es git z'Nacht!
--- Euer hungrige Alltag [cheesy]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt.
2005, 19:29 Uhr
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Hi zusammen,
also - dat wird mir mal wieder zu theoretisch.
Da hätten
wir zunächst mal den Einzelnen (ggf. mit Familie) und dann noch den Staat. Und
wat is mit z.B. Köln?
Der Kölner an sich lebt in einer von hohen
virtuellen Mauern umgebenen Stadt in einer Gesellschaft, mit der er Sprache,
Mentalität und Lebensart teilt und aus der ihn so leicht kein Deuvel erus
kriegt. Wenn es sein muss, geht er da auch 'ze Fooss' hin - bitte wörtlich zu
nehmen: die haben das nach dem Krieg gemacht, obwohl die Stadt quasi unbewohnbar
kaputt war. Warum? Wegen der Leute. Wegen der Gemeinschaft, die im Wesentlichen
jedem Kölner garantiert, dass er so leben kann, wie es ihm passt. Andere
Gesellschaften garantieren das nicht, folglich will er da auch nicht rein.
Insofern sind ihm Globalisierung, Absterben des Staates und Weltgemeinschaft
egal, solange Köln bleibt, wie es ist. Es ist davon auszugehen, dass es eine
Menge Gesellschaften gibt, die diese Auffassung teilen. Will sagen: es gibt ein
Gesellschaften konstituierendes Element, und das ist die gemeinsame Kultur. Sie
ist die eigentliche Behausung einer Gesellschaft. Eine Behausung, an der man
hängt und die man freiwillig nicht verlässt. Andere Gesellschaften haben andere
Behausungen, kein Problem, sollen sie, aber in unseren Kram hat keiner
reinzureden. Wir reden im Gegenzug anderen auch nicht rein. Das ist
Gesellschaft, wie sie im wirklichen Leben statt findet. Wie, doc rudi, erklärt
denn deine Theorie diese Unterschiede zwischen den Gesellschaften? Wie erklärst
du, dass im Zweckverband Deutschland Bayern und Kölner die Preussen nicht
ausstehen können und Hamburger und Schwaben nur mit Grausen an das Rheinland
denken?
Die Regionen sind gewachsen, in langer Geschichte, nicht von
außen genormt. Und deswegen, wenn eine Region einen hohen Integrationsgrad hat,
ist sie von außen weder beherrschbar noch regierbar. Nichts von alledem ist zu
erfassen, wenn man sich auf die Sicht Individuum einerseits und Staat
andererseits beschränkt - und in Interessen immer nur materielle Interessen
sieht. Klar, wenn die dauerhaft nicht gesichert sind, kann sich keine
Gemeinschaft entfalten. Aber sobald die elementaren Lebensbedürfnisse gesichert
sind, bekommt Mensch ganz andere Gelüste - kulturelle. Wobei zu den kulturellen
Gelüsten regionalspezifisch durchaus auch die Lust zählt, sich beim Straßenfest
am Bierstand volllaufen lassen zu können - in trauter Gemeinschaft mit bisher
unbekannten Leuten, die dennoch erkennbar zu dieser Gesellschaft gehören.
In solchen fest gefügten Gesellschaften ist das Gemeinwohl bestimmt durch
das gemeinsame Wohl. Und das gemeinsame Wohl ist, unbehelligt durch fremde
Einflüsse sein Leben so zu führen, wie man es führen möchte. Dazu gehören die
anderen, die Leute, die Gesellschaft. Ohne die kann der Einzelne das Leben, das
er führen will, nicht führen. Auf sie legt er also Wert, auch wenn er sie gar
nicht kennt und auch nie kennen lernen wird. Von der Politik seiner Gesellschaft
erwartet er, dass sie seinen Lebensraum schützt, pflegt, bewahrt und verbessert,
ohne ihm das Charakteristische zu nehmen. Tut sie das nicht, wird er sauer,
wählt sie ab, stellt sich stur und streikt (auch die Preussen scheiterten an
Köln) oder - führt eben doch Krieg. Z.B. wie die Kölner im Mittelalter, um ihren
Erzbischof dauerhaft aus der Stadt zu werfen und sich statt dessen in einer
Republik selbst zu regieren. M.E. ein legitimes und nachvollziehbares Interesse,
und wenn es noch so sehr dem Interesse des theoretisch angenommenen isolierten
Individuums widerspricht.
Was man übrigens auch im Großen erkennen kann:
die Deutschen wollten mehrheitlich keine Amerikanisierung und keinen
Neoliberalismus, keine an der Wirtschaft ausgerichtete Individualisierung, nix
Mobilität, nix Unabhängigkeit von familiären und sonstigen Bindungen - also wird
dat nich gewählt. Vernünftige Argumente hin, vernünftige Argumente her. Was
heißt hier Vernunft? Vernunft ist das, was wir wollen. Basta. Was der gut
baiuwarische Stoiber mit sicherem Instinkt blitzschnell erkannt hat: der kennt
seine Bayern - mir san mir.
Leute, wat sollen wir hier groß herum
philosophieren, wenn wir dabei die halbe Wirklichkeit vergessen? Oder hat euch
einer damit beauftragt, als Nachfolger Platons den idealen theoretischen Staat
in Wolkenkukucksheim zu entwerfen? Wer will denn den?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24.
Okt. 2005, 21:07 Uhr
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ja Abrazo,
eine interessante Aufgabe, so ein überschaubares Mittelding
zwischen Individuum und Staat wie Köln zu untersuchen. Köln und andere Orte
haben eine hohe Integrationskraft, und das gerade wegen ihrer Offenheit für
Fremde. Vielleicht hat mich das auf die Idee gebracht, dass ein wichtiges
Merkmal für eine lebendes System die Offenheit, also die Durchlässigkeit in
beide Richtungen, ist. Den Köllnern war es, glaube ich, egal, ob sie französisch
oder preussisch oder deutsch regiert wurden, ich glaube für das eine oder andere
hätten sie nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Dass sie einen Erzbischoff
vertrieben haben, wusste ich noch nicht. Wenn die unter seinem religiösen
Aberglauben leiden mussten, hatte er das sicher verdient. Der Köllner lässt sich
auch keine religiösen oder sonstigen Denkvorschriften machen. Stadtluft macht
frei, war ja der Grundgedanke der Städtebildung im Mittelalter. Die eigene
Gerichtsbarkeit mit der öffentlichen Gerichtsverhandlung auf dem Marktplatz
sowie der öffentlichen Exekution der Urteile gehörte zum Stadtrecht. Einerseits
Stadtmauer (Grenze des Systems), andererseits Offenheit (Durchlässigkeit der
Grenze), und innen eine Strenge Ordnung (Zünfte), in der jeder einen Platz
hatte. Hättest Du nicht Lust, dieses interessante Thema zu vertiefen? (ich kann
doch nicht alles selbst machen)
Eins ist jedenfalls klar: der von mir
prognostizierte Tod des Systems Staat als außenpolitisch handelndes System
berührt nicht die regionalen selbstorganisierten Einheiten, die das
Zusammenleben der Menschen organisieren.
Köln bleibt Köln.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 24.
Okt. 2005, 21:16 Uhr
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Hallo zusammen,
"Allgemininteresse ist nur, was sich selbst einschränkt"
Alltag
Richtig, dass trifft auf das im ersten Abschnitt Gesagte zu:
"Dagegen steht der demokratische Staat, deren Parteien - wie diese sich in
Deutschland etwa als Volksparteien präsentieren - unterschiedliche Interessen
der Bevölkerungsgruppen repräsentieren."
Trifft das auch noch zu - und
darauf beziehen sich meine Fragen - wenn Gemeinwohl auf staatspolitischer Ebene,
etwa mittels Innenpolitik auftritt, die ihren Impuls aus verabsolutierenden
Einzelinteresse bekommt, d.h. solches das sich über Gemeinwohl der Gesellschaft
hinwegsetzt? Wenn verabsolutierendes Einzelinteresse in nationaler oder/und in
internationaler Staatlichkeit auftritt, ist dann die produktive Entfaltung
gesellschaftlicher Einzelinteressen nicht be- bezw. sogar verhindert?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 24. Okt.
2005, 22:05 Uhr
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on 10/24/05 um 19:29:49, Abrazo wrote:.....
Was man übrigens auch im
Großen erkennen kann: die Deutschen wollten mehrheitlich keine Amerikanisierung
und keinen Neoliberalismus, keine an der Wirtschaft ausgerichtete
Individualisierung, nix Mobilität, nix Unabhängigkeit von familiären und
sonstigen Bindungen - also wird dat nich gewählt. Vernünftige Argumente hin,
vernünftige Argumente her. .....
....
Oder hat euch einer damit
beauftragt ... den idealen theoretischen Staat in Wolkenkukucksheim zu
entwerfen? Wer will denn den?
:-)Hallo philoschall,
hat
Abrazo (im ersten zitierten Abschnitt) die Antwort nicht schon gegeben? "alos
wird dat nich gewählt"
Das Wählen gehört halt auch zur Demokratie! Und, je
mehr picken, desto eher werden Körner gefunden.
:-)Hallo Abarazo,
Na wir (ich denk das gilt auch für die Kölner) sind doch alle unseren eigenen
Auftraggeber! Und Du scheinst ja Dein Wolkenkuckucksheim schon gefunden zu
haben. --- Sorry es ist spät!
Danke & Gruss --- Euer müder Alltag [ohwe]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt.
2005, 22:24 Uhr
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Hi, doc rudi,
Den Köllnern war es, glaube ich, egal, ob sie französisch
oder preussisch, deutsch oder amerikanisch regiert wurden, ich glaube für das
eine oder andere hätten sie nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt.
Du
unterschätzt anscheinend eine wichtige Voraussetzung für eine funktionierende
Regierung: die Leute, die sie regieren will, müssen sich auch von ihr regieren
lassen (in diese Rubrik gehört der Ausdruck 'das ist politisch nicht
durchsetzbar'). Das ist keinesfalls selbstverständlich, wenn auch das
preussische Staatsbewusstsein (dessen Staatsbegriff an uns klebt wie ein
ausgelutschter Kaugummi) dies als selbstverständlich ansieht. Der Kölner
betreibt den Widerstand traditionell über die Verweigerung (er kann aber auch
anders, wie diverse blutige Aufstände im Laufe der Geschichte bezeugen - nicht
umsonst gehören nebst Prinz und Jungfrau auch der wehrhafte Bauer mit dem
Dreschflegel zum Dreigestirn, hat alles seinen tieferen Sinn). Irgendwann aber
ist Schluss mit Verweigerung. Dann zeigt sich die Geschlossenheit einer
Gesellschaft an der Unmöglichkeit, ihre Widerstandskämpfer, außer per Zufall
oder intensiver teurer Fahndung zu erwischen. Siehe algerischer Befreiungskrieg
und siehe auch Irak - oder auch Vietnam. Real existierende Gesellschaften
existieren nicht nur, sie handeln auch. Durch einzelne Mitglieder zwar, die aber
pars pro toto handeln - und von ihrer Gesellschaft gedeckt werden. Ebenso wie
Rechtsbruch kollektiv gedeckt wird - zu sehen an Subkulturen in unserer
Gesellschaft.
Dass sie einen Erzbischof vertrieben haben, wusste ich noch
nicht. Wenn die unter seinem religiösen Aberglauben leiden mussten, hatte er das
sicher verdient.
Du verstehst es nicht. Köln ist katholisch bis ins Mark.
Wegen Religion haben sie den nicht vertrieben - sie haben den regierenden
Fürsterzbischof durch die Vertreibung entmachtet, und zwar dauerhaft.
Wenn du Gesellschaften studierst, solltest du dich mal um die Freien
Reichsstädte kümmern. Und um ihre tatsächlich hermetische Abgeschlossenheit nach
außen - zwecks Erhalt der republikanischen Freiheit. Freie Reichstädte waren
selbstständig agierende politische Kräfte, Mitglieder des Reichstages,
wahlberechtigt bei der Kaiserwahl. Machtfaktoren, denn sie hatten das Geld.
Trieben internationale Politik und Diplomatie, konnten Kriege führen oder sich
Kriegen verweigern und kümmerten sich den Deuvel um gesamtstaatliche Normen. An
den Freien Reichsstädten des Mittelalters und der frühen Neuzeit kann man
studieren, was eine Gesellschaft und was Gemeinwohl ist, gelebtes, gewachsenes
und kollektiv gewolltes Gemeinwohl, kein normiertes und verordnetes. Wer nur das
Individuum und den Staat sieht, weiß gar nicht, was eine menschliche
Gesellschaft, was Gemeinwille eigentlich ist.
der von mir prognostizierte
Tod des Systems Staat als außenpolitisch handelndes System berührt nicht die
regionalen selbstorganisierten Einheiten, die das Zusammenleben der Menschen
organisieren.
Jut. Dann hammer wieder Kleinstaaterei mit Zollgrenzen. Und?
Was soll das? Nennste das Fortschritt und Zusammenwachsen der Systeme? Ich sehe
die Entwicklung eher gegenläufig - theoretisch gewolltes Zusammenwachsen vs.
praktisch durchgeführte Differenzierung. Schau dir doch mal den Ostblock an. Wo
lösen sich da die Staaten auf? Wat sich aufgelöst hat, war die Sowjetunion.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von hedgi am 24. Okt.
2005, 22:37 Uhr
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Hi doc rudi
Quote:Im vorstaatlichen Zustand gäbe es nur Individuen
ohne gegenseitige Verpflichtungen und die Staatsbildung sei ein Vertrag zwischen
diesen intelligenten Naturmenschen, der aus der Einsicht resultiert, die
Befriedigung des Vergrößerungsstrebens jedes Einzelnen führe zum Kampf jeder
gegen jeden.
Gemäß Rousseau könnte der Mensch sich aus einem
glücklichen Naturzustand heraus entwickelt haben, woran er vermutlich selbst
nicht so richtig dran geglaubt haben wird. Erst der geschlossene
Gesellschaftsvertrag brachte die heute uns bekannten Nachteile, wie Entstehung
des Eigentums, einer Obrigkeit und der damit verbundenen Willkür, mündeten in
die Staatenbildung.
Quote:Aber noch ein Ausblick: die Entwicklung
geht dahin, dass das Individuum sich vom Gruppenwesen zum Einzelwesen
emanzipiert, also zum System Mensch wird, und sich Staaten auflösen. Und dies
setzt allerdings eine bewusste Entscheidung des Individuums voraus: nämlich eine
Entscheidung dazu, seine Selbstentfaltung im materiellen Bereich einzuschränken
und im geistigen Bereich fortzusetzen. Das ist der Gesellschaftsvertrag der
Zukunft: auf materielle Selbstentfaltung zu verzichten, damit die Menschheit
überleben kann.
Das Eigentum und wer zur Obrigkeit gehört, genießt
zweifelsfrei Vorteile, die nur durch einen Staatsapparat auf Dauer garantiert
werden können. Deshalb kommst du nicht um die Antwort herum, warum sollte ein
Profiteur auf all seine Vorteile verzichten, die er noch nicht einmal selbst
verteidigen muss, weil das ein Staatsapparat mit seiner Polizei und dem Militär
das für ihn besorgt.
Es gab schon öfters Utopien, die uns das Paradies
auf Erden versprachen, wenn wir, ….. uns entsprechend verhielten.
Aus
bisheriger ethnologischer Forschung ist uns bekannt, eine Gesellschaft mit neuen
Verhaltensweisen kann alte Gesellschaftsformen nur verdrängen und danach
fortbestehen wenn sie den bisherigen gegenüber ökonomisch sowie kulturell
überlegen ist. Aber materielle Selbstentfaltung einiger ist ohne ökonomische
Stärke ausgeschlossen. Wie wir heute wissen, ist es nicht erforderlich, dass
sich alle materiell entfalten können. Der Masse ist es vorbehalten, dafür zu
sorgen, dass die wenigen der Oberschicht es können. Aber eine Gesellschaft ohne
staatliche Zwangsorganisation wird kaum ökonomische Stärke entwickeln. Das ist
das Prinzip der Arbeitsteilung seit der Mensch in größeren organisierten
Verbänden lebt. An der Tatsache, dass die große Masse Werte schafft und eine
herrschende Schicht diese Werte konsumiert oder einfach nur besitzt, hat sich
seit Beginn der Menschheitsgeschichte nichts geändert. Es müsste also ein
bedeutender qualitativer Umbruch in der Gesellschaft stattfinden.
Was
müsste nun deiner Ansicht nach der Auslöser solch einer Entwicklung sein, und
worin liegt die Überlegenheit einer solchen Organisation gegenüber der uns heute
Bekannten?
hedgi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 24. Okt.
2005, 23:01 Uhr
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Hi, hedgi,
Erst der geschlossene Gesellschaftsvertrag brachte die heute
uns bekannten Nachteile, wie Entstehung des Eigentums, einer Obrigkeit und der
damit verbundenen Willkür, mündeten in die Staatenbildung.
Ehm - mal
überlegen: welche Verträge hat Herr Hund abgeschlossen? Irgendeinen muss er ja
wohl abgeschlossen haben, denn da er sein Eigentum sorgfältig hütet, muss das ja
irgendwie gesellschaftlich vertraglich entstanden sein.
;-)
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24.
Okt. 2005, 23:07 Uhr
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Hi Abrazo,
ich sagte bereits, dass ich mich nicht um alles kümmern kann.
Kümmere Du Dich doch um die freien Reichsstädte. Ich kann nur sagen: wer sich
abschottet, geht unter. Voraussetzung für Leben ist die Offenheit.
Das Geld
hatten mal die Fugger und die Welser, wenn ich mich richtig erinnere. So ähnlich
wie heute die Banken. Deshalb hatten die bei der Kaiserwahl eigentlich das
Sagen. Der Strippenzieher bleibt gern im Hintergrund.
Ich weiß also nicht,
was Gemeinwille eigentlich ist. Du hast recht. Ich weiß es nicht. Also sag es
mir mal.
Staaten haben sich nicht nur im Ostblock aufgelöst, was Du bei der
UdSSR registriert hast, bei Jugoslawien aber übersehen hast, sondern auch im
Westblock: einige westeuropäische Staaten haben sich bereits in eine höhere
Einheit mit einheitlicher Währung zum Teil aufgelöst, wobei kleinere Einheiten,
wie z.B. Bayern, nach meiner Prognose mehr Kompetenz in der Regelung ihrer
regionalen Angelegenheiten bekommen werden. Aber eben keine Kompetenz zur
Kriegserklärung. Auch Deutschland wird nie wieder einen Krieg erklären, es nimmt
jetzt schon an Kriegen, also an bewaffneten Friedenseinsätzen, der Nato teil,
hat an die Kompetenzen abgegeben.
Warum meinst Du, Zollgrenzen würden wieder
eingeführt werden? Du unterstellst gern etwas, was Du dann kritisierst. Die
Entwicklung geht vorwärts und Zollgrenzen werden wir schon deshalb nicht wieder
bekommen, weil der Konzern, der in China seine Klamotten produziert und in Köln
verkaufen will, den Kölnern was hustet, wenn die wieder Zölle einführen wollen.
Die würden dann im übrigen sogar nach Düsseldorf zum Einkaufen fahren.
Der
Kölner würde sich höhere Preise in Köln gar nicht bieten lassen.
Ich studiere
übrigens nicht Gesellschaften, sondern das Individuum und meine, dass in Zukunft
die jetzige bröckelnde Macht der Staaten durch die Macht der Individuen ersetzt
werden wird.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
24. Okt. 2005, 23:37 Uhr
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*seufz*
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 24.
Okt. 2005, 23:51 Uhr
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Hi hedgi,
Du meinst: "An der Tatsache, dass die große Masse Werte schafft
und eine herrschende Schicht diese Werte konsumiert oder einfach nur besitzt,
hat sich seit Beginn der Menschheitsgeschichte nichts geändert."
Dies sehe
ich in mehrerer Hinsicht anders. Unsere materiellen Werte, darunter verstehe ich
unsere technischen Errungenschaften: Auto, Flugzeug, Fernsehen, Computer,
Internet usw. sind nicht von der Masse geschaffen worden, sondern von einzelnen
Menschen, von Individuen, nämlich von denen, die Ideen hatten. In diesen Werten
stecken weiterhin deren Ideen. In meinen Augen sind jedoch die Erfinder und die
Ingenieure die Schöpfer der materiellen Werte. Konsumiert und benutzt werden
diese Werte wiederum von den Individuen und nicht nur von der herrschenden
Schicht. Und mit seinen Kaufentscheidungen für das eine oder andere Produkt
entscheidet das Individuum, welche Waren wo produziert werden.
Die große
Masse der Arbeiter, die in der Produktion beschäftigt ist, wird mehr und mehr
als Produzent überflüssig, weil deren Tätigkeit durch Maschinen ersetzt wird.
Das Individuum wird immer weniger als Produzent benötigt und immer mehr als
Konsument. Die herrschende Schicht ist als Konsument viel zu klein, um die
Wirtschaft in Schwung zu halten. Aus diesem Grund hat die von Dir so genannte
herrschende Schicht ein objektives Interesse daran, der Masse die finanziellen
Möglichkeiten zum Konsum zu geben. Schon jetzt ist es fast so, dass den
arbeitslosen Hartz4-Empfängern fast mehr Geld zur Verfügung gestellt wird, als
der arbeitenden Bevölkerung. Zu diesem Thema ist die Lektüre der heutigen
Spiegel-Ausgabe sehr zu empfehlen.
Die Staaten erweisen sich als völlig
inkompetent, die Probleme des Marktes zu lösen, weil sie den Individuen keine
Vorschriften bezüglich ihres Aufenthaltsortes und den Firmen keine Vorschriften
über ihren Produktionsort machen können. Die Staatsgrenzen verlieren ihre
Bedeutung und dementsprechend auch Kriege zur Veränderung von Staatsgrenzen.
Wichtig ist die Kontrolle über Energiereserven. Um diese zu sichern werden die
Staaten zu Marionetten der Konzerne. Der eigentliche qualitative Umbruch besteht
jedoch im Wandel der Rolle des Individuums.
So weit gut für heute.
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 25. Okt.
2005, 00:20 Uhr
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Hi,
ich habe dir gesagt, doc rudi, was eine Gesellschaft konstituiert:
gemeinsame Sprache, gemeinsame Lebensart, gemeinsame Mentalität, kurz,
gemeinsame historisch gewachsene Kultur. Was daraus folgt, ist der gemeinsame
Wille, so zu leben und diese Kultur zu erhalten.
Gemeinsame Werte gehören
übrigens auch dazu: siehe Konflikte zwischen insbesondere USA und islamischer
Welt.
Wichtig ist die Kontrolle über Energiereserven. Um diese zu sichern
werden die Staaten zu Marionetten der Konzerne.
Vielleicht solltest du dich
doch mal ein bisschen mehr um Geschichte kümmern. Dann wüsstest du nämlich, dass
de facto das Gegenteil von Kontrolle über Energiereserven der Fall ist: seit
1904 (Kampf um die konstitutionelle Monarchie in Iran in bewußter Gegnerschaft
zu den 7 Schwestern, den internationalen Ölkonzernen) ist die Kontrolle nämlich
mehr und mehr abhanden gekommen. Seit dieser Zeit haben die Ölkonzerne mit allen
möglichen, auch kriegerischen Mitteln, auch gelenkten Putschs, versucht, diese
Kontrolle zu erhalten oder wieder zu erlangen - vergeblich. Dagegen stand - der
gemeinsame Wille der 'Eingeborenen'. Weswegen auch entsprechende Irak- und
Afghanistan-Projekte aus historischer Erfahrung von vorn herein zum Scheitern
verurteilt waren. Spiegelleser wussten das vielleicht nicht, der jüngeren
Geschichte dieses Raumes Kundige aber schon.
Das Individuum, das du
studierst, ist das westliche Individuum. Das ist weltweit in der Minderzahl.
Vielleicht spricht sich das in paar Jahrzehnten auch mal herum.
Was
seufzest du, Urs? :-)
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
25. Okt. 2005, 11:18 Uhr
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Hallo Rudi!
Quote:Was das Biologische anbetrifft, ist die
Rassenideologie widernatürlich, weil die Evolution Fortschritt durch Mischung
erzielt und Reinrassiges zu Verblödung führt.
Nicht weil die
Rassendoktrin etwa „widernatürlich“ sei, lehne ich sie ab, sondern weil sie
unmenschlich ist. Meine Kritik am Biologismus richtet sich eben grundsätzlich
dagegen, menschliche Lebensformen allein in biologischen (oder kybernetischen)
Kategorien zu beschreiben, so dass menschliches Handeln und seine Ziele auf
biologische Ursachen reduziert werden.
Denn diese Reduktion hat zur
Folge, dass individuelle Eigenschaften, individuelles Handeln und individuelle
Interessen vernachlässigt, summarisch als determinierte Auswirkungen allgemeiner
Gesetzmäßigkeiten abgehandelt werden. Der Reduktionismus hält die
Individualisierung für unwesentlich. Was allein zählt, ist das in generellen
Termini (z.B. „Art“) oder generellen Gesetzesaussagen Erfassbare.
Nun
unterscheidet sich eben die Gattung Mensch auch dadurch signifikant von anderen
Arten, dass ihre „Exemplare“ (aber auch ihre „Populationen“ und „Kulturen“) sehr
vielfältige individuelle Lebensformen zeigen. Diese Individualisierung ist so
signifikant, dass sie zu den spezifischen Eigenschaften der Gattung gezählt
werden muss.
Die Ideologie der Nazis war deshalb „unmenschlich“, weil
sie ein Handeln legitimierte, das die individuellen Unterschiede einzuebnen,
„gleichzuschalten“ trachtete. So wurden „die Juden“ allein aufgrund ihrer
gemeinsamen Abstammung für vernichtenswert gehalten und dann auch faktisch zu
vernichten gesucht. Die Rassenpolitik war sozusagen die rücksichtslose Anwendung
des generellen Terminus „Rasse“ auf das Handeln. Dabei war diese Ausrichtung des
politischen Handelns an generellen Termini nicht auf den Rassenbegriff
beschränkt. Ähnlich verfuhr man mit anders definierten generellen Termini wie
„Kommunist“, „Russe“, „Homosexueller“, „Behinderter“. Und dies alles sollte
angeblich dem „allgemeinen Wohl“ des deutschen Volkes dienen.
(Übrigens
stehen sich auch innerhalb der Biologie „reduktionistische“ und
„nicht-reduktionistische“ Ansätze gegenüber. Nicht alle Biologen sind etwa damit
einverstanden, den Artbegriff rein genetisch zu interpretieren oder – wie
R.Dawkins – die phänotypischen Individuen als bloße „Genträger“ zu verstehen.
Siehe dazu meinen Beitrag Nr. 54 in „Ich Person, Subjekt, Selbst“ III.)
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
25. Okt. 2005, 11:41 Uhr
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Hallo Abrazo!
Quote:Was seufzest du, Urs?
Ich
seufzte tief in der Nacht angesichts der schweifenden Diskussion.
Aber
ich seufzte auch ob des Satzes: "Das ist mir alles zu theoretisch hier." Ich
weiß nicht recht, wie untheoretisches Theoretisieren (Philosophieren) gehen
soll.
Nichts gegen Beispiele und Beobachtungen "aus dem prallen Leben",
aber wir befinden uns in einem philosophischen Forum. Es sollte möglichst immer
klar werden, wofür es Beispiele sind, welche theoretische Position mit ihnen
bezogen oder belegt wird. Das wäre ein Dienst am Leser, vielleicht sogar am
"allgemeinen Wohl" der Mitdiskutanten...
:-)
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 25.
Okt. 2005, 14:27 Uhr
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Hallo philoschall,
ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich richtig
verstehe. Offenbar siehst Du in der Bundesrepublik den Fall gegeben, dass
bestimmte Gruppeninteressen als das Gesamtinteresse ausgegeben werden. Einer
Gruppe ist das Kunststück gelungen, die anderen Gruppen davon zu überzeugen,
dass ihre partikularen Interessen mit dem Gesamtinteresse zusammenfallen.
Offenbar meinst Du die breite Gemeinsamkeit – ausgedrückt durch eine
wahrscheinlich kommende große Koalition – in Bezug auf die Notwendigkeit
neoliberal orientierter sozialer Veränderungen, also mehr Markt und weniger
Staat.
Mehr Markt heißt: mehr Konkurrenz, mehr Leistungsanreize,
Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Förderung des Unternehmertums, Abbau
der progressiven Besteuerung der Einkommen.
Weniger Staat heißt: weniger
staatliche Umverteilung durch Besteuerung, Subventionierung oder staatliche
Unterstützungszahlungen, weniger staatliche Leistungen und entsprechende
Verringerung der Steuern, der Staatsausgaben und des öffentlichen Personals,
verringerte Leistungen der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung und
entsprechende Beitragssenkungen, weniger rechtliche Einschränkungen der privaten
Wirtschaftstätigkeit durch Genehmigungsverfahren, Kündigungsschutzbestimmungen,
betriebliche Mitbestimmung etc.
Diese Maßnahmen entsprechen weitgehend
den Interessen der Unternehmer und Kapitaleigentümer, werden jedoch gleichzeitig
als im Gesamtinteresse liegend ausgegeben.
Die Kritiker dieser Politik
sprechen dagegen von einer Politik des Sozialabbaus und der Kürzung der
Realeinkommen gegen die Interessen der breiten Masse der Arbeitnehmer, der
Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger.
Wenn man entscheiden will,
wer in diesem Fall Recht hat, stößt man auf bemerkenswerte Eigenschaften des
Interessenbegriffs.
Wenn man vom traditionellen Begriff der
kapitalistischen Klassengesellschaft ausgeht, dann scheinen die
Klasseninteressen der Kapitaleigentümer/Unternehmer den Klasseninteressen der
abhängig beschäftigten Arbeitnehmer völlig entgegengesetzt zu sein. Was an
Löhnen für die Arbeitnehmer ausgezahlt wird, entgeht dem Unternehmer an Gewinn
und umgekehrt. Die Interessenstruktur gleicht einem Nullsummenspiel der
Spieltheorie: was die eine Partei gewinnt, verliert die andere Partei und
umgekehrt.
Und in der Marxschen Theorie der Entwicklung des Kapitalismus
ist die Perspektive für die Lohnabhängigen derart aussichtslos (Krisen,
Proletarisierung, wachsende Spaltung in Arme und Reiche etc.), dass ihr
vorrangiges Interesse die Abschaffung des Systems der kapitalistischen
Lohnarbeit sein wird (? … sein sollte?)
Das Problem bei dieser Annahme
ist jedoch (ganz abgesehen davon, ob die Marxsche Voraussage richtig ist), dass
es kein rationales Interesse der Lohnabhängigen an der Abschaffung der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung geben kann, wenn es keine bessere
Alternative zu dieser Ordnung gibt. Nach den deprimierenden Erfahrungen mit der
sowjetischen Planwirtschaft ist eine solche Alternative nicht in Sicht.
Wenn aber die Alternative einer Systemveränderung ausscheidet und die
Spielregeln einer kapitalistischen Marktwirtschaft gelten, dann kommt die
Verflechtung der Interessen der Arbeitnehmer eines Unternehmens mit den
Interessen der Eigentümer dieses Unternehmens zum Vorschein: das Interesse der
Arbeitnehmer an Lohnzahlungen kann nur befriedigt werden, wenn zuvor der
Kapitaleigentümer Gewinn gemacht hat. Macht er Verluste, dann geht das
Untenehmen pleite und die Beschäftigten verlieren ihrerseits Arbeitsplatz und
Lohneinkommen. Insofern hat unter kapitalistischen Bedingungen auch der
Beschäftigte ein Interesse am wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmers. Je
größer dessen Gewinne sind, desto höhere Löhne kann er zahlen. (Ob er es tut,
steht allerdings auf einem anderen Blatt.)
Wenn man diese
Interessenstruktur auf die Gesamtwirtschaft überträgt, so kann es – im Rahmen
des gegebenen Kapitalismus – tatsächlich so sein, dass die Gruppeninteressen der
Unternehmer mit den Gruppeninteressen der Beschäftigten zusammenfallen und das
„Gesamtinteresse“ repräsentieren.
Ich will hier erstmal abschließen,
obwohl dazu noch einiges zu sagen wäre. (Aber das werdet Ihr schon machen …)
Es grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
25. Okt. 2005, 15:22 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Ich will hier erstmal abschließen, obwohl dazu
noch einiges zu sagen wäre. (Aber das werdet Ihr schon machen …)
Genau!
:-)
Die Verflechtung der Interessen von Unternehmern und
Lohnabhängigen besteht natürlich auch umgekehrt. Sicherlich ist es nicht zu
bestreiten, dass nur der Gewinn zu verteilen ist, der zuvor erwirtschaftet
wurde. In dieser Hinsicht liegt es im Interesse der Lohnabhängigen, dass ihr
„Arbeitgeber“ (der eigentlich ihre Arbeit nimmt und dafür Lohn gibt, also
Lohngeber und Arbeitnehmer heißen sollte... :-) ) gut verdient.
Aber ein
Unternehmen verdient nur, wenn es etwas verkauft (Waren, Dienstleistungen), d.h.
wenn es also hinreichend solvente Käufer für die hergestellten Produkte gibt.
Und diese Käufer sind eben ganz überwiegend Lohnempfänger. Insofern liegt es
auch im Interesse der Unternehmer, gute Löhne zu zahlen, in sichere und
angenehme Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu investieren usw. Auch
diese Investition ist eine Maßnahme im Sinne von „Mehr Markt!“
Nur wird
eben von den Neoliberalen dieser Aspekt der Gegenseitigkeit vernachlässigt. Wenn
sie von der Strukturkrise der deutschen Wirtschaft reden, sehen sie die
Beschäftigten, ihre Löhne und ihre Rechte nur als belastenden Kostenfaktor für
die Unternehmen. Die Tatsache, dass Lohnempfänger nicht nur Kosten verursachen,
sondern, als Käufer, auch zum Gewinn der Unternehmen beitragen, wird notorisch
vernachlässigt. Die Gruppe der Beschäftigten und die Gruppe der Kunden werden
als völlig getrennt voneinander gesehen.
Es wird also gewissermaßen eine
betriebswirtschaftlich beschränkte Perspektive generalisiert.
Für
die Frage nach dem Gemeinwohl spielt es offenbar eine Rolle, wovon man beim
Verallgemeinern ausgeht: Ob man einen Aspekt (z.B. den betriebswirtschaftlichen)
als Ausgangspunkt nimmt oder ob man zunächst das ganze („volkswirtschaftliche“)
System wechselseitiger Abhängigkeiten in den Blick nimmt, um von da aus die
individuellen Anteile an Leistung und Verpflichtung zu bestimmen.
Es
grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 25.
Okt. 2005, 16:51 Uhr
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Hallo,
@Urs: Du lehnst die Rassendoktrin ab, weil sie unmenschlich ist. Ich
weiß zwar, was Du meinst, aber: eine Theorie ist immer vom Menschen geschaffen,
sie kann nichts dafür. Du lehnst sie sicher, ab, weil mit ihr unmenschliches
Verhalten begründet wird. Handeln tun aber immer die Menschen, nicht die
Theorien. Mit dem gleichen Argument kannst Du das Christentum ablehnen, weil es
"unmenschlich" ist. Unmenschlich ist jedoch das Verhalten der Kreuzritter in
Jerusalem und der Inquisiteure gegenüber ihren Opfern usw..
Die Gattung
Mensch zeigt Deiner Meinung nach sehr vielfältige individuelle Lebensformen, Du
meinst wohl die Gattung der Primaten oder die Art Mensch, die viele Unterarten,
Lebensformen usw. zeigt. Da hast Du recht.
Deine Verleugnung der biologischen
Handlungswurzeln mittels des Schimpfworts "Biologismus" bringt Dich leider gar
nicht weiter. Ich wusste noch gar nicht, dass Du so unsachlich bist.
Nun
waren wir bei unserer Frage bereits dank Abrazos praktischem Vorschlag bei einer
überschaubaren Gemeinde (Köln) und
Abrazo meint:
"ich habe
...gesagt, ..., was eine Gesellschaft konstituiert: gemeinsame Sprache,
gemeinsame Lebensart, gemeinsame Mentalität, kurz, gemeinsame historisch
gewachsene Kultur. Was daraus folgt, ist der gemeinsame Wille, so zu leben und
diese Kultur zu erhalten." Wobei der Kölner katholisch sei.
So. Dann
fangen wir doch mal bei der Sprache an: konkret sprechen mitnichten alle Kölner
Kölsch. Es gibt Kölner, die sprechen nur Türkisch und verstehen nicht mal
Deutsch. Auch die Lebensart der Kölner ist unterschiedlich. Manche essen
vegetarisch, andere kein Schweinefleisch, mache verschleiern sich in der
Öffentlichkeit, die meisten verkleiden sich allerdings zu einer bestimmten Zeit
sehr seltsam. Es gibt auch in Köln Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen
und mitnichten sind alle Kölner katholisch. Es gibt viele Juden in Köln, auch
viele Moslems. Der von Dir intendierte "Kölner" ist ein allgemeiner Begriff,
eine Abstraktion, in Wirklichkeit passen vielleicht mit einigen Abstrichen 30%
der Kölner unter diesen Begriff, genau genommen ist jeder Kölner anders, nämlich
ein Individuum. Auf Geschlechts- und Altersunterschiede will ich mal gar nicht
eingehen.
Mit anderen Worten: ich könnte Dir unterstellen, Du grenzt alle
Juden, Moslems, Kopftuchträger zur Nichtkarnevalszeit usw. aus der Bevölkerung
aus. Wenn Du so eine Ausgrenzung vornimmst, hast Du am Ende einige Leute, die
Deinen Begriff erfüllen. Aber bei der Bildung einer Kölner Identität spielt in
Deinem Denken ein großer Bevölkerungsanteil keine Rolle. Wie Du dann also so
salopp zu einer Kölner Kultur kommen willst, kann ich mir zwar denken, aber das
ist wissenschaftlich unhaltbar.
Ich definiere den Kölner hingegen völlig
ohne Diskriminierung als denjenigen, der in der Stadt Köln seinen Wohnsitz hat.
Die Summe dieser Individuen bildet praktisch nie eine gemeinsame Meinung, eine
gemeinsame Kultur oder eine gemeinsame Sprache. Die Identität, Kölner zu sein,
wird vielleicht an bestimmte Kölner Produkte geknüpft: den Dom, das Kölsch, den
Karneval. Oder an Abgrenzung festgemacht: Nicht-Düsseldorfer-sein. Aber nicht an
einer Kultur (der Kölner Karneval ist ein vermarktbares Produkt).
Aber ein
wichtiges Bestreben habe alle Kölner (in Köln lebenden): sie wollen, dass Köln
Köln bleibt, wie Abrazo auch richtig sagt. Das ist der Überlebenswille eines
lebenden Systems höherer Ordnung. Definiert ist dieses System nur durch seine
Grenze, und die Grenze eines lebenden Systems ist per definitionem offen.
Es
ist das, was ich Selbsterhaltung nenne.
Ein zweites Handlungsziel kommt zum
Überleben hinzu: der Vergrößerungswille, die Wachstumstendenz (die
Selbstentfaltung). Den kannst Du sehen, wenn Du Dir die alte Stadtmauer
ansiehst, die inzwischen in der Innenstadt liegt. Die Stadt hat sich vergrößert.
Was aber das, was Abrazo meint, ausmacht, definiert sich an Abgrenzungen, an
Ausgrenzungen (Münchner sind anders und Hamburger auch). Aber die positive
Selbstbestimmung ist ein Luftschloss.
Aber: alle Individuen, die in Köln
wohnen, wollen in Frieden leben, mit ihren Nachbarn gut auskommen, eine Arbeit
haben, Geld verdienen und sich ein bisschen Vergnügen leisten. Das sind nun
allerdings allgemeine menschliche Bedürfnisse, die auch der Düsseldorfer hat.
Die haben nicht nur alle Deutschen, sondern auch alle Franzosen und alle
Chinesen.
Dass die Preussen bisweilen die Franzosen überfallen haben und
umgekehrt, ist kein Bedürfnis der Individuen, sondern liegt im Interesse des
Systems höherer Ordnung, dessen Interesse nicht die Summenbildung der
Einzelinteressen ist.
100000 mal ein Friedenswille ergibt keinen
Kriegswunsch.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 25.
Okt. 2005, 17:34 Uhr
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Hallo Eberhard,
"Wenn man diese Interessenstruktur auf die
Gesamtwirtschaft überträgt, so kann es – im Rahmen des gegebenen Kapitalismus –
tatsächlich so sein, dass die Gruppeninteressen der Unternehmer mit den
Gruppeninteressen der Beschäftigten zusammenfallen und das „Gesamtinteresse“
repräsentieren." Eberhard
Mit Interesse nahm ich Deinen letzten Text
wahr. An obigem Zitat möchte ich anknüpfen, um das von Dir angedeutete
Zusammenfallen etwas näher zu beleuchten. Arbeitgeber und Gewerkschaften
praktizierten doch seit vielen Jahrzehnten dieses Zusammenfallen. Sowohl die
Arbeitgeber wie auch die im Namen der Lohnabhängigen auftretenden
Gewerkschaftsführer gingen davon aus, dass es nicht nur für den sozialen
Frieden, unternehmerischer Rechtssicherheit, sondern auch für die Regelung der
nationalen Massenkaufkraft des Wirtschaftsstandort Deutschland wichtig ist, die
Lohnfrage in beiderseitigen Einvernehmen zu verhandeln. Der kapitalistische
Unternehmer ist dieser, da sein Interesse um die Profitmaximierung sich dreht.
Der Lohnarbeiter ist dieser, da sein Interesse nicht aus dem Besitz und über die
massive Verfügbarkeit von Privateigentum (Produktionsstätten ...) resultiert.
Sein Interesse resultiert aus der Abhängigkeit vom privatwirtschaftlichen
Interesse, dass mit der über Alles gestellten Verfügungsgewalt über
Privateigentum sich nicht erst seit gestern globalisierend manifestiert. Die mit
dem tradionell marxistischen Klassenkampfbegriff gegebene (Einzelinteresse
verabsolutierte) Annahme, dass die Interessen dieser beiden Gruppen sich
ausschliessen, wurde und wird in Deutschland (noch) mit dem Zusammengehen der
Gewerkschaften und der Arbeitgeber relativiert. Angenommen, dem
industriestaatlichen Lohnarbeiter ist seine über den Konsum erschlossene
Teilnahme an der kapitalistischen Warenproduktion wichtiger als die Höhe seiner
Kaufkraft. Dann ist auch anzunehmen, dass sein Interesse am kapitalistischen
Warenmarkt auch dann befriedigt ist, wenn der Binnenmarkt eine Angebotsstruktur
aufweisst, welche von Waren bestückt wird, deren Herstellung nicht mehr von
seiner, sondern etwa von nah-ost-europäischer und/oder asiatischer Arbeitskraft
geleistet wird. Der in Deutschland Beschäftigte wird finden, dass, auch wenn
seine Entlohnung völlig jenseits von Flächentarifverträgen, von
Gewerkschaftsführern geregelt sein wird, seine Kaufkraft soviel hergibt,
verteilt etwa über 1 Jahr 5 Produkte für je 1 Euro zu kaufen. Bedauerlich wird
er vielleicht finden, dass auch er vor einigen Jahren Waren produzierte für die
er beispielsweise 5 Euro bezahlte, die dann jedoch 5 Jahre seinen Dienst
leisteten. Dass Interesse des nicht an nationalen Wirtschaftsstandort gebundenen
Industrieunternehmertum, um nur diese Marktunternehmung zu berücksichtigen, ist
nicht Qualität zu produzieren, Arbeitsplätze zu schaffen, Gesamtwohl zu
realisieren, sondern Produkte herstellen zu lassen, deren Wert in der
Profitmaximierung liegt. Die Praktizierung der Steigerung seines Interesses,
etwa bezüglich der Lohnarbeit, wird für den Unternehmer umso erfolgreicher sein,
je weniger dieser an nationale Eigenheiten der wirtschaftlichen Standorte
gebunden ist, je mehr in seinem Vermögen steht, diese Standorte seinem Interesse
entsprechend, etwa von nationaler Regierungspolitik formen zu lassen.
Dass Gesamtinteresse der Beschäftigen und der Industrieunternehmer ergibt sich
daraus - bezüglich Deutschland - dass für die Massen Waren produziert werden,
die für diese auch dann noch legal erreichbar sind, wenn die Binnenkaufkraft
sinkt, und daraus, dass auf Seite der Unternehmer diese produzieren lassen, wo
die Entlohnung auf jeden Fall noch weit, etwa unter Hartz-4, liegt. Ich sehe
hier also, dass die konsumierende Teilnahme der Massenkaufkraft am
Massenwarenmarkt das ist, was die beiden Gruppen - bezüglich des
EU-Wirtschaftsraumes (noch) - verbindet. Dass rechnet sich für die nicht an
nationale Wirtschaftsstandorte gebundende, d.h. für die sogenannte globale
Industrie- und Finanzmarktunternehmung. Rechnet sich nicht für die deutsche
Staatsunternehmung, deren Haushalt von den Interessen dieser Unternehmungen,
etwa mit der Senkung der Lohnnebenkosten UND der auf dem verbilligten Warenmarkt
sich wiederfindenen Lohnarbeiterschaft bestimmt wird. Umso schlechter für den
deutschen "verschlankten Staat" UND die Lohnabhängigen, wenn die "Reformpolitik"
in der Praxis nach hinten losgehen wird: dass in Deutschland, etwa mit
grossflächiger Billigentlohnung noch mehr aus dem Arbeitsprozesss
herausgestellte Arbeitskraft vom deutschen Staat verwaltet werden muss, während
die neoliberale Interessengruppe in ihrer globalen Weltumseglung den deutschen
Wirtschaftsstandort weiterhin im Visier behält. Zunehmend aus der Perspektive,
dass dieses Land Finanztechnisch immer weniger hergeben wird.
"Offenbar
meinst Du die breite Gemeinsamkeit – ausgedrückt durch eine wahrscheinlich
kommende große Koalition – in Bezug auf die Notwendigkeit neoliberal
orientierter sozialer Veränderungen, also mehr Markt und weniger Staat."
Ist die Gemeinsamkeit kapitalistischer Gesellschaft, ist das Gesamtinteresse
hier nicht stets mit der privaten Marktwirtschaftsordnung gegeben, deren
Warenproduktion der Faktor ist, um dem vergesellschaftete Einzelinteressen
kreisen, mit deren Entfaltung bürgerlicher Staat (ob nun nationalstaatlich oder
verschlanktstaatlich), Moral, Ideen ... sich manifestieren?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von hedgi am 25. Okt.
2005, 17:42 Uhr
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An Abrazo
Der Gesellschaftsvertrag war Rousseaus Interpretation. Aber vom
Gesellschaftsvertrag zu reden ist nicht von der Hand zu weisen. Der Vertrag der
Herrn Hund seine materiellen Güter sichert, stammt aus einer Zeit, als es üblich
war, Verträge mit der zu beherrschenden Masse mit Blut und Feuer auf ewig ins
Gedächtnis einzubrennen.
hedgi
Hi Rudi,
Quote:Du meinst:
"An der Tatsache, dass die große Masse Werte schafft und eine herrschende
Schicht diese Werte konsumiert oder einfach nur besitzt, hat sich seit Beginn
der Menschheitsgeschichte nichts geändert."
Ja genau, bis auf die
Methoden. Das was für uns heute das Flugzeug und der Computer ist, war dem
Frühzeitmenschen das domestizierte Tier und das Getreide. Alle diese Artikel,
egal nun ob Computer oder Getreide, dienen dazu, den Mehrwert des Besitzers zu
mehren. Somit ist derjenige mit den Ideen der Begründer unserer modernen
Gesellschaft. Dabei ist zu bemerken, dass der Ingenieur, der mit seinen Ideen es
überhaupt ermöglicht hat, dass wir so wie heute im relativ im Luxus leben
können, nur unwesentlich mehr verdient, als ein Arbeiter. Er steht damit auf der
gleichen Stufe wie jeder Arbeiter, dessen Aufgabe es ist, den Reichtum der
Großaktionäre zu mehren. Dass er überhaupt am konsumieren beteiligt wird,
verdankt er dem Umstand, dass er konsumieren muss, um seine Arbeitskraft zu
erhalten, die er an den Arbeitsplatzbesitzer verkauft hat. Nun ist der Konsum
Bestandteil des globalen Produktionsprozesses, der auch Mehrwert schafft. Da
aber der Mehrwert der Motor der Wirtschaft ist, müssen wir ihm unsere ungeteilte
Aufmerksamkeit widmen und aufpassen, dass der Kreislauf nicht zum Stillstand
kommt.
Wir haben heute mit zwei schädlichen Entwicklungen zu tun.
Das ist zum einem die Automatisierung, die nur dann dem Menschen schädlich
wird, wenn der nicht mehr benötigte Teil der Arbeitenden in die Armut entlassen
wird und als Druckmasse gegen die noch im Arbeitsprozess befindlichen benutzt
wird. Da dieser Prozess nur langsam voranschreitet, könnte eine starke
Gewerkschaft für eine gerechte Anpassung in der Verteilung des erarbeiteten
Vermögens sorgen.
Das wirklich große Problem ist die Globalisierung.
Dieser Prozess der Verlagerung von Arbeit in Billiglohnländern, hat eine rasante
Geschwindigkeit angenommen, dass bis heute unsere Gesellschaft diesem Phänomen
ratlos und hilflos gegenüber steht. Hier sollte sich jeder darüber im Klaren
sein, diese damit verbundene Verarmung der Gesellschaft trifft nicht nur den
gering Qualifizierten sonder nur etwas verzögert, auch den höher Qualifizierten
mit einer universitären Ausbildung.
Nun zur Frage wer kontrolliert wen?
Der Staat die inzwischen international agierenden Konzerne, oder umgekehrt. Da
das Geld bei uns eine Steuerungsfunktion innehat, ist es nicht schwer zu
erraten, wer wen steuert, nämlich der, der davon im Überfluss besitzt. Das kann
man an den Arbeitsverträgen mit Abgeordneten sehen, deren Gegenleistung nicht
schriftlich im Arbeitsvertrag fixiert wurde. Wir können aber davon ausgehen, der
Abgeordnete weiß was von ihm erwartet wird, nämlich Loyalität zum Geldgeber bei
der Gesetzesverabschiedung.
Nun zum qualitativen Umbruch in der Rolle
des Individuums. Das passiert nicht von allein. Irgendetwas muss den Anstoß dazu
geben. Da Einigen erhebliche Nachteile durch diese qualitative Änderung
entstehen, dürfte der Widerstand dagegen entsprechend groß sein. Daraus ergeben
sich bereits Notwendigkeiten. Zum einem kann dieser Umbruch nur bei einem
Zusammenbruch des herrschenden Systems stattfinden, und eine Gruppe von Leuten
muss eine Vorstellung davon haben, wie eine zukünftige Gesellschaft sich
konstituieren kann.
hedgi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 25.
Okt. 2005, 18:55 Uhr
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Hallo hedgi,
meine Analyse geht vom Individuum aus, vom System Mensch. Geld
ist dem Individuum ein Mittel, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Es gibt ihm
Entscheidungsfreiheit, weil das Individuum entscheidet, was es von seinem Euro
kauft. Zu Marx frühkapitalistischen Zeiten haben die Produktionsmittelbesitzer
den Mehrwert für sich selbst realisiert und eingenommen, indem der Arbeiter nur
soviel Lohn bekam, wie zur "Reproduktion seiner Arbeitskraft", also zu seiner
Selbsterhaltung, erforderlich war. Heute ist das anders. Selbst der
Sozialhilfeempfänger erhält mehr Stütze, als er zur Sicherung seines Überlebens
benötigt.
Warum wird mit Geld so umgegangen? Geld hat keine Beziehung mehr
zur Arbeitsleistung. Oder: selbst Nichtstun wird bezahlt (von der Allgemeinheit,
vom Steuerzahler). An die Stelle des Produktionsmittelbesitzers, der den
Arbeiter bezahlt, tritt die Gemeinschaft, die den Nichtarbeitenden aus der
Steuerkasse bezahlt.
Der Grund ist meines Erachtens erstens der soziale
Frieden. Der Mensch will in Frieden leben und gibt dafür gern über seine Steuern
Geld an die Arbeitslosen, die sonst klauen müssten.
An diesem System
beteiligen sich jedoch auch die "Produktionsmittelbesitzer" bzw. die Firmen,
denn letztlich entstammt natürlich auch die Sozialhilfe aus dem Mehrwert.
Auch die tun es nicht aus Nächstenliebe, sondern weil sie ihre Waren verkaufen
wollen.
Ein Individuum, das Geld zur Verfügung hat und es damit ausgeben
kann, ist allemal besser als ein Individuum, das klaut.
Und meine Position
ist die des Individuums, das durch seine Kaufentscheidung darüber befindet, wem
es welche Ware die wo produziert ist abkauft.
Mein Ansatz ist nicht der
Arbeiter, der nach Marx eine eigene Klasse mit antagonistischem Widerspruch zum
Produktionsmittelbesitzer darstellt, sondern das Individuum, das entscheiden
kann, ob es Geld ausgibt und wofür. Das Individuum hat die Macht und könnte,
wenn sich eine Masse von Individuen gleich verhält, ein Produkt bestreiken und
damit einen Konzern zu einer Entscheidung bewegen, die den Individuen nützt, es
könnte ein anderes Produkt eines anderen Herstellers kaufen und diesen damit
stärken.
Wir brauchen keine Arbeiterstreiks, sondern zielgerichtete Aktionen
der Käufer.
Wir brauchen keine Gewerkschaften als Interessenvertreter der
Arbeitsplatzbesitzer, sondern "Verbände", die die Interessen der Käufer, der
Individuen, vertreten.
Oder so etwas in der Art.
Ich will ja nur den
anderen Weg skizzieren. Den Weg der Steuerung der Wirtschaft durch die
Individuen. Den qualitativen Umbruch der Rolle des Individuums.
Die
"Verbände" könnten zum Beispiel gut über das Internet organisiert werden, ohne
Mitgliedschaft, sondern als lockere organisatorische Verbindung zur Steuerung
des Konsumverhaltens, um bestimmte Produkte und Firmen zu unterstützen oder
nicht zu unterstützen.
Das wäre ein konkreter Handlungsvorschlag.
Endlich
handeln anstatt zu labern.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
25. Okt. 2005, 19:08 Uhr
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Hallo Rudi!
Quote:Deine Verleugnung der biologischen Handlungswurzeln
mittels des Schimpfworts "Biologismus" bringt Dich leider gar nicht weiter. Ich
wusste noch gar nicht, dass Du so unsachlich bist.
Selbstverständlich leugne ich weder Sinn noch Berechtigung einer Biologie des
Menschen. Aber ich bestreite, dass Handlungen zum Gegenstandsbereich der
Biologie gehören. Die Rede von „biologischen Handlungswurzeln“ halte ich darum
für eine Konfusion.
Mit dem Begriff „Biologismus“ beziehe ich mich auf
Versuche, den Gegenstandsbereich der Biologie auch auf Bereiche auszudehnen, die
entweder nach dem Selbstverständnis der Biologen nicht ihr Thema sind oder aus
sachlichen und methodischen Gründen nicht zu ihrem Thema gemacht werden sollten.
Was ich besonders kritisiere, habe ich gesagt: den dabei praktizierten
„Reduktionismus“, die selbsterteilte Erlaubnis zur Entdifferenzierung. Ein
Beispiel dafür ist die Abstraktion von individueller Vielfalt in den
Lebensformen, wie sie im Begriff des „Genträgers“ zum Ausdruck kommt. Ein
anderes wäre die Behauptung, dass die ethischen Normen nur ein „Überbau“
genetischer Programmierung seien.
„Biologismus“ ist also ein durchaus
sachlich präziser Begriff, wenn auch ein kritischer. Und mich bringt es sehr
wohl weiter, wenn ich eine „Theorie“ kritisiere, die im wissenschaftlichen
Gewande daherkommt, aber eher dazu angetan ist, verschwommenes Denken zu
popularisieren.
Quote:Ich weiß zwar, was Du meinst, aber: eine
Theorie ist immer vom Menschen geschaffen, sie kann nichts dafür. Du lehnst sie
sicher, ab, weil mit ihr unmenschliches Verhalten begründet wird. Handeln tun
aber immer die Menschen, nicht die Theorien.
Nun, Theorien
wachsen nicht auf den Bäumen, sondern gehen auf menschliches Handeln
(Beobachten, Unterscheiden, Abstrahieren, Schließen usw.) zurück. Daher gibt es
auch richtige und falsche, wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche
Theorien – je nachdem. Daneben gibt es aber auch Ideologien, also
Theorie-Versatzstücke, deren Zweck in der Legitimation verwerflichen politischen
Handelns besteht. Der „Biologismus“ kann, wie das Beispiel des NS zeigt, sehr
erfolgreich als Ideologie eingesetzt werden – etwa, indem er die
pseudowissenschaftliche Berechtigung dafür liefert, Massenmorde zu begehen.
Gute Theorien zeichnen sich weder durch eilfertige Entdifferenzierungen aus
noch treten sie mit dem Anspruch auf, die Antwort auf alle wichtigen Fragen zu
geben. Anders Ideologien.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 25.
Okt. 2005, 20:23 Uhr
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Hi Urs,
Ist alles gut und richtig, was Du da sagst.
Hat nur nichts mit mir
zu tun.
Ich weiß auch nicht, warum Du und Abrazo Formales zum Thema nehmt,
anstatt die Sache und meine konkreten Arbeitsergebnisse dazu (Inhaltliches).
meine Theorie kennst Du doch gar nicht - oder?
Gruß
rudi
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Titel: HIRe: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 25.
Okt. 2005, 23:26 Uhr
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Hi zusammen,
also gucken wir mal, was hier statt findet.
Titel des
Threads: Gemeinwohl und Wohl der Individuen.
Wie soll man das Gemeinwohl für
Individuen bestimmen? Nun, ich denke, das ist in der Tat nicht anders möglich
als über die Grundbedürfnisse, die das menschliche Individuum von Natur aus hat.
Denn die sind das einzige, die die Individuem sozusagen als Art zusammenhalten.
Dem Individuum gegenüber steht der Staat (wer ist das?). Wenn wir den nun
beauftragen, das Gemeinwohl zu entdecken - kann er das nicht, wenn es das
Gemeinwohl von Individuen ist. Mehr als die natürlichen Grundbedürfnisse gibt es
da nämlich nicht zu entdecken.
Der Staat besteht aber nicht aus
Individuen. Er besteht aus vergesellschafteten Menschen. Dass die durchaus in
der Lage sind, gemeinsam und gemeinsinnig als Gesellschaft zu handeln, zeigt
sich im Konfliktfall. Hier zeigt sich, dass Gesellschaften nicht nur gemeinsam
handeln, sondern auch gemeinsam eine Meinung bilden - und gemeinsam wollen. Und
diesen Willen Machthabern auch schon mal ganz schön um die Ohren hauen können -
siehe Mauerfall.
Gerade dieses Beispiel zeigt doch, dass es Unsinn ist,
vom Individuum als politischer Kraft zu sprechen. Individuen können noch nicht
mal eine Demo organisieren. Die treibende Kraft sind immer Gruppen, in größerem
Ausmaß Gesellschaften.
Der Plural von Individuum ist übrigens Massen.
Denn Massen sind die Summe gesichts- und willenloser Individuen, über deren
gemeinsames Wohl andere bestimmen müssen.
Zu welcher Gruppe, zu welcher
Gesellschaft gehört nun ein Individuum? Da sammelt sich eine ganze Menge
zusammen. Es hat Familie oder auch nicht, gehört zu einer Region, zu einer
Berufsgruppe, zu einer Schicht, von mir aus auch Klasse, hat ein bestimmtes
Bildungsniveau, ist Mitglied von Vereinen, Parteien, hat vielleicht nen
Kleingarten, Freunde ... jeder Mensch steht im Schnittpunkt all der
unterschiedlichen Gruppen, zu denen er gehört. Möglicherweise ist es genau das,
was seine Individualität ausmacht.
Wir können sagen, jede Gruppe, jede
Gesellschaft hat eine gemeinsame Ansicht dazu, was ihr Wohl ist (dass die
meisten aber vordringlich äußern, was anderer Leute Wohl sein soll, steht auf
einem anderen Blatt und sollte einen nicht irre machen). Aber keine Gruppe hat
eine einzige einheitliche Ansicht, weil jedes Mitglied ja ebenso über andere
Gruppen definiert ist. Dennoch haben die in einer Gruppe vertretenen Ansichten,
der gemeinsame Willen, die gemeinsame Handlung, eine 'Familienähnlichkeit'
miteinander - ein Wort, das ich wähle, weil die Ähnlichkeiten und Unterschiede
von Ansichten in einer Gruppe tatsächlich auch so zu differieren scheinen wie
die Bedeutungen eines Wortes.
Was bedeutet dann Gemeinwohl? Wenn jeder
Bürger im Focus der unterschiedlichen Gruppen steht, durch die er definiert ist?
Ist nicht sein Wille immer ein gemeinsamer Willen? Und liegt nicht ein großer
Fehler darin, Bürger aufgrund der Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe
auseinander zu dividieren?
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
26. Okt. 2005, 10:19 Uhr
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Hallo Abrazo!
Ich bin mit vielem einverstanden, was Du in Deinem
letzten Beitrag geschrieben hast. Hier nur eine vereinzelte Anmerkung.
Quote:Wie soll man das Gemeinwohl für Individuen bestimmen? Nun, ich denke, das
ist in der Tat nicht anders möglich als über die Grundbedürfnisse, die das
menschliche Individuum von Natur aus hat.
Dass menschliche
Individuen immer schon vergesellschaftet sind, wie Du später sagst, macht es
schwierig, allgemeine Grundbedürfnisse auszubuchstabieren. Soll man sich nur auf
das beschränken, was der Organismus „objektiv“ braucht – Nahrung, Schutz vor
Witterung – oder kommen auch „gefühlte Bedürfnisse“ hinzu? Z.B. wissen wir, dass
es in jeder menschlichen Gesellschaft „ästhetische“ Betätigungen gibt (Musik,
Tanz, „Design“...); kann man daraus schließen, dass Ästhetik zu den
Grundbedürfnissen gehört?
Schwierig.
Darum scheint mir, dass man
besser darauf verzichtet, aus einer Beobachterperspektive und im Allgemeinen
allzu viel über die Grundbedürfnisse „des“ Individuums zu sagen. Man begnügt
sich am besten mit der Feststellung, dass Menschen ihre Grundbedürfnisse nur
vergesellschaftet befriedigen können, so dass auch Gesellschaft zu diesen
Grundbedürfnissen zählt. Wie die Bedürfnisse der Individuen dann im einzelnen
beschaffen sind, hängt mit der Art und Weise zusammen, wie sie jeweils
vergesellschaftet sind.
Menschen sind eben – anders als Tiere – auf
vielfältige Weisen vergesellschaftet. Es genügt, an die verschiedenen Formen zu
denken, in denen Menschen „Verwandtschaft“ definiert und gestaltet haben. Darum
wird eine inhaltliche Bestimmung von „allgemeinen“ Grundbedürfnissen immer einer
großen Zahl von Individuen nicht gerecht werden.
Wenn es um das Wohl der
Individuen geht – und das wäre ja die Befriedigung ihrer Bedürfnisse – dann
lässt sich das genau aus diesem Grund nicht aus einer „objektiven“
Beobachterperspektive und nicht ein für alle Mal formulieren. Wann ein
Individuum „faktisch“ befriedigt ist, kann es nur selbst entscheiden. Dieses
Wörtchen, das das Individuum bei der Bestimmung seiner Grundbedürfnisse
mitzureden hat, kann nicht übergangen werden, wenn man der spezifisch
menschlichen Lebensweise gerecht werden will.
Später mehr.
Es
grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 26.
Okt. 2005, 11:33 Uhr
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Hallo allerseits,
ich sehe auch die Gefahr der Unübersichtlichkeit
unserer Diskussion. Die Diskussion über Gemeinwohl und Wohlergehen der Gruppen
und Individuen in der heutigen Bundesrepublik erscheint mir jedoch aktuell zu
wichtig, um sie abzuwürgen. Wir sollten bei unseren Ausflügen in die Ökonomie
und die Soziologie allerdings immer die philosophische Frage im Hinterkopf
behalten (Wie lässt sich ein Gemeinwohl bestimmen, das für das Handeln der
Einzelnen und Gruppen – auch gegen deren spezifische Interessen - verpflichtend
ist?)
Zu der Interessenkonstellation von Kapitaleigentümern/Unternehmern
auf der einen Seite und den abhängig Beschäftigten auf der anderen Seite
(bezogen auf die aktuellen deutschen Verhältnisse) noch eine Ergänzung.
Der politische Streit geht inzwischen wohl weniger darum, ob es überhaupt
schmerzhafte Einschnitte bei den empfangenen Leistungen geben soll, sondern der
Streit geht eher darum, wie diese Kürzungen „sozial ausgewogen“ gestaltet werden
können, so dass die Sanierung der sozialen Sicherungssysteme nicht nur den
durchschnittlich oder gering Verdienenden aufgebürdet wird. Es gibt allerdings
bestimmte Umstände, die eine Ausgewogenheit der Lastenverteilung verhindern.
Die Bezieher von Kapitaleinkommen (Zinsen, Dividenden, Wertpapiergeschäfte
etc.) haben gegenüber den Beziehern von Arbeitseinkommen in der gegenwärtig
rapide fortschreitenden Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen den
großen Vorteil, dass das Geld mühelos die Grenzen überschreitet und z.B. in
Investitionen in Malaysia oder der Tschechischen Republik angelegt werden kann
und dort eine Rendite erbringt. Insofern sind die Bezieher von Kapitaleinkommen
gar nicht in dem Maße von der wirtschaftlichen Entwicklung auf deutschem Boden
abhängig wie die Bezieher von Arbeitseinkommen, die ja nicht ihr Geld, sondern
die persönliche Arbeitskraft einsetzen. Als sozial eingebundene Personen sind
diese von Arbeitsplätzen in der Umgebung ihres Wohnortes abhängig.
Insofern sitzen beide Gruppen nicht mehr unbedingt in einem Boot: Das
Wohlergehen der deutschen Kapitaleigentümer mit internationalem Portefeuille ist
nicht mehr an das Wohlergehen des deutschen Arbeiters oder Angestellten
geknüpft.
Hallo Urs,
dass es im Interesse der
Unternehmer/Kapitaleigentümer liegt, höhere Löhne zu zahlen, um eine größere
Nachfrage nach den eigenen Produkten zu erzielen, stimmt wahrscheinlich für
Unternehmer in Deutschland nicht. Höhere Löhne bedeuten höhere Kosten und das
Problem ist heute schon, dass wir Autos, Musikanlagen, Computer etc. etc. etc.
Made in Fernost kaufen, weil diese preisgünstiger sind. Eine solche Lohnpolitik
würde wohl nach hinten losgehen angesichts des internationalen Lohngefälles, das
bereits jetzt schon zu Produktionsverlagerungen ins Ausland führt.
Zum
Begriff „Arbeitnehmer“: Dieser Begriff ist so korrekt wie der Begriff
„Arbeitsloser“, bei man ja auch nicht vom „Arbeitsanbieter“ spricht. Mit dem
Wort „Arbeit“ bezeichnet man ja nicht nur das Arbeiten als Tätigkeit sondern
auch die durch diese Tätigkeit zu bewältigende Aufgabe, und letzteres ist beim
Arbeit Suchenden und Nehmendem gemeint.
Hallo Hedgi,
ich
kann mir nicht verkneifen, zu Deinen Ausführungen einige kritische Anmerkungen
zu machen, obwohl dies zugegebenermaßen nicht unser Thema betrifft.
Mit
Deinen Problembestimmungen (Globalisierung, Vormarsch der Mikroelektronik)
stimme ich überein. Ich habe allerdings Probleme mit Formulierungen wie: „Alle
diese Artikel, egal nun ob Computer oder Getreide, dienen dazu, den Mehrwert des
Besitzers zu mehren.“
Derartige Zweck- oder Funktionsbestimmungen
(„dienen zu“, „haben den Zweck, die Aufgabe, die Funktion, den Sinn etc.) sind
methodisch problematisch, weil man mit ein und derselben Sache oder Handlung die
verschiedenste Zwecke bzw. Funktionen verbinden kann.
Dass der Bäcker
Brot backt, nicht um andere Menschen satt zu machen, sondern um sie mit Gewinn
zu verkaufen, ist eine empirisch nachprüfbare Aussage über die Motivation und
die Absichten des Bäckers. Ein Indikator hierfür wäre, ob er die Brote verteilt
oder verkauft.
Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Brote dieses auch
Bäckers dazu dienen, Menschen satt zu machen.
Das gleiche gilt für die
Aussage über den Arbeiter, „dessen Aufgabe es ist, den Reichtum der
Großaktionäre zu mehren.“
Empirisch überprüfbar ist die Aussage, dass ein
Unternehmer niemanden einstellt, um ihm Lohn zu zahlen, sondern um seine
Arbeitskraft gewinnbringend einzusetzen.
Dies schließt jedoch nicht aus,
dass es auch die Aufgabe des Arbeiters ist, mit seiner Arbeit Geld zum Unterhalt
für sich bzw. seine Familie zu verdienen.
Die Problematik solcher
Funktionsbestimmungen wird deutlich an dem Satz: „Dass er (der Ingenieur im
Flugzeugbau) „überhaupt am Konsumieren beteiligt wird, verdankt er dem Umstand,
dass er konsumieren muss, um seine Arbeitskraft zu erhalten, die er an den
Arbeitsplatzbesitzer verkauft hat.“
Dahinter steht die These, dass der
Lohnabhängige mit seiner Arbeitskraft der Erzeugung von Mehrwert dient. Diese
Funktion kann er nur erfüllen, wenn seine Arbeitskraft erhalten wird. Dies setzt
Konsum voraus. Allein diesem Umstand verdankt er seine Beteiligung am Konsum.
Wenn man nun zur Relativierung einer derartigen Funktionsbestimmung
darauf hinweist, dass dieser Ingenieur einen Mercedes der S-Klasse fährt und
eine Ferienwohnung in den Dolomiten hat, so fällt all dies unter die Rubrik:
„dient der Reproduktion der Ware Arbeitskraft“. Insofern ist diese These so
konstruiert, dass sie nicht empirisch belegt oder widerlegt werden kann, womit
sie wissenschaftlich unbrauchbar ist. Genauso wie die allgemeine Aussage, das
kapitalistische Unternehmen erfülle den Zweck, dass sich Menschen durch Arbeit
ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Hallo Abrazo,
wo
alle bereits einen gemeinsamen Willen haben, wo es keine Interessenkonflikte
gibt, da muss auch nicht nach dem gemeinsamen Interesse gefragt werden. Das ist
unbestritten.
Die Frage ist allerdings: Trifft das auf alle Bereiche zu?
Wenn nein, auf welche Bereiche trifft es nicht zu?
Die Gesamtheit muss
übrigens auch nicht immer der Staat bzw. die Gesamtheit der Staatsbürger sein,
das Problem von individuellem Interesse und Gesamtinteresse kann sich schon in
einer Paarbeziehung, in einer Seilschaft von Bergsteigern oder in einer
Karnevalsgesellschaft stellen.
Es grüßt alle Diskussionsteilnehmer und
Nur-Leser Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
26. Okt. 2005, 11:56 Uhr
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Hallo Eberhard!
Dass die hohen Lohn(neben)kosten für Deutschland im
Moment ein Problem sind, stimmt wohl. Aber ebenso ist es ein Faktum, dass die
Binnenkonjunktur lahmt, und das hat sicher auch mit der Abwärtsentwwicklung der
Löhne zu tun, aber auch mit der Verunsicherung durch Globalisierungseffekte.
Es ging mir bei meiner Antwort aber mehr darum, auf die Gegenseitigkeit der
Verflechtungen hinzuweisen, die man nicht in den Blick bekommt, wenn man jeweils
nur einen perspektivischen Ausschnitt generalisiert. Darum bleibt eine
"volkswirtschaftliche" (europäische, globale) Perspektive wichtig, um von ihr
her verkürzte Generalisierungen beurteilen zu können.
Dass die
Lohnempfänger auch Konsumenten sind, ist doch als Ausage über das System der
ökonomischen Abhängigkeiten insgesamt unbestreitbar. Nur ist die augenblickliche
Lage durch das riesige Wohlstandsgefälle innerhalb der Weltökonomie prekär. Auf
lange Sicht wird sich aber dieses Gefälle ausgleichen und der Konkurrenzdruck
auf die Löhne sich entschärfen. Bis dahin gilt es in Europa einigermaßen heil
über die Runden zu kommen - und gleichzeitig durch globale Regelungen den
Ausgleich zu befördern.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
26. Okt. 2005, 15:52 Uhr
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Hallo miteinander!
Ich möchte noch einmal auf die beiden
unterschiedlichen Modelle von „Gemeinschaft“ eingehen, die ich angedeutet habe.
Ihr Unterschied liegt in der Weise, wie das Verhältnis der Einzelnen zum Ganzen
vorgestellt wird.
Im Vertragsmodell wird von einer Pluralität
von Individuen ausgegangen, die jeweils eigene Ziele verfolgen (jeweils eine
eigene Vorstellung von ihrem „Wohl“ haben). Zugleich wird jedoch vorausgesetzt,
dass die individuellen Ziele gleichwertig seien, dass also jedes Individuum „das
gleiche Recht“ habe, das Seine zu wollen. Fragt man nun unter dieser
Voraussetzung danach, wie sich die Interessen der Individuen harmonisieren
lassen, sollten sie fallweise in Konflikt miteinander geraten, so erzwingt die
vorausgesetzte Gleichwertigkeit aller Einzelinteressen dazu, dass man
Einschränkungen finden muss, die für alle gleich gelten. Das führt zu Sätzen
wie: „Jeder darf – mit Rücksicht auf das Wohl aller – nichts für sich fordern,
was nicht auch jeder andere fordern dürfte.“
Eine der Fragen, die man
hier stellen kann, wäre: Wie kommt man zu der Voraussetzung, dass alle
individuellen Interessen, so verschieden sie inhaltlich sein mögen, als
gleichwertig zu gelten haben? Gleichwertigkeit ist ja eine formale Eigenschaft,
die bereits gleichbleibende Beziehungen zwischen den verschiedenen Individuen
voraussetzt. Mit dieser Voraussetzung ist also die Frage nach der Gemeinschaft
und dem allgemeinen Wohl implizit schon beantwortet. Das weitere – die
erforderliche allgemeine Einschränkung der individuellen Interessen - folgt
logisch daraus.
(Dieser Punkt ist auch gegen Hobbes’ Staatskonstruktion
immer wieder eingewendet worden: Der sog. „Naturzustand“ setzt das (egalitäre)
Recht, das doch erst im noch zu begründenden Staat herrscht, schon voraus.)
Aber wie ist diese implizite „Gemeinschaft“ der Individuen vorgestellt? Als
Mengenbegriff: Die Menschheit, das ist eine Klasse aus gleichen Exemplaren.
Damit ist auch klar, dass die aktuelle Verschiedenheit der Individuen für diese
„Gemeinschaft“ keine Rolle spielt. Sie geht nicht ins Gemeinsame ein.
Individualität ist das, wovon man absehen muss, wenn man das Gemeinsame
bestimmen will.
Das andere Gemeinschaftsmodell ist ein
„funktionales“, also gewissermaßen „arbeitsteiliges“ Modell. Es hat den Vorzug,
dass die Eigenheiten der Individuen als integraler Bestandteil der Gemeinschaft
verstanden und anerkannt werden können. So kann der Einzelne gerade dadurch,
dass er seine individuellen Interessen verfolgt, dem Bestand des Ganzen dienen.
Er tut und will das Seine, aber durch vielfältige Beziehungen des Gebens und
Nehmens zwischen den Einzelnen wird dieses Eigene nicht nur als gleichwertiger
Beitrag zum Ganzen bestimmbar, sondern wirkt sich sogar als Bereicherung von
dessen Komplexität aus.
Aber auch dieses Modell hat seine Probleme. Und
ich denke, dass beide Modelle nicht als Konkurrenten gesehen werden sollten, die
einander ausschließen, sondern als Ergänzungen und gegenseitige Korrektive.
Ich breche hier ab und grüße
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 26.
Okt. 2005, 20:23 Uhr
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Hallo Urs,
es geht um die Bestimmung eines verpflichtenden Gemeinwohls
(Gesamtinteresses, allgemeinen Interesses ..) und dessen Verhältnis zum Wohl der
Individuen, die das Gemeinwesen bilden.
Du schreibst: „Im Vertragsmodell
wird von einer Pluralität von Individuen ausgegangen, die jeweils eigene Ziele
verfolgen … Zugleich wird jedoch vorausgesetzt, dass die individuellen Ziele
gleichwertig seien, dass also jedes Individuum „das gleiche Recht“ habe, das
Seine zu wollen. …
Mit dieser Voraussetzung ist … die Frage nach der
Gemeinschaft und dem allgemeinen Wohl implizit schon beantwortet. Das weitere –
die erforderliche allgemeine Einschränkung der individuellen Interessen - folgt
logisch daraus.“
Wenn ich Dich richtig verstehe, so siehst Du hier den
logischen Fehler, dass das, was erst zu beweisen wäre (die Gleichwertigkeit der
individuellen Interessen), bereits durch die Konstruktion des Problems
vorausgesetzt wird.
Diese Kritik trifft zumindest auf mein Verständnis
von der Bildung eines normativ verpflichtenden Gemeinwohls nicht zu.
Um
das zu begründen, muss ich theoretisch etwas weiter ausholen. (Ich hoffe, dass
der Gedankengang trotzdem nachvollziehbar bleibt.)
Wenn etwas als im
allgemeinen Interesse liegend und deshalb für die Einzelnen als verpflichtend
behauptet wird, dann wird damit eine normative Behauptung aufgestellt, für die
allgemeine Geltung beansprucht wird.
Soll dieser Geltungsanspruch
gegenüber den Individuen mehr sein als ein bloßes Verlangen von Befolgung und
Gehorsam, so muss es für die Individuum einsichtige Gründe für die Zustimmung zu
dieser Norm geben.
Mit anderen Worten heißt dies, dass die Norm
allgemein nachvollziehbar begründet und somit konsensfähig sein muss.
Aus dieser Zielbestimmung, in Bezug auf die Normen des Handelns für die
Mitglieder des Gemeinwesens zu einem rein argumentativen zwangfreien Konsens zu
kommen, leitet sich die Forderung nach einer unparteiischen Berücksichtigung
aller individuellen Interessen ab. Eine parteiische Gewichtung von individuellen
Interessen wäre für diejenigen, deren Interessen weniger Gewicht beigemessen
wird, nicht akzeptabel.
Ich sehe bei diesem Ansatz zur Begründung von
Normen keine unzulässige Voraussetzung dessen, was erst zu beweisen wäre.
Abschließend noch eine Bemerkung zur Terminologie. Ich halte es nicht für
ganz glücklich, die individualistische Konzeption des Gemeinwohls (das
kollektive Interesse wird durch Zusammenfassung der individuellen Interessen
gewonnen) allein einem „Vertragsmodell“ der Gemeinschaft zuzuordnen. Die
Aggregation der individuellen Präferenzen zu einer kollektiven Präferenz kann
z.B. auch nach der Mehrheitsregel erfolgen, die zu völlig anderen Ergebnissen
führt als die Vertragsfreiheit von Eigentümern.
Grüße an Dich und alle an
normativen Fragen Interessierten von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
26. Okt. 2005, 23:01 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Wenn etwas als im allgemeinen Interesse
liegend und deshalb für die Einzelnen als verpflichtend behauptet wird, dann
wird damit eine normative Behauptung aufgestellt, für die allgemeine Geltung
beansprucht wird.
Du siehst mich etwas überrascht. Ich dachte,
wir diskutieren hier über den Begriff des Gemeinwohls und wie er sich bestimmen
lasse. Ist eine solche Bestimmung die Aufstellung normativer Behauptungen?
Nach meinem Verständnis geht es zunächst um ein angemessenes Verständnis von
menschlicher „Gemeinschaft“, und das ist eine interpretatorische oder
deskriptive Aufgabe – also ein Stück „Gesellschaftstheorie“. Das „Wohl“ eines
Individuums oder das „Wohl“ vergesellschafteter Individuen hat zunächst einmal
mit Normen oder normativen Ansprüchen nichts zu tun. Natürlich sind Normen oder
Verpflichtungen insofern Teil einer Gesellschaftstheorie, als Gesellschaften
durch Normen geformt werden – so wie das Schachspiel von den Spielregeln. Aber
eine Beschreibung gesellschaftlicher Formen bzw. eine Diskussion über mehr oder
weniger angemessene Modelle für das Verstehen von „Gesellschaft“ besteht nicht
aus normativen Behauptungen.
(Außerdem: Das „Wohl“ eines Individuums
(oder einer Gemeinschaft aus Individuen) ist nicht gleichzusetzen mit dem
Interesse oder dem Bedürfnis, sondern meint die Befriedigung des Interesses oder
Bedürfnisses. Das Wohl ist das, worauf sich das Interesse oder das Streben
richtet.)
Um das Gesagte an einem Beispiel zu erläutern: Wenn
jemand behauptet:„Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 % dient dem Gemeinwohl“,
so formuliert er damit keine Forderung („Ihr sollt...“), sondern behauptet eine
Tatsache. Allerdings ist es eine Tatsachenbehauptung, die einen normativen
Anspruch begründen soll – nämlich die künftige Verpflichtung, die erhöhte Steuer
zu bezahlen. Es wird implizit behauptet: Diese Maßnahme, die vordergründig nicht
im Interesse der einzelnen Steuerzahler liegt, dient in Wahrheit doch dem Wohl
des Gemeinwesens und damit indirekt auch dem Wohl jedes Einzelnen.
Der
Anspruch auf Befolgung der staatlichen Anordnung wird hier also mit einem
Hinweis auf die faktische Verflochtenheit der Interessen aller Staatsbürger
begründet. Und wenn man diese Begründung überprüfen will, so muss man nicht in
ein Gesetzbuch oder eine Sittenlehre schauen, sondern muss die Art und Weise
analysieren, nach der die Interessen aller Mitglieder dieses Gemeinwesens
vermittelt sind. Konkreter gesprochen: Es muss gezeigt werden, auf welchen
Vermittlungswegen die Mehrkosten des Konsumenten ihm faktisch zugute kommen.
So zielt die Frage nach dem Zusammenhang von individuellem Wohl und
Gemeinwohl auf die Art und Weise, wie das Gemeinwesen organisiert ist oder sein
kann. Und diese Art der Vermittlung lässt sich dann evtl. auch beurteilen, z.B.
ob sie gerecht ist oder nicht.
(Selbstverständlich erheben auch
deskriptive Aussagen Anspruch auf allgemeine Geltung. Aber dieser Anspruch wird
hier eingelöst durch Tatsachen.)
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 26.
Okt. 2005, 23:28 Uhr
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Hallo Eberhard,
"Offenbar meinst Du die breite Gemeinsamkeit –
ausgedrückt durch eine wahrscheinlich kommende große Koalition – in Bezug auf
die Notwendigkeit neoliberal orientierter sozialer Veränderungen, also mehr
Markt und weniger Staat." Eberhard
Ist die Gemeinsamkeit kapitalistischer
Gesellschaft, ist das Gesamtinteresse hier nicht stets mit der privaten
Marktwirtschaftsordnung gegeben, deren Warenproduktion der Faktor ist, um dem
vergesellschaftete Einzelinteressen kreisen, mit deren Entfaltung bürgerlicher
Staat (ob nun nationalstaatlich oder verschlanktstaatlich), Moral, Ideen ...
sich manifestieren?
"Der politische Streit geht inzwischen wohl weniger
darum, ob es überhaupt schmerzhafte Einschnitte bei den empfangenen Leistungen
geben soll, sondern der Streit geht eher darum, wie diese Kürzungen „sozial
ausgewogen“ gestaltet werden können, so dass die Sanierung der sozialen
Sicherungssysteme nicht nur den durchschnittlich oder gering Verdienenden
aufgebürdet wird. Es gibt allerdings bestimmte Umstände, die eine Ausgewogenheit
der Lastenverteilung verhindern. ... Insofern sitzen beide Gruppen nicht mehr
unbedingt in einem Boot: Das Wohlergehen der deutschen Kapitaleigentümer mit
internationalem Portefeuille ist nicht mehr an das Wohlergehen des deutschen
Arbeiters oder Angestellten geknüpft." Eberhard
Diese realistische
Erkenntnis berücksichtigend, wird die künftige große Koalition wohl demnächst
Innenpolitik präsentieren, mit der die an den geographischen Ort gebundene
deutsche Gesellschaft in die Anständigen und in den (nationalen) Abzockern an
der Sozialgemeinschaft geteilt wird. Was sich beispielsweise im Linksbündnis
sammelt, könnte den gesellschaftlichen Raum abgeben, wo die große Koalition die
Verhinderer des Gemeinwohl und des Wohl der Anständigen sichtet. Diese
gesellschaftliche Gruppe könnte die Steigerung hergeben, hinter der die
Sozialpolitik der grossen Koalition in den Medien zurückgestellt wird. Die
gesichteten "Anderen" könnten medial den Anständigen präsentiert werden, vor
deren Darstellung die Sozialpolitik der grossen Koalition aus dem Gesichtsfeld
der Wählerschaften verschwindet. Dass wäre zugleich das Eingeständniss der
großen Koalition, dass die Arbeitslosigkeit, dass diese Folge der sogenannten
Globalisierung mit Innenpolitik nicht mehr in den Griff zu bekommen ist.
Anstelle dessen wird "Innenpolitik" favorisiert in der jene gesellschaftlichen
Einzelinteressen ausgebootet werden, die - im Sog der neoliberalen
Aussenwirtschaftspolitik des deutschen Staates, als Abzocker betitelt, geraten -
im angestammten Parteiengefüge keinen Platz mehr finden.
(Wie lässt sich
ein Gemeinwohl bestimmen, das für das Handeln der Einzelnen und Gruppen – auch
gegen deren spezifische Interessen - verpflichtend ist?)
Voraussetzung
ist doch wohl, dass bei der Behandlung des Gemeinwohls die Einzelinteressen so
berücksichtigt werden, dass diese mit im Boot bleiben. Oder kann Gemeinwohl
favorisiert werden, dessen Gefüge stigmatisierte gesellschaftliche Gruppen
darstellen: welche Gruppen von Volksparteien ... als die "Anderen" konsturiert
werden!? Nicht auszuschliessen, dass stigmatisierte Gruppen - bezogen auf die
die Gesellschaft darstellenden Einzel- und Gruppeninteressen - der Normalfall
sind. Allerdings ist der Anspruch kapitalistischer Gesellschaft, die Wert auf
repräsentative Demokratie legt, dann schwerlich aufrecht zu erhalten. Wenn der
angenommene Normalfall, die mit dem Einzel- und Gruppeninteresse sich
manifestierende begriffliche Konstruktion des "Anderen", nicht nur im sozusagen
vorparlamentarischen Raum der Gesellschaft sich äussert, sondern sich auch mit
den diesen Raum repräsentierenden politischen Parteien manifestiert - lässt sich
dann nicht der Verfallsprozess kapitalistischer Gemeinwesen diagnostizieren?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 27. Okt.
2005, 01:34 Uhr
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Hi zusammen,
ich wiederhole: die Diskussion ist mir zu abstrakt. Abstrakt
in dem Sinne, dass sie keinen Bezug zur menschlichen Wirklichkeit hat.
Nehmen wir das Wort Staat. Staat ist nach klassischer Definition definiert durch
Staatsvolk, Staatsterritorium, Regierungsgewalt. Wenn ihr also vom Staat redet:
wovon redet ihr? Was meint ihr damit? Und wen?
Um vielleicht besser zu
klären, wo ich Probleme mit dem Wort Individuum habe: Welche Eigenschaften hat
das Individuum? Ich stelle fest: gar keine, außer denen, die die Art Mensch hat.
Also die biologischen Bedürfnisse, wobei - da hat Urs recht - das Bedürfnis nach
Gesellschaft nicht übersehen werden sollte. Deswegen sage ich, wenn (!) wir von
Individuen sprechen, dann ist klar, was im gemeinsamen Wohl liegt: die
Befriedigung ihrer biologischen Bedürfnisse. Und sonst? Tja, sonst kann man über
das Individuum nichts sagen, das sehe ich als das Problem an.
Wenn wir
uns mit dieser Sicht an Hobbes machen, ist klar, dass seine Theorie
funktioniert. Lediglich mit den der Art Mensch zukommenden Eigenschaften
ausgestattete Individuen haben alle gleiche Interessen und sind alle gleich.
Solche Wesen können einen Gesellschaftsvertrag unter gleichen abschließen -
auch, um ihre natürlichen Aggressionen im Griff zu halten.
Nur: Menschen
sind in diesem Sinne keine Individuen. Es ist falsch, sie in dem Sinne als
Individuen zu betrachten, dass sie Elemente sind, auf die gleichermaßen die
Kriterien zutreffen, durch die die Menge Mensch definiert ist. Falsch, weil es
nicht der Wirklichkeit entspricht.
Ich fürchte aber, wir haben uns so
sehr daran gewöhnt, dass wir das gar nicht mehr merken. Wir fragen, wie kann der
Staat herausfinden, was dem Gemeinwohl - so es das gibt - entspricht und
entsprechende Normen beschließen? Wir fragen das von außen, denn wir sind weder
der Staat (höchstens fiktive Philosophenkönige [unhappy]), noch sind wir
Individuen, sondern selbständig denkende Menschen mit persönlichen
Eigenschaften. Als solche betrachten wir die Sache etwa so wie ein paar
Architekten, die über einem Plan diskutieren, wie man eine Wand entfernen kann,
wenn die Statik das eigentlich nicht zulässt.
In der Suchtliteratur gibt
es den Begriff Depravation, am besten übersetzt mit 'Persönlichkeitsentkernung'.
Ein langjähriger Schwerstabhängiger verliert mit der Zeit die Fähigkeit, selbst
zu denken, selbst zu entscheiden, mehr als momentan und diffus zu wollen. Und
emotional verhält er sich mehr und mehr wie ein Kind. Wenn wir vom Individuum
sprechen, das dem Staat gegenüber steht: setzten wir nicht unwillkürlich den
depravierten Menschen voraus?
Ist das nicht auch in anderen Bereichen
üblich, besonders in der Wirtschaft? Die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer, die
Arbeitslosen, die Kapitalisten, die Arbeitskräfte - sind das im Grunde nicht
alles depravierte Menschen, die nur durch ein einziges äußerliches Merkmal
zusammengefasst werden?
Nehmen wir Urs' Bäcker als konkretes Beispiel.
Dass der Bäcker Brot backt, nicht um andere Menschen satt zu machen, sondern
um sie mit Gewinn zu verkaufen, ist eine empirisch nachprüfbare Aussage über die
Motivation und die Absichten des Bäckers. Ein Indikator hierfür wäre, ob er die
Brote verteilt oder verkauft.
Dies schließt jedoch nicht aus, dass die
Brote dieses auch Bäckers dazu dienen, Menschen satt zu machen.
Und warum
verkauft er dann keine Autoreifen?
Diese Ansicht gibt es ja durchaus.
Warum studiert der Trottel denn Jura, wenn wir Maschinenbauingenieure brauchen?
Mit Juristen kann man die Straße pflastern. Im Grunde schmarotzt er nur am
gesellschaftlichen Bildungsgut. Soll er Ingenieur studieren, davon hat die
Gesellschaft was und er auch, nämlich sicheren Lebensunterhalt Nützt allen, ist
Gemeinwohl.
Wenn man von depravierten Menschen ausgeht, ist das kein Problem.
Du sprichst von Kunst als menschliches Bedürfnis. Gut. Jede Opernkarte wird
mit mehr als dem Doppelten ihres Verkaufspreises subventioniert. Möchtest du,
Urs, eine Umfrage machen, was die Mehrheit der Bürger einer Kommune davon hält?
Entspricht es dem Gemeinwohl, Opernkarten für eine Minderheit der Bevölkerung zu
subventionieren, statt für die Mehrheit der Bevölkerung die Straßen
auszubessern?
Nur wenn die Oper abgerissen werden soll, dann ist das
Geheule groß, denn dann geht's um's Renommee der Stadt, dann liegen die
Interessen auf einmal ganz anders.
Nein, ich glaube, wir sollten anders
ansetzen. Nicht bei den Interessen der Individuen oder durch ein einziges
Merkmal gekennzeichnete Gruppen, sondern bei dem, was für unsere Gesellschaft
konstituierend ist: bei der Verfassung. Und bei der gemeinsamen Kultur. Und dann
fragen, wie bekommen wir das, was unsere Gesellschaft anmutet, so in den Griff,
dass wir es für unsere Entwicklung nutzen können oder dass es unserer
Entwicklung auf der Basis von Verfassung und Kultur zumindest nicht schadet.
Also nicht, was ist zu diesem spezifischen Problemfall als Gemeinwohl
auszumachen, sondern, welche Normen, mit denen wir diesen Problemfall lösen
könnten, passen zu unserem Selbstverständnis. Und wer unser Selbstverständnis
mal bisschen genauer betrachet, der findet, dass darin die Interessen
unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen und Subkulturen durchaus zu
berücksichtigen sind, selbst wenn es Minderheiten sind.
Ich denke, so
können wir eher zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens gelangen.
Wenn
ich mich noch nicht so ganz klar ausdrücken kann, dat is mir auch noch nicht
hunderprozentig klar, ich arbeite noch dran :-)
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
27. Okt. 2005, 12:12 Uhr
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Hallo Abrazo!
Noch zu Deinem vorletzten Beitrag:
Quote:Der
Staat besteht aber nicht aus Individuen. Er besteht aus vergesellschafteten
Menschen. Dass die durchaus in der Lage sind, gemeinsam und gemeinsinnig als
Gesellschaft zu handeln, zeigt sich im Konfliktfall. Hier zeigt sich, dass
Gesellschaften nicht nur gemeinsam handeln, sondern auch gemeinsam eine Meinung
bilden - und gemeinsam wollen. Und diesen Willen Machthabern auch schon mal ganz
schön um die Ohren hauen können - siehe Mauerfall.
Gerade dieses
Beispiel zeigt doch, dass es Unsinn ist, vom Individuum als politischer Kraft zu
sprechen. Individuen können noch nicht mal eine Demo organisieren. Die treibende
Kraft sind immer Gruppen, in größerem Ausmaß Gesellschaften.
Die
Folgerung, dass das Individuum überhaupt keine politische Kraft sei, finde ich
überzogen, ja eigentlich falsch.
Aber vielleicht ist auch nicht ganz
klar, was wir mit „Individuum“ meinen. Ich meine damit hier, wo es um Politik
und Gesellschaft geht, das vergesellschaftete Individuum, also das einzelne
„Mitglied“ einer Assoziation, etwa den einzelnen „Staatsbürger“. Dass man vom
„einzelnen“, unverwechselbaren „Teil“ einer Gesellschaft sprechen kann, hängt
allerdings damit zusammen, dass dieser „Teil“ auch Individuum im biologischen
Sinne ist.
Man kann der Ansicht sein, das biologische Individuum
(sozusagen der einzelne menschliche Organismus) sei überhaupt nicht Teil der
Gesellschaft. Oder kann finden, dass Frau X, geborene Z, wohnhaft in Essen,
Mutter dreier Kinder, Mitglied in mehreren Vereinen, deutsche Staatsangehörige
usw. keine „Einheit“ sei, sondern bloß eine Schnittstelle verschiedener Systeme.
Das ist etwa die Ansicht des Systemtheoretikers Niklas Luhmann. Das
Individuum (Organismus) bzw. dessen „psychisches System“ sei kein „Teil“ der
Gesellschaft, sondern gehöre zu ihrer Umwelt. Das klingt zunächst einmal etwas
abstrus, ergibt sich aber aus seinem Systembegriff: Systeme bestehen nicht aus
„Teilen“, sondern aus Operationen, die den Unterschied zwischen System und
Umwelt produzieren und reproduzieren. Sie sind zwar eine „Einheit“, aber keine,
die mit irgendwelchen physikalischen Einheiten („Körpern“) zusammenfiele.
Diesen Ansatz finde ich interessant, aber immer noch sehr „gewöhnungsbedürftig“.
Ich habe dazu bis jetzt mehr Fragen als bestimmte Urteile.
Aber wenn
wir unter „Individuum“ das „vergesellschaftete Individuum“ verstehen, dann ist
es m.E. durchaus eine „politische Kraft“. Denn schließlich ist das
vergesellschaftete Individuum (das ich mal zur besseren Unterscheidung „Person“
nennen will) doch die Einheit des zurechenbaren Handelns. Man kann zwar in einem
gewissen Sinne sagen, der Staat, der Verein, der Vorstand, die Gruppe handele,
aber dann ist das eben doch ein gemeinschaftliches Handeln von Personen. Das ist
ja auch die Auffassung unserer Rechtsprechung: als „Verursacher“ von Handlungen
gelten immer Personen, nicht Gruppen. Und wenn jemand schuldig gesprochen wird,
weil er Mitglied einer „kriminellen Vereinigung“ war, so wird damit doch nicht
diese Vereinigung belangt, sondern jedes einzelne Mitglied. Es gibt in unserem
Recht – aus guten Gründen – keine kollektive Haftung oder Schuld.
Aber
es ist eine berechtigte Frage, was es eigentlich bedeutet, wenn man sagt, eine
Gruppe oder eine Institution handele. Ist das nur die „Zusammenfassung“
einzelner, persönlicher Handlungen? Oder „emergiert“ da eine neue „Ebene“ der
Integration?
Ich breche mal wieder ab.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 27.
Okt. 2005, 19:41 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Urs,
nach meinem Verständnis des Themas
diskutieren wir darüber, wie sich das Wohl einer Gemeinschaft zum Wohlergehen
der einzelnen Glieder dieser Gemeinschaft verhält, oder anders formuliert: ob
und wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der
einzelnen Individuen ergibt, die dieses Kollektiv bilden.
Mir ist dabei
klar, dass das Wohl und das Interesse eines Subjekts nicht identisch sind. Beide
stehen jedoch in einem engen Zusammenhang: Wenn man das Interesse eines
Individuums in einer gegebenen Situation durch eine Bewertung der verfügbaren
Alternativen darstellt, so besteht das Wohlergehen eines Individuums – unter
bestimmten Voraussetzungen – in der Verwirklichung der höchstbewerteten
Alternative.
Ich habe bewusst beide Begriffe (Wohlergehen und Interesse)
nebeneinander verwendet, um die Problematik offen zuhalten, die sich in der
Frage ausdrückt: Ist das, was ich will, wirklich gut für mich?
Dabei habe
ich die Begriffe Gemeinwohl bzw. Gesamtinteresse bereits im Eröffnungsbeitrag
unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwendung für die inhaltliche Rechtfertigung
politischer Entscheidungen gesehen.
Wenn ich eine Entscheidung
rechtfertige, dann stelle ich - nach meinem Begriffsverständnis - eine normative
Behauptung auf. Ich sage damit: Die Entscheidung soll so ein, sie ist richtig.
Wenn man über die Bestimmung eines Begriffs wie "Gemeinwohl" diskutiert,
so hat das nur dann einen Sinn, wenn klar ist, was man mit diesem Begriff machen
will. Andernfalls handelt es sich um den beliebten aber witzlosen Streit um
Worte. Der eine bestimmt den Begriff "Gemeinwohl" so, der andere bestimmt den
Begriff anders.
Nur wenn klar ist, bei der Beantwortung welcher Fragen
ein bestimmter Begriff verwendet werden soll, erhält man Kriterien dafür, ob
eine bestimmte Definition dieses Begriffes zweckmäßiger ist als eine andere.
Deshalb habe ich immer wieder deutlich gemacht, dass der Begriff
"Gemeinwohl" zur Begründung einer Verpflichtung von Individuen oder Gruppen zum
Handeln auch entgegen der eigenen Interessenlage bzw. dem eigenen Wohlergehen
dient.
Mit der Frage: Was unterscheidet normative Behauptungen von
faktischen Behauptungen? sind wir meines Erachtens an einem zentralen und
zugleich schwierigen methodischen Punkt angelangt, weshalb wir die Dinge in
aller Ruhe analysieren und klären sollten. Ich bin jederzeit bereit, eine
missverständliche oder schwammige Terminologie zugunsten einer besseren
einzutauschen.
Du schreibst: "Wenn jemand behauptet: 'Die Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 2 % dient dem Gemeinwohl', so formuliert er damit keine
Forderung ('Ihr sollt...'), sondern behauptet eine Tatsache."
Dieser
Satz wäre allerdings nur dann eine faktische (empirische, positive)
Tatsachenbehauptung, wenn der Begriff "Gemeinwohl" empirisch definiert werden
könnte.
Dies gilt im Übrigen auch für andere ähnliche Sätze wie:
"Die
Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2% bewirkt den größten Nutzen (das maximale
Glück)" oder:
"Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2% ist die bestmögliche
Entscheidung".
Du schreibst weiter: "Allerdings ist es eine
Tatsachenbehauptung, die einen normativen Anspruch begründen soll – nämlich die
künftige Verpflichtung, die erhöhte Steuer zu bezahlen."
Damit ergibt
sich jedoch das von Hume analysierte Problem des "naturalistischen
Fehlschlusses" vom Sein auf das Sollen, auch als "Humes Gesetz" bekannt.
Aus einer reinen Tatsachenbehauptung ohne normativen Gehalt kann man logisch
keine Verpflichtung oder etwas anderes Normatives herleiten.
Eine
Verpflichtung kann man nur dann aus dem obigen Satz ableiten, wenn der Begriff
des Gemeinwohls bereits einen präskriptiven Gehalt besitzt und unter diesem
Gesichtspunkt gebildet wurde.
Da es sich hier um hochtheoretische und
relativ abstrakte methodische Fragen handelt, die jedoch unbedingt geklärt sein
müssen, wenn man zu haltbaren Resultaten kommen will, mache ich hier erstmal
einen Punkt.
Es grüßt Dich Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 27.
Okt. 2005, 21:02 Uhr
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Hallo Eberhard,
"...wie sich das Wohl einer Gemeinschaft zum Wohlergehen der
einzelnen Glieder dieser Gemeinschaft verhält, oder anders formuliert: ob und
wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der einzelnen
Individuen ergibt ..."
Dem ersten Teil stimme ich zu, der zweite Teil ist
mitnichten das gleiche anders formuliert.
Im zweiten Teil setzt Du bereits
voraus, dass sich das Gesamtinteresse aus den Interessen der Individuen ergibt.
Das bestreite ich mit den oben angeführten Argumenten und füge noch dieses
hinzu: das Gesamtinteresse ist bereits vorhanden, bevor die Individuen
hinzukommen. Köln und Deutschland existieren, egal mit welchen Individuen. Die
Individuen sind austauschbar. Genau wie Deine Körperzellen austauschbar sind,
abgestoßen und durch neue ersetzt werden. Dein Wille oder Dein Interesse ergibt
sich auch nicht aus dem Summenwillen Deiner Körperzellen oder Deiner Moleküle.
Das ist eben das Phänomen lebender Systeme im Gegensatz zu nichtlebenden
Systemen, dass sie identisch bleiben, obwohl sie ihre Bausteine ständig
austauschen, körperlich also nach einiger Zeit nicht mehr die gleichen sind. Der
Staat besteht nach 100 Jahren aus völlig anderen Individuen, der Mensch nach 7
Jahren aus komplett neuen Zellen. Dennoch bleibt die BRD die BRD und Eberhard
bleibt Eberhard.
Über das Verhältnis des Wohls des Ganzen zum Wohl seiner
Teile können wir uns hingegen sehr wohl unterhalten,
oder besser:
wo und
wann hat das Individuum die gleichen Interessen wie der Staat und in welchen
Punkten gibt es Interessengegensätze.
Die von Euch intendierte normative
Verpflichtung muss, wenn, dann genau andersherum praktiziert werden,
nämlich:
Wenn ich Individuum 2% mehr MWSt zahle, dann muss der Staat dies und das machen.
Das Individuum muss den Staat verpflichten können und nicht umgekehrt. Erst,
wenn wir so weit sind, ist die Welt in Ordnung.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von philoschall am 27.
Okt. 2005, 21:30 Uhr
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Hallo zusammen,
" ... Eine Verpflichtung kann man nur dann aus dem obigen
Satz ableiten, wenn der Begriff des Gemeinwohls bereits einen präskriptiven
Gehalt besitzt und unter diesem Gesichtspunkt gebildet wurde. Eberhard
Na
gut, ihr zieht einzelne Sätze heran, wie "Erhöhung der Mehrwertsteuer ...",
bringt diesen Satz mit dem Begriff des Gemeinwohl in Verbindung um einer
Tatsachenbehauptung den Charakter der Verpflichtung zu geben.
Zunächst
eine Frage: Was ist das Merkmal dieses als Tatsache behaupteten Satzes? Was
kommt diesem zu, dass er sich systematisch von einem Satz unterscheiden lässt,
der nicht auf Tatsachen beruht? Ist dieses Merkmal beispielsweise mit einen
vergesellschafteten Sprecher oder von diesem unabhängig, etwa mit einer
konkreten Sachlage gegeben? Oder?
Gruss
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 27.
Okt. 2005, 22:21 Uhr
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Hallo Rudi,
die Frage ist ob (!) und wie sich die Interessen der
Gemeinschaft aus den Interessen der Individuen ergeben, da ist nichts
vorentschieden.
Für meine Fragestellung ist es irrelevant, ob Du
irgendwelche lebende Systeme samt deren Interessen postulierst wie z.B. die
Bundesrepublik Deutschland, die Freie Reichsstadt Köln, den 1.FC Köln, die
Europäische Union, die Vereinten Nationen etc.
Es gibt für mich
keinerlei Begründung, warum ich mein Handeln an diesen Systeminteressen
orientieren sollte. Darum geht es aber beim Begriff des Gemeinwohls.
Es
grüßt Dich Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 27.
Okt. 2005, 23:12 Uhr
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Hallo Eberhard,
"ob und wie".
Wenn ich das ob verneine, brauche ich über
das wie nicht mehr zu reden.
Oder: das "und wie" nimmt Antwort auf das "ob"
vorweg.
Ich kann leider nur zum "ob" was sagen und habs getan. Zum "wie" kann
ich mich daher nicht äußern und warte interessiert auf die Antwort derjenigen,
die das "ob" bejahen, ohne das "wie" vorher ausdiskutiert zu haben.
Du sagst:
"Es gibt für mich keinerlei Begründung, warum ich mein Handeln an diesen
Systeminteressen orientieren sollte." Richtig. Für das Individuum gibt es keinen
Grund, sein Handeln an den Interessen denen des Staats zu orientieren. Aber man
sollte sich dessen Interesse bewusst sein. Zum Beispiel hat der Staat ein
Interesse daran, dass ich (als Mann) Kinder zeuge oder eine Frau Kinder kriegt.
Aber ich muss mich nicht danach richten.
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
27. Okt. 2005, 23:59 Uhr
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Hallo Eberhard!
Ja, diskutieren wir die Sache in Ruhe und in der
nötigen Ausführlichkeit aus! Ich kann aber nicht finden, dass sie sooo
"hochtheoretisch" ist.
Quote:Nach meinem Verständnis des Themas
diskutieren wir darüber, wie sich das Wohl einer Gemeinschaft zum Wohlergehen
der einzelnen Glieder dieser Gemeinschaft verhält, oder anders formuliert: ob
und wie sich das Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der
einzelnen Individuen ergibt, die dieses Kollektiv bilden.
Mit
dem von mir kursivierten Teil des Satzes bin ich aus zwei Gründen nicht ganz
einverstanden. Denn erstens sind Gemeinwohl und Gesamtinteresse nicht dasselbe;
und zweitens trifft die Formulierung „wie sich das Gesamtinteresse eines
Kollektivs aus den Interessen der einzelnen Individuen ergibt“ eine
Vorentscheidung über das Verhältnis – eine Entscheidung, die ich so nicht teilen
kann. Ich bin nicht der Ansicht, dass sich ein „Gesamtinteresse“ aus
„Einzelinteressen“ ergibt bzw. dass sich das Wohl eines Gemeinwesens vom
individuellen Wohlergehen seiner Mitglieder ableiten lässt. (Andererseits lässt
sich das Gemeinwohl auch nicht unabhängig vom Wohlergehen seiner Mitglieder
bestimmen.)
Quote:Wenn ich eine Entscheidung rechtfertige,
dann stelle ich - nach meinem Begriffsverständnis - eine normative Behauptung
auf. Ich sage damit: Die Entscheidung soll so ein, sie ist richtig.
Diese Auffassung kann ich nicht teilen. Nehmen wir ein banales Beispiel: Ich
entscheide mich, gegen meine Gewohnheit heute keinen Spaziergang zu machen.
Sollte es jemanden geben, der mich mit gerunzelten Augenbrauen fragt, warum ich
mich so entschieden habe, sage ich: „Ich bin heute einfach zu k.o.“
Wo ist
da das Normative? Dass ich mich gegen einen Spaziergang entschieden habe, ist
ein Faktum; ebenso meine Müdigkeit, der Grund für meine Entscheidung.
Anders liegt der Fall, wenn etwa ein Parlament beschließt, den Gesetzesentwurf
der Regierung anzunehmen, nach dem die Mehrwertsteuer ab dem 1.1.2006 um 2 %
erhöht werden soll. Hier wird nun eine Entscheidung getroffen, die eine
allgemeine Vorschrift in Kraft setzt.
Aber die Begründung für diese
Entscheidung ist sachlicher Art. Der Finanzminister verweist etwa auf das
Haushaltsdefizit und gibt an, wofür die Mehreinnahmen verwendet werden sollen:
zur Reduzierung der Lohnnebenkosten. Das Ziel ist es also, ein bestimmtes
ökonomisches Problem, das sich empirisch belegen lässt, durch eine gezielte
finanztechnische Maßnahme zu beheben. Selbstverständlich wurden vorher Experten
zu Rate gezogen, aus deren Gutachten der Finanzminister im Parlament zitiert.
Vielleicht macht er sich noch die Mühe, den betroffenen Bürgern zu erklären,
wieso ihnen die Folgen dieser Entscheidung zugute kommen werden. - Die
„Richtigkeit“ der Entscheidung ergibt sich also aus der Einschätzung der
faktischen ökonomischen Lage und der möglichen Maßnahmen, die man zu ihrer
(wahrscheinlichen) Verbesserung einleiten kann. (Diese „Verbesserung“ wäre
wiederum objektivierbar – z.B. durch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit.)
In diesem Beispiel wird nirgends eine „normative Behauptung“ aufgestellt.
Sondern es wird eine Norm in Kraft gesetzt. Bei der Begründung für diese
verbindliche Entscheidung wird dann sehr wohl etwas behauptet, nämlich über die
ökonomische Situation und die Möglichkeiten, sie zu beeinflussen. Aber das sind
Tatsachenbehauptungen.
Überhaupt finde ich den Ausdruck „normative
Behauptung“ unklar. Behauptet werden Tatsachen. Forderungen werden erhoben,
Vorschriften erlassen oder in Kraft gesetzt. Eine Vorschrift oder Norm („du
sollst...“) ist die an einen oder mehrere Adressaten gerichtet Forderung, etwas
zu tun oder zu unterlassen. Diese Forderung kann begründet sein oder auch nicht.
Aber „etwas fordern“ ist nicht „etwas behaupten“.
Wird allerdings die
Forderung begründet, so heißt das genauer: Es werden (sachliche) Behauptungen
aufgestellt, die dann mehr oder weniger begründet sein können. Begründungen und
Behauptungen kann man überprüfen. Eine Forderung kann man anerkennen oder
ablehnen (und zwar mit oder ohne Begründung).
Also, ich halte es für ratsam,
diese beiden Sachverhalte säuberlich zu trennen – die Aufforderung und die
Begründung einer Aufforderung.
Quote:Dieser Satz wäre
allerdings nur dann eine faktische (empirische, positive) Tatsachenbehauptung,
wenn der Begriff "Gemeinwohl" empirisch definiert werden könnte.
Du meinst mit „empirisch definiert“ wohl, dass man anhand gewisser Kriterien
überprüfen können muss, ob z.B. eine Verwaltungsmaßnahme dem Gemeinwohl dient
oder nicht. Hältst Du das für unmöglich? Mein Beispiel mit der Erhöhung der
Mehrwertsteuer zeigt doch, wie es gehen könnte. Eine andere Möglichkeit wäre
eine „Volksbefragung“, wie sie z.B. in der Schweiz zu bestimmten Entscheidungen
durchgeführt wird. Auf diesem Wege kann festgestellt werden, ob ein bestimmtes
Regierungsvorhaben „allgemein gewollt“ wird. Dass Expertengutachten oder
demoskopische Erhebungen irrtumsanfällig sind, ist klar. Aber das gehört zum
Wesen empirischer Behauptungen.
Quote:Damit ergibt sich
jedoch das von Hume analysierte Problem des "naturalistischen Fehlschlusses" vom
Sein auf das Sollen, auch als "Humes Gesetz" bekannt.
Aus einer reinen
Tatsachenbehauptung ohne normativen Gehalt kann man logisch keine Verpflichtung
oder etwas anderes Normatives herleiten.
Die Berufung auf Hume
macht für mich nicht klarer, was ein „normativer Gehalt“ sein mag. Das
Charakteristische an Normen ist, dass sie zu Handlungen oder zum Unterlassen von
Handlungen auffordern: „Du sollst...“ Diese Forderung ist m.E. der Kern des
Normativen. Und in der Tat lässt sich aus der Behauptung einer Tatsache keine
Forderung ableiten. Ableiten lässt sie sich nur aus dem Anspruch einer Person,
andere Personen möchten ihrer Aufforderung folgen.
Aber wie schon
gesagt: Handelt es sich darum, eine Forderung zu begründen, nämlich sie den
Adressaten einsichtig zu machen, so können dabei sehr wohl Tatsachen behauptet
werden, und sei es nur: „Man macht das halt so bei uns.“ Dass „man“ (also Viele
oder die Meisten) etwas „in der Regel so macht“ ist zweifellos ein überprüfbarer
Sachverhalt.
Zugegeben, daraus folgt nicht, dass jeder es so machen soll.
Das Sollen – die Aufforderung – geht auf den Willen von Personen zurück.
Für
den Adressaten der Aufforderung kann freilich die Tatsache, dass „man es hier
eben so macht“ ein guter Grund sein, der Forderung nachzukommen – z.B. weil er
keinen Ärger will oder weil er „dazugehören“ möchte.
Anderes
Beispiel.
Der Vater sagt zu seinem fünfjährigen Sohn: „Und putz dir die
Zähne, bevor du ins Bett gehst!“ Eine klare Aufforderung. Eine Norm wird daraus,
wenn diese Aufforderung für jeden Abend gilt: „Du sollst dir immer die Zähne
vorm Zubettgehen putzen!“
Fragt der Sohn „ warum?“ so folgt eine
empirische Tatsachenbehauptung über die Haltbarkeit ungepflegter Zähne. Und
vielleicht noch die Frage: „Hast du Zahnschmerzen gerne? Findest du es schön,
wenn der Zahnarzt bohrt?“ Und nun kann der Sohn, auf der Grundlage der
ausgebreiteten Fakten und einer wahrscheinlichen Zukunftsperspektive,
entscheiden, was er will.
Aus diesen Fakten folgt das Sollen nicht. Aber sie
begründen es. Der Vater will nicht, dass sein Sohn schlechte Zähne bekommt, also
macht er ihm die Zahnpflege zur Regel und fordert Gehorsam.
- - - -
Den folgenden Satz spare ich vorerst einmal aus, weil ich weiter ausholen
müsste, um ihn zu kommentieren. Das liegt vor allem am Begriff der
„Verpflichtung“, der hier ins Spiel kommt, und der etwas anderes meint als einen
Soll-Satz oder eine Norm oder Vorschrift. Das ist, wie Abrazo sagen würde, „eine
andere Baustelle.“
Quote:Eine Verpflichtung kann man nur dann aus
dem obigen Satz ableiten, wenn der Begriff des Gemeinwohls bereits einen
präskriptiven Gehalt besitzt und unter diesem Gesichtspunkt gebildet wurde.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 28. Okt.
2005, 00:28 Uhr
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Hi zusammen,
Politik und Justiz kann man m.E. nicht vergleichen, Urs. Die
Justiz befasst sich immer nur mit dem Individuum, selbst juristische Personen
werden letztlich als Individuen begriffen. Die Politik hingegen befasst sich mit
der Gesellschaft und mit Individuen nur insofern, als die gesellschaftlichen
Gruppierungen aus Menschen bestehen.
Zur Abgrenzung Interesse und
Gemeinwohl: betrachtet man die Gesellschaft, fallen Interesse und Gemeinwohl
zusammen, denn welches andere Interesse sollte eine Gesellschaft haben, als ihr
Gemeinwohl? Sobald du aber differenzierst in unterschiedliche Gruppierungen,
hast du auch Interessenkonflikte, und wenn du gar nur die Individuen
betrachtest, ist ein Gemeinwohl so gut wie gar nicht mehr eruierbar. Deswegen
sage ich nicht umsonst, das mögliche Gemeinwohl muss an der die Gesellschaft
konstituierenden Verfassung gemessen werden. Ein Neoliberalismus mit caritativen
Zügen kollidiert z.B. imho mit Art. 14 Abs 2 Eigentum verpflichtet. Sein
Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen und Art. 1 GG. Wie du
siehst, haben wir da den Begriff Gemeinwohl, und der wird offenbar nicht auf das
Individuum bezogen.
Desweiteren ergibt sich daraus, dass das, was
faktisch als das Gemeinwohl erkannt wird, Norm für die Individuen werden muss.
Das ergibt sich aus den bestehenden konstituierenden Normen.
Das die
Schulen renoviert und mehr Lehrer eingestellt werden, Kunst und Universitäten
besser gefördert werden, erheblich mehr in den sozialtherapeutischen Bereich
investiert werden muss, dass wir aber auch mehr Polizisten und schnelle
Instandsetzung von Straßen brauchen usw. liegt zweifelsfrei im Gemeinwohl und
müsste also verpflichtende Norm werden - wenn es bezahlbar wäre. Was dem
Gemeinwohl entspricht und demnach Norm zu werden hat, ist also nicht das
Problem; das Problem ist, welche Prioritäten sind zu setzen, wenn das Geld nicht
da ist. Davon ist nie genug da und zur Zeit erst recht nicht.
So wird das
Normenproblem bei Licht betrachtet zu einem Verteilungsproblem.
Aus Sicht
des Individuums. Aus Sicht der Gesamtgesellschaft, in der individuelles Handeln
als Handeln miteinander vernetzter und sich überschneidender Gruppen betrachtet
wird, sieht das anders aus. Da wird nämlich aus dem Verteilungsproblem ein
Investitionsproblem. Weil die Gesamtgesellschaft zum Wohle der Allgemeinheit nun
mal Geld braucht.
Nimm die 2% MwSt-Erhöhung. Aus individueller Sicht ein
Riesengeschrei. Die Hartz IV - Empfänger müssen bluten! Warum? Wird der
Lebensunterhalt-Anteil um 2% erhöht, kostet die Gesellschaft keinen Pfennig,
denn da das Geld sowieso in den Konsum fließt, kassiert der Staat das gleich
wieder ein. Lässt sich summa summarum also was mit einnehmen.
Nimm im
Gegenzug die 400-? - Jobs. Feine Sache, dachte die Regierung. Bekämpft die
Schwarzarbeit und der Staat kassiert wenigstens paar Euro Fuffzig ab. Feine
Sache, denkt der Schwarzarbeiter, arbeite ich weiter brutto für netto. Feine
Sache, denkt der Unternehmer, brauch ich auf den Lohn den Arbeitnehmeranteil
nicht drauf zu legen, krieg ich die Leute billiger, entlässt Festangestellte und
ersetzt sie durch 400? - Jobber. Berücksichtigt alle Interessen - aber da das
Handeln von Gruppen ein dynamischer Prozess ist, in den nicht nur eine
spezielle, sondern auch alle möglichen anderen Gruppen involviert sind, sitzt
der Staat am Ende auf nem neuen Haushaltsloch. War wohl nix mit dem Gemeinwohl.
Fehlinvestition.
oder anders formuliert: ob und wie sich das
Gesamtinteresse eines Kollektivs aus den Interessen der einzelnen Individuen
ergibt, die dieses Kollektiv bilden.
Ne, Eberhard, ich glaub, das ist
nicht der richtige Ansatz.
Handeln, Urs, kann nur ein Subjekt. Wenn Herrn
Hund einer auf die Füße tritt, zwickt er ihn in die Hacken. Der Staat tut das
nicht. Der hat nämlich keine Füße. (Und wenn einer beschuldigt wird, dem Staat
auf die Füße getreten zu sein, sollte man fragen, wessen Füße das denn waren).
Ergo ist Herr Hund ein Subjekt und der Staat nicht (du weißt, ich bin bezügl.
Begriff Subjekt anderer Meinung als du). Der Staat handelt nicht. Handeln tun
die Parlaments- und Regierungsmitglieder sowie ihre Beamten und Angestellten.
Die gesellschaftspolitische Frage ist aber, warum handelt ein Subjekt, und
warum handelt es so und nicht anders? Da kommen die Gruppenzugehörigkeiten ins
Spiel, das Subjekt im Focus sich überschneidender Gruppen. Da kommt die ganze
Dynamik von Wissen, Informationsaustausch, gegenseitiger Motivation,
Überzeugung, Bindung, Lockerung oder Verfestigung von Weltanschauungen,
Nachahmung usw. zum Tragen, und damit ist das Handeln eines Subjekts nicht mehr
autonom. Es verarbeitet die Ideen und Strömungen sämtlicher Gruppen, zu denen es
gehört - und sein Handeln ist für jede Gruppe Gruppenhandeln im Sinne von
Familienähnlichkeit. Eine Politik, die das nicht sieht, die Gesellschaft nicht
als mehr oder auch minder harmonisches Zusammenspiel verschiedener Gruppen
begreift, wobei nur die sogenannten Eliten noch den Überblick behalten, der sie
dieses dauernde, sich immer wieder neu bildende mit- und gegeneinander trotzdem
als eine ganze Gesellschaft sehen lässt, eine solche Politik wird im
Zweifelsfalle gar nicht begreifen, was Gesellschaft, Interessen und Gemeinwohl
überhaupt sind.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 28. Okt.
2005, 00:47 Uhr
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Hi, Urs,
jetzt muss ich aber mal Eberhard beispringen, denn entweder du
bist auf dem Holzweg, oder du hast einen anderen Begriff von Norm.
Wenn
die MwSt um 2% erhöht wird und ein Verkäufer hat was dagegen und erhöht seine
Preise nicht um 2%, dann muss er trotzdem 18% an's Finanzamt abführen. Und wenn
er das nicht tut, kriegt er lieben Besuch von der Steuerfahndung, die den
Fehlbetrag errechnet und ihm die Konten pfändet. Ich finde, das sieht schon sehr
nach Norm aus.
Mal abgesehen davon, dass eine MwSt - Erhöhung nur per
Gesetz durchsetzbar ist - und Gesetze sind Normen.
Doc rudi, dass meine
Sicht gesellschaftlichen und politischen Handelns mit deiner nicht kompatibel
ist, das siehst du ja.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
28. Okt. 2005, 08:57 Uhr
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Hallo Abrazo!
Im Moment nur kurz:
Quote:Handeln, Urs,
kann nur ein Subjekt. (...) Der Staat handelt nicht. Handeln tun die Parlaments-
und Regierungsmitglieder sowie ihre Beamten und Angestellten.
Richtig. Und deshalb hatte ich auch gesagt:
Quote:Aber wenn wir
unter „Individuum“ das „vergesellschaftete Individuum“ verstehen, dann ist es
m.E. durchaus eine „politische Kraft“. Denn schließlich ist das
vergesellschaftete Individuum (das ich mal zur besseren Unterscheidung „Person“
nennen will) doch die Einheit des zurechenbaren Handelns.
Es
gibt aber auch gemeinschaftliches Handeln von Personen (Subjekten) und es gibt
ein Handeln im Auftrag oder in Vertretung anderer Personen.
Du
schreibst:
Quote:Politik und Justiz kann man m.E. nicht vergleichen,
Urs. Die Justiz befasst sich immer nur mit dem Individuum, selbst juristische
Personen werden letztlich als Individuen begriffen. Die Politik hingegen befasst
sich mit der Gesellschaft und mit Individuen nur insofern, als die
gesellschaftlichen Gruppierungen aus Menschen bestehen.
Politik
und Recht sind natürlich nicht dasselbe. Aber es gibt viele Überschneidungen
bzw. gemeinsame Grundlagen. Eine davon ist das Handeln von Subjekten.
Die „Justiz“ befasst sich dabei übrigens insofern mit Personen (Subjekten des
Handelns), als ihr Handeln allgemein geltenden Normen unterliegt. Diese Normen
gehen (bei uns) auf politische Entscheidungen zurück. Diese politischen
Entscheidungen werden (bei uns) von Repräsentanten des Volkes getroffen, und sie
haben ihre Verbindlichkeit, weil die Repräsentanten die rechtliche Befugnis
haben, im Auftrag oder in Stellvertretung des Volkes zu entscheiden. Sie
entscheiden, nicht anders als Richter, „im Namen des Volkes“.
Der Staat
ist (bei uns) nicht nur, aber ganz wesentlich eine Rechtsform, die eine Gruppe
von handelnden Subjekten miteinander verbindet – zu einem „Staatsvolk“.
- - - - - -
Quote:Mal abgesehen davon, dass eine MwSt - Erhöhung nur
per Gesetz durchsetzbar ist - und Gesetze sind Normen.
Richtig.
Darum hatte ich ja auch geschrieben:
Quote:Hier wird nun eine
Entscheidung getroffen, die eine allgemeine Vorschrift in Kraft setzt. (...) In
diesem Beispiel wird nirgends eine „normative Behauptung“ aufgestellt. Sondern
es wird eine Norm in Kraft gesetzt.
Lesen hilft!
:-)
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
28. Okt. 2005, 13:54 Uhr
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Hallo Abrazo!
Quote:Die gesellschaftspolitische Frage ist aber,
warum handelt ein Subjekt, und warum handelt es so und nicht anders? Da kommen
die Gruppenzugehörigkeiten ins Spiel, das Subjekt im Focus sich überschneidender
Gruppen. Da kommt die ganze Dynamik von Wissen, Informationsaustausch,
gegenseitiger Motivation, Überzeugung, Bindung, Lockerung oder Verfestigung von
Weltanschauungen, Nachahmung usw. zum Tragen, und damit ist das Handeln eines
Subjekts nicht mehr autonom.
Die Folgerung, dass ein Subjekt
wegen seiner vielfältigen Verflechtungen mit anderen nicht mehr autonom handele,
finde ich falsch. Aber das liegt vermutlich daran, dass ich „autonom“ anders
verstehe als Du.
Zunächst einmal sei auch wieder klar gestellt, dass wir
von vergesellschafteten Individuen (Personen) sprechen. Aber was bedeutet
„Vergesellschaftung“? Ich würde sagen: Das ist ein Prozess, in den das
Individuum mit seiner Geburt eintritt und der bis zu seinem Tod nicht
abgeschlossen ist. Im Laufe dieses Prozesses wird das Individuum erst zu einer
ihrer selbst bewussten Person, die fähig ist, zurechenbar zu handeln. Dazu muss
es sehr vieles lernen, muss sich anpassen, Normen verinnerlichen, Fähigkeiten
erwerben usw. Aber offenbar kann man diese ihm „von außen“ auferlegte Anpassung
nicht einfach nur als Zwang verbuchen, der seine „natürliche Selbstbestimmung“
destruiert. Sondern durch diesen Lernprozess, der unbestritten in vieler
Hinsicht Zwang ins Spiel bringt, wird das Individuum erst so weit gebracht, dass
es über sich selbst bestimmen kann.
Zwang ist etwas, das „von außen“ auf
uns einwirkt. Aber wenn man die Gründe für diese äußere Einwirkung einsieht,
wenn man also ihre „Notwendigkeit“ erkennt und sich dazu verhält, hört der Zwang
auf, eine „blinde“, sinnlose Naturmacht zu sein. Eine begründete Regel, die mir
als „vernünftig“ einleuchtet, mache ich mir durch die Einsicht „zu eigen“. Das
bleibt zwar, äußerlich betrachtet, eine Anpassung. Aber durch meine Einsicht
habe ich einen Entwicklungsschritt gemacht, meinen Horizont erweitert, einen
anderen Standpunkt eingenommen, von dem aus ich meine Motive, meine faktischen
Neigungen beurteilen kann. Ich nehme also durch die Einsicht einen „höheren“
Standpunkt ein, nämlich den Standpunkt der Gemeinschaft, in der diese Regel gilt
– d.h. in der sie von jedem anerkannt wird. Indem ich diese Regel meinerseits
anerkenne, werde ich – nur bezogen auf diese eine Regel – ein (gleiches)
Mitglied dieses „Geltungskollektivs“.
„Autonomie“ bedeutet buchstäblich
„Selbstgesetzlichkeit“. Eine Regel, mit der ich beim Eintritt in eine Gruppe
konfrontiert werde, ist in diesem Moment aus meiner Sicht zunächst noch
„heteronom“ – sie geht eben von anderen aus. Aber durch meine Einsicht und
Anerkennung wird diese Regel auch zu meiner eigenen. Von da an bin ich in der
Lage, mein eigenes Handeln nach einer Regel zu beurteilen und auszurichten, die
dann auch meine eigene Regel ist.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von hedgi am 28. Okt.
2005, 15:37 Uhr
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Hi Rudi, und Anhänger einer Gesellschaft ohne Staat,
System Mensch [kurz]
Mensch
System Staat [kurz] Staat
Zuletzt ging es in der Diskussion
unter anderem darum, dass wir das festgesetzte Ziel unserer Utopie erst erreicht
haben, wenn der Staat, wie wir ihn heute kennen, aufgelöst ist. Bis jetzt sind
wir mit unseren Wünschen an den idealen Staat in Vorstellungen stecken geblieben
und sind nicht dazu gekommen, eine Gesetzmäßigkeit herauszuarbeiten, die zu
diesem paradiesischem Zustand führen könnte. Solange uns das nicht gelingt, eine
Gesetzmäßigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung zu definieren, die auch
verständlich nachzuvollziehen ist, werden wir vor Lücken stehen, die sich für
uns als unüberwindliche Gräben darstellen.
Was wir unter einem Hut
bringen müssen ist der Mensch, der inzwischen seine evolutionäre Entwicklung
nach außen verlagert hat, weil die organische Weiterentwicklung des Menschen
bereits an Grenzen stößt, die durch die außerkörperlichen Organe des Menschen,
wie Maschinen, Computer etc., einen gewaltigen Sprung nach vorn vollbracht hat.
Den Staat können wir in einer übergeordneten Hierarchie ansiedeln, den wir als
die Summe von Menschen betrachten können. Wir sind gewohnt, dass in einem
hierarchischen System der Aktionsfluss von oben nach unten fließt. Unsere
Idealvorstellung wäre, dass es auch umgekehrt funktioniert. Das wäre dann der
Fall, wenn der Staat dazu da wäre, die Bedürfnisse des Menschen zu erfüllen.
Heute erfüllt der Staat leider nur die Bedürfnisse einer kleinen Gruppe von zur
Oberschicht gehörenden Menschen.
Natürlich weiß das auch die
Oberschicht, dass selbst der einfache Mensch den Wunsch hegt, seine Bedürfnisse
erfüllt zu sehen. denn es entspricht der Bedeutung des Begriffes Demokratie,
dass der Staat durch den Willen des Volkes gesteuert wird, so wie das
ursprünglich in Athen vorgesehen war. deshalb liegt es Interesse der Oberschicht
den Verdummungsprozess im Volk so weit voranzutreiben, dass es nicht merkt, wie
es manipuliert wird.
Am Beispiel der Mehrwertsteuer und den Lohn-
Nebenkosten wird es deutlich, wie weit die Manipulation bereits fortgeschritten
ist. Seit Jahren wird unwidersprochen von der Senkung der Lohn- Nebenkosten
gesprochen, dass obwohl die Reichen bereits schon vorher immer reicher und die
Armen immer ärmer wurden, und die Lohn- Nebenkosten Bestandteil ausgehandelter
Arbeitsverträge waren und somit keine einseitige Belastung der Arbeitgeber ist.
Wenn hier seitens des Staates eingegriffen wird, weil die Reichen zu viele
Abgaben entrichten sollen, fragt niemand weiter und bemerkt, dass der
Arbeitnehmer in unangemessener Höhe für diese Differenz in den Sozialkassen
zukünftig aufkommen soll, was vergleichbar mit einem Gemeinschaftsraub von
Arbeitgebern und dem Staat ist. Der Bürger nickt zu allem brav und findet, dass
das alles seine Richtigkeit hat. Den Gipfel stellt eine erst kürzlich gestartete
Umfrage dar. Dort konnte sich der Befragte aussuchen, ob er lieber eine
Solisteuer oder eine Mehrwertsteuer zahlt. Das bestätigt dem Menschen, ein ernst
genommener Partner in einer Demokratie zu sein. Solange der Mensch nicht auf die
Idee kommt, es könnten noch weitere Alternativen in Betracht gezogen werden, ist
die Welt in den Augen der Oberschicht noch in Ordnung.
Wenn wir darin
einen perfekten Staat mit funktionierenden manipulierten Individuen sehen, dann
brauchen wir uns über Gesetzmäßigkeiten, die zu einer Gesellschaft ohne Staat
führen, Überlegungen anzustellen. Zu einem solchen Staat befinden wir uns auf
dem besten Weg.
Vielleicht führen andere Fragen zum Ziel. Wann ist der
Mensch soweit, das er die Funktion der Gemeinschaft als erstes im Auge hat, und
bereit ist, seinen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, weil er einsieht, dass
anders keine Gemeinschaft funktionieren kann, und er selbst auch von dieser
Gemeinschaft profitiert. Eine andere Frage, was läuft heute falsch und sollte
unterlassen werden. Wir sollten uns vor Heuschrecken mit ihren Hedgefonds
schützen. Sie tragen nicht zum Volksvermögen bei, im Gegenteil sie wirken
ähnlich Blutegeln und ziehen Vermögen ab und erhöhen unsere Schuldenlast. Dort
geht es um das schnelle Geld, dass nun einmal mit Verkäufen von Arbeitsplätzen
ins Ausland gemacht werden kann. Versüßt wird das ganze noch durch hohe
staatliche Subventionen. Wenn bei uns aber vom Abbau der Subventionen die Rede
ist, sind aber nicht diese gemeint, sondern unsere Politik denkt mehr an die
Streichung der Pendlerpauschale, Eigenheimzulage und Steuern auf die
Nachtschichtzulage.
Die suche nach dem Paradies ist nichts Neues.
Bereits Friedrich Engels hat mit seiner kommunistischen Gesellschaft erstmals
etwas in Bewegung gesetzt. Vor Engels gab es auch schon Utopien, die aber keine
große Beachtung fanden. Die von Engels beschriebene Gesellschaft fand bereits
während der sozialistischen Zeit in den Sowjetstaaten erste Ernüchterung, weil
man sehr schnell bemerkte, die begrenzten Rohstoffe lassen keinen unbegrenzten
Konsum zu, ohne dem es keine kommunistische Gesellschaft geben kann. Aber
wenigsten hat Engels versucht eine Gesetzmäßigkeit zu entdecken. Deshalb, das
erwarte ich von jedem, der meint, es liege im Bereich des Möglichen, eine
Gesellschaft zu haben, in dem der Staat überflüssig wird.
Gruß
hedgi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 28.
Okt. 2005, 17:41 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Urs,
danke für die die ausführlicher und
verständliche Entgegnung.
Ich will mal alle kleineren Punkte auf sich
beruhen lassen und mich auf das konzentrieren, worin ich den Kern unserer
Meinungsverschiedenheit sehe.
Du kritisierst den von mir benutzten
Ausdruck „normative Behauptung“ und vertrittst die Auffassung, dass nur
(Aussagen über) Tatsachen behauptet werden.
Du schreibst: “Behauptet
werden Tatsachen. Forderungen werden erhoben, Vorschriften erlassen oder in
Kraft gesetzt“.
Dieser Verengung der Bedeutung des Wortes „Behauptung“
kann ich nicht folgen. Ich verstehe unter einer „Behauptung“ jeden Satz, der mit
dem Anspruch auf Richtigkeit (bzw. Allgemeingültigkeit) verbunden ist.
Das kann eine faktische Aussage sein (Schumacher ist nicht mehr Weltmeister),
das kann ein Werturteil sein (Die Aufführung von Schillers Räubern war
grottenschlecht), das kann eine Sinndeutung sein (Das Wort „statement“ bedeutet
im Englischen etwas anderes als das Wort „proposition“), das kann aber auch ein
normativer Satz sein (Man soll nicht durch die Blumenrabatte im Park latschen).
Ich sehe in diesem Gebrauch des Wortes „Behauptung“ keinerlei irreführende
Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch. Mein philosophisches Wörterbuch
erläutert „Behauptung“ als „ein in der Form eines bejahenden Urteils
aufgestellter, aber nicht oder noch bewiesener Satz“.
Als „normativ“
bezeichne ich Sätze, die einen vorschreibenden (präskriptiven) Gehalt haben,
oder - anders ausgedrückt – Sätze, die eine Forderung bzw. ein „Sollen“
beinhalten.
Derartige „Soll-Sätze“ können in der gleichen Weise wie
„Ist-Sätze“ als inhaltlich richtig behauptet werden. Der Satz „Man soll vor der
Ehe keinen Geschlechtsverkehr haben“ kann ebenso behauptet und bestritten werden
(wenn auch mit anders gearteten Begründungen) wie der Satz „90 Prozent aller
Deutschen … hatten bereits vor der Ehe Geschlechtsverkehr“.
Allerdings
sind nicht alle normativen Sätze mit einem Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit
verbunden und stellen insofern Behauptungen dar. Der Räuber, der ruft: „Hände
hoch oder es knallt!“ äußert einen normativen Satz, allerdings nicht mit dem
Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit sondern auf Gehorsam.
Auch bei
Normen, die durch institutionelle Verfahren gesetzt werden (Gerichtsurteile,
Abstimmungsergebnisse, Befehle von Vorgesetzten), spielt die inhaltliche
Richtigkeit der gesetzten Normen eine nachgeordnete Rolle.
Dies ist
jedoch kein Einwand dagegen, dass normative (präskriptive) Sätze, die
Forderungen enthalten, ebenso als richtig behauptet werden können wie positive
(deskriptive) Sätze, die Beschreibungen der Wirklichkeit enthalten.
Soviel erstmal zur Terminologie von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 28.
Okt. 2005, 19:21 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Urs,
Du schreibst:
Wenn jemand
behauptet:"Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 % dient dem Gemeinwohl", so
formuliert er damit keine Forderung ("Ihr sollt..."), sondern behauptet eine
Tatsache. Allerdings ist es eine Tatsachenbehauptung, die einen normativen
Anspruch begründen soll – nämlich die künftige Verpflichtung, die erhöhte Steuer
zu bezahlen."
Ich bezweifle, dass man eine Forderung allein durch
Tatsachenbehauptungen begründen kann. Unter der "Begründung" einer Behauptung
verstehe ich den Nachweis, dass sich diese Behauptung aus anderen – bereits
anerkannten Behauptungen logisch herleiten lässt.
Durch logische
Schlussfolgerungen aus einem bestimmten Satz von Prämissen lässt sich jedoch nur
das ableiten, was in diesen Prämissen bereits implizit enthalten ist, nicht
jedoch ein anderer Bedeutungsgehalt. Insofern das Sollens-Element etwas ist, was
in Tatsachenaussagen (Die Welt ist soundso beschaffen) nicht enthalten ist,
reichen rein faktische Prämissen also nicht aus, um ein Sollen zu begründen.
Der Eindruck, dass man Normen (Man soll andere Kinder nicht mit Steinen
bewerfen) allein mit Tatsachen (Das kann ins Auge gehen) begründen kann,
entsteht nur deswegen, weil bestimmte für die Begründung notwendige Prämissen
(Man soll andere Menschen nicht verletzen) vorausgesetzt werden, ohne dass sie
explizit genannt werden.
Soviel zum Fehlschluss vom Sein auf das Sollen
von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
28. Okt. 2005, 20:15 Uhr
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Hallo Eberhard!
Ich muss etwas ausholen, um meine Argumentation zu
Deinen Ausführungen vorzubereiten.
Zunächst muss ich mich
korrigieren. Ich habe in der Tat geschrieben „Behauptet werden Tatsachen“, hätte
aber genauer sagen sollen: „Behauptet werden Sachverhalte“ bzw. „Behauptet wird
das Bestehen von Sachverhalten“. Denn Tatsachen nennt man gewöhnlich bestehende
Sachverhalte. Dieser Punkt scheint mir in unserem Zusammenhang nicht unwichtig.
Was ist ein Sachverhalt? Der „Gehalt“ eines Urteils oder einer
„Grundaussage“ (oder eines „assertorischen“ oder „kategorischen“ Satzes; die
Terminologie schwankt hier). Beispiel: Wird geurteilt „Der Kragenbär riecht
streng“, so behauptet man, dass der Kragenbär streng riecht. Dieser kursivierte,
mit „dass“ eingeleitete Satzteil (schematisch „dass p“) ist der „Gehalt“ der
Aussage oder der „propositionelle Gehalt“ - oder eben auch: der Sachverhalt.
Nun ist ersichtlich, dass sich mit der Umformung des Satzes „p“ in „Es ist
wahr, dass p“ oder „Es gilt, dass p“ am Sachverhalt p nichts ändert. Man hat nur
kenntlich gemacht, dass die Formulierung des Sachverhalts und die Behauptung,
dass dieser Sachverhalt bestehe, zweierlei sind. – Man hat aber bei dieser
Umformung - und das ist wichtig - die sprachliche Ebene gewechselt. Man befindet
sich in der Metasprache, man spricht über eine Aussage, die man gerade
analysiert, indem man sie umformt. Und es macht offenbar einen Unterschied, ob
jemand schlankweg p behauptet oder ob er behauptet, es werde behauptet, dass p.
Der Begriff „Sachverhalt“ („dass p“) ist also ein metasprachlicher und
analytischer Begriff, den man zum Zweck der Thematisierung von Aussagen
gebraucht. Sachverhalte als solche „existieren“ nicht – oder nur insofern, als
man analytisch über Aussagen spricht. Das ist eigentlich kein großes Problem.
Man kann ohne weiteres über (anderswo behauptete) Sachverhalte sprechen und
dabei auch etwas über sie behaupten. Man muss sich nur im Klaren darüber sein,
dass man selbst den Sachverhalt nicht behauptet, wenn man über ihn spricht.
- - - - - -
Quote:Du schreibst: “Behauptet werden
Tatsachen. Forderungen werden erhoben, Vorschriften erlassen oder in Kraft
gesetzt“.
Dieser Verengung der Bedeutung des Wortes „Behauptung“ kann ich
nicht folgen. Ich verstehe unter einer „Behauptung“ jeden Satz, der mit dem
Anspruch auf Richtigkeit (bzw. Allgemeingültigkeit) verbunden ist.
Ich denke, ich habe richtig gestellt, was ich meinte: Behauptet wird das
Bestehen eines Sachverhalts.
Trotzdem halte ich daran fest, dass „etwas
behaupten“ und „etwas fordern“ zweierlei sind.
Wenn man nämlich einen
Sachverhalt behauptet, so spricht man zwar zu einem Adressaten, aber über etwas
– also über eine „Sache“, etwas Drittes. Der Adressat ist eingeladen, diese
Behauptung über die Sache zu akzeptieren oder sie zu bestreiten – aber eben,
indem er seinerseits mit Behauptungen antwortet.
Fordert man dagegen
etwas, so erwartet man primär keine sprachliche Stellungnahme, sondern eine
Handlung (oder die Unterlassung einer Handlung). Die geforderte Handlung kann
zwar auch eine Sprachhandlung sein. Man fordert etwa auf: „Sag mal ‚Der
Cottbusser Postkutscher putzt den Cottbusser Postkutschkasten’!“ Die erwartete
Antwort ist dann freilich nicht „Stimmt“ oder „Quatsch, es gibt doch gar keine
Postkutschen mehr“, sondern eben die Wiederholung des in Anführungszeichen
stehenden Satzes.
Wie ist es nun, wenn gesagt wird: „Man soll
Kragenbären nicht füttern“ Oder „Man soll vor der Ehe keinen Geschlechtsverkehr
haben“?
Es wird dabei, da gebe ich Dir Recht, in der Tat etwas
behauptet. Es wird behauptet, dass „man“ etwas solle oder nicht solle.
Wird
aber auch etwas gefordert? Ich würde sagen, das hängt vom Kontext ab.
Stehen Mutter und Kind vor dem Gehege des Kragenbärs, und das Kind will dem Tier
gerade sein Eis durch die Gitterstäbe reichen, dann ist es sicherlich eine
Aufforderung, wenn die Mutter sagt: „Man soll das nicht tun!“ Gemeint ist dann
eigentlich: „Du sollst das nicht tun!“
Aber wenn ein katholischer und
ein evangelischer Moraltheologe sich darüber streiten, ob Sex vor der Ehe im
Einklang mit der Bibel stehe, dann wäre der Satz „Man soll nur in der Ehe Sex
haben.“ keine Aufforderung. Vielmehr steht ja gerade zur Debatte, ob die Kirche
diese Norm in Kraft setzen kann oder nicht.
Hier wird also über eine Norm
gesprochen. Und es wird etwa behauptet: „Sie ist nicht biblisch.“ Oder: „Sie ist
gerechtfertigt.“ Oder: „Sie ist nicht mehr zeitgemäß.“
Ähnlich ist
es, wenn im Parlament über einen Gesetzesentwurf debattiert wird. Es wird dieser
normative Sachverhalt (!) in der Metasprache (!) analysiert, es wird seine
Zweckmäßigkeit, seine „handwerkliche“ Ausführung besprochen usw. Und es werden
Argumente für und wider ausgetauscht.
Und es ist klar: Zur Norm wird dieser
Gesetzesentwurf erst durch die Verabschiedung, also die Willensbekundung der
Volksvertreter. Durch diese Bekundung kommt zum „normativen Sachverhalt“ erst
jenes Moment der Aufforderung hinzu, der aus dem Gesetzesentwurf eine geltende
Norm macht. Vorher wird darüber diskutiert, ob und aus welchen Gründen diese
Norm "in Geltung gesetzt" werden solle.
Halten wir fest: „Normative
Gehalte“ sind etwas anderes als „geltende Normen“. Eine geltende Norm ist eine
Aufforderung an bestimmte Adressaten (und nicht an ein anonymes „man“!),
bestimmte Handlungen zu vollziehen oder zu unterlassen. Ein „normativer Gehalt“
ist einfach ein Sachverhalt, über den man spricht, wenn man Normen thematisiert
(z.B. um sie zu begründen oder zu kritisieren). Er ist also etwas ebenso
Virtuelles wie das „man“.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 28.
Okt. 2005, 22:07 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Urs,
mir erscheinen Deine Argumente gegen den
Ausdruck „normative Behauptung“ nicht schlüssig. Du schreibst:
„Behauptet wird das Bestehen von Sachverhalten.“
Unter einem
„Sachverhalt“ verstehst Du den Gehalt eines assertorischen Satzes.
Ich
sehe nun keinen Grund, warum Sätze wie „Man soll (oder Du sollst) niemanden mit
Steinen bewerfen“ keine assertorischen Sätze sein sollen und warum man derartige
Sätze bzw. deren Gehalt nicht behaupten und bestreiten kann. Der „propositionale
Gehalt“ p lautet dann: „dass man niemanden mit Steinen bewerfen soll“.
Es ist zwar richtig, dass ein normativer Satz eine Forderung enthält, und dass
eine Forderung etwas anderes ist als eine Behauptung, aber ebenso richtig ist,
dass ein positiver Satz eine Feststellung enthält, und dass eine Feststellung
etwas anderes ist als eine Behauptung.
Das hindert nicht, dass man sowohl
Feststellungen wie Forderungen gegenüber anderen behaupten kann.
Der Satz
„Man soll – abgesehen von Situationen der Art x, y, z – andere Menschen nicht
mit Steinen bewerfen“ enthält eine Norm, die inhaltlich richtig oder falsch sein
kann, auch wenn der Satz nicht das Ergebnis eines Verfahrens der Normsetzung ist
(Parlamentsbeschluss) sondern allein von guten bzw. schlechten Argumenten
gestützt wird.
In der Hoffnung, allgemein verständlich geblieben zu sein,
grüßt alle Unentwegten Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 28. Okt.
2005, 23:52 Uhr
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Hi zusammen,
kleiner Hinweis darauf, dass politische Argumentationen,
auch sachlicher Art, immer bereits eine Norm voraussetzen.
Ansonsten
möchte ich zum Begriff Gemeinwohl zurückkehren.
Urs schrieb:
Sondern
durch diesen Lernprozess, der unbestritten in vieler Hinsicht Zwang ins Spiel
bringt, wird das Individuum erst so weit gebracht, dass es über sich selbst
bestimmen kann.
Das ist gewiss ein wünschenswerter Idealzustand, doch die
Verhältnisse, die sind nicht so.
Zunächst ein m.E. viel zu wenig beachteter
Satz aus Witgensteins TLP: es ist unmöglich, unlogisches zu denken. Das heißt,
Logik ist zwingend.
Logik verknüpft Daten. Und diese Daten sind verschieden.
Je nach dem Umfeld dessen, der sie wahrnimmt. Ein Mitglied der Drogenszene z.B.
hat andere Daten zur Verfügung, die sich auch daraus ergeben, dass er zu Staat
und Gesellschaft ein anderes Verhältnis hat. Sie sind für ihn eine Bedrohung,
etwas Fremdes, Undurchschaubares, Mächtiges, das ihn ständig bedroht und gegen
das er sich schützen muss. Ein gut bürgerlicher Mittelstandsmensch sieht das
ganz anders. Folglich hat er ein anderes Weltbild, folglich zieht er logisch
zwingend andere Schlüsse.
Will sagen: vor allen anderen Zwängen ist die
Logik ein Zwang. Auch den kann man halbwegs abwerfen, wenn man ihn durchschaut.
Man kann Selbstverständlichkeiten erkennen, die sich als nicht
selbstverständlich erweisen und Daten Beachtung schenken, denen man zuvor keine
geschenkt hat. Das setzt aber Kritikbereitschaft und Reflexion voraus, die man
generell nicht voraussetzen kann. Ich behaupte sogar, dass man dies mehrheitlich
nicht voraussetzen kann.
Damit kommst du, Eberhard, natürlich in
Schwierigkeiten, was den Konsens betrifft. Werden die Argumente, die einen
Konsens herbei führen können, überhaupt wahrgenommen, wie sie gesagt wurden? Ich
sehe da ein Problem. Gefallen tut mir dieses Problem nicht.
Und für
dich, Urs, die Frage: kann das Individuum in der Regel überhaupt über sich
selbst bestimmen, angesichts des Zwanges der Logik? Und daran anschließend: was
ist mit Selbstbestimmung eigentlich gemeint? Ist es nicht eine Selbstbestimmung
innerhalb des Rahmens, den die Daten vorgeben, also eine eingeschränkte
Selbstbestimmung?
Ich nehme also durch die Einsicht einen „höheren“
Standpunkt ein, nämlich den Standpunkt der Gemeinschaft, in der diese Regel gilt
– d.h. in der sie von jedem anerkannt wird.
Gewiss. Nur - diese Gemeinschaft
muss nicht die Gesamtgesellschaft sein. Sie kann sogar Feind dieser
Gesamtgesellschaft sein. Und was dann?
In diesem Zusammenhang: Marx. Das
Sein bestimmt das Bewußtsein. Meiner Ansicht nach hat er damit nicht Unrecht.
Wir haben also das Problem, dass unterschiedliche Gruppen innerhalb der
Gesellschaft aufgrund ihres unterschiedlichen 'Seins' unterschiedliche
Auffassungen darüber haben, was das Gemeinwohl eigentlich ist. Diese
unterschiedlichen Auffassungen resultieren nicht aus unterschiedlichen autonom
gewonnenen unterschiedlichen Meinungen, sondern aus unterschiedlichen
Lebensumständen.
Und da wollen wir dann zusehen, wie ein Konsens zu
erreichen wäre. Ich habe Zweifel, ob das über das reine Sachargument geht.
Grüße
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
29. Okt. 2005, 01:31 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Ich sehe nun keinen Grund, warum Sätze
wie „Man soll (oder Du sollst) niemanden mit Steinen bewerfen“ keine
assertorischen Sätze sein sollen und warum man derartige Sätze bzw. deren Gehalt
nicht behaupten und bestreiten kann. Der „propositionale Gehalt“ p lautet dann:
„dass man niemanden mit Steinen bewerfen soll“.
Das habe ich
aber ausdrücklich eingeräumt. Ich schrieb:
Quote:Wie ist es nun,
wenn gesagt wird: „Man soll Kragenbären nicht füttern“ Oder „Man soll vor der
Ehe keinen Geschlechtsverkehr haben“?
Es wird dabei, da gebe ich Dir Recht,
in der Tat etwas behauptet. Es wird behauptet, dass „man“ etwas solle oder nicht
solle.
Meine Argumentation konzentrierte sich stattdessen auf
zwei Unterschiede: Einerseits auf den Unterschied zwischen „etwas behaupten“ und
„etwas fordern“, andererseits auf den Unterschied zwischen einem „normativen
Sachverhalt“ und einer (geltenden) Norm.
Die Kritik am „naturalistischen
Fehlschluss“, der versucht, vom „Sein“ auf das „Sollen“ zu schließen, ist
geschenkt. Denn indem ich am Unterschied zwischen „etwas behaupten“ und „etwas
fordern“ festhalte, unterstütze ich ja gerade die These, dass das eine nicht aus
dem anderen abzuleiten sei. „Gesollt“ wird nur dort, wo jemand etwas fordert.
Allerdings bahne ich damit auch die These an, dass ein Sollsatz - „Man
soll dies oder das tun“ – nicht schon deshalb eine Norm ist, weil darin das Verb
„sollen“ vorkommt. Oder anders gesagt: Ein Satz ist eine Norm nicht allein schon
aufgrund seiner Form. (Ein Gesetzentwurf ist kein Gesetz.) Es muss m.E. eine
Aufforderung zum Handeln mit diesem Satz zu verstehen gegeben werden, und ich
finde es klar, dass nur konkrete Personen handeln und zum Handeln auffordern
können. D.h. damit ein Satz eine Norm ist, muss er einen konkreten
Adressaten(kreis) haben und auf das Wollen konkreter Personen zurückgehen. „Man“
kann nicht handeln und „man“ kann auch nichts fordern.
(Wen oder was
bezeichnet man mit „man“? Doch sicher keine konkreten Personen. Ist es ein
genereller Terminus? Oder ist es ein Quantor? Sind damit also alle Menschen
gemeint? Schwerlich. Eher „alle und keiner“. D.h. seine Bedeutung ist ganz und
gar kontextabhängig – und darum ist er nicht geeignet, um etwa eine
„universelle“ normative Geltung zu formulieren.)
Quote:Der Satz
„Man soll – abgesehen von Situationen der Art x, y, z – andere Menschen nicht
mit Steinen bewerfen“ enthält eine Norm, die inhaltlich richtig oder falsch sein
kann, auch wenn der Satz nicht das Ergebnis eines Verfahrens der Normsetzung ist
(Parlamentsbeschluss) sondern allein von guten bzw. schlechten Argumenten
gestützt wird.
Ich bin nicht der Meinung, dass dieser „Man
soll...“-Satz eine Norm enthält. Wohl ist damit ein „normativer Sachverhalt“
bezeichnet. Aber Normen gelten nicht, weil Argumente für sie sprechen. Ohne
konkrete Personen, die die Geltung einer Norm beschließen und damit andere
Personen konkret zum Handeln auffordern, ist ein normativer Satz einfach ein
normativer Satz.
Es ist eben zweierlei, eine Norm zu thematisieren oder
sie anzuwenden (bzw. sie „in Kraft zu setzen“). Die Thematisierung der Norm
macht sie zu einem Sachverhalt, und das heißt, sie neutralisiert den Imperativ,
sie klammert die Aufforderung ein. Werden Normen thematisiert, so sind sie
gewissermaßen „ausgekuppelt“. Sie sind dann Gegenstand der (metasprachlichen)
Reflexion, der Beschreibung, der Erläuterung, der Prüfung, der Kritik, der
Begründung.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 29.
Okt. 2005, 07:54 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Urs,
ich habe den Eindruck, dass der Kern
unseres Dissens deutlicher wird. Einig sind wir uns wohl darin, dass man Sätze
wie: „Man soll … Menschen nicht mit Steinen bewerfen“ behaupten und begründen
kann. Dies war mir wichtig.
Die spannende Frage ist, handelt es sich bei
einem solchen Satz auch um eine geltende Norm?
Hier bin ich mir auch in
vielem nicht sicher und suche nach Klärung.
Klar ist, dass nicht jeder
Satz, der ein Sollen enthält, eine normative Behauptung oder eine Norm mit
Geltungsanspruch darstellt. Er muss natürlich behauptet werden.
Entsprechendes gilt auch für Ist-Sätze. Wenn sie in Romanen vorkommen, sind es
keine positiven Behauptungen.
Du schreibst, „dass es von der Situation
abhängt: damit ein Satz eine Norm ist, muss er einen konkreten Adressaten(kreis)
haben und auf das Wollen konkreter Personen zurückgehen.“
Wie ist es mit
moralischen Normen wie „Geschlechtsverkehr ist nur in der Ehe erlaubt“?
Angenommen, dies sagt die Zimmerwirtin zu ihrem Untermieter und fährt fort: „Sie
sind gekündigt!“ Darauf sagt der Untermieter: „Da bin ich aber ganz anderer
Ansicht.“
Hier wird eine moralische Norm, die strittig ist, auf einen
bestimmten Adressaten angewandt. Diese Norm geht nicht auf den Willen der
Zimmerwirtin zurück, auch nicht auf ein bestimmtes Beschlussverfahren der
In-Kraft-Setzung. Die Zimmerwirtin ist von der inhaltlichen Richtigkeit dieser
moralischen Norm überzeugt, der Untermieter nicht.
Ich sehe auch, dass es
neben der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit von normativen Behauptungen die
Ebene der verfahrensmäßig gesetzten Verbindlichkeit von normativen Setzungen
gibt, Die Frage ist: Wie hängen beide zusammen?
Es grüßt Dich und alle
andern Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 29.
Okt. 2005, 10:22 Uhr
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Hallo Abrazo,
wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt in dem Sinne, dass
das, was jemand meint, durch seine Lebensumstände bestimmt wird, dann ist diese
Runde witzlos. Denn sie steht unter der Prämisse, dass die Teilnehmer nach der
richtigen Antwort auf die gestellte Frage suchen - und „richtig“ impliziert
hier: richtig für alle. Das heißt: jeder muss sich um Einsichtsfähigkeit bemühen
und kann dies auch vom andern verlangen. Dass dies häufig nicht erreicht wird,
tut dem keinen Abbruch.
Von Scheinargumenten wie: „Das kannst Du eben
nicht einsehen, weil Du zur Bourgeoisie gehörst!“ habe ich noch nie etwas
gehalten. Das sind keine Argumente sondern Aufkündigungen der
Diskussionsgrundlagen und Aufgabe des Bemühens um Wahrheit und
Allgemeingültigkeit. Zum Glück ist unsere Diskussion frei davon.
Es grüßt
Dich Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
29. Okt. 2005, 14:27 Uhr
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Hallo Abrazo!
Du bestreitest, dass Menschen durch Lernprozesse, in denen
sie geltende Normen „verinnerlichen“ oder sich „zu eigen machen“, ein Stück
„Selbstbestimmung“ erwerben. Diese Selbstbestimmung hatte ich auch so erläutert,
dass jemand, der eine Regel einsieht und übernimmt, sich dadurch auch befähigt,
sie auf sich selbst anzuwenden. Er kann nun sein Handeln anhand der Regel
überprüfen und sich dann auch selbst „korrigieren“.
Du sagst, das sei
ein „wünschenswerter Idealzustand“, nicht Realität. Vielleicht verbindest Du mit
dem Wort „Autonomie“ zu hohe Erwartungen. Darauf würde ich mit dem chinesischen
Sprichwort antworten: „Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“
Als Beispiel für einen solchen Lernprozess kannst Du einfach ein
lernendes Kind beobachten. Es bekommt etwa gesagt, dass man nicht „wegen dem
Regen“ sagt, sondern „wegen des Regens“, nicht „wegen dem Teddy“, sondern „wegen
des Teddys“. Die Regel besagt also allgemein: „’wegen’ wird mit dem Wesfall
gebraucht“. Das ist einfach eine autoritative Setzung, ein Zwang. Aber – „man
macht es eben so“, basta. Mag sein, dass das Kind eine Weile Mühe mit dieser
Regel hat (viele Erwachsene beherrschen sie ja auch nicht), aber wenn es sie
„verinnerlicht“ hat, dann kann das Kind selbst beurteilen, ob es sie richtig
anwendet oder nicht. Es kann sagen: „Das war wegen dem T... äh, wegen des
Teddys.“ Und es kann, wenn es einen Erwachsenen sagen hört: „Ich bin wegen dem
Regen nicht zu Fuß gekommen“ triumphierend eingreifen: „Es heißt aber ‚wegen des
Regens’!“ Kinder genießen es sehr, wenn sie ihre Erzieher, die doch immerzu an
ihnen herummäkeln, sie zu früh ins Bett schicken und all das..., bei einem
Verstoß gegen ihre eigenen Regeln erwischen. Und mit Recht. Denn damit haben sie
sich in der Tat ein Stück „Erwachsensein“ erworben. Endlich „groß“ zu werden,
also selbständig und unabhängig, das ist ein sehnlicher Wunsch aller Kinder.
Mit dem „Zwang“ der Logik ist es nicht anders. Zunächst einmal sind alle
Regeln ein Zwang, wenn wir sie lernen müssen. Aber wenn wir sie „beherrschen“,
d.h. selbständig anwenden können, helfen sie uns entschieden bei der Bewältigung
alltäglicher Aufgaben.
Was bei der Logik sonst noch „zwingt“, ist der
Automatismus der Verknüpfungen, also die „Konsequenz“. (Über Wittgensteins TLP
und das „Logik plus Daten“- Modell schweig ich mal hier, halte es aber für
falsch..) Aber obwohl ich auf formale Logik nicht wirklich abfahre, finde ich
doch, dass die innere Konsistenz eines Standpunkts und seine konsequente
praktische Entfaltung in der Zeit ein ganz wesentliches Moment nicht nur der
Philosophie ist, sondern unserer praktischen Selbstbehauptung insgesamt (unseres
Mensch- und Subjekt-Seins). Dabei ist mir schon klar, dass kein Mensch in jeder
Hinsicht konsequent „er selbst“ sein kein und nicht alle Menschen in gleichem
Umfang. So ist eben das Leben. Dass es Drogenabhängige gibt (z.B. mich: ich
rauche, wenn auch nur Tabak...) und viele andere Formen der Unselbständigkeit,
ist klar, schafft aber die Realität von Autonomie nicht aus der Welt (und mag
sie immer nur eine partielle sein).
Deine Frage, ob man angesichts des
„Zwanges“ der Logik überhaupt „man selbst“ sein könne, beantworte ich also
entschieden mit „Ja!“ Und zwar erreichen wir Selbständigkeit nicht trotz der
Regel“zwänge“, sondern durch sie. Regeln sind sozusagen das Rückgrat unseres
„aufrechten Gangs“. Sie sind „Hilfen zur Selbsthilfe“.
Das gilt
natürlich nicht für alle Regeln. Es gehört auch zur Selbständigkeit,
überflüssige Regeln abzulegen. Aber kann man ohne Regeln erkennen, wann eine
Regel überflüssig ist?
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 30. Okt.
2005, 01:32 Uhr
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Hi, zusammen,
Eberhard schrieb:
Ich sehe auch, dass es neben der Ebene
der inhaltlichen Richtigkeit von normativen Behauptungen die Ebene der
verfahrensmäßig gesetzten Verbindlichkeit von normativen Setzungen gibt, Die
Frage ist: Wie hängen beide zusammen?
Durch die Gewalt, Eberhard. Eine
Norm hat dann Geltungsanspruch, wenn sie mit Gewalt durchgesetzt werden kann.
Sonst nicht. So einfach und so primitiv ist das. Und alles andere sind
Wunschvorstellungen. Warum? Weil Mensch so funktioniert, dass er nicht immer und
auch nicht alle vernünftig sind. Weswegen auch als Bedingung Nr. 3 für das
Vorhandensein eines Staates die Regierungsgewalt ist.
wenn das Sein das
Bewusstsein bestimmt in dem Sinne, dass das, was jemand meint, durch seine
Lebensumstände bestimmt wird, dann ist diese Runde witzlos.
Ist sie nur
dann, wenn jeder darauf pocht, die einzige richtige Einsicht zu haben.
Das
ist leider der Normalfall.
Schau dir die Geschichte an. Ich behaupte, den
großen Teufel findest du da nicht. Jeder, der als solcher dargestellt ist, war
der Überzeugung, einzig dem Gemeinwohl gedient zu haben. Auch Hitler, auch
Stalin, auch Saddam Hussein und auch Ludwig XVI. Dem Gemeinwohl, wie es in
seinem Weltbild aussah.
Spanien ist überzeugt, dem durch das Bekenntnis
zu den Menschenrechten als legitim abgesicherten europäischen Gemeinwohl zu
dienen, wenn es die afrikanischen Wirtschaftsflüchtlinge auf abschreckende Weise
zurück transportiert. Ich bin sicher, die Flüchtlinge sehen das anders. Und ich
bin sicher, dass da ein Konsens nicht möglich ist. Hältst du es für abwegig,
dass hier beide Seiten mit dem Argument 'das kannst du nicht einsehen, weil du
kein Europäer/kein Afrikaner bist' den Dialog aufkündigen?
Es geht nicht
darum, wie wir die Welt gerne hätten, es geht darum, wie die Welt ist. Und sie
ist nun mal so, dass Menschen unterschiedlich leben, unterschiedlich geprägt
sind, unterschiedliche Weltbilder haben, woraus unterschiedliche Sichtweisen,
Normen, Regeln und Überzeugungen resultieren. Weshalb ich sage, wenn wir zu
einem Konsens kommen wollen, kann er nur auf dem basieren, was sich unabhängig
von den Lebenswirklichkeiten zeigt, der humanen Ethik. Und im nationalen Maßstab
sind es konstituierende Grundwerte, niedergelegt im Grundgesetz. Alles andere
wird immer nur meine Sichtweise sein, und die werden andere nicht teilen.
Dein Beispiel mit der Kindersprache, Urs, zeigt eines: dass das Kind
bestimmte Sprachregelungen in einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung
lernt. In anderen Gruppierungen interessiert das niemanden, da benutzen alle den
Dativ und wer den Genetiv benutzt, grenzt sich aus und wird als Fremdling
betrachtet, der sich absondern will. Für dich ist der Genetiv richtig. Für
andere ist er ein negatives soziales Signal.
Logik sehe ich nicht so wie
du. Logik sind keine aufgestellten Regeln, es ist die Art, wie wir denken. Sie
'fußt' auf dem 'Grundgesetz' unserer Wahrnehmung, weswegen wir auch gar nicht
anders können als logisch zu denken. Von daher weiche ich von der Aussage, die
Logik ist die Struktur der Welt ebensowenig ab wie von der Aussage, Logik ist
zwingend.
Man kann Zwänge abwerfen, wenn man sie erkennt. Wenn man also
reflektiert. Das setzt aber voraus, dass man reflektiert, was keineswegs
selbstverständlich ist. Es setzt sogar voraus, dass man überhaupt auf die Idee
kommt, dass es da etwas zu reflektieren gibt, also etwas, was vielleicht doch
nicht selbstverständlich ist. Und - durch Reflexion gewinnst du keine neuen
Wahrnehmungsdaten. Ein Blinder kann nicht qua Reflexion zu der Erkenntnis
kommen, was rot ist.
Deswegen sollte man sich auch nicht mit der
Überlegung befassen, wie man sich vorstellen soll, wie andere Leute leben. Denn
wenn man das nicht gesehen hat, kann man sich das nicht vorstellen. Tut man es
dennoch, kommt man wieder in das Gemeinwohlproblem: ich stelle mir vor, was für
die Leute gut ist - aber letztlich bleibt es das, was für mich gut wäre.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von psi am 30. Okt.
2005, 10:59 Uhr
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wenns mit dem genetiv nicht klappt probiers doch einfach mal mit dem genitiv ;-)
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 30. Okt.
2005, 11:04 Uhr
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Bitte vielmals um Entschuldigung, Psi, aber ich bin auf eine humanistische
Schule gegangen (zu Deutsch: Lateiner) und da heißt der Fall nun mal Genetiv.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 30.
Okt. 2005, 11:51 Uhr
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Hallo allerseits,
es erscheint mir sinnvoll, einmal etwas ausführlicher
darzulegen, in welchen größeren Zusammenhängen nach meinen Vorstellungen
Begriffe wie „Gemeinwohl“ (bzw. analoge Begriffe) ihre Anwendung finden und
welche Aufgabe diese Begriffe dabei erfüllen.
Ausgangspunkt ist das
Raumschiff „Erde“, das mit Individuen und Kollektiven unterschiedlicher
Kulturen, Weltsichten und Interessen bevölkert ist.
Durch die erweiterten
technischen Möglichkeiten rücken diese unterschiedlichen Gruppen immer enger
zusammen. Die Explosion eines Kernkraftwerkes oder einer überirdisch gezündeten
Kernwaffe gefährdet die Gesundheit der Menschen rund um den Globus. Die
Entwicklung von Aktienkursen, Rohstoffpreisen etc. an der Londoner Börse hat
Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Bedingungen in den entferntesten Ländern.
Durch die wachsenden Abhängigkeiten der Individuen und Gruppen
voneinander vergrößern sich die Reibungsflächen und Konfliktfelder. Wenn man
diese Konflikte dem Machkampf überlässt, dann wird es angesichts der
Vernichtungskraft moderner Waffen wahrscheinlich keinen strahlenden Sieger mehr
geben sondern nur noch strahlende Trümmerhaufen.
Deshalb muss man nach
Wegen suchen, wie Individuen und Kollektive unterschiedlicher Kulturen und
Interessen trotz dieser Unterschiede zusammenleben können.
Das
erfordert, dass überall dort, wo Parteien mit ihren Interessen im Konflikt
stehen, eine Regelung gefunden wird, die im gemeinsamen Interesse aller
beteiligten Parteien liegt und von allen am Konflikt Beteiligten akzeptiert
werden kann.
Der Wissenschaft kommt dabei die Aufgabe zu, Möglichkeiten
der friedlichen Einigung zu durchdenken, und die hierfür erforderlichen Begriffe
und Methoden zu entwickeln.
Insbesondere kann die Wissenschaft die
Konsequenzen herausarbeiten, die sich aus dem Willen zum Konsens ergeben und sie
kann diejenigen Verhaltensweisen und Argumentationsweisen als unzulässig
markieren, die mit dem Ziel einer friedlichen Übereinstimmung unvereinbar sind.
Die Bestimmung der partikularen Interessen durch die Konfliktparteien ist
abhängig von den Annahmen über die Wirklichkeit: zum einen hinsichtlich der
verfügbaren Handlungsalternativen und zum andern hinsichtlich der zu erwartenden
Konsequenzen von Handlungen.
Aufgabe der empirischen Wissenschaften ist
es, Methoden der allgemein akzeptablen Beantwortung von Fragen zur
Beschaffenheit der Welt zu entwickeln und anzuwenden. Differenzen, die allein
aus einer unterschiedlichen Weltsicht der Konfliktparteien herrühren, können
dadurch beseitigt werden.
Wo die informierten und reflektierten
Interessen der Konfliktparteien weiterhin unvereinbar sind, muss eine
Konfliktregelung gefunden werden auf der Grundlage einer unparteiischen und
wohlwollenden Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten. Alles andere
erscheint nicht allgemein konsensfähig.
Die inhaltlich richtige
Bestimmung dieser am Gemeinwohl orientierten Regelung ist die Aufgabe der
unbehinderten öffentlichen Diskussion, wozu die Wissenschaftler als Experten für
die Beantwortung spezieller Fragen ihre Beiträge leisten.
Aus der
öffentlichen Diskussion der Fragen gehen aber nicht notwendig allgemein
akzeptable Antworten hervor. Damit kann auch keine definitive Konfliktregelung
aus der Diskussion hervorgehen.
Außerdem geht selbst aus der
schlüssigsten Ableitung der gemeinschaftlich besten Regelung noch nicht die
Motivation der Beteiligten hervor, nun auch im Sinne dieser Regelung zu handeln.
Dazu bedarf es einer institutionalisierten Macht, die die Einhaltung der
betreffenden Normen überwacht.
Auch wenn alle Beteiligten gemäß ihren
Überzeugungen hinsichtlich der dem Gemeinwohl am besten entsprechenden Regelung
handeln würden, so ergäbe das selbst beim besten Willen aller noch kein sozial
koordiniertes und berechenbares Verhalten der Konfliktparteien.
Es bedarf
deshalb neben der Ebene der Diskussion und Argumentation einer Ebene allgemein
anerkannter Verfahren zur Setzung derjenigen Normen, die für das Handeln aller
Konfliktparteien verbindlich ist – unabhängig davon, ob die einzelnen Parteien
diese Entscheidung für inhaltlich richtig halten oder nicht.
Dadurch
besteht zwischen der Ebene der Wahrheitsfindung und der Ebene der Erzeugung von
Verbindlichkeit ein Spannungsverhältnis.
Beide Ebenen sind schon
deswegen nicht unabhängig voneinander, weil sich in Bezug auf die Institutionen
und Verfahren der verbindlichen Normsetzung (die gewissermaßen die rechtliche
Verfassung einer Gemeinschaft ausmachen), wiederum die inhaltliche Frage stellt,
welches die geeignetsten Verfahren sind, um zur Setzung solcher Normen zu
kommen, die dem Gemeinwohl am besten entsprechen.
Vielleicht hilft diese
Skizze des größeren Zusammenhangs, in dem ich den Gemeinwohlbegriff und seine
Funktion sehe, zu einem besseren Verständnis der meist nur punktuell
orientierten Diskussionsbeiträge.
Einen – weiterhin - sonnigen und
farbenprächtigen Herbstsonntag wünscht allen Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
30. Okt. 2005, 13:52 Uhr
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Hallo Eberhard!
Dass man den Gehalt normativer Sätze auf ihre
Richtigkeit prüfen kann, halte ich in der Tat für selbstverständlich. So weit
sind wir uns offenbar einig.
Allerdings bin ich der Meinung, dass sich
diese „Richtigkeit“ auch mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründen lässt. Auch
Tatsachen können in die Begründung von Normen einfließen. So ist es ja ganz
offenkundig im Verfahren der Gesetzgebung. Gesetze werden erlassen, um
gesellschaftliche Zustände oder Entwicklungen zu gestalten. Und dabei sind
Faktenwissen und Prognosen unverzichtbar.
Es kann auch ohne weiteres
vorkommen, dass eine Regierung sich durch die Realitäten gezwungen sieht, ein
Gesetz zu erlassen – also durch einen Notstand. Trotzdem würde in so einem Fall
nicht einfach das Sollen aus dem Sein „logisch folgen“, denn es hängt erstens
von Bewertungen und Interpretationen ab, was als Notstand gilt, und zweitens
werden sich die ergriffenen Maßnahmen ihrerseits an weithin anerkannten Werten
orientieren (z.B. an der „Gerechtigkeit“, am „Gemeinwohl“ oder auch ganz einfach
an der Verfassung).
Der Hinweis auf Tatsachen ist also m.E.
grundsätzlich kein Problem bei der Begründung von Normen. Und zwar liegt das zum
einen daran, dass diese Tatsachen von vornherein in einem „Raum“ der Reflexion
herangezogen werden, in dem es um eine Begründung von Normen geht. Und zum
zweiten liegt es daran, dass die Geltung der Normen letztlich nicht von ihrer
„sachlichen Richtigkeit“ oder ihrer „Vernünftigkeit“ abhängt (nicht logisch
daraus folgt), sondern von der Anerkennung der von der Norm Betroffenen - also
von einem mehr oder weniger ausdrücklichen „Akt“ der Entscheidung.
Die Entscheidung („Wollen“) und den „Raum der Reflexion“, in dem Gründe für die
jeweilige Entscheidung erwogen werden, stelle ich mir bei diesen Überlegungen
nicht als durch eine Kluft getrennt vor. Der „Wille“ ist für mich keine blinde
Naturmacht (wie Schopenhauer ihn sah), die per se vernunftfremd wäre. Ich glaube
überhaupt nicht an so etwas wie den „Willen an sich“; das ist eine Abstraktion.
Vielmehr zeigt sich das Wollen immer in konkreten Entscheidungen konkreter
Personen, die in konkreten Situationen aus konkreten Alternativen auszuwählen
haben. „Der“ Wille ist also „immer schon“ ein („inhaltlich“) bestimmter Wille.
Und genau deshalb ist er auch bestimmbar durch solche Gründe, die von den an der
Begründungs-Reflexion Beteiligten „vernünftig“ genannt werden.
Es
grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
30. Okt. 2005, 15:34 Uhr
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Hallo Eberhard!
Deinem Überblick kann ich in Vielem zustimmen, nur
veranschlage ich den Einfluss, den ausdrückliche, normierte Verfahren auf das
friedliche Zusammenleben haben, niedriger als Du. Ich glaube vielmehr, dass die
vielfältigen Verflechtungen der Menschen, durch die sie einander „ins Gehege
kommen“ auch die eigentlich treibende Kraft für einen friedlichen
Interessenausgleich sind. Dieser Interessenausgleich muss dabei gar nicht immer
von explizitem Konsens begleitet sein. Und ich finde sogar, dass Gremien, in
denen die Repräsentanten verschiedener, unversöhnlicher Parteien versuchen, nach
geregelten Verfahren zu kosensuellen Entscheidungen zu kommen – dass diese
Gremien oft eher die Differenzen zementieren.
Das kann dann zu einer
Lähmung solcher Institutionen führen. Statt Entscheidungen zu fällen, verteidigt
man im Dauergrabenkrieg zäh die je eigene Linie. Das führt bei Beobachtern zu
der berühmten „Politikverdrossenheit“. Das Parlament erscheint als
„Schwatzbude“, und das Ansehen der Repräsentanten sinkt bei denen, in deren
Namen sie eigentlich handeln sollen.
Was kümmern sich z.B. die USA (oder im
Moment Iran) um die UNO? Als es galt, den Irakkrieg öffentlich zu legitimieren,
hat der Außenminister der USA durch sein Verhalten gezeigt, dass die UNO
eigentlich nur die Bühne für einen wirksamen propagandistischen Auftritt war.
(Es ehrt Colin Powell, dass er nachträglich diesen Auftritt als moralischen
Tiefpunkt seiner Karriere sah. Noch ehrbarer wäre es freilich gewesen, sich gar
nicht erst von der Bush-Junta benutzen zu lassen.)
Die Lähmung der
Entscheidungsinstitutionen ist das eine mögliche Übel. Ein anderes Übel ist es,
wenn man einen nach dem Buchstaben der Verfahrensregeln korrekten „Konsens“
findet, dessen Funktion aber eher in der Ausbootung der Schwächeren oder der
Quertreiber besteht – d.h. wenn das Verfahren von den Mächtigeren zur
Durchsetzung der eigenen Interessen instrumentalisiert wird. Ein solcher
„Konsens“ ist das Papier nicht wert, auf dem er festgehalten wird, denn er
stiftet Unfrieden und Verbitterung, wo es doch um friedlich-schiedliches
Auskommen miteinander geht.
Mir fällt dazu als Beispiel der Kopftuch-Streit
ein, der von den zuständigen Gerichten eigentlich längst entschieden ist. Aber
hat diese Entscheidung zu einem gesellschaftlichen Konsens geführt? Keineswegs.
Viele muslimische Frauen haben gerade wegen dieser gerichtlichen
Auseinandersetzung zum Kopftuch gegriffen, um demonstrativ ihre Identität zu
behaupten. Die Gerichtsurteile haben also de facto nicht geschlichtet, sondern
polarisiert.
Also, ich bin nicht gegen Verfahren und Verfahrensregeln,
aber ich halte sie nicht wirklich für die treibende Kraft der Einigung. (Ich
werde auf diesen Punkt bestimmt noch zurück kommen, denn er ist wichtig für das
Verständnis des Gemeinwohl-Begriffs – und führt bei mir zur Unterscheidung eines
„expliziten“ und eines „impliziten“ Gemeinwohls.)
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 30. Okt.
2005, 21:01 Uhr
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Hi zusammen,
Dass man den Gehalt normativer Sätze auf ihre Richtigkeit
prüfen kann, halte ich in der Tat für selbstverständlich. So weit sind wir uns
offenbar einig.
Es mag sein, dass du das für selbstverständlich hältst,
Urs. Andere aber nicht.
Kein religiöser Mensch wird dieser Auffassung
zustimmen. Denn für ihn sind die entscheidenden Normen von Gott gesetzt und es
steht dem Menschen nicht zu, zu überprüfen, zu kontrollieren, ob Gott die Normen
richtig oder falsch gesetzt hat. Bei denen kommst du mit deinen Argumenten also
nicht durch.
Macht euch keine Illusionen. Das zentrale Problem ist nicht
richtig oder falsch, sondern gut oder böse. Passt uns nicht, ist aber so. Wenn
es um die Frage geht, was ist gut, was ist böse, kommen wir mit empirisch
begründeten Vernunftargumenten nicht weiter. Sie werden nicht gehört.
Das
ist auch richtig so. Denn spezifisch menschlich ist es, sich aus ethischen
Gründen gegen die vernünftige Alternative zu stellen.
Beispiel: eine
schon etwas ältere Doktrin (Nixon oder Reagan?), wonach Erdöl lebenswichtig für
die USA ist. Folglich werden die lebenswichtigen Interessen der USA in
Nah-/Mittelost verteidigt. Wenn man dann auch noch der Überzeugung ist, die
eigene Gesellschaftsform sei die beste und fortschrittlichste, nach der sich
alle vernünftigen Menschen sehnen, dann wird politische Einmischung nicht nur zu
einer Frage der Vernunft, sondern auch zum moralischen Akt.
Die
Bevölkerung der Erdölländer sieht das anders. Für sie ist diese Doktrin nicht
vernüftig, sondern böse, da das Erdöl nun mal anderen Leuten als den USA gehört.
Die eigene Prosperität ist für sie kein Grund, die in anderen Kulturen geltenden
Normen (Eigentumsrecht) zu verletzen. Mit Vernunftsargumenten kann man zwar zu
(vorübergehenden) Kompromissen kommen, nicht aber zu dem, was imho
konstituierend für eine Konsensmöglichkeit ist: Vertrauen. Dem Vertrauen darauf,
dass die Gegenseite sich aus innerer Überzeugung auch an einen möglichen Konsens
halten wird. Das unterscheidet m.E. den Konsens vom Vertrag. Der Vertrag basiert
auf dem do ut des, der Konsens auf der Überzeugung.
Deswegen sage ich,
der Weg zu einem möglichen Konsens kann nur über die humane Ethik führen, wobei
ich voraussetze, dass die zum menschlichen Wesen gehört, also trotz
unterschiedlichster Situationen, an denen sie sich zeigt, bei allen
reflektierenden Menschen, also bei denen, die nicht aufgrund von Gefühlsimpulsen
handeln und deswegen überlegenswerte Alternativen gar nicht sehen, gleich ist.
Das trifft gerade auch auf die großen Religionen zu. Denn wenn man mal so den
gesammelten Stuss Revue passieren lässt, der auch in diesen Foren als religiöse
Überzeugung verkündet wird, dann besteht der Unterschied zu den großen
Weltreligionen darin, dass die nun mal geglaubt werden, während der Stuss nur
paar vereinzelte Anhänger hat. Dafür gibt es einen Grund, und genau der sollte
uns interessieren. Deutlich gesagt: was ist das unterschiedlichen Religionen
Gemeinsame, das zu solchen historisch lang dauernden Massenreligionen führte. Es
sollte uns in der Verfolgung des Zieles dienen, eine von allen Menschen
anerkannte Basisüberzeugung zu finden, die deswegen allgemein anerkannt wird,
weil sie zum menschlichen Wesen gehört. So, wie die natürlichen Bedürfnisse bei
allen Menschen die gleichen sind, weil es die biologischen Bedürfnisse des
Lebewesens Mensch sind.
Das heißt in der Praxis: die Vernunft ist
unverzichtbar, um Entscheidungs- und Handlungsalternativen heraus zu arbeiten.
Welche davon aber genommen wird, kann, wenn die Sache zum Frieden führen soll,
nicht die Vernunft bestimmen, sondern nur die ethischen Prinzipien.
Widrigenfalls gibt's früher oder später Ärger, ein relevanter Teil der Menschen
schreit "Unrecht" und greift zu allen möglichen Gemeinheiten, um selbiges zu
beseitigen.
Es bedarf deshalb neben der Ebene der Diskussion und
Argumentation einer Ebene allgemein anerkannter Verfahren zur Setzung derjenigen
Normen, die für das Handeln aller Konfliktparteien verbindlich ist – unabhängig
davon, ob die einzelnen Parteien diese Entscheidung für inhaltlich richtig
halten oder nicht.
Diese Grundnormen können nur ethische sein, weil der
Mensch nun mal so ist.
Eine andere Frage ist die der Durchsetzbarkeit von
Normen. Denn machen wir uns nichts vor: Normen setzen Durchsetzungsgewalt
voraus. Ohne die geht es nicht.
Nicht nur Diktatoren sehen in der
Durchsetzungsgewalt die Bracchialgewalt. Im Falle der Durchsetzungsgewalt einer
Gesellschaft gegenüber Kriminellen stimmt das auch. Aber in politischer Hinsicht
stimmt das langfristig nicht. Dazu brauchen wir uns nur die Geschichte
anzuschauen (aber auch die Gegenwart: Irak). Im gesellschaftlichen, aber auch im
internationalen Bereich setzt Durchsetzungsgewalt voraus, dass sie akzeptiert
wird. Wird sie das nicht, schlägt irgendwann die Furcht vor dieser Gewalt um,
erst in heimlichen, dann in offenen Widerstand bis hin zum Sturz der Gewalt. Ein
Ereignis, das ich einmal (Iran) aus relativer Nähe mitbekommen habe und auf
dessen Wiederholung ich nun weiß Gott nicht scharf bin.
Akzeptiert wird
Durchsetzungsgewalt dann, wenn die weit überwiegende Mehrheit einer Gesellschaft
überzeugt ist, dass die Normen Gültigkeit haben, dass sie richtig sind, dass sie
gut sind, dass sie ihrer eigenen Überzeugung entsprechen.
Was in unserer
Gesellschaft, wenn es um die von der Wirtschaft (wer immer das sein mag)
aufgestellten Normen geht, nicht der Fall ist.
Wer liefert die
Überzeugungen? Die Denker. Also auch die Philosophie. Aber nur, wenn sie was
taugt, das heißt, wenn das, was sie sagt, wenigstens im Kern wahr ist.
Idealistische Spekulationen überzeugen niemanden. Das ist das, was man zu
APO-Zeiten geistige Onanie im Elfenbeinturm nannte (was nicht heißt, dass man
das damals nicht selbst betrieben hätte).
Ich plädiere dafür, dass
Philosophen sich ihrer Macht und der daraus resultierenden Pflichten und
Verantwortungen mal wieder bewusst werden. Sonst machen das nämlich die Poppers
und Huntingdons.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
31. Okt. 2005, 00:43 Uhr
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Hallo Abrazo!
Du sagst, Konsens könne nicht aus Vernunftgründen,
(also nicht aus der „Richtigkeit“ von Normen) hervorgehen, sondern aus „ethische
Prinzipien“. Ich glaube, Du musst mir erklären, was Du hier mit „Prinzipien“
meinst - wenn nicht allgemein geltende, allgemein anerkannte Grundsätze. Solche
„Grundsätze“ nennt man aber von alters her „vernünftig“. (Kant: Die Vernunft ist
das „Vermögen der Prinzipien“.) – Also, gewöhnt an den Sprachgebrauch der
philosophischen Tradition, verstehe ich nicht, was Du meinst.
Mein
Unverständnis wächst, wenn ich lese, dass Du diese Prinzipien aus den großen
religiösen Traditionen gewinnen willst, und zwar mit der Begründung, dass sich
in diesen Traditionen offenbar etwas Allgemeinmenschliches durchgesetzt haben
müsse. Auch das weist wieder in Richtung „Vernunft“, denn der Versuch, religiöse
Überzeugungen vom Übernatürlichen in ein Verhältnis zum „natürlichen Licht“ der
Vernunft zu setzen, ist unter dem vielsagenden Namen „Theologie“ altbekannt.
(Das Wort stammt, wie Du wahrscheinlich weißt, von Platon.)
Anfangs
sagst Du schroff, die entscheidende Differenz sei nicht richtig / falsch,
sondern gut / böse. Anders gesagt, nicht Vernunft, nur Ethik kann es bringen.
Aber was Du dann doch der vernünftigen Reflexion, dem menschlichen „Wesen“ und
der „wahren“ (daher überzeugenden) Philosophie alles zutraust, scheint mir diese
rigorose Gegenüberstellung wieder zurückzunehmen.
Also – was sind
„ethische Prinzipien“ im Gegensatz zu vernünftigen?
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 31. Okt.
2005, 09:56 Uhr
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Hi, Urs,
dass die ethischen Prinzipien - die wir nur aus dem Verhalten
der Menschen eruieren können, und unter diesem Aspekt betrachte ich Religionen,
nämlich als Indikator und Begründung menschlichen Verhaltens - vernünftig sind,
ist ein Glaube. Hält dieser Glaube einer Prüfung stand? Meiner Ansicht nach
nicht.
Ich sehe keinen vernünftigen Grund dafür, warum Menschen sich
nicht gegenseitig um die Ecke bringen sollten, wenn dies aus Vernunftsgründen
angebracht erscheint. Andere sehen das auch nicht. Sonst gäbe es keine Morde,
keine Kriege und keine Todesstrafe, keine Unterdrückung und keine Diktatur.
Das natürliche Licht der Vernunft ließ Platon sein Staatskonzept entwerfen
(ich habe eine Ausgabe seines Staates aus der Nazizeit mit einer hoch
interessanten Einleitung) und Kant lebte im Zeitalter des Absolutismus und hielt
viel vom vernünftigen Fritz. Was sagt denn der kategorische Imperativ, wenn
Fritz seinen Soldaten aus Staatsraison einen Kriegszug befiehlt, und einer
weigert sich, mitzumachen? Rübe ab.
Ethik ist nicht vernünftig. Und weil
das so ist, nicht, weil das so sein soll, bitte beachte den Unterschied, sage
ich, es ist sinnlos, vernünftige Normen zu entwickeln, ohne sie letztlich auf
ethische Prinzipien zu stützen. Weil Menschen diese vernünftigen Normen nicht
auf Dauer akzeptieren werden. Aus Menschlichkeitsgründen. Mögen sie ansonsten so
vernünftig sein, wie sie wollen.
Dass Menschen ethische Entscheidungen
treffen ist ebensowenig vernünftig wie dass sie essen, trinken und Kinder
kriegen (oder auch nicht). Der Mensch ist so. Und der bleibt auch so, auch wenn
man versucht, dies noch so vernünftig hinweg zu argumentieren. Weil es Tatsachen
sind, Daten, mit denen die Vernunft operiert, die sie aber nicht schafft. Du
kannst eine vernünftige Moral schaffen. Aber du kannst keine vernünftige Ethik
schaffen. Wenn du eine vernünftige Moral schaffst, die der Ethik widerspricht,
wird sie nicht akzeptiert. Weil Mensch so ist.
Ethische Prinzipien können
also nicht vernünftig entwickelt werden. Sie können nur beobachtet werden. Die
Rolle der Vernunft kann sich nur darauf beschränken, allgemeine Prinzipien aus
der Beobachtung von Einzelfällen zu gewinnen.
Ich denke, zwei Prinzipien
könnte man vorläufig festmachen: der ethische Wille rebelliert gegen Vernichtung
und gegen Leiden. Die Rebellion gegen Vernichtung führt zur Verurteilung von
Mord und Totschlag und die Rebellion gegen Leiden z.B. dazu, dass wir entsetzt
sind, wenn eine Maus mit heraushängenden Gedärmen bespielt wird und eine Katze
nicht.
Soweit klarer? Ansonsten wiederhole ich: dass die Ethik vernünftig
sei, ist in meinen Augen nur ein Glaube.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
31. Okt. 2005, 15:27 Uhr
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Hallo Abrazo!
Nun weiß ich immer noch nicht, was Du unter ethischen
Prinzipien verstehst – nur, dass sie eine Sache des Glaubens sind, im Gegensatz
zur Vernunft.
Ich finde diesen doppelten Gegensatz von Vernunft und
Ethik und von Vernunft und Glaube zu schroff, ja irgendwie weltfremd.
Nehmen wir doch das christliche Gebot der „Nächstenliebe“ (gemeint ist die
„agape“, die teilnehmende Sorge), wie es im Gleichnis des „barmherzigen
Samariters“ veranschaulicht wird. (Der Samariter, ein verachteter
gesellschaftlicher Außenseiter, hilft einem verletzen, ausgeraubten Menschen,
der am Wegesrand liegt, nachdem zwei Mitglieder der religiösen Elite achtlos an
diesem vorbei gegangen sind.) Darin liegt durchaus ein „ethisches Prinzip“, das
sich auch zu einer „vernünftigen“ Norm verallgemeinern lässt: Zum Gebot der
„Mitmenschlichkeit“, die nicht nach irgendwelchen Gruppenzugehörigkeiten fragt,
sondern sich aus der Einsicht ergibt, dass wir alle bedürftige Wesen und daher
auf einander angewiesen sind.
Nicht nur, dass diese Einsicht in ganz
verschiedenen Religion zentral ist – sie ist auch jedermann zugänglich, ohne
dass er an eine „dogmatische“ Autorität glauben müsste. Man muss also Jesus, der
dieses Gleichnis erzählt und mit dem Gebot der teilnehmen Sorge verbindet, nicht
für Gott halten, um die „allgemeine Richtigkeit“ dieses Gebots einzusehen. Jeder
weiß, dass er jederzeit selbst in eine Lage geraten kann, in der er auf Hilfe
angewiesen ist, ja, jeder weiß auch, dass die tägliche Zuwendung. Rücksicht und
Achtung anderer Menschen für ihn so wichtig ist wie die Luft zum Atmen.
So eine Einsicht nenne ich „vernünftig“.
Allerdings ist das keine
unbeteiligte Vernunft im Sinne automatischer logischer Schlüsse. Die
Gedankenfolge: „Menschen sind auf einander angewiesen; ich bin ein Mensch, also
bin ich auch auf andere angewiesen; also sollte ich anderen helfen, wenn ich
meinerseits Hilfe erwarte“ ist insofern keine bloß „theoretische“
Verallgemeinerung, als ich von ihr unmittelbar betroffen bin. Wenn man diese
Wahrheit wie eine wissenschaftliche Aussage „über die Beschaffenheit der Welt“
zur Kenntnis nimmt, hat man sie nicht wirklich verstanden. Die Einsicht in diese
„Wahrheit“ bedeutet zugleich: Anwendung auf sich selbst und das eigene Handeln.
Auch liegt hier kein „naturalistischer Fehlschluss“ vor derart, dass das
Sollen aus einem „Faktum“ zwingend deduziert würde. Die Einsicht in die
Gegenseitigkeit der Verpflichtung ist von ganz anderer Art als eine Anwendung
des Gravitationsgesetzes bei einer ballistischen Berechnung.
Fazit:
Die Gegensätze, von denen Du sprichst, sind in dieser schroffen Form
unrealistisch. Könnte es nicht sein, dass Dein Begriff von Vernunft einfach ein
bisschen zu technizistisch ist? (Ich denke da wieder an das positivistische
Schema „Logik plus Daten“...)
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 31. Okt.
2005, 15:34 Uhr
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Doch.
Das Raubtier ist nützlich.
Es kneift Leute, die einem lästig fallen
und die man partout nicht abgewimmelt bekommt, in den Hintern.
Leider
funktioniert das nicht per Elektronik.
[smiley=flyer2.gif]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 31. Okt.
2005, 17:00 Uhr
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:-) Hallo Allseits,
Mit Interesse habe ich die seit meinem letzen Beitrag
eingegangenen Texte nachgelesen. Die Diskussion hier zeigt, wie komplex die
Fragen zum Gemeinwohl und Wohl der Individuen sind. Die Einflussgrössen sind
zahllos, diffus und schwammig. Trotzdem ist es aber so, dass mit einer gewissen
Zuversicht und Selbstverständlichkeit erahnt wird, was mit Gemeinwohl, was mit
Individualwohl gemeint ist, respektive gewiss nicht darunter fallen kann oder
darf. Es fällt einem sogar schwer methodische vorzugehen.
Das Problem
hat meiner Meinung nach folgende Struktur: Lösungen liegen mehr oder weniger
vor. Ebenso die Zusammenhänge. Aber man muss es noch zum Stimmen bringen: wie
ein Musikinstrument.
Für eine solche Problemstruktur empfiehlt sich die
Methode der Variation der Randbedingungen. Diese Methode wird bei komplexen
Problemen angewendet, falls mögliche Lösungen erahnt werden und zugleich die
Randbedingungen eher zufällig oder nicht gut bekannt oder nicht eng begrenzend
sind. Durch die Variation der Randbedingungen wird geprüft, ob vermutete
Lösungen stimmen, d.h. hilfreich sind.
Diese Methode ist nun auf das
vorliegenden Problem anzuwenden. Doch, was ist nun Lösung, was Randbedingung? In
obigen Diskussionsbeiträgen werden, meines Erachtens, die ethischen Normen und
Gesetze als Lösungen betrachtet, die noch zu finden sind. Ich sehe in den
ethischen Normen und Gesetzen jedoch die Randbedingungen, unter denen sich
Gemeinwohl und Individualwohl (also die Lösungen) einzustellen haben. Sobald die
Grundstimmung in der Gemeinschaft auf Unwohlsein steht, löst dies politische und
gesellschaftliche Prozess aus, die letztlich zur Variation der Normen und
Gesetze führen. - Das ist der Lauf der Dinge.
Diese Betrachtungsweise
entbindet von der Verpflichtung das Gemeinwohl zu definieren und schützt vor der
Gefahr, favorisiertes Gemeinwohl und favorisiertes Individualwohl absolut zu
setzen - Das ist die positive Seite. Unerwartet ist, dass durch diese
Betrachtungsweise die ganze Kulturgeschichte als Ergebnis einer endlosen Reihe
von Versuch und Irrtum entlarvt ist. Das scheint die negative Seite zu sein.
Doch dem ist nicht so. Denn sämtlichen Ideologien ist dadurch der Nährboden
entzogen: Es wird klar, dass niemand vor Irrtum geschützt ist, dass der Zweck
die Mittel nicht heiligt, dass das Bauchgefühl (sprich, beispielsweise:
Menschenrechte) in natürlicher Weise das Machtgefühl in die Zügel nehmen darf.
Stehen am Ende dieser Betrachtungsweise nun nichts anderes als
Leerformeln für das Gemeinwohl und das Individualwohl? Nein! Beide sind
begründeter weise nicht leer: favorisierte Wohle dürfen nicht absolut gesetzt
werden, Gemeinwohl schränkt Individualwohl ein und Individualwohl schränkt
Gemeinwohl ein, beide Wohle sind orts- und zeitabhängig, was sich aber in deren
gemeinsamen Kern nur marginal manifestiert (z.B. Menschenrechte). ...
Ich lass es dabei bewenden und höre gerne mal zu --- Euer Alltag
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 31.
Okt. 2005, 20:58 Uhr
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Hallo Abrazo,
Du schreibst: „Ethische Prinzipien können … nicht
vernünftig entwickelt werden. Sie können nur beobachtet werden. Die Rolle der
Vernunft kann sich nur darauf beschränken, allgemeine Prinzipien aus der
Beobachtung von Einzelfällen zu gewinnen.“
Danach sind Menschen von Natur
aus mit einer inneren Instanz ausgestattet, die entscheidet, was gut und böse
ist. Die Urteile dieses humanen Ethos sind bei allen Individuen dieselben und
man kann und muss sie beobachten und systematisieren.
Dagegen spricht,
dass die Wissenschaften vom Menschen bisher eine solche Instanz nicht gefunden
haben. Die Kontroverse um den Schwangerschaftsabbruch lässt von einer
einheitlichen ethischen Instanz in allen Menschen z.B. wenig erkennen.
Es
grüßt Dich Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 01. Nov.
2005, 01:15 Uhr
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Hi,
@Urs:
Darin liegt durchaus ein "ethisches Prinzip", das sich auch
zu einer "vernünftigen" Norm verallgemeinern lässt: Zum Gebot der
"Mitmenschlichkeit", die nicht nach irgendwelchen Gruppenzugehörigkeiten fragt,
sondern sich aus der Einsicht ergibt, dass wir alle bedürftige Wesen und daher
auf einander angewiesen sind.
Das steht aber nicht im Text. Im Text
steht:
Von ungefähr aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er
ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. 32 Ebenso aber kam auch
ein Levit, der an den Ort gelangte und sah [ihn] und ging an der
entgegengesetzten Seite vorüber. 33 Aber ein Samariter, der auf der Reise war,
kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt; 34 und er trat
hinzu
Da steht "wurde er innerlich bewegt". Klar kannste dir das
nachträglich vernünftig zurecht legen. Dat kannste mit allem machen. Ich leg dir
auch nen Mord vernünftig zurecht. Aber so operieren Religionen nicht. Religionen
operieren damit, dass sie konkrete Situationen vor Augen führen, an denen sich
der ethische Willen zeigt. Was machte denn den Samariter zum barmherzigen
Samariter? Die Ignoranz der Priester. Und die daraus folgende Reaktion: ne, so
nich.
Vgl. Koran Sure 107:
Was meinst du wohl von dem, der das Gericht
für Lüge erklärt? Das ist der, der die Waise wegstößt, und nicht dazu anhält,
dem Armen zu essen zu geben. Weh den Betenden, die auf ihr Gebet nicht achten,
die gesehen werden wollen und die Hilfeleistung verweigern!
Wo ist da
Vernunft? Hier wird der für unglaubwürdig erklärt, der unethisch handelt. Dass
er unethisch handelt, wird nicht logisch bewiesen, sondern gezeigt - durch die
Reaktion im Hörer bzw. Leser.
Du musst zugeben, genau diese Methode
funktioniert. Und zwar besser, wirksamer und nachhaltiger als alle vernünftigen
Erklärungen. Tatsache.
sondern sich aus der Einsicht ergibt, dass wir
alle bedürftige Wesen und daher auf einander angewiesen sind.
Beweis
mal, Urs. Beweis das denen, die der Auffassung sind, ein Teil der Menschen auf
unserer Erde, auch hier bei uns, seien überflüssig, unproduktiv und nicht zu
gebrauchen. Die werden dir nämlich nachweisen, dass ihre Ansicht vernünftig ist
und nicht deine. Wie gesagt, du glaubst nur, dass deine Ansicht vernünftig ist.
Aber das wird einem Beweis nicht standhalten.
Wenn man diese Wahrheit wie
eine wissenschaftliche Aussage "über die Beschaffenheit der Welt" zur Kenntnis
nimmt, hat man sie nicht wirklich verstanden. Die Einsicht in diese "Wahrheit"
bedeutet zugleich: Anwendung auf sich selbst und das eigene Handeln.
Erklär
doch mal, was du mit Einsicht meinst.
@ Alltag:
Wenn ich dich richtig
verstanden habe, stimme ich dir so in etwa zu (auch wenn ich es anders
ausdrücken würde). Danach bildet die humane Ethik den Rahmen, innerhalb dem wir,
durchaus im Dissens, nach Lösungen für unterschiedliche konkrete Probleme
suchen. Das geht so lange gut, wie dieser Rahmen nicht verlassen wird. Wenn er
aber dauerhaft verlassen wird, gibt es Konflikte, und zwar schwerwiegende, weil
Menschen dies auf Dauer nicht hinnehmen. Der Rahmen ist verbindlich, und es gibt
dafür keine andere Bedingung als die, dass Menschen nunmal so sind. Da die Ethik
zu ihrem Wesen gehört.
@Eberhard:
Danach sind Menschen von Natur aus
mit einer inneren Instanz ausgestattet, die entscheidet, was gut und böse ist.
Instanz? Das Wort gefällt mir nicht. Sind wir mit einer inneren Instanz
ausgestattet, die uns qua Durst zur Entscheidung des Trinkens nötigt? Wer oder
was wäre denn diese Instanz? Klingt nach Fremdkörper. Darüber möchte ich nicht
spekulieren. Erst mal feststellen, was Sache ist. Über das woher, warum, weshalb
kann man sich später eventuell Gedanken machen.
Entscheidet diese
angenommene Instanz, was gut und was böse ist? Nach welchem Maßstab? Und was
soll dann gut und böse sein? In den Religionen ist Gott der Gesetzgeber. Ich
denke, das Problem ist die Frage. Das, was Menschen für gut halten, ist durchaus
unterschiedlich und nicht so klar, wie es scheint. Aber was böse ist, lässt sich
imho klar sagen: böse ist das, was wir aus humanen Gründen nicht wollen. Das
heißt, es ist nicht so, dass wir das Böse nicht wollen, sondern so, dass wir
das, was wir nicht wollen, das Böse nennen.
Dagegen spricht, dass die
Wissenschaften vom Menschen bisher eine solche Instanz nicht gefunden haben.
Wann haben sie denn danach gesucht?
Gesucht wurde nach dem Gesetzgeber, sei
es von der Theologie (oder religiösen Philosophen), sei es von
Gesellschaftswissenschaftlern, die irgendwie einen Gesellschaftsvertrag
konstruierten, in dem die Ethik vereinbart worden sei. Freilich erklären sie
nicht, warum diese und keine andere.
Und, wie gesagt, mit dem Wort Instanz
bin ich nicht einverstanden.
Die Kontroverse um den
Schwangerschaftsabbruch lässt von einer einheitlichen ethischen Instanz in allen
Menschen z.B. wenig erkennen.
Meinste?
Was ist denn das Problem? Das
Problem ist, dass du eine Frau nicht zwingen kannst, ein Kind auszutragen, das
sie nicht austragen will. Dass sie Illegalität und schwerste Gesundheitsschäden
in Kauf nimmt, wenn sie nicht will. Du kannst nicht in sie hinein sehen. Du
kannst nicht retten, was nicht zu retten ist. Also überlässt man letztlich ihr
die Entscheidung - aber auch die Verantwortung dafür. Würdest du das bei
sorgfältiger Prüfung als unethisch ansehen? Eine andere Entscheidung ist genau
so möglich. Und genau so problematisch.
Etwas anderes ist
Schwangerschaftsabbruch mit dem Motiv der Selektion. Das kam öfter mal vor.
Menschen handeln bekanntlich nicht immer menschlich. Vielleicht muss man
Möglichkeiten erst zeigen. Historisches Beispiel: vor Mohammad war es durchaus
normal, unerwünschte neugeborene Mädchen im Wüstensand zu vergraben. Und dann
verkündete Mohammad in einer Sure über das Jüngste Gericht: "wenn das Mädchen,
das (nach der Geburt) verscharrt worden ist, gefragt wird, wegen was für einer
Schuld man es umgebracht hat" - da ließ man diesen Brauch sein.
Ich
denke, man kommt diesem Phänomen nicht auf die Spur, wenn man sagt, dass man da
eben dran glauben muss. Erklärt nämlich nicht, warum Menschen begannen, daran zu
glauben. So leichtgläubig waren die Menschen auch früher nicht. Anders gesagt,
der Glaube an einen Gott erklärt nicht das Phänomen Religionen. Und ich vermute
mal, der Glaube an ein Gericht nach dem Tod erfüllt eine wichtige Funktion: wenn
man für seine Handlungen verantwortlich ist, reflektiert man sie kritisch. Das
scheint eine Voraussetzung für das Auftreten der humanen Ethik zu sein.
Fazit: ich denke schon, dass es genügend Phänomene gibt, die die Auffassung, es
gibt eine dem Menschen wesentliche humane Ethik zumindest als prüfenswerte
Hypothese rechtfertigen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
01. Nov. 2005, 02:11 Uhr
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Hallo miteinander!
Ein paar schweifende Gedanken zum Verhältnis „des
Kognitiven („Vernunft“) und des Volitiven („Wille“). Ich hatte ja behauptet,
diese beiden Momente seien nicht durch eine Kluft voneinander getrennt.
Seit Kants Versuch, die Moralität von Handlungsnormen allein aus ihrer Form –
ihrer ausnahmslosen Verallgemeinerbarkeit – abzuleiten, sind die „Bedürfnisse“
und „Neigungen“ der handelnden Individuen in ein ungünstiges Licht gerückt. Denn
ist der Wille des Subjekts durch individuelle Neigungen oder kontextgebundene
Varianzen bestimmt, so ist er zugleich unfrei, da der „Kausalität der Natur“
unterliegend, und unmoralisch, da „eigennützig“.
Die anthropologischen
Voraussetzungen dieser Konstruktion sind aber m.E. falsch. Man muss sämtliche
Sozialisationsprozesse, durch die wir schrittweise unsere Begierden zu
kontrollieren und zu formen lernen, vergessen, um sie plausibel zu finden.
Wir fressen nicht, wann immer wir Nahrung sehen, wir fallen nicht gierig
darüber her und verschlingen sie, sondern wir haben gelernt, unseren Hunger bis
zur Mittagspause oder der gemeinsamen Mahlzeit zu beherrschen, wir bereiten die
Nahrung (mehr oder weniger) kunstvoll zu, wir schmatzen und schlingen nicht, wir
beschmutzen nicht unsere Hände und Kleider, wir reichen einander die Schüsseln
usw.
Sicher, wir bekommen nach wie vor Hunger, auch „Bärenhunger“ und müssen
notwendigerweise irgendwann essen; das mag man als einen „Zwang“ der Natur
sehen, dem wir unfrei ausgesetzt sind. Aber die ganze Art und Weise, wie wir mit
der Befriedigung dieses Grundbedürfnisses umgehen, ist durch vielfältige Regeln
geformt, nicht durch Instinktprogramme. Unser „Appetit“, ist einfach nicht mehr
ein „roher Trieb“ oder „blinder Zwang“, sondern wir exerzieren an ihm von klein
auf jene Kontrolle und Distanzierung, die auch für moralisches Handeln eine
unverzichtbare Voraussetzung ist.
Darum kann man unsere kultivierten,
d.h. durch Normen kontrollierten Bedürfnisse nicht grundsätzlich als
vernunftfremd und unfrei ansehen. Und: Ohne die langjährige Übung der
Bedürfniskontrolle (die von Anfang an etwas anderes ist als eine stumpfsinnige
Abrichtung oder rigide Askese), wären wir gar nicht in der Lage, moralisch zu
handeln – nämlich unser eigenes Handeln nach allgemeinen Regeln zu beurteilen
und zu vollziehen. Moralisches Handeln ist praktiziertes Feingefühl, nicht
Vergröberung (und die Kantsche Konstruktion ist, mit Verlaub, sehr grob
geschnitzt).
Ich sehe also zwischen „Naturkausalität“ (Trieb) und
vernunftgemäßem gemeinschaftlichem Handeln keine schroffe Alternative, sondern
eine Abstufung und Vermittlung. Zuzugeben ist, dass es dabei zu großen
Unterschieden zwischen den Individuen, Gruppen, Kulturen kommt. Und die führen
dann auch immer wieder zu schroffen Konflikten.
Aber wir sehen auch,
dass die Entwicklung unaufhaltsam zu einer „Weltgesellschaft“ voranschreitet,
indem gewisse Standards und Normen sich - nebst globalen Institutionen -
weltweit etablieren. Und ich glaube eben, dass sich die Vernunft der universell
(global) geltenden Normen wenn überhaupt, dann durch diesen mühsamen
Vermittlungsprozess im Kleinen durchsetzt. Die Risiken und Konflikte, die er
dabei verursacht, sind wohl nicht nur nicht zu vermeiden, sondern können ihn
auch vorantreiben, wenn es gelingt, daraus Konsequenzen zu ziehen.
Anders
gesagt: Wenn, dann wird man aus Erfahrungen klug, nicht aus Abstraktionen, die
diese Erfahrungen zu erübrigen suchen.
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
01. Nov. 2005, 04:47 Uhr
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Hallo Abrazo!
Quote:Da steht "wurde er innerlich bewegt". Klar
kannste dir das nachträglich vernünftig zurecht legen. Dat kannste mit allem
machen. Ich leg dir auch nen Mord vernünftig zurecht. Aber so operieren
Religionen nicht. Religionen operieren damit, dass sie konkrete Situationen vor
Augen führen, an denen sich der ethische Willen zeigt. Was machte denn den
Samariter zum barmherzigen Samariter? Die Ignoranz der Priester. Und die daraus
folgende Reaktion: ne, so nich.
Ein bisschen Kontext sollte man
immer mitlesen. Bevor das Samariter-Gleichnis erzählt wird, ist von den beiden
wichtigsten Geboten (aus dem mosaischen „Gesetz“) die Rede, der Liebe zu Gott
und der Nächstenliebe: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Bei Matthäus
(22, 40) heißt es dazu unmissverständlich: „An diesen beiden Geboten hängt das
ganze Gesetz und die Propheten.“ Im Markus-Evangelium (12, 33) wird gesagt:
Diese Gebote befolgen, „das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer“,
sprich: mehr als alle bloßen Rituale. Und Paulus im Römerbrief (13, 10): „So ist
nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“
Daran „hängt“ das ganze
Gesetz; die Liebe ist die „Erfüllung“ des Gesetzes... - wie immer man das näher
deuten mag, soviel wird doch klar, dass es sich um „grundsätzliche“,
„prinzipielle“ Gebote handelt
Das Gleichnis wird dann erzählt als Antwort
auf die Frage des Pharisäers: „Wer ist denn mein Nächster?“ Nach der Erzählung
antwortet Jesus mit der Gegenfrage: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem
zum Nächsten geworden, der unter die Räuber gefallen war?“
Du hast schon
Recht: Der Samariter hat aus Mitgefühl gehandelt, nicht weil er ein Gebot in
kantianischer Pflichterfüllung exekutierte (also ohne „Neigung“). Aber dass er
spontan und wie selbstverständlich das Richtige tat, während Priester und Levit,
die sich doch gut mit dem „Gesetz“ auskennen sollten, gar nicht erst auf die
Idee kamen, es hier und jetzt anzuwenden – das ist das Entscheidende. Denn damit
wird zu verstehen gegeben: wer so handelt, der braucht eigentlich keine
Gesetzbücher und keine Schriftgelehrsamkeit. Wenn er als mitfühlender Mensch an
seinesgleichen handelt, dann handelt er im „Geist“ des „ganzen“ Gesetzes. Dieses
Gebot ist für ihn also kein Imperativ, kein äußerer Zwang, dem er sich sklavisch
beugte. Er hat es sich zu eigen gemacht, d.h. es bestimmt sein ganz
„natürliches“, beobachtbares Handeln.
Wenn Du von „Vernunft“
regelgerechte Schlüsse und Beweise erwartest – also Theorie -, dann gehst
natürlich hier leer aus. Hier wird das „Prinzip“ in seiner Wirksamkeit gezeigt,
also an dem, worauf die ganze Ethik schließlich zielt: dem unmittelbaren
Handeln.
Es grüßt Dich
Urs
So langsam möchte ich aber mal
die Kurve zurück zum Gemeinwohl kriegen...
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 01.
Nov. 2005, 09:18 Uhr
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Hallo allerseits,
versuchen wir, die Kurve zu kriegen zurück zum Wohl des
Ganzen und zum Wohle (Prost!??) der Einzelnen.
Wenden wir uns zuerst dem
Wohlergehen des Einzelnen zu, von alltag kürzer „Individualwohl“ genannt.
Was macht mein Wohlergehen aus? Was ist gut für mich?
Erste Antwort:
Gut für mich ist das, was meine Wünsche erfüllt.
Es geht mir dann gut,
wenn das realisiert wird, was ich will.
Aber mein Wille, dass x
realisiert wird, verschwindet,
- wenn ich feststelle, dass x gar nicht
realisierbar ist (die Alternative x war gar keine Alternative), oder
-
wenn ich die noch bessere Alternative y berücksichtige (eine vorhandene
Alternative y wurde nicht berücksichtigt), oder
- wenn ich von negativen
Eigenschaften und/oder Konsequenzen erfahre (mein Wissen über x war falsch oder
unvollständig) oder
- wenn ich durch Nachdenken über die Herkunft meiner
Motive für x feststelle, dass diese Motive mit der Bewusstmachung ihre Kraft
verlieren (mein Wunsch nach x beruhte auf unbewussten, nicht verarbeiteten
Konflikten oder Traumatisierungen).
In all diesen Fällen ist mein Wille
nicht dauerhaft, x ist nicht das, was ich wirklich will.
Ich
formuliere deshalb um:
Gut für mich ist das, was möglichst dauerhaft
meine Wünsche erfüllt.
Es geht mir dann gut, wenn das realisiert wird, was
ich möglichst dauerhaft will.
Hier mache ich erstmal eine Zäsur.
Grüße an alle Freunde lebendiger philosophischer Argumentation von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 01. Nov.
2005, 11:20 Uhr
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:-) Hallo Allseits,
@ Eberhard,
habe Deinen Beitrag #120 noch nicht
gelesen, sorry!
@ Urs_meint_Euch,
ich will in einem weiten Bogen
zurück zu den beiden Wohls.
@Abrazo, (mich interessiert, wie Du es sagen
würdest.)
Im Facit sagst Du: ich denke schon, dass es genügend Phänomene
gibt, die die Auffassung, es gibt eine dem Menschen wesentliche humane Ethik
zumindest als prüfenswerte Hypothese rechtfertigen. Im Folgenden versuche ich
einen entsprechenden Nachweis zu erbringen.
Erneut nutze ich die Methode
der Variation der Randbedingungen.
Die Frage nach dem Gemeinwohl und dem
Individualwohl hätte auch von einem Ureinwohner, von Laotse, Buddha, Plato usw.
gestellt werden können. Dies zeigt den grossen Variationsbereich der
Randbedingung auf und zwingt die Bedeutung der Sprache und des Kulturkreises in
nicht geahnter Weise zu relativieren. Das Gemeinsame, ohne welches Gemeinwohl
schlicht nicht möglich wäre, muss ausserhalb von Sprache und Kulturkreis liegen!
Nota bene, wenn hier von Gemeinsamem die Rede ist, muss das grösste Gemeinsame
gemeint sein, sonst würde Gemeinwohl, ohne Not, eingeschränkt.
Wie soll
irgend Jemand weniger abhängig von seinem Sprach- und Kulturkreis sein, ausser
er versetzt sich in seine frühe Kindheit zurück? Zurück in die Zeit, als er
nicht viel mit der ihn umgebenden Kultur anfangen und die Sprache selbst noch
nicht nutzen konnte, weil er selbst noch nicht so weit war. Diese Überlegung
zwingt die Lebenssituation in der frühesten Kindheit zu beachten und sie näher
zu betrachten. Zum einen handeln und verlangen Säuglinge ihren individuellen
Bedürfnissen entsprechend. Zum anderen ist deren Handelungsspielraum so sehr
ähnlich, dass nur Eltern und erfahrene Kinderbetreuer/innen Unterschiede
erkennen. Das lässt nun vermuten, dass Säuglinge die Welt und ihre
Lebenssituation sehr ähnlich schildern würden, falls sie dies in einer
verständlichen Weise tun könnten. Somit ergibt sich hier einen Ansatz für die
grösste Gemeinsamkeit. Wenn wir aber an Buddha, Plato oder irgend einen Inuit
als Säugling denken, kann über die klimatischen und historischen Unterschiede
nicht hinweggeschaut werden. - Für den Fortschritt des Gedankengangs hier, ist
es somit entscheidend, ob die Abhängigkeit von Ort und Zeit prinzipiell oder
scheinbar ist.
Ich will bei dieser Frage einen Zwischenhalt machen. ---
Euer Alltag
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
01. Nov. 2005, 13:53 Uhr
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Hallo miteinander, hallo Eberhard!
Quote:Versuchen wir, die
Kurve zu kriegen zurück zum Wohl des Ganzen und zum Wohle (Prost!??) der
Einzelnen.
Ja, zum Wohle!
Ich weiß nicht, wie es Euch
geht, aber ich bin und war während meiner letzten Beiträge absolut nüchtern, so
dass ich den Überblick nie verloren habe. Und nach dem in den Beiträgen Nr. 90,
102, 113, 118, 119 Gesagten ist es nun ganz leicht, auf den Punkt zu
argumentieren.
:-)
- - - - - -
Eberhard, Du sprichst von
einer „möglichst dauerhaften“ Erfüllung „meiner“ Wünsche... Dazu kurz ein
Rückblick auf das Samariter-Gleichnis:
Dort wird Jesus nämlich eingangs
gefragt: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erbe?“ (Lukas 10,
25) Der Fragende denkt also an sein Individualwohl, und zwar an ein „möglichst
dauerhaftes“. Dauerhafter als ewig geht wohl nicht.
Darauf bekommt er
zuerst die beiden Gebote genannt, die er einhalten müsse: Liebe deinen Gott mit
aller Kraft und liebe deinen Nächsten wie dich selbst. - Wenn wir, als
gegenwärtige, ganz und gar nüchterne und aufgeklärte Leser, einmal den Glauben
an Gott und ein „ewiges Leben“ beiseite lassen, als Voraussetzungen, die wir
nicht teilen, dann bleibt umformuliert von Frage und Antwort dies übrig:
Was muss ich tun, um eine möglichst dauerhafte Erfüllung meiner Wünsche (= mein
Individualwohl) zu erreichen?
Du musst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst.
Dabei ist das Verb „lieben“ nicht als erotisches Begehren –
„Neigung“ – zu verstehen, sondern als „teilnehmende Sorge“ (es geht nicht um
„eros“, sondern um „agape“). Die Antwort lautet darum präzisiert:
„Du musst
dich ebenso um das Wohl deines Nächsten kümmern wie um dein eigenes.“
Und dann folgt, als Antwort auf die Frage: „Was soll ‚Nächster’ bedeuten?“ das
Gleichnis. Es wird also keine theoretische Antwort gegeben, um die
Interdependenz von Individualwohl und Gemeinwohl nachvollziehbar zu machen. Es
wird stattdessen die Perspektive des handelnden Individuums beibehalten.
Ich möchte aber nicht versäumen, auf die Pointe dieses Dialogs
hinzuweisen.
Wenn ich danach frage, wie ich mein eigenes Wohl (den
Zweck) erreichen kann, so frage ich danach, wie mein Handeln (das Mittel)
zweckmäßiger Weise sein sollte. Die Antworten, die ich darauf erhalte, sind dann
methodische Anweisungen, also Gebote, Imperative: „Du musst a, b, c... tun!“
Wenn nun b ersetzt wird durch: „Du musst dich genauso um das Wohl deiner
Mitmenschen kümmern wie um dein eigenes!“ dann ist das eine paradoxe Antwort,
mit der ich aus meiner strategischen Ich-Perspektive unmittelbar nichts anfangen
kann. Und das liegt daran, dass diese Antwort implizit eine Kritik an der
strategisch verengten Ich-Perspektive ist. Es wird gesagt: „Du wirst dein
eigenes Wohl nur erreichen, wenn du nicht immerzu nur an dein eigenes Wohl
denkst. Du musst eine Perspektive gewinnen, die das Wohl deiner Mitmenschen
integriert." Oder: "Du musst das Wohl deiner Mitmenschen in deinen individuellen
Zweck mit aufnehmen, es dir 'zu eigen' machen." Oder: "Du darfst deine
Mitmenschen nie nur als Mittel zu deinen Zwecken ansehen, sondern immer auch als
Zwecke deines Handelns. - Beispiel: der hilfsbereite Samariter.“
Das
bedeutet: Solange ich nur nach meinem individuellen Wohl frage, bekomme ich als
Antworten Imperative. Solange sind die Dinge, die ich tun muss, um es zu
erreichen, technische Zwänge.
Gelingt es mir aber, daraus zu lernen und
meinen Horizont zu erweitern, dann ist das Wohl der anderen kein äußerer Zwang
mehr, der meinen Handlungsspielraum einengt. Dabei bedeutet „Erweiterung“ meines
Horizontes nicht, dass ich meinen Standpunkt aufgeben müsse. Ich darf also
durchaus weiterhin mein individuelles Wohl verfolgen. Aber wenn ich in meinen
Mitmenschen immer auch mich selbst wiedererkenne– z.B. als bedürftiges Wesen -,
dann hören meine Mitmenschen auf, nur „die anderen“ zu sein, die mich bei der
Verfolgung meiner Interessen behindern.
Diese sozusagen methodische
Kritik teile ich. Es kann in der Theorie des Gemeinwohls m.E. zu nichts
Gescheitem führen, wenn man den Standpunkt des Individualinteresses konsequent
und unverändert festhält und versucht, das Gemeinschaftsinteresse auf eine Menge
von Individualinteressen zu reduzieren. Die Theorie des Gemeinwohls muss
sozusagen „dynamische“ Momente in sich aufnehmen, die es erlauben, den
„Standpunkt“ des Individuums als Momentaufnahme innerhalb eines Prozesses zu
konzipieren – und zwar eines Lernprozesses („Vergesellschaftung“,
„Sozialisation“), durch den das Individuum im Verfolg seiner Interessen die
Interessen der Gemeinschaft zu integrieren lernt.
Ich hoffe, nun
ist auch aus Euren individuellen Perspektiven erkennbar, dass das
Samariter-Gleichnis keine individualistische Pirouette meinerseits war, sondern
durchaus ein Beitrag zu unserem gemeinsamen Thema...
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am 01. Nov.
2005, 14:45 Uhr
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:-) Hallo Allseits,
Was bisher bei Alltag geschah: Beim Versuch eine
Fundamental-Ethik nachzuweisen, zeigt sich, dass das Gemeinsame, ohne welches
Gemeinwohl schlicht nicht möglich wäre, ausserhalb von Sprache und Kulturkreis
liegt. Dies zwingt zur Behauptung, dass die Lebenssituation in der frühesten
Kindheit zu beachten und näher zu betrachten ist. Als nächstes ist zu prüfen, ob
(auch noch in frühster Kindheit) die Abhängigkeit von Ort und Zeit prinzipiell
oder scheinbar ist.
Zwischenspiel <pour fixer les idées>: Kaspar Hauser,
das Findelkind von Nürnberg, hatte sich schon ziemlich in die Gesellschaft
eingelebt, als sein Lehrer und Ziehvater auf einem langen Spaziergang Richtung
Horizont zeigte:
"Schau Kaspar, da in dem Turm hast du deine Kindheit ganz
allein verbringen müssen. Im Turmzimmer habe ich all das gefunden, was du im
Tagebuch aufgezeichnet hast."
Kaspar blieb nach einigen Schritten brüsk
stehen und sagte erbost:
"Vater, du lügst! Dort, wo ich alleine als Kind
war, ist rund um mich herum Turm gewesen. Doch jetzt ist nur geradeaus vor mir
Turm." /1/
Im Weitern ist methodisch nebst den Randbedingungen nun auch
noch die Perspektive zu variieren. Denn nicht als Aussenstehender dürfen die
Fragen beantwortet werden, wie: Was erlebt ein Baby, ein Embryo, ein Fötus, und
wie sieht sein Alltag aus? Sondern aus deren Sicht und mit Hilfe derer
(vermuteten) Fähigkeiten, sonst wird das Nachweisverfahren mehr als nötig durch
Sprache und Kultur beeinflusst.
Aus der Sicht eines Ungeborenen Älplers,
Indios, Afrikaners usw. ist die Welt so ähnlich, dass sie mit Fug und Recht
Ur-Alltag, oder Ur-Welt genannt werden darf. Kann diese Urwelt Quelle der
Fundamental-Ethik sein?
@Urs,
Ich picke einiges aus deinem heutigen
Beitrag von 13:53 heraus:
<... Du musst eine Perspektive gewinnen, die das
Wohl deiner Mitmenschen integriert. ... Dabei bedeutet "Erweiterung" meines
Horizontes nicht, dass ich meinen Standpunkt aufgeben müsse. .... Es kann in der
Theorie des Gemeinwohls m.E. zu nichts Gescheitem führen, wenn man den
Standpunkt des Individualinteresses konsequent und unverändert festhält und
versucht, das Gemeinschaftsinteresse auf eine Menge von Individualinteressen zu
reduzieren. Die Theorie des Gemeinwohls muss sozusagen "dynamische" Momente in
sich aufnehmen, die es erlauben, den "Standpunkt" des Individuums als
Momentaufnahme innerhalb eines Prozesses zu konzipieren - und zwar eines
Lernprozesses (Vergesellschaftung, Sozialisation), durch den das Individuum im
Verfolg seiner Interessen die Interessen der Gemeinschaft zu integrieren lernt.>
Urs
Und stelle fest: Offensichtlich führen viele Wege nicht nur nach Rom,
sondern auch zum Gemeinwohl.
Euer Alltag
/1/ Nota bene:
Diese Filmsszene verdeutlicht eindrücklich die Wirkung der Perspektive. Und lädt
ein sich gedanklich in Kaspar Hausers Kleinkindwelt zu versetzen: Gefangen im
Turm, in der Isolation, ohne je die Umgebung ausserhalb des Turmes gesehen zu
haben, merkt Kaspar den Tagesrhythmus. Er vernimmt die chaotischen Geräusche von
Wind und Wetter, das Gezwitscher der Vögel, die er ebenso wenig je gesehen hat,
wie die Kirche deren Glockenschlag zu ihm dringt. Diese Geräuschwelt und das
eintönige Leben im Turmzimmer merkt er sich ohne Worte. Denn er hatte in der
Isolation weder sprechen gelernt noch jemand sprechen hören. Er lebte ausserhalb
von Sprache, ausserhalb von Kultur.
Getrieben von den bisherigen
Überlegungen, die im Individualleben immer weiter zurück führten, also einen
statt älter immer jünger werden lässt, werden nun die Randbedingungen weiter
variiert. Das Turmzimmer verwandelt sich: Wände, Boden und Decke werden zu
dickem Samt. Der Samt deckt Tür, Fenster und alle Gegenstände spurlos zu. Der
Raum füllt sich mit körperwarmem Wasser. Kaspar taucht unter, schwebt darin und
fühlt sich herrlich wohl, weil ihm alles Lebensnotwendige, auch der Sauerstoff,
über eine Leitung direkt ins Blut zugeführt wird. Nase, Mund, und Lunge sind
voll Wasser, so dass der Geruchs- und Geschmackssinn keine Änderungen wahrnimmt.
Ebenso ist es mit dem Gesichtssinn, weil weil praktisch kein Licht zu ihm
dringt.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von doc_rudi am 01.
Nov. 2005, 20:23 Uhr
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Hallo Eberhard, hallo Leute,
nun gut, wenn Ihr beim Gemeinwohl meine
Definition nicht akzeptiert und nicht weiterkommt, wendet Ihr Euch dem
Individualwohl zu.
Eberhard meint:
"Ich formuliere deshalb um:
Gut
für mich ist das, was möglichst dauerhaft meine Wünsche erfüllt."
Da dreht
sich das ganze wieder im Kreis. Du hättest gleich beim Interesse bleiben sollen,
Eberhard.
Das Interesse ist im Gegensatz zum Wunsch etwas Objektives. Die
Wünsche sind subjektiv, selbst wenn sie dauerhaft erfüllt werden. Wer erfüllt
die denn?
Denkt mal drüber nach oder stellt Euch das mal vor: Ihr habt einen
Wunsch und nun werdet Ihr festgenagelt: der Wunsch wird dauerhaft erfüllt! Das
ist doch Strafe!
Gruß
rudi
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 01. Nov.
2005, 22:22 Uhr
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Hi, zusammen,
Kleiner Einschub zum Thema Kultur und Zivilisation für Urs:
Auf der kleinen Treppe einer Haustür saß Albert und aß Salat. Nein, er aß
nicht. Er fraß. Mit dreckigen, gelbbraunen Fingern griff er in die weiße
Plastikschale, holte sich eine ganze Handvoll heraus, Gurken, Tomaten,
Thunfisch, ein weißlich tropfendes Gemengsel, stopfte es sich in's zahnlose
Maul, während Salatblätter am Kinn klebten und schmieriges Öl auf Brust und
Bauch troff. Mit glasigen, hervortretenden Augen schaute er uns an, gurgelte
irgendeine unverständliche und wohl auch unaussprechliche Zote und widmete sich
wieder seiner Schale, die längst das Aussehen eines aus dem Müll gefischten
Napfes angenommen hatte.
Ne? Habbisch so gesehen. Hier in Deutschland.
Kultur und Zivilisation sind nämlich nicht so selbstverständlich, wie du
glaubst. Sie setzen zweitens Kultur und Zivilisation voraus, in der man das
nicht nur lernt, sondern in der das entsprechende Benehmen auch Norm ist, will
man dazu gehören. Was du anscheinend nicht siehst (das wurde schon beim
Sprachbeispiel deutlich) ist, dass zu der gesellschaftlichen Gruppe, zu der du
gehörst, nicht alle gehören. Sie ist weiter nichts als eine von mehreren. Diese
Tatsache ist relevant, wenn es um die Frage was ist Gemeinwohl geht. Du kannst
das, was deine Gruppe als Gemeinwohl begreift, definitiv nicht als Einleuchtend
für die ganze Gesellschaft voraussetzen.
Erstens aber setzen Kultur und
Zivilisation die Befriedigung der biologischen Bedürfnisse voraus. Von Menschen,
die hungern, frieren und kein Dach über dem Kopf haben kannst du keine
Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer verlangen. Also kann Gemeinwohl
zunächst einmal nur die Befriedigung dieser Bedürfnisse sein. Sofern das nicht
geschieht, können wir eine weiterführende Diskussion von Gemeinwohl vergessen.
Merke: es gibt etliche Weltgegenden, in denen die Befriedigung der
elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung noch lange nicht erreicht ist. Ich bin
nicht gesonnen, dies zu vergessen, wenn wir davon reden, dass wir auf dieser
Erde alle in einem Boot sitzen. Da sitzen die auch mit drin.
Aber wir
sehen auch, dass die Entwicklung unaufhaltsam zu einer „Weltgesellschaft“
voranschreitet, indem gewisse Standards und Normen sich - nebst globalen
Institutionen - weltweit etablieren.
Wo, Urs? In den Favellas
brasilianischer Großstädte? In US-Amerikanischen Slums? Bei vollgesoffenen
aggressiven Aussiedlerjugendlichen? Bei afghanischen Mohn- und kolumbianischen
Kokabauern? Oder in Schwarzafrika? Von welcher Weltgesellschaft sprichst du? Von
der Gesellschaft derer, die mit Messer und Gabel am gedeckten Tisch essen und
mit wegen den Genetiv benutzen?
So. Das wäre Abschnitt eins. Denn ich
denke, es hat wenig Sinn zu versuchen, etwas über Gemeinwohl zu sagen, ohne dass
klar ist, wer alles in dieses Gemeinwohl eingeschlossen werden muss.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 01. Nov.
2005, 23:48 Uhr
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Hi,
nächster Abschnitt: Unterschiede im Denken.
Judentum und Islam
sind Gesetzesreligionen. Bei denen kann man mit dem Gebot der Nächstenliebe
keinen Blumenpott gewinnen, weil ihnen das zu wenig ist. Beim Judentum kenne ich
mich zu wenig aus, aber im Islam regeln diese Gesetze zumeist das Zusammenleben
in der Gemeinde. Dass Gläubige in einer Gemeinde zusammenleben - letztlich sind
alle Moslems eine Gemeinde - wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Folglich
wird auch das Gemeinwohl als selbstverständlich vorausgesetzt. Und es ist das
Gemeinwohl, das das Individualwohl garantieren soll, weil es jedem Individuum
den Schutz, die Lebenssorge und Sicherheit garantieren soll, die es braucht, um
sein Individualwohl zu verwirklichen. Und zwar nicht aus spontaner
Nächstenliebe, sondern aus codifizierter religiöser Pflicht. Wir sehen also,
dass in diesem Kulturraum die Diskussion genau anders herum laufen müsste,
nämlich, wie kann das über allem stehende Gemeinwohl das Individualwohl
verwirklichen. Und das führt zu einem anderen Denken und zu anderen Problemen.
Muss man sehen. Sonst kann man nicht kommunizieren.
Im chinesischen
Kulturraum hat übrigens meines Wissens auch das Gemeinwohl Vorrang vor dem
Individualwohl.
Das heißt: wenn wir von Individualwohl vs. Gemeinwohl
sprechen, sollten wir uns klar machen, dass man die Sache von zwei Seiten
angehen sollte: Individualwohl und Gemeinwohl werden nämlich, je nach
Kulturraum, beide infrage gestellt. Einigkeit dürfte hingegen darin bestehen,
dass in als allgemein anerkannte Normen auch beide eingehen müssen. Wenn wir die
Sache allerdings rein vom Individuum her aufbauen, dann müssen wir auch wissen,
dass das eine Diskussion ist, die auf unseren Kulturraum beschränkt ist und die
andere nicht interessiert, für sie auch nicht zu konsensfähigen Ergebnissen
führen kann.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
01. Nov. 2005, 23:52 Uhr
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Hallo Abrazo!
Dass es Elend in Deutschland und auf der ganzen Erde gibt,
weiß ich. Ich will es weder übersehen noch wegerklären. Im Gegenteil. Ich sehe
vielmehr, dass wir Wohlhabenden wegen der inzwischen weltweiten
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen eine
weltweite Mitverantwortung für die Armut haben. Wir Europäer profitieren nämlich
unmittelbar vom Elend in den anderen Ländern und von der sich immer weiter
öffnenden Schere zwischen Arm und Reich auf der Welt. Der Wohlstand, den wir
genießen und anderen vorenthalten, verpflichtet uns zum Teilen und zur
Anteilnahme. Und das nicht nur auf der Basis von gelegentlichen Almosen. (Der
Begriff des Gemeinwohls ist ein verpflichtender Begriff, und die Verpflichtung
erstreckt sich immer genauso weit, wie andere vom eigenen Handeln betroffen
sind.)
Wenn wir und unsere ökonomischen Eliten und politischen
Repräsentanten nicht rechtzeitig freiwillig für eine gerechtere Verteilung des
Wohlhabens und der Chancen sorgen, wird uns der Druck der Verhältnisse dazu
zwingen.
Ich vermute aber, dass Gemeinwohlrhetorik, internationale Gremien
und guter Wille nicht ausreichen werden, um aus freien Stücken gegen das
ökonomische Ungleichgewicht anzugehen. Denn wie man sieht, hört die bekundete
Solidarität der Satten immer genau dann auf, wenn sie persönlich strukturelle
Einbußen hinnehmen müssen (solange sich die Solidarität in gelegentlichen
Katastrophenspenden äußern darf, ist alles noch im Lack). Darum wird sich wohl
erst dadurch grundlegend etwas an der ungerechten Verteilung ändern, wenn der
Druck zu stark wird, wenn die Armen sich besser organisieren und sich nehmen,
was ihnen zusteht. (Auch unser Sozialstaat ist kein Geschenk der
Besserverdienenden, sondern wurde schrittweise erkämpft.)
Es kann aber auch
sein, dass die Zeit dafür nicht mehr reicht. Oder dass das ganze System
zusammenbricht. (Es ist ja schon kaum vorstellbar, was passiert, wenn jede
chinesische Familie ein Auto fährt...)
Ich bin mir der Risiken sehr wohl
bewusst. Sie sind ja nicht zu übersehen. Aber gibt es eine Alternative zur
Fortsetzung des „zivilisatorischen Prozesses“? Was willst Du mit den
Elendschilderungen beweisen – dass Zivilisation eine Illusion ist? Sollen wir
die Brocken hinschmeißen und in die Urwälder zurückgehen? Da ist aber nicht mehr
genug Platz, und außerdem müssten wir das Tier-Sein erst wieder von der Pieke
auf lernen. Es ist nämlich verhältnismäßig leicht, mit den Tischmanieren eines
Raubtiers zu fressen. Aber nicht so leicht, überhaupt an etwas Fressbares
heranzukommen ohne alle technische Hilfsmittel und ohne verlässliche
arbeitsteilige Organisation der Gemeinschaft.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 02. Nov.
2005, 00:17 Uhr
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Hi,
ich sehe nun in unserer Diskussion ein Problem. Wenn du, Eberhard,
vom Individualwohl ausgehst und von dort aus Normen für das Gemeinwohl
aufzubauen suchst: was ist, wenn das eigene Individualwohl mit dem als
höherwertig angesetzten Gemeinwohl der Gruppe kollidiert? Wenn also das
Individuum sagt, ja, ich würd schon gern wollen, aber wichtiger ist mir die
Zugehörigkeit zu meiner Gruppe?
Ich möchte hier gern den Aspekt der
friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen einführen. Ob wir von
unserer eigenen Gesellschaft sprechen oder von den Gesellschaften auf unserer
Erde, ich denke, wenn wir diesen Aspekt bei der Diskussion des Gemeinwohls außen
vor lassen, wird unser Gemeinwohl eher zu einer Norm für Individuen ausarten,
die ihre Gruppenidentität ignoriert und deswegen nicht konsensfähig ist.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 02.
Nov. 2005, 06:21 Uhr
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Hallo allerseits,
es geht um die Bestimmung dessen, was zum Wohle eines
Individuums ist.
Ich hatte sinngemäß geschrieben: es geht einem
Individuum dann gut, wenn das verwirklicht wird, was das betreffende Individuum
möglichst dauerhaft will.
Diese Formulierung ist offensichtlich
missverständlich, wie die Reaktion von doc_rudi zeigt. Damit ist nicht gemeint,
dass das Wollen eines Menschen über die Zeit hin unverändert bleiben muss.
Das Wollen eines Menschen bezieht sich immer auf eine bestimmte
Entscheidungssituation. Wenn sich die Situation ändert, dann stellt sich die
Frage, was gewollt wird, neu.
Ich ergänze deshalb meine Formulierung wie
folgt:
Es geht einem Individuum dann gut, wenn das verwirklicht wird, was
das betreffende Individuum - bezogen auf eine gegebene Situation - möglichst
dauerhaft will.
Mit „möglichst dauerhaft“ ist gemeint, dass der Wille
nicht fehlerhaft und somit korrekturbedürftig ist, weil die gegebene Situation
falsch gesehen wurde. Die möglichen Fehler hatte ich aufgelistet.
Noch
ein Satz zu doc_rudi. Deine globalen Formulierungen, dass lebende Systeme das
Interesse der Selbsterhaltung und der Selbstentfaltung haben, taugen nicht zur
Bestimmung und vernünftigen Lösung konkreter Konfliktsituationen zwischen
Individuen oder Gruppen von Individuen.
Der Kritik von Urs an der
individualistischen Perspektive halte ich entgegen, dass es um die Lösung
tatsächlicher Konflikte geht und dass deshalb die wirkliche Interessenlage der
Beteiligten dazu herangezogen werden muss.
Es ist zwar richtig, dass die
Menschen immer schon sozialisiert sind und auch bestimmte Vorstellungen vom
moralisch richtigen Handeln und vom Gemeinwohl haben. Um die Konflikte zu
erfassen, muss jedoch vom (möglichst fehlerfreien) Wollen der Beteiligten
ausgegangen werden.
Um das eigene Wollen festzustellen, muss sich das
Individuum die Frage stellen: Was will ich – einmal abgesehen von allen
moralischen Rücksichtnahmen auf andere?
Das schließt nicht aus, dass ein
Individuum will, dass es bestimmten anderen Individuen gut geht. Dieses Wollen
muss jedoch frei von allem Sollen sein.
Eine solche Perspektive schließt
weiterhin nicht aus, dass man gleichzeitig bereit ist, den Konsens mit den
anderen zu suchen und sich am allgemeinen Wohl zu orientieren.
Wenn man
jedoch von vornherein sagt: Es ist das Interesse jedes Individuums, die
Interessen aller andern so zu berücksichtigen, als seien es die eigenen, dann
definiert man das Problem der Konflikthaftigkeit des menschlichen Zusammenlebens
einfach weg.
Grüße an alle von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am 02. Nov.
2005, 09:28 Uhr
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Hi,
die Frage, was das Individuum dauerhaft will, ist einfach zu
beantworten: das, was andere haben. Das gilt sowohl für materielle Güter als
auch für immaterielle (Sicherheit, Status usw.).
Daraus können wir drei
Konsequenzen ableiten.
1. was das Individuum haben will, muss möglich
sein. Es muss vorstellbar sein. Wer nie eine Klimaanlage erlebt hat, will auch
keine.
2. Der Wille wird von der Lebensform bestimmt. Der Wille des
Individuums ist also sozial.
3. dass es zum Konflikt kommt, der um so
schärfer wird, je weniger das Individuum die Möglichkeit hat, das zu bekommen,
was andere haben.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
02. Nov. 2005, 10:23 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Wenn ich jedoch von vornherein sage: Es ist das
Interesse jedes Individuums, die Interessen aller andern so zu berücksichtigen,
als seien es seine eigenen, dann definieren ich das Problem der
Konflikthaftigkeit unseres Zusammenlebens einfach weg.
Da stimme ich zu.
Für den Fall, dass verschiedene Individualinteressen zum Konflikt führen und
miteinander vereinbart werden müssen, ist es eine vernünftige Verfahrensregel,
dass jeder zunächst einmal seine Interessen möglichst klar formuliert. Und wird
– meinetwegen unter dem Vorsitz eines Verfahrensleiters, den die
Konfliktparteien als unparteilichen Richter anerkennen – eine Regelung des
Konflikts angestrebt, dann ist auch klar: Nur wenn jeder Beteiligte diese
Regelung akzeptieren kann, ist es wirklich eine Regelung des Konfliktes.
Im Verlauf dieses Verfahrens spielen auch Fakten eine Rolle. Man muss den
Beteiligten klar machen, welche Teile ihrer Forderungen objektiv nicht
realisierbar sind (und deren Unrealisierbarkeit somit nicht dem Kontrahenten
anzulasten ist). Ebenso ist einsichtig zu machen, welche wahrscheinlichen Folgen
die Realisierung ihrer Forderungen hätte, damit die Beteiligten beurteilen
können, ob diese Folgen nicht womöglich die Befriedigung ihres Interesses
vereiteln würden.
Genau diese Einsicht – die Prognose, dass ein
unbegrenztes „Recht aller auf alles“ für das Individualwohl aller
kontraproduktiv wäre – ist es bei Hobbes, die die Beteiligten zum Vertrag über
eine Begrenzung der Rechte aller motiviert. Die Überzeugungskraft dieses
Arguments beruht eben darauf, dass den Individuen die unbegrenzte Entfaltung
ihrer Interessen hypothetisch eingeräumt wird: Gesetzt, es gäbe keinen Staat und
kein Recht und jeder von euch hätte unbegrenzte Freiheit, seine Interessen zu
verfolgen – was würde passieren?
Als Argumentationsfigur im Rahmen eines
Verfahrens, das zur Konfliktbeseitigung führen soll, finde auch ich diese
Gedankenfolge äußerst überzeugend. Aber man darf sie nicht mit einer Theorie
verwechseln, die die faktische strukturelle Interdependenz von
Individualinteressen und Gemeinschaftsinteressen erklärt. Als eine solche wäre
sie ganz einfach falsch, allein schon, weil sie von unrealistischen
Voraussetzungen ausgeht.
Welche Rolle könnte denn eine Theorie über
die faktische Verflechtung individueller und gemeinschaftlicher Interessen für
die Begründung von Normen spielen? Na, es liegt auf der Hand: Sie kann im
Konfliktbereinigungsverfahren genau dort herangezogen werden, wo es gilt, die
Ansprüche der Konfliktparteien mit der Realität zu konfrontieren, um so nicht
nur herauszufinden, was objektiv einfach nicht geht, sondern um den Beteiligten
auch einsichtig zu machen, welche Konsequenzen die ungeschmälerte Durchsetzung
ihrer Ansprüche für sie und für andere faktisch hätte.
Ebenso ist aber
auch klar: So mancher Konflikt würde gar nicht erst entstehen, wenn die Einsicht
in die faktische Verflochtenheit von Individuum und Allgemeinheit weiter
verbreitet wäre, wenn der Einzelne nicht nur sein Interesse im Auge hätte,
sondern auch berücksichtigte, was er anderen Menschen (und der Gemeinschaft
insgesamt) objektiv verdankt, und - was ihn somit überhaupt erst so weit
gebracht hat, als selbständiges Subjekt seine Interessen verfolgen und sie
fallweise auch gegen die Gemeinschaft behaupten zu können.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am 02.
Nov. 2005, 19:58 Uhr
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Hallo allerseits,
ein Punkt ist zwar immer wieder angesprochen, aber
bisher nicht ausdrücklich thematisiert worden. Ich meine die Frage, wie
umfassend die Gemeinschaft sein soll, um deren Wohl es geht.
Angesichts
der wechselseitigen globalen Abhängigkeiten wird man sich auf die Menschheit als
Ganze beziehen müssen, wenn man die wichtigen Konflikte erfassen will.
Allerdings ist eine internationale Rechtsordnung mit Sanktionsgewalt erst im
Entstehen und vor Rückschlägen nicht gefeit.
Man kann natürlich die Frage
nach dem Gemeinwohl auf kleinere Kollektive (z.B. Staaten, Bündnisse, Gemeinden,
Regionen o.ä.) begrenzen. Aber ein derart partikulares Gemeinwohl kann
logischerweise keinerlei Geltung für jene haben, die nicht mit einbezogen
wurden.
(Deshalb ist es z.B. auch falsch anzunehmen, dass eine
Demokratie nach außen eine moralisch bessere Politik betreibt als ein
autoritäres Regime. Es gibt eben auch den Egoismus eines Kollektivs. Nur wenn
die allgemeinen Menschenrechte in der Verfassung verankert sind, wird dieser
kollektive Egoismus zumindest ansatzweise rechtlich begrenzt.)
Hier gibt
es noch offene Fragen, z.B. nach der Berücksichtigung des Schicksals kommender
Generationen oder der Tiere.
Ich will diese Probleme aber erstmal
beiseite lassen und fragen, wie eine Mehrzahl von Individuen (oder Gruppen)
angesichts von Konflikten, d.h. angesichts nicht miteinander zu vereinbarender
Willensinhalte - zu einem Konsens kommen kann, d.h. wie man ein Gemeinwohl in
diesem Konflikt bestimmen kann.
Ich schlage zur größeren
Übersichtlichkeit der Diskussion vor, dass wir uns vorläufig beschränken auf
solche Konflikte, die durch die Auswirkungen von bestimmten Handlungen oder
Unterlassungen der Individuen auf das Wohlergehen anderer Individuen
hervorgerufen werden (Abfälle wegwerfen, beim Katastrophenfall nicht mithelfen,
sich nicht impfen lassen gegen Seuchen, zur Schlafenszeit lärmen, bei Notfällen
nicht helfen, andere durch schnelle Fahrzeuge töten oder gefährden, andere
belügen oder leichtfertig beschuldigen etc. etc.)
Oder gibt es andere
Vorschläge zum weiteren Vorgehen? fragt Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am
Vorgestern, 00:01 Uhr
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Hi,
1. wir sollten nicht übersehen, dass von Aristoteles bis Habermas der
Konsens Voraussetzungen hat, nämlich Vernunft und Konsenswilligkeit, um nur zwei
zu nennen.
Meiner Ansicht nach haben diese Voraussetzungen wiederum eine
Voraussetzung, nämlich Muße. Wer keine Zeit hat, über die richtige Entscheidung
mit anderen in Dialog zu treten, der ist nicht zum Konsens bereit - ohne dass
ihm deswegen ein Vorwurf zu machen wäre. Das trifft auf Menschen zu, die ihre
Zeit benötigen, um Lebensnotwendiges aufzutreiben. Da wird es dem Bedürftigen
nicht viel anders gehen als dem Junkie: wenn der auf Turkey ist, kann man ihn zu
allem möglichem erpressen, aber man hat dann keinen Konsens. Weswegen man sich
auch nicht auf die Gültigkeit von Zusagen verlassen kann. Sie sind nicht
freiwillig erfolgt. Wer also einen Konsens will, muss erst einmal die
Bedingungen für einen Dialog schaffen.
In unserer Gesellschaft sehe ich
ein anderes Muße-Problem. Mehr und mehr ist sie vom Verkauf der Arbeitskraft
übergegangen zum Verkauf von Arbeitszeit, die die Reflexion nicht mehr
gestattet. Und der Rest der Lebenszeit wird nicht selten von allerlei anderem
gefressen, sei es Organisation und Bewältigung privater Tätigkeiten, sei es der
Verkauf von Lebenszeit an alle mögliche Unterhaltungen, wobei der Käufer den
Kaufpreis einheimst. Auch das verhindert Muße und damit den Dialog mit
Konsensziel.
2. Warum gibt es Normen? Weil sie nicht eingehalten
werden. Das heißt, wer immer Normen entwickeln will, muss auch die Frage
beantworten: und was, wenn einer das nicht tut? Wenn wir einen Konsens unter
vernünftigen Leuten erreichen, dann muss man mit Unvernünftigen rechnen, die
sich da nicht drum scheren. Wer dieses Problem ignoriert, braucht sich um einen
Konsens gar nicht erst zu bemühen; er wird nicht gelten.
Auch die Frage
der Zustimmungsfreiheit gehört hier hinein. Wer aufgrund einer Notlage zur
Zustimmung genötigt wird, stimmt nicht zu.
3. Ich schlage vor, wir prüfen
Konflikte mal anhand eines praktischen Beispiels:
Vor Jahren wohnte ich
in einer Wohnanlage, die einen gemeinsamen Innenhof mit der Fachhochschule für
Sozialarbeit hatte. Unten war die Mensa, darin wurde alle 14 Tage gefeiert. Die
Feiernden waren die Mehrheit.
Nun musste nicht nur ich am nächsten Tag
arbeiten. Also ging ich so gegen 23 Uhr ins Bett. Das war aber genau die Zeit,
in der es den Studenten in ihrer Mensa zu warm wurde; also machten sie die
Fenster auf (die Polizei kam immer sofort, weil jeder Anruf musikalisch
untermalt wurde).
Studenten für Sozialarbeit sind friedens- und
konsenswillig. Also schickten sie, als mal wieder jemand "Ruhe!" vom Balkon
brüllte, eine Delegation vorbei, die die Anwohner freundlich einlud, doch auf
ihre Kosten mitzufeiern. Die Anwohner erwiesen sich als nicht konsenswillig.
Nun, wir haben für solche Fälle bestehende Gesetze. Können wir aber nicht
überall voraussetzen; in der internationalen Politik, in der es prinzipiell
vergleichbares gibt, z.B. nicht. Und wenn, ist immer noch die Frage, und was,
wenn einer das nicht tut?
Als erstes fällt einem natürlich ein, man müsse
sich über die objektiven Sachzwänge einigen. Aber sind nicht gerade die der
Streitpunkt? Objektiver Sachzwang ist, wir müssen arbeiten. Gut, in unserer
Gesellschaft dürfte das wohl mehrheitlich als objektiver Sachzwang anerkannt
werden, der die Nachtruhe gebietet. Aber wenn keine geschlossene Gesellschaft da
ist? Westliche Staaten insbesondere betrachten die Gefährdung durch Atomwaffen
als objektiven Sachzwang, der eine Weiterverbreitung verbietet. Iran betrachtet
die Gefährdung durch die US-Politik als objektiven Sachzwang, der die Gewinnung
gebietet. Und nu?
Hat einer nen Vorschlag? Mir fällt im Moment keiner
ein.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
Vorgestern, 10:23 Uhr
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Hallo Eberhard!
Der grundlegende Dissens zwischen uns zeichnet sich
in Deiner Problemskizze (Beitrag Nr.106) hier ab:
Quote:Außerdem geht
selbst aus der schlüssigsten Ableitung der gemeinschaftlich besten Regelung noch
nicht die Motivation der Beteiligten hervor, nun auch im Sinne dieser Regelung
zu handeln. Dazu bedarf es einer institutionalisierten Macht, die die Einhaltung
der betreffenden Normen überwacht.
Soweit bin ich einverstanden.
Halten wir aber fest, dass Du hier allein vom Recht sprichst und insofern eine
„Gemeinschaft“ ins Auge fasst, die aus Rechtspersonen besteht. Rechtspersonen
sind als strategisch im Individualinteresse handelnde Subjekte konzipiert. Das
Recht ist im Prinzip ethikfrei: Zwar wird aus seiner Begründung auch eine
„Gehorsamspflicht“ abgeleitet, aber das ist ja eine reine Form, die sich auf
jede positive Rechtsnorm bezieht. Ethische Normen können durchaus vom positiven
Recht berücksichtigt werden (z.B. über den Begriff der „Sittenwidrigkeit“), aber
der Sinn der (neuzeitlichen, kontraktualistischen) Begründung des Rechts liegt
gerade in ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit von (regionalen) ethischen
Normen. - Darum sind Rechtspersonen „im Naturzustand“ amoralische Individuen,
die nur ihr eigenes Interesse verfolgen und für das Recht erst interessant
werden, wenn sie in Konflikte miteinander geraten.
Die Rechtsform ist
eine überaus wichtige, heute unverzichtbare Form der Gemeinschaft. Aber wenn
Gemeinschaft schlechthin nach dem Modell des Rechts konzipiert wird, schaut man
an der Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens vorbei. Das Recht ist ein System
aus institutionalisierten Normen, deren Sinn hauptsächlich in der Konfliktlösung
besteht. Es ist darum unfähig, Gemeinschaft in concreto zu erzeugen. Mit
„Gemeinschaft in concreto“ meine ich Lebensformen, die aus vielfältigen
wechselseitigen Beziehungen und daraus hervorgehenden Rücksichten und
Verpflichtungen bestehen.
Um das zu verdeutlichen: Aus der Sicht des
Rechts sind Eltern nichts weiter als „Erziehungsberechtigte“ (und natürlich auch
„Erziehungsverpflichtete“). Sie handeln also quasi im Auftrag des Staates, der
ihnen das Recht zur Erziehung zu- oder abspricht. Sie nehmen ihm eine irgendwie
notwendige Aufgabe ab, die das Recht/ der Staat selbst aber nicht erfüllen kann.
Das Kind ist zwar schon Rechtsperson (schon vor seiner Geburt), es braucht nur
noch ein paar weitere Voraussetzungen, um seine Rechte auch selbständig
wahrnehmen zu können. Um diese Voraussetzungen zu schaffen, allein dafür sind –
aus der Sicht des Rechts – die „Erziehungsberechtigten“ da.
Ich denke,
an diesem Beispiel wird erstens deutlich, wie „abstrakt“ die Gemeinschaft aus
„Rechtspersonen“ ist, und zweitens, dass die Gemeinschaft aus Rechtspersonen auf
grundlegendere Formen der Gemeinschaft angewiesen ist, die es zu ihrem
Funktionieren braucht. Das Recht ist – als Form der Gemeinschaft – nicht autark.
Quote:Auch wenn alle Beteiligten gemäß ihren Überzeugungen
hinsichtlich der dem Gemeinwohl am besten entsprechenden Regelung handeln
würden, so ergäbe das selbst beim besten Willen aller noch kein sozial
koordiniertes und berechenbares Verhalten der Konfliktparteien.
Du sprichst auch hier ausschließlich von „Regelungen“ etwa auftretender
Konflikte. Und daher erscheint Gemeinschaft nur als „sozial koordiniertes und
berechenbares Verhalten“ von potentiellen Konfliktparteien.
Dass das, was
menschliche Gesellschaften de facto zusammenhält, darauf nicht reduziert werden
kann, erscheint mir als evident. Daher kann auch ein auf die Rechtsform
bezogener Gemeinwohl-Begriff nicht genügen.
Quote:Es bedarf
deshalb neben der Ebene der Diskussion und Argumentation einer Ebene allgemein
anerkannter Verfahren zur Setzung derjenigen Normen, die für das Handeln aller
Konfliktparteien verbindlich ist – unabhängig davon, ob die einzelnen Parteien
diese Entscheidung für inhaltlich richtig halten oder nicht.
Hier, wo es darum geht, einzelne Teile der Gesellschaft zum normenkonformen
Handeln zu zwingen, wird erneut deutlich, dass man Gemeinschaft nicht auf eine
Gemeinschaft aus potentiellen Konfliktgegnern reduzieren kann. Denn die
Individuen/ Personen, die inhaltlich nicht mit den institutionell gesetzten
Normen einverstanden sind, bleiben ja Teil der Gesellschaft. Man kann sie zur
Einhaltung der Normen zwingen, aber Zwang überzeugt nicht und setzt die
Gezwungenen nicht in eine Lage, in der sie sich eigenständig integrieren können.
Diese Einsicht steht z.B. hinter der Wandlung des Strafbegriffs. Man hat
erkannt, dass Bestrafen und Wegsperren aus den Objekten des Zwangs keine
gesellschaftsfähigen Subjekte macht. Darum versucht man, Häftlinge zu
„resozialisieren“ – mit zweifelhaftem Erfolg, wie wir wissen. Der Staat – als
Institution des Rechts – kann mit seinen Mitteln zwar Rechtspersonen erzeugen,
aber keine sozial handelnden Mitglieder der Gemeinschaft.
Kurz,
Gemeinschaft allein nach den Prinzipien des Rechts konzipieren heißt: vor dem
größten Teil des wirklichen menschlichen Zusammenlebens die Augen verschließen.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am
Vorgestern, 11:56 Uhr
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Hallo allerseits,
es geht um die Bestimmung des Gemeinwohls angesichts
von Konflikten: Individuum (Gruppe) A tut etwas, was Auswirkungen auf Individuum
(Gruppe) B hat, Auswirkungen, die B nicht will.
Abrazo hat als konkretes
Beispiel vorgeschlagen: Alle zwei Wochen veranstalten Studenten in der Mensa ein
Fest, das bis tief in die Nacht (vor einem Werktag) andauert und das so laut
ist, dass die Anwohner im Schlaf gestört werden.
Die Frage: Wie lässt
sich dieser konkrete Konflikt auflösen? geht über die philosophisch-ethische
Dimension hinaus. Aspekte des Schallschutzes, des psychologisch geschickten
Vorgehens, des Vorhandenseins von Ausweichräumen, der bestehenden Rechtsordnung
etc. spielen für einen Vermittler (auf Deutsch: Mediator) eine wichtige Rolle,
Dagegen beschränkt sich der Beitrag der Philosophie zur Beantwortung der
Frage: „Darf Gruppe A so laut feiern, dass Gruppe B im Nachtschlaf gestört
wird?“ m.E. auf die Frage:
Wie kann man (und wie muss man) für oder
gegen bestimmte Antworten argumentieren? Wie kann man diejenige Antwort
bestimmen, die für alle gemeinsam die beste wäre, die also dem Gemeinwohl am
ehesten entspricht?
Damit sind die von Abrazo genannten
lebenspraktischen Voraussetzungen einer am Ziel des Konsens orientierten
Diskussion ausgeklammert. Ich denke, die Philosophie hat mit der Beantwortung
ihrer fachspezifischen Fragen bereits reichlich zu tun. Und ich halte die
Beantwortung dieser Fragen keinesfalls für abstraktes, lebensfernes Räsonnieren.
Die Klärung der (methodologischen) Frage:
Wie kann man für oder
gegen eine Entscheidung in einem solchen Konflikt (vernünftig) argumentieren?
ist im Gegenteil das nötige Fundament, auf dem Pädagogen, Therapeuten,
Mediatoren oder andere mit der Lösung von Konflikten befasste Spezialisten
aufbauen können.
Um mit der Diskussion gleich anzufangen:
Jemand
könnte argumentieren, dass der Schutz der eigenen Nachtruhe von jedem gewollt
wird. Niemand lässt sich gern ohne Grund aus dem Tiefschlaf reißen. Insofern ist
die ungestörte Nachtruhe ein allgemein anerkannter Wert und es entspricht
deshalb dem Gemeinwohl, den Studenten die lauten Feiern zu untersagen.
Analog könnte jedoch ein anderer argumentieren, dass jeder Mensch ab und zu
gerne feiert und dass zu einer richtigen Feier auch Tanzmusik in der nötigen
Lautstärke gehört. Das Festefeiern ist insofern ein anerkanntes
allgemeinmenschliches Bedürfnis, dessen Befriedigung folglich dem Gemeinwohl
entspricht.
Soweit erstmal für heute von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
Vorgestern, 12:08 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Es geht um die Bestimmung des Gemeinwohls
angesichts von Konflikten.
Es geht Dir darum, und zwar
ausschließlich. Ich halte das für eine unzulässige Verengung der Perspektive und
habe das mehrfach argumentativ begründet.
Du kannst natürlich diese
Argumente ignorieren und einfach Dein Interesse weiter verfolgen. Aber dann tust
Du gerade das nicht, was für die Philosophie "fachspezifisch" ist.
Quote:Ich denke, die Philosophie hat mit der Beantwortung ihrer fachspezifischen
Fragen bereits reichlich zu tun.
Was sind denn Deines Erachtens
diese "fachspezifischen Fragen" und wie ist das "fachspezifische" Prozedere mit
ihnen?
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am
Vorgestern, 22:41 Uhr
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Hallo Urs,
Leider habe ich Deinen letzten Beitrag mit Deinen kritischen
Fragen an mich erst jetzt zu Gesicht bekommen. Ich werde mich morgen
ausführlicher damit auseinandersetzen. Für heute nur soviel, dass ich deine
Argumente keineswegs übergehen will.
Meine Kapazitäten sind leider recht
beschränkt, sodass ich häufig erst verspätet auf wichtige Argumente eingehen
kann, die inzwischen vorgetragen wurden.
Auf keinen Fall möchte ich mit
meinen Vorschlägen zum weiteren Vorgehen Fragestellungen anderer Teilnehmer
abschneiden.
Obwohl das Folgende vor Kenntnis deiner Kritik formuliert
wurde, will ich es doch unverändert einbringen. Alles weitere dann morgen.
***
Hallo Urs,
Dass die Einsicht in die
„Vernünftigkeit“ einer Norm nicht immer ausreichend zur Befolgung dieser Norm
motiviert, gilt nicht nur in Bezug auf rechtliche Normen, sondern auch für
diejenigen Normen, die in den Überzeugungen der Einzelnen verankert sind und die
man als „moralische Normen“ bezeichnen kann. Nicht umsonst beten die Christen: „
… und führe uns nicht in Versuchung“.
Insofern sehe ich hier noch keinen
grundlegenden Dissens zwischen uns.
Ich teile allerdings nicht die
Auffassung vom Recht als einem ethikfreien Raum. Ich sehe im Recht eher die
Verfolgung der moralischen Ziele mit anderen Mitteln.
Das soziale System
der Moral stößt in den modernen Großstädten und Flächenstaaten in mehrfacher
Hinsicht an die Grenzen seiner Möglichkeiten.
Zum einen werden durch die
Anonymität der Beziehungen die traditionellen moralischen Sanktionen –
Verachtung und Vermeidung von Kontakten gegenüber unmoralischen Personen –
praktisch wirkungslos. Der unbekannte Täter taucht in der Masse unter und läuft
einem nie wieder über den Weg.
Zum andern wächst mit der Komplexität der
Gesellschaft auch der Regelungsbedarf, so dass höchstens Spezialisten noch die
Unmenge an Normen überblicken können. Eine schriftliche Fixierung ist deshalb
unerlässlich.
Die Schriftform ist auch deshalb notwendig, weil dadurch
der Gehalt der Normen sehr viel genauer festgelegt werden kann, was für das
langfristig angelegte Handeln und Planen größere Sicherheit bringt.
Die
Fixierung der Normen und ihres Gehaltes wird auch dadurch wichtig, weil durch
den raschen sozialen Wandel und die riesige Ausdehnung der Länder keine
hinreichende Einheitlichkeit der mündlich tradierten Moral mehr gewährleistet
ist.
Diese Einheitlichkeit kann nur durch ein spezielles Gefüge von
rechtlichen Institutionen erreicht werden, woraus sich allerdings ganz neue
Probleme (Schwerfälligkeit, Praxisferne u.a.m.) ergeben.
Trotzdem gewinnt
das Rechtssystem seine Legitimation - so wie die Moral - aus der inhaltlichen
Orientierung auf ein Gemeinwohl bzw. auf Gerechtigkeit. Wird diese Orientierung
gekappt, so bleibt zwar noch die Rechtssicherheit, aber es gibt auch die
sprichwörtliche tödliche Sicherheit.
Grüße an alle von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am Gestern,
10:32 Uhr
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Hi,
da unsere Diskussion nach meinem Eindruck ein bisschen in eine
Sackgasse geraten ist, zitiere ich mich mal aus einer anderen Diskussion selbst,
denn es könnte einen bisher nicht beachteten Aspekt einbringen:
>Was
willst du? In dem Link der DHS steht zu Cannabis (
http://www.dhs.de/substanzen_cannabis.html ) genau das gleiche, was ich auch
sage. Die Frage ist hier die Frage nach der Gewichtung.
Unter
medizinischem Aspekt ist Alkohol das gefährlichste Suchtgift; ein
Heroinabhängiger übersteht, sofern er das Zeug sauber bekommt und injiziert,
längere Zeit ohne schwerwiegende Gesundheitsschäden als ein Alkoholiker.
Unter sozialem Aspekt dürfte Kokain + Derivate das schlimmste sein: Kokser
mutieren zu rücksichtslosen Egozentrikern mit hohem Aggressionspotential.
Aber Philosophen hauen nun mal notorisch störend auf die Pauke der Ethik,
der Menschenwürde, des Humanums, das nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten
begründet. Siehe Kant: selbstverschuldete Unmündigkeit - Ursache: Faulheit und
Feigheit (Philosophen sind keine netten Menschen, die fluchen, schimpfen und
hauen zu). Und unter diesem Aspekt sieht Cannabis ganz und gar nicht harmlos
aus. Ein Kiffer, der immer noch seinen Lebensunterhalt selbst verdient,
niemandem was tut und in seiner Freizeit mit Kumpanen zusammen sitzt, um über
Liebe, Frieden und heilige Bäume zu schwadronieren, beleidigt das Menschliche,
wie Saint-Ex in anderem Zusammenhang so treffend sagte. Denn er begibt sich der
Fähigkeit, klar, vernünftig und zusammenhängend zu denken und Probleme, die
nicht nur er, sondern auch andere Menschen haben, wirksam anzupacken. Diese
Unfähigkeit ist von Dauer, wenn er nicht aus Einsicht dagegen angeht, das Kiffen
aufhört und seine Gedanken selbstkritisch prüft, denn die unter Cannabis
erworbene Weltsicht findet Eingang in sein normales Weltbild (und begründet
damit m.E. die psychische Abhängigkeit, denn nur erneuter Cannabis-Konsum
beseitigt den Konflikt zwischen Rauschwelt und Realität).
Ich will nicht
zu lang werden. Aber vergleich das mal mit den Alkoholzuteilungen für die
Arbeiter z.B. im Manchester-Kapitalismus. Die Arbeiter kriegten wöchentlich
ihren Lohn und ihre Schnapsration. Damit haben sie sich besoffen und daraufhin
ihre Frauen geprügelt, was keinen Unternehmer stört, waren aber ansonsten
friedlich, unpolitisch und haben keine Ansprüche gestellt. Eine Form geistiger
Versklavung, die menschenunwürdig ist.
Und dann stellt sich eben
rechtspolitisch die Frage: darf eine Gesellschaft so etwas zulassen?<
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
Gestern, 10:36 Uhr
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Hallo miteinander, hallo Eberhard!
Um Missverständnissen
vorzubeugen: Wenn ich von „Ethik“ spreche, denke ich dabei an das „Ethos“, also
an historisch entstandene Lebensformen von Gruppen, „Populationen“, Kulturen mit
ihren Normen („Sitten“) und geteilten Überzeugungen. Wenn ich sagte, das
(neuzeitliche) Recht sei unabhängig von „ethischen Normen“ begründet, dann
meinte ich damit zunächst den Umstand, dass diese historischen und regionalen
Unterschiede für die Begründung des Rechts keine Rolle spielten.
Das ist
ja eine der Pointen des Rückgangs auf einen hypothetischen „Naturzustand“:
Dieser „Naturzustand“ geht jeweils von nicht vergesellschafteten Individuen aus,
die zwar nicht faktisch gleich sind, aber als Gleiche angesehen werden. Der
Rechtszustand, zu dem sie sich zusammenschließen, schafft dann zwar
unterschiedliche Rechte und Pflichten, aber die sind gerade dadurch legitimiert,
dass im „allgemeinen Willen“ oder im „Staatsvertrag“ der Wille jedes Individuums
gleich viel gilt. Der Gedankengang ist knapp gefasst dieser: Gesetzt, jedes
Individuum verfolge souverän nur seine eigenen Interessen und habe dazu das
gleiche Recht wie alle anderen, dann gebietet die vernünftige Einsicht jedem
Einzelnen, sich mit allen anderen zu einem Rechtsstaat zu vereinigen, dabei
seine individuelle Souveränität abzutreten und sein natürliches Recht vom
souveränen Staat einschränken zu lassen. Denn nur der gemeinschaftliche
Rechtszustand ermöglicht überhaupt jedem Individuum, seine Interessen in
Sicherheit zu befriedigen.
Wie schon gesagt, ich halte dieses Argument
für sehr überzeugend. Aber man muss sich im Klaren darüber sein, dass es ein
Argument ist, das sich an den Zweifler wendet, der die Legitimität des Staates
in Frage stellt, der die Gemeinschaft nur als eine Einschränkung seiner
Freiheit, als Hindernis für seine Selbstentfaltung ansieht. Dieses Argument
führt ihm vor Augen, warum selbst jemand, der nur seine individuellen Interessen
verfolgt, einen Staat wollen muss, wenn er konsequent nach- und vorausdenkt.
Das dabei vorausgesetzte („natürliche“) Recht jedes Individuums, ohne
Rücksicht auf andere nur sein eigenes Wohl anzustreben, bleibt aber in gewissem
Sinn die „Arbeitsgrundlage“ des Rechtssystems – z.B. im privaten Vertragsrecht
oder im Verfahren der „freien und gleichen Wahl“ („one man, one vote“). Die
Rechtsgemeinschaft ist ein Zusammenschluss aus Individuen, die strategisch nur
ihre eigenen Interessen verfolgen. Für jedes Rechtssubjekt kommen die anderen
Rechtssubjekte daher im Grunde nur in den Blick als Hindernisse für die eigene
Entfaltung. (Das war der zweite Grund, warum ich sagt, das Recht sei „ethikfrei“
begründet.)
Der politische Liberalismus ist, ganz grob gesagt, die
Doktrin, die den Staat nur aus der Sicht des Individuums betrachtet, das
strategisch seine eigenen Interessen verfolgt und dabei auch erfolgreich ist.
Das liberale Credo besagt, dass es dem Wohl jedes Einzelnen am besten dient,
wenn der Staat seine Aufgaben auf ein Minimum reduziert, wenn er sich sozusagen
nur als „Nachtwächter“ für die Bürger begreift, die selbst am besten für sich
sorgen können. Das Schlagwort „Deregulierung!“ bringt das auf den Punkt.
Es
ist aber auch leicht zu sehen, warum der Liberalismus seine Anhänger vorwiegend
aus den Kreisen der „Besserverdienenden“ rekrutiert. Sie sind – scheinbar -
nicht auf die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen, ihnen erscheint
Solidarität zunächst einmal nur als lästige Verpflichtung.
Aber diese
Meinung, das Individuum sei autark und letztlich seines eigenen Glückes Schmied,
neigt notorisch dazu, das ganze Netz der gegenseitigen Abhängigkeiten zu
vernachlässigen, von dem auch die erfolgreichen „Selbständigen“ profitieren. Der
„freie Unternehmer“ neigt dazu zu glauben, er habe seinen Wohlstand „aus eigener
Kraft“ erworben – und übersieht, dass er ohne seine verlässlichen Angestellten,
ohne staatlich bereitgestellte Infrastruktur und Rechtssicherheit keinen müden
Euro erwirtschaften könnte.
Man könnte auch sagen, das liberale Konzept vom
Gemeinwohl habe eine gewisse „ideologische Schlagseite“, weil es dem Interesse
der Gewinner entgegenkommt. Es entlastet die Gewinner von der Pflicht, sich um
die weniger Begünstigten zu kümmern – denn auch sie haben ja, nach den
Voraussetzungen des liberalen Modells, ihren Erfolg oder Misserfolg sich selbst
zuzuschreiben.
Wenn wir hier nach einem „wahren“ Gemeinwohlbegriff
suchen, dann müsste er u.a. auch so beschaffen sein, dass sich von ihm her die
„ideologische Schlagseite“ des Liberalismus erkennen und kritisieren lässt. Und
das bedeutet m.E., dass möglichst umfassend gezeigt werden muss, dass die
Gemeinschaft (und die Solidarität mit ihr) nicht nur ein relatives „Gut“ für das
Individuum ist, sondern eine faktische und notwendige Voraussetzung für seine
Existenz als selbständiges und im eigenen Interesse handelndes Subjekt.
So weit erst mal.
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
Gestern, 18:40 Uhr
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Hallo miteinander!
Ich setze meinen Gedankengang fort:
Die
liberale Konzeption des Rechtsstaates weist einige Momente auf, die m.E. richtig
und somit festzuhalten sind.
Da ist zunächst der Ausgang vom Individuum
und seinen Interessen. Das Individuum bzw. die Perspektive des Individuums, das
sich verwirklichen will, wird hier als ein Prinzip gewürdigt. Auch dies ist eine
Pointe der neuzeitlichen Konzeption des „Naturzustands“. - In der älteren,
aristotelischen Konzeption des Naturrechts wurde demgegenüber die Gemeinschaft
als irreduzibles Prinzip betont: Der Mensch ist von Natur aus ein
Gemeinschaftstier („zoon politikon“), und das Individuum, das ohne Gemeinschaft
auskommt - der „idiotes“ (= Privatmann) - „ist entweder ein Gott oder ein Tier“,
sagt Aristoteles in seiner Politik-Vorlesung.
Das zweite richtige Moment
ist die Voraussetzung, dass die Individuen in ihrem Streben nach
Selbstverwirklichung als gleich gelten. Ohne irgendeinen Aspekt von Gleichheit
ist weder Gemeinschaft denkbar noch Gerechtigkeit.
Und schließlich finde
ich den ganzen Gedankengang sehr überzeugend, durch den aus der Perspektive des
Individuums nachvollziehbar gemacht wird, dass ein Zusammenschluss mit den
anderen, konkurrierenden Individuen und somit eine Einschränkung und Abstimmung
aller wuchernden Individualinteressen im ureigenen Interesse des Individuums
liegt.
Dieses Argument ist deshalb so stark, weil eben die
Gemeinschaftsperspektive nicht vorausgesetzt wird. Einem Individuum, das sich
ohnehin als Gemeinschaftswesen versteht, braucht man die Notwendigkeit des
Staates nicht zu beweisen. Gelingt es aber, einem „egoistischen“ Individuum, das
nur seine eigenen Interessen im Blick hat, zu beweisen, dass es gerade um seiner
eigenen Interessen willen den Staat und das Recht braucht, so ist das eine
starke argumentative Leistung.
Was ich jedoch an dieser
liberalen Konzeption des Rechts-Staates kritisiere, ist der Umstand, dass aus
diesem starken Argument zu wenig gemacht wird. Bei Hobbes und Locke wird es sehr
deutlich, dass die Individuen genau die Einsicht, die sie zum Vertrag mit den
Konkurrenten veranlasst, nicht festhalten. Sie sehen zwar ein, dass sie sich nur
gegenseitig schaden, wenn sie ungehemmt von ihrem natürlichen „Recht auf alles“
bzw. auf „Eigentum“ Gebrauch machen. Sie transzendieren diese „egozentrische“
Perspektive, weil sie einsehen, dass sie zum Scheitern verurteilt ist. Aber
dann, nach dem Zusammenschluss im Rechtszustand, scheinen sie den moralischen
Standpunkt wieder aufzugeben, ganz so als hätten sie ihn vergessen. Darum
bedeutet für sie „Gemeinschaft“ nur, dass sie nun ihre individuellen Interessen
in Sicherheit verfolgen können; dies zu garantieren, ist der Zweck des Staates.
So kommt es, dass die Freiheit der Konkurrenten und die zügelnde
Kontrolle des Staates weiterhin grundsätzlich als Hindernisse für die
individuelle Entfaltung verstanden werden. Die Macht des Staates erscheint als
notwendiges Übel, weshalb sie so klein wie eben möglich zu halten ist. Der
Staat, das bin eben nicht ich, sondern das sind „die da oben“, die immer neue
Vorschriften erlassen, immer neue Steuerquellen auftun, mir die Lust am
Autofahren vermiesen und mir tausend Auflagen machen, wenn ich ein kleines
Unternehmen gründen will... Der Staat reiht sich somit ein in die Schar der
Konkurrenten, die mir das Leben schwer machen.
Ich denke, dass diese bei
uns sehr populäre Sicht nicht nur von wenig Gemeinsinn zeugt, sondern dass sie
auch ganz einfach etwas dümmlich ist... Deshalb ist das Hobbes’sche Argument,
das die Notwendigkeit des Rechtszustands so nachdrücklich zeigt, immer noch
aktuell und wert, nicht immerzu wieder vergessen zu werden.
Das gilt
natürlich auch für die Theorie des Gemeinwohls. Dazu müsste das Individuum, dem
in der neuzeitlichen Staatslehre eine so prinzipielle Wichtigkeit zugestanden
wird, nur konzipiert werden als ein lernfähiges Wesen. Es müsste gesehen werden
als Individuum, das seine nur-individuelle Perspektive kritisch transzendieren
und den Aspekt des Gemeinwohls seinen eigenen Zwecken zugesellen kann. Es
müsste, mit andern Worten, dazu fähig sein, sich einerseits als Individuum mit
eigenen Interessen zu verstehen und andererseits als Mitglied der Gemeinschaft.
Vielleicht könnte es auch so flexibel vorgestellt werden, dass es je nach Lage
zwischen beiden Standpunkten zu wechseln, vielleicht sogar zwischen ihnen zu
vermitteln vermag.
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am
Gestern, 21:46 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Urs,
ohne jetzt eine Auseinandersetzung über die
Interpretation von Hobbes und Locke beginnen zu wollen, gibt es meines Erachtens
eine grundlegende Schwäche der Idee einer vertraglichen Begründung der
Rechtsordnung.
Zwar ermöglicht der Vertrag, einen vorhandenen Konflikt zu
entschärfen, jedoch ist der vertragliche Konsens kein zwangfreier Konsens und
ist keineswegs gleichzusetzen mit einem rein argumentativen Konsens.
Der
Vertrag kommt nur zustande, wenn alle Vertragspartner die durch den
Vertragsabschluss entstehende Lage dem Nicht-Abschluss eines Vertrages und damit
dem Fortbestehen des Status quo vorziehen.
Das Fortbestehen des Status
quo kann jedoch für die Vertragsparteien unterschiedlich erträglich sein. Je
weniger eine Partei auf den Vertragsabschluss angewiesen ist, umso größer ist
ihre Verhandlungsmacht (bargaining power), umso stärker ist ihre
Verhandlungsposition.
Aus der unterschiedlichen Erträglichkeit eines
Fortbestehens des Status quo ergibt sich die Möglichkeit, dass eine Partei der
anderen mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen kann, wenn diese nicht zu
weiteren Konzessionen bereit ist. Im Extremfall kann eine Partei von der anderen
„an den Verhandlungstisch gebombt werden“.
Beim Vertrag sind die
Individuen freigesetzt, ihren individuellen Interessen zu folgen und ihren
Vorteil zu suchen. Da der Bereich möglicher Verhandlungsergebnisse relativ
ausgedehnt sein kann, kommt es auf geschickte Verhandlungsführung, auf Rhetorik
und Überredungskunst an.
Dies ist m.E. der Grund dafür, dass moderne
Vertreter der Idee einer vertraglichen Begründung der Rechtsordnung das
Eigeninteresse der Individuen durch die Annahme der Ungewissheit über die eigene
Position brechen (z.B. der „veil of ignorance“ bei Rawls).
Ich bin
deshalb der Ansicht, dass die Begründung für die Normen des Zusammenlebens nicht
in einer Übereinkunft nach Art des Vertrages gesucht werden kann, denn man
gehorcht einer überlegenen Macht, aber man muss deshalb nicht deren Berechtigung
anerkennen.
Es grüßt Dich und alle andern Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Alltag am Gestern,
23:39 Uhr
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:-) Hallo Allseits,
Ich versuch mal einen Ballon zu starten [balloon]:
Im juristischen Sinn wird ein Vertrag zwischen "unabhängigen" Partnern
geschlossen, und die geben dabei ein Stück ihrer Unabhängigkeit ab.
Ist
denn beim Problem Gemeinwohl und Individualwohl dieses "unabhängig sein"
überhaupt gegeben? Da jedes Individuum auch Teil der Gemeinschaft ist, besteht
doch im voraus bereits ein Abhängigkeitsverhältnis. Dieses (von Natur aus
bestehende) Abhängigkeitsverhältnis ist doch stärker als die Bindung, die erst
infolge eines Vertrages entsteht. Daher ist doch zu Fragen, ob das Model
"Vertrag" dem Problem Gemein- und Individualwohl qualitativ angemessen ist?
Danke & Gruss --- Euer qualitativ angemessene Alltag
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am Heute,
01:16 Uhr
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Hi,
wenn du, Urs, das Wort Ethik im Sinne von Ethos = Sitte verwendest,
fragt sich, welches Wort du dann für die Grundnormen (z.B. nicht töten, nicht
lügen, nicht stehlen) nehmen willst.
Es ist Sitte, keinen Ketchup über
eine sorgfältig zubereitete Lammkeule zu kippen. Ist es auch Sitte, nicht zu
töten?
Der Kabarettist Jürgen Becker hat das mal ausgewalzt: 'da steht
nicht, du darfst nicht töten, da steht, du sollst nicht töten. Also lass das
bitte sein, das gehört sich nicht. Und wenn es sich absolut nicht vermeiden
lässt, dann bitte nicht mehr als zwei, drei Mal pro Tag.'
Die
Vertragstheorie ist imho nicht haltbar. Da stimme ich Alltag zu. Aber du, Urs,
sagst ja selbst, dass diese Theorie eigentlich nur einen Zweck erfüllt, indem
sie einen fiktiven Urzustand ansetzt. Einen Rechtfertigungszweck. Philosophisch
sauber ist das imho nicht. Geht für meinen Geschmack zu sehr in Richtung
Ideologie.
Ich sehe allerdings noch einen anderen Grund für diese
Theorie, nämlich die Begründung der Gleichheit vor dem Recht. Das muss man nicht
notwendigerweise annehmen; im Ständestaat gab es keine Rechtsgleichheit, es geht
also auch anders. In diesem Zusammenhang die Stichworte Klassenjustiz und
Volksgerichtshof. Allerdings, zu begründen, dass alle Menschen vor dem Recht
gleich sind, indem man einen fiktiven Urzustand ansetzt, in dem alle Menschen
gleich sind, das ist natürlich unredlich. Zeigt aber die Problematik: man kann
der Ethik nicht entfliehen. Und das ist auch zwangsläufig so. Denn jede letzte
Begründung kann immer nur in der wahrnehmbaren Welt liegen. Was anderes haben
wir nicht. Irgendwo müssen also die Begründungen für unsere Werte aufhören und
im Hinweis auf eine Tatsache enden, die nicht erdacht werden kann, sondern die
sich zeigt: eben der humane ethische Willen in bestimmten konkreten Situationen.
Davon kann man alles mögliche ableiten und abstrahieren, er selbst aber ist
nicht ableitbar und abstrahierbar.
Wenn wir einen fiktiven Urzustand
annehmen, in dem alle Menschen gleich sind (oder sagen, wenn alle Menschen als
alleinstehende Individuen gemeinsam gefragt werden würden, dann würden sie ...),
dann tun wir das, um dadurch einen Wert zu begründen, den wir haben. Die
Notwendigkeit, die Gleichheit aller Menschen vor dem Recht zu begründen, können
wir nur sehen, wenn uns die Gleichheit aller Menschen vor dem Recht bereits ein
Wert ist. Wir wollen das so. Basta.
Das dabei vorausgesetzte
("natürliche") Recht jedes Individuums, ohne Rücksicht auf andere nur sein
eigenes Wohl anzustreben
Ist das so? Steht in unserer Verfassung, dass jeder
das Recht hat, nach seinem Glück zu suchen? Entspricht das unserer Geschichte,
unserer Kultur? Oder sehen wir das im Grunde nicht ganz anders, nämlich so, dass
der Staat als demokratische Organisation unserer Gesellschaft unserem Gemeinwohl
zu dienen hat und damit unserer Gesellschaft, die etwas anderes ist als die
Summe der Individuen? Dieses angeblich natürliche Recht, wird das denn in
unserer Gesellschaft überhaupt gewollt? Achten und schätzen wir Menschen, die
sich zwar rechtmäßig verhalten, aber von ihrer Einstellung her so handeln?
Betrachten wir diese Einstellung als einen Wert? Ich melde da massive Zweifel
an.
Ich denke, wir fragen uns vielmehr, wie wir unser Zusammenleben in
Zukunft gestalten wollen und nicht, wie wir den einzelnen Individuen Spielregeln
geben, damit sie sich nicht gegenseitig an die Gurgel fahren. Letzteres ist doch
für uns eine Sache des Strafrechts - denn das tun man nicht.
Man kann das
Individuum so sehr in den Mittelpunkt rücken wie man will - es gibt das so
einfach nicht. Wir sind in eine Gemeinschaft hineingeboren, von ihr erzogen und
geprägt, das kann man nicht einfach hinweg diskutieren um ideologischer Ziele
willen, denn das ist es für mich. Das Ziel ist der Liberalismus, der durch diese
Theorie begründet werden soll, schon seit Locke und Hobbes. Diese Theorie ist
ideologisch.
Unter diesem Aspekt betrachtet wird Eberhards Kritik am
Vertragswesen zu einer realistischen Beschreibung etlicher gesellschaftlicher
Zustände. Wie sieht er denn aus, der Hartz IV - Vertrag mit sämtlichen
Begleitumständen? Ein gleichberechtiger Vertragsschluss? Offenbar so anerkannt
und von allen gebilligt und akzeptiert, dass die, die ihn abgeschlossen haben,
von den eigenen Leuten rausgeschmissen worden sind.
Ne, da stimme ich
Eberhard zu. Vertrag geht nicht. Und ein Strafverfahren wegen gefährlicher
Körperverletzung oder Bankrott ist kein Strafverfahren wg Vertragsbruch. Und
auch das Verbot der Todesstrafe im Grundgesetz ist nicht vertraglich vereinbart.
Diese Theorie stimmt, bezogen auf die Praxis, einfach hinten und vorne nicht.
Unsere Basis ist eine andere als die des glücksuchenden Individuums. Unsere
Basis ist die Menschenwürde. Und darüber überhaupt zu reden setzt die Existenz
einer Gemeinschaft voraus - denn für das selbständig existierende Individuum ist
Menschenwürde kein Thema.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Heute,
07:15 Uhr
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Hallo alltag,
Dein Argument gegen die vertragstheoretische Begründung der
Rechtsordnung trifft nicht, denn die gemeinschaftliche Ordnung wird dort ja erst
durch die vertragliche Übereinkunft der Einzelnen hergestellt. Deshalb kann die
wechselseitige Abhängigkeit der Individuen in der Gemeinschaft kein Argument
gegen die unabhängige Entscheidung der Individuen für den Gesellschaftsvertrag
sein.
Es grüßt Dich Eberhard.
p.s.: Es muss wohl ein neuere thread
eröffnet werden.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Urs_meinte_Euch am
Heute, 11:33 Uhr
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Hallo Alltag, hallo Eberhard!
Ein paar Erläuterungen zur Vertragsidee.
Die Hobbes’sche (oder Locke’sche) Staatsbegründung will keine
Rekonstruktion des historischen Geschehens sein. Es ist vielmehr eine
kritisch-analytische Rekonstruktion der Elemente, die einen Rechtsstaat im
Wesentlichen ausmachen. Dieser Theorietyp geht methodisch ganz ähnlich vor wie
Descartes in seiner Zweifelmeditation: „Wenn man sich alles wegdenkt, was einen
wirklichen heutigen Staat ausmacht und ihn dann schrittweise wieder
zusammensetzt – welches Minimum an Bestimmungen muss man übrig behalten, damit
ein Staat überhaupt funktionieren kann?“ Auf diesem Weg gewinnt man also
allgemeine Kriterien, anhand derer man an historisch vorfindlichen Staaten die
zufälligen und die notwendigen Momente unterscheiden und daher existierende
Staaten auch (im Sinne des Modells) optimieren kann.
Der „Naturzustand“
ist somit das, was man - nach Hobbes - als die Ausgangsbedingungen annehmen
muss, um das Modell eines funktionierenden souveränen Rechtsstaates zu
konstruieren. Und der „Vertrag aller mit allen“, der aus dem Naturzustand
„herausführt“, ist nichts weiter als eine Rekonstruktion der Gemeinschaft mit
den Bestimmungen des Rechts. Oder anders gesagt: Mit den Mitteln des Rechts kann
man sich die Vereinigung einer Menge von Individuen nur als freiwilligen
Vertragsabschluss vorstellen.
Hobbes leugnet nicht, dass es andere Arten
menschlicher Gemeinschaft gab und gibt (etwa die Familien oder die Kirchen), die
nicht als durch freiwillige Vereinigung zustande gekommen denkbar sind. Er
behauptet nur: sie sind für einen souveränen Rechtsstaat nicht grundlegend und
nehmen darum im Rechtsstaat auch nur eine untergeordnete Stelle ein. Was den
Rechtsstaat „trägt“, sind keine natürlichen Zwänge, sondern freiwillige –
gleichwohl bindende – Vereinbarungen. So kann ein Kind wegen seiner natürlichen
Unselbständigkeit die Familie nicht verlassen; ein Staatsbürger kann jedoch
auswandern (also den Vertrag „kündigen“) – und sollte nach Hobbes auch das
garantierte Recht dazu haben.
Es ist klar, dass es bei faktischen
Vertragsabschlüssen immer Randbedingungen gibt, die ihre Freiwilligkeit
einschränken. Aber ein unfreiwillig eingegangener Vertrag ist eben kein
„wirklicher“ Vertrag im Sinne der Vertragsidee und daher ungültig.
Das
gleiche gilt für einen „Konsens“: Kommt eine Vereinbarung faktisch dadurch
zustande, dass eine Minderheit überstimmt wird, kann man diese Vereinbarung
nicht „konsensuell“ nennen – es sei denn, alle Beteiligten hätten vorher die
Verfahrensregel freiwillig akzeptiert, nach der ein Mehrheitsvotum die
Verhandlungen beenden darf, wenn kein Konsens über die verhandelte Sache
gefunden wird. Dann „vertritt“ das Mehrheitsvotum den Konsens. - Natürlich kann
es vorkommen, dass auch die Verfahrensregeln erzwungen werden – aber dann wird
nicht wirklich „verhandelt“, sondern einem Oktroi der Schein des Konsenses
verliehen. (Siehe auch den „Scheinprozess“ vor Gericht.)
Die Gründe, aus
denen die Vertragspartner zum Abschluss kommen, sind natürlich ihre Sache. So
kann jemand einen Vertrag abschließen, nur weil er das „kleinere Übel“ für ihn
ist. Aber diese Bewertung trifft immerhin noch er selbst; insofern ist auch eine
Entscheidung für das kleinere Übel noch eine freiwillige. Wer dagegen (wie Kant)
glaubt, allein die völlige Abwesenheit von „Sachzwängen“ erfülle die Kriterien
von„Freiwilligkeit“, spricht über eine andere Welt als unsere - lies: jagt einer
metaphysischen Idee von Freiheit nach.
Die „vernünftige“ Einsicht, die
bei Hobbes die Individuen zum Abschluss des „Vertrags aller mit allen“
motiviert, ist ja eine Einsicht in den „Zwang der Sache“. Unbegrenzte Freiheit
bei der Verfolgung der eigenen Interessen führt zum „Krieg aller gegen alle“, in
dem das Überleben des Einzelnen dauernd gefährdet ist. Darum ist es „vernünftig“
(d.h. zweckmäßig für jeden Einzelnen), die eigene Freiheit mit Rücksicht auf die
Freiheit der anderen einzuschränken.
- - - - - -
Der
entscheidende Punkt für unser Thema liegt aber hier:
Kann man sich bei
der Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs nur auf Gemeinschaft nach dem Modell des
Rechtsstaates beschränken – also auf Gemeinschaften, die (der Idee nach)
zustande gekommen sind aus dem freien Zusammenschluss von Individuen, die
jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen? Oder anders gesagt: Sind die
Interessen der Individuen das einzige Prinzip, und ist demnach jede Art von
Gemeinschaft nur zu legitimieren, wenn sie auf die Interessen der Individuen
zurückzuführen ist? Oder ist Gemeinschaft „mehr als die Summe ihrer Teile“ –
d.h. ist die Gemeinschaft ein „Gut“, das sich nicht „teilen“ lässt, und zwar
deshalb, weil kein einziges Individuum seine Bedürfnisse ganz auf sich gestellt
befriedigen könnte? Ist Gemeinschaft nicht als eine notwendige Voraussetzung
anzuerkennen dafür, dass es überhaupt Individuen gibt, die ihre Interessen
eigenständig verfolgen können?
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Heute,
11:47 Uhr
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Hallo abrazo,
ich muss Dir in zahlreichen Punkten widersprechen. Dein
Argument gegen die vertragstheoretische Begründung der Rechtsordnung trifft die
spätere Interpretation dieser Theorie nicht. Dort wird nicht mehr mit einem
Urzustand argumentiert, sondern Kriterium der Legitimation ist die Frage: Hätte
diese Rechtsordnung aus einem Vertrag freier Individuen hervorgehen können?
Die Vertragstheorie setzt auch nicht die Gleichheit im Urzustand voraus. Die
Gleichheit der Staatsbürger vor dem Recht begründet die Vertragstheorie damit,
dass freie Individuen niemals einer Ordnung zustimmen würden, indem sie selber
minderen Rechts sind. Dies macht z. B. Rousseau sehr deutlich.
Deine
Kritik am Liberalismus und Individualismus leidet meines Erachtens darunter,
dass Du die Positionen, die Du kritisierst, nicht vorher ausformulierst, so dass
man nicht genau erkennen kann, was Du jeweils kritisierst. Zum Beispiel weiß ich
nicht, ob Du mit Deinen kritischen Ausführungen zum glücksuchenden Individuum
auch die Auffassung angreifen willst, dass die Menschen zuerst an sich selbst
und ihresgleichen denken und dass das Wohl Fremder dagegen eher zweitrangig ist.
Du schreibst: „Man kann das Individuum so sehr in den Mittelpunkt rücken wie
man will - es gibt das so einfach nicht. Wir sind in eine Gemeinschaft
hineingeboren, von ihr erzogen und geprägt.“ Wenn das Individuum tatsächlich in
dieser Weise von der Gemeinschaft geprägt ist, dann kann es doch nicht schaden,
auf der Ebene der Individuen anzusetzen. Dadurch geht ihre Prägung durch die
Gruppe ja nicht verloren, sondern wird gerade berücksichtigt.
Die
Kennzeichnung einer Theorie als „Ideologie“ oder „Rechtfertigungstheorie“ ist
für mich übrigens als solches kein Argument.
Du schreibst weiterhin:
„Jede letzte Begründung kann immer nur in der wahrnehmbaren Welt liegen. Was
anderes haben wir nicht.“ Das ist nicht schlüssig.
Eine „letzte“
Begründung kann auch erfolgen, indem man sich klar macht, was es eigentlich
heißt, etwas zu begründen und indem man die impliziten Voraussetzungen
herausarbeitet, die jeder machen muss, der etwas begründen will.
Wenn ich
eine Norm gegenüber einem Individuum begründe, dann kann ich das z.B. nicht,
indem ich ihm eine Strafe androhe für den Fall, dass er diese Norm verletzt. Ich
kann eine Norm gegenüber dem Individuum auch nicht dadurch begründen, dass ich
ihm 1000 ? verspreche, wenn es der Norm zustimmt.
Wenn wir sagen, dass
wir eine Behauptung gegenüber einem Individuum begründen, dann appellieren wir
an seine Einsicht bzw. Vernunft: wir begründen die Norm mit Hilfe von
einsichtigen Argumenten, die er zwanglos nachvollziehen kann.
Mit dem
Motto „Scharfe Kritik an Positionen und nicht an Personen“ grüßt alle
Diskussionsteilnehmer Eberhard.
p.s.: Dieser Beitrag ist ohne Kenntnis
des letzten Beitrages von Urs formuliert.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Abrazo am Heute,
13:35 Uhr
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Hi, Eberhard,
Dort wird nicht mehr mit einem Urzustand argumentiert,
sondern Kriterium der Legitimation ist die Frage: Hätte diese Rechtsordnung aus
einem Vertrag freier Individuen hervorgehen können?
Was ist das Gemeinsame
zwischen beiden Annahmen? Der Konjunktiv. Das heißt, argumentiert wird mit einer
fiktiven Situation. Was begründet eine fiktive Situation? Das Denken. Wer denkt?
Ein Subjekt. Also ist eine fiktive Situation immer subjektiv; ich könnte auch
sagen: sie entspricht dem Wunschdenken. Damit etwas zu begründen halte ich nun
mal für unsauber.
Die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Recht begründet
die Vertragstheorie damit, dass freie Individuen niemals einer Ordnung zustimmen
würden, indem sie selber minderen Rechts sind. Dies macht z. B. Rousseau sehr
deutlich.
Hätte, würde, könnte. Und wie ist es tatsächlich?
Ich habe
keine Zweifel, dass Rousseau keiner Ordnung zustimmen würde, in der er selbst
minderen Rechts ist. Ich würde das auch nicht. Aber trifft das für alle Menschen
oder auch nur die Mehrheit zu? Ist es nicht so, dass mindere Rechte von den
davon Betroffenen selbst ohne weiteres akzeptiert werden? Auch wenn wir die
Alternative haben, menschlich zu entscheiden, so bleibt die andere Alternative,
so zu entscheiden wie jedes andere Viech auch. Im Rudel verlangt der Mitläufer
selbstverständlich nicht die gleichen Rechte wie der Anführer. Er folgt - und
dafür erhält er Sicherheit. Willst du behauptet, dass diese Alternative nicht
tatsächlich oft gewählt wird? Dazu brauchst du noch nicht einmal in ferne Länder
zu gehen. In jeder traditionellen Dorfgemeinde ist es selbstverständlich, dass
die Honoratioren mehr Rechte haben als der Rest.
Wer ist das freie
Individuum? Das freie Individuum ist biologischen Zwängen unterworfen, denn es
muss leben. Es will leben. Es will sicher und ohne Sorgen leben. "Gib mir deine
Freiheit und ich gebe dir Sicherheit" - wieviele würden wohl diesen Vertrag
abschließen? Wenn Staaten und Gesellschaften jahrhundertelang auf der Basis
eines solchen Vertrages existierten: wieso soll das auf einmal unmöglich sein?
Vielleicht für unsere Rechtsordnung. Aber wieso soll man die mit so einem
Vertragsspielchen begründen? Die ist doch ganz anders entstanden und gewachsen,
z.B. aus negativen Erfahrungen. Reicht es nicht als Grund, das, was war (und
dazu gehört z.B. auch die Ständegesellschaft) nicht mehr zu wollen? Sag: wer
braucht solche Begründungsspielchen - und wen interessieren sie?
Das
freie Individuum - wunderbar. Aber frag doch mal solche Individuen, die sich in
hierarchische Gruppen begeben, was sie von ihrer Freiheit halten. Dann wirst du
feststellen, dass Freiheit eine sehr unangenehme Begleiterscheinung hat, nämlich
Verantwortung. Und dass es deswegen nicht wenige gibt, die ihre Freiheit liebend
gerne verkaufen, wenn sie damit die Verantwortung los werden.
Bitte keine
was-wäre-wenn-Spielchen. Es sind die Tatsachen, die zählen.
Zum Beispiel
weiß ich nicht, ob Du mit Deinen kritischen Ausführungen zum glücksuchenden
Individuum auch die Auffassung angreifen willst, dass die Menschen zuerst an
sich selbst und ihresgleichen denken und dass das Wohl Fremder dagegen eher
zweitrangig ist.
Ich habe festgestellt, dass das nicht in unserer Verfassung
als Grundwert festgeschrieben ist. In anderen schon, aber nicht in unserer. Ich
habe also auf einen Unterschied hingewiesen. Allerdings auf einen wichtigen.
Denn solche Grundwerte gehören zu dem Rahmen, innerhalb dem sich eine
Gesellschaft entwickelt.
Dadurch geht ihre Prägung durch die Gruppe ja
nicht verloren, sondern wird gerade berücksichtigt.
Das wäre so, wenn
Beeinflussung und Prägung zu fertigen, stabilen Eigenschaften führen würden.
Leben in der Gemeinschaft ist aber ein dynamischer Prozess, und außerdem, wie
bereits erwähnt, gehört ein Individuum mehreren Gruppen an.
Wenn wir
sagen, dass wir eine Behauptung gegenüber einem Individuum begründen, dann
appellieren wir an seine Einsicht bzw. Vernunft: wir begründen die Norm mit
Hilfe von einsichtigen Argumenten, die er zwanglos nachvollziehen kann.
Aha.
Und was sind einsichtige Argumente, die einer zwanglos nachvollziehen kann?
Argumente, die unmittelbar auf die wahrnehmbare Welt verweisen.
Tatsachen, Eberhard. Nicht, wie Mensch und Welt sein sollen, zählt, sondern wie
sie ist. Damit müssen wir fertig werden, das ist die Aufgabe. Um die können wir
uns nicht herum mogeln, indem wir uns als Begründung etwas ausdenken, was wir
gerne so hätten.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen
Beitrag von Eberhard am Heute,
14:52 Uhr
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Hallo allerseits,
da dieser Thread zu lang geworden ist, habe ich eine
Fortsetzung eröffnet. See you later .. Eberhard.
Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
PhilTalk Philosophieforen (http://www.philtalk.de/cgi-bin/YaBB.cgi) Praktische
Philosophie >> Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsphilosophie
>> Gemeinwohl und Wohl der Individuen II (Thema begonnen von: Eberhard am 05.
Nov. 2005, 14:48 Uhr)
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Titel: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 05. Nov.
2005, 14:48 Uhr
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Hallo allerseits,
dies ist die Fortsetzung der Diskussionsrunde über
"Gemeinwohl und Wohl der Individuen I" (aufzurufen unter
www.philtalk.de/msg/1129452049.htm)
Ich hoffe, dass weiterhin so
sachbezogen und produktiv diskutiert wird wie im Teil I.
Allen
Diskusssionsteilnehmern meinen Dank (ausgenommen h.s.)!
Eine spannende
und kontroverse Diskussion wünscht allen Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 05.
Nov. 2005, 14:53 Uhr
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Hallo allerseits, hallo urs,
Du fragst: „Ist jede Art von Gemeinschaft
nur zu legitimieren, wenn sie auf die Interessen der Individuen zurückzuführen
ist?“
Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man das
Interesse eines Individuums definiert.
Wenn man unter dem „Interesse
eines Individuums“ nur diejenigen Bestrebungen des Individuums versteht, die
sich direkt auf sein eigenes Wohlergehen richten, so muss man wohl die Frage
verneinen. Dies würde unter anderem bedeuten, dass überall nur nach dem Prinzip
„Nach mir die Sintflut!“ gehandelt würde, und dass es deswegen z.B. schnurzpiepe
ist, was in 80 Jahren ist, denn dann ist jeder von uns mausetot und sieht sich
den Rasen von unten an.
Eine nach diesen Prinzipien arbeitende
Wegwerfgesellschaft wäre dann das Einzige, was legitimiert werden könnte, was
schwerlich akzeptabel wäre.
Ist deshalb der Ausgangspunkt von den
Interessen der Individuen ein Irrtum?
Ich denke nicht. Der Fehler der
obigen Konstruktion liegt darin, dass die Interessen der Individuen in
Wirklichkeit nicht nur im engeren Sinne eigennützig sind, sondern dass sie weit
über ihr eigenes individuelles Leben hinausgehen. Menschen haben Interesse
daran, dass über ihr individuelles Dasein hinaus die von ihnen geschätzte
Gesellschaft samt ihrer Kultur fortbesteht.
Deshalb wünschen sich die
Individuen Nachkommen, fördern sie die nachwachsenden Generationen, machen
Vermächtnisse und Stiftungen über ihren Tod hinaus oder opfern sich für die
Gemeinschaft auf.
Menschen sind nicht so borniert individualistisch und
egozentrisch. Ein Hinweis darauf gibt bereits die Biologie des Menschen: Jedes
Individuum trägt in sich einen zweiten Satz Gene, die er an seine
Nachkommenschaft vererbt, ohne dass diese Gene bei ihm selber zur Wirkung
gekommen wären und ihn geprägt hätten.
Wenn man dies berücksichtigt und
den Begriff des Interesses nicht unzulässig verengt, dann sehe ich keine
Probleme, Deine obige Frage zu bejahen.
Es grüßt Dich und alle an
altmodischen Begriffen wie „Gemeinwohl“ Interessierten Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 05.
Nov. 2005, 15:24 Uhr
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Hi, Eberhard,
ich denke, das ist eine sehr gute Synthese, mit der man
leben kann und die mit realem menschlichem Entscheiden und Handeln und seinen
Motiven begründet ist.
Ein junger, mehr oder minder legaler Einwanderer
aus armen Gegenden kommt zu uns in der Hoffnung, hier besser leben zu können.
Aber dazu kommt die Hoffnung, dass er hier eine eigene Familie gründen kann, die
eine bessere Zukunft hat als in seiner Heimat. Und dazu kommt die Hoffnung,
seine daheim gebliebene Familie finanziell unterstützen zu können, damit die
besser leben kann. Und weil das so ist, wird die Reise, wenn irgend möglich, von
seiner daheim gebliebenen Familie mitfinanziert. Menschen handeln und
entscheiden nun mal so.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 05.
Nov. 2005, 18:22 Uhr
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:-) Hallo Allseits,
das geht ja in einem Affentempo weiter!
@ Abrazo
(zu #148),
danke für die Zustimmung, dass die Vertragstheorie für das
Zusammenwirken zwischen Individuum und Gemeinschaft nicht haltbar ist, weil das
Individuum beiden Parteien zugehört (meinem #147).
Deine Bedenken, dass
jeglichem Rechtfertigungszweck die Richtung "Ideologie" anhaftet, kann ich
nachvollziehen. Ich stimme Dir zu, dass trotzdem der Problematik nachgegangen
werden darf, die du wie folgt zusammenfasst: <Man kann der Ethik nicht
entfliehen. Und das ist auch zwangsläufig so.>
@ Eberhard (zu #152),
Deine Kritik <Das ist nicht schlüssig> an Abrazo (#148) zielt darauf ab, dass Du
Abrazo sagst: "Es gibt doch noch andere Begründungen!" Da magst Du ja recht
haben, aber ich bin der Auffassung, dass Abrazos Überlegung doch noch gewürdigt
werden sollte! Und zwar wie folgt: "Eine letzte Begründung, die in der
wahrnehmbaren Welt liegt" ist hinreichend! Wobei das logische <Hinreichend>
gemeint ist, das bekanntlich stärker ist als das logische <Notwendig>. Da sich
Deine Argumente um das logisch schwächere drehen, gehe ich nicht darauf ein.
Denn:
Falls es also gelingen sollte, eine Begründung in der
wahrnehmbaren Welt zu finden, ist das Feld gedüngt (sprich: der Mist geführt)
und mit etwas Geduld und Ausdauer wird's auch was zu ernten geben! Diesen
Gedankengang verfolgte ich in den Beiträgen in denen ich die arrogante Kurzform
<Fundamental-Ethik> kreiert habe. In der Meinung, dass gemeinsame Erlebnisse ein
gutes Fundament sind für einen gemeinsamen Willen, habe ich versucht
aufzuzeigen, dass solche gemeinsame Erlebnisse in der wahrnehmbaren Welt nicht
ausgeschlossen sind. (siehe #115,#121, #123)
@Urs, (zu #151)
Danke
für Deine Ausführungen. Ich schnuppere da an persönlichem Bildungsneuland.
Danke & Gruss --- Euer Alltag
p.s.: Abrazo, was heisst <imho>? Habe
da offensichtlich eine Bildungslücke!
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 06. Nov. 2005, 02:42 Uhr
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Hallo Abrazo!
Quote:Wenn du, Urs, das Wort Ethik im Sinne von
Ethos = Sitte verwendest, fragt sich, welches Wort du dann für die Grundnormen
(z.B. nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen) nehmen willst.
Nach meinem Verständnis wäre eine „Grundnorm“ ein ethisches Prinzip (ein
„Grundsatz“), dessen Funktion nur darin besteht, alle einzelnen Normen
systematisch miteinander zu verbinden. Berühmtestes Beispiel: Kants
kategorischer Imperativ. Die Grundnorm kann einerseits „entfaltet“ werden, indem
man daraus weitere regionale Prinzipien ableitet (so gewinnt Kant sein
Rechtsprinzip aus einer Anwendung des kategorischen Imperativs auf „äußere
Handlungen“), es kann aber auch umgekehrt dazu dienen, vorkommende Normen zu
beurteilen.
In einem weniger strengen Sinne besteht auch z.B. unser
Grundgesetz aus „Grundnormen“. Ich kann nicht beurteilen, ob seine verschiedenen
Paragraphen alle so konsistent sind, dass sie sich aus einem Prinzip ableiten
lassen. Aber jedenfalls dient das Grundgesetz bei uns wirklich als Kriterium für
die Normenkontrolle.
Die Imperative, die Du als Beispiel für Grundnormen
anführst, würde ich keine echten Normen – also „Scheinnormen“ - nennen. Wir
haben diesen Punkt schon berührt, als wir über solche Sätze diskutierten wie
„Man soll vor der Ehe keinen Sex haben.“ Damals habe ich gemeint, dass eine
echte Norm sich an einen bestimmten Kreis von Adressaten wenden muss. Inzwischen
(durch Lektüre belehrt) würde ich noch hinzufügen, dass eine Norm sich auch auf
eine eindeutige, aber wiederkehrende Situation – ein Situationsschema - beziehen
muss.
(Fingiertes, aber realitätsnahes) Beispiel: „Unmittelbare
Vorgesetzte und Inhaber höherer Dienstgrade sind militärisch zu grüßen.“ Aus
dieser knappen Formel ergibt sich, dass jeder Soldat die (anderswo normierte)
Grußformel aussprechen und die dazugehörige Körperhaltung einnehmen soll, wann
immer er einem seiner unmittelbaren Vorgesetzen oder einem sonstigen
höherrangigen Soldaten - im Dienst - begegnet. Jeder Soldat – gleichgültig,
welchen Rang er selbst einnimmt – hat und kennt seine Vorgesetzten und weiß
auch, welche Dienstgrade über dem seinen rangieren. Somit ist diese Norm für
jeden Soldaten eindeutig verständlich und anwendbar.
Das gilt für „Du
sollst nicht töten!“ keineswegs. Für Soldaten im Ernstfall oder für bestimmte
Justizbeamte in manchen Bundesstaaten der USA z.B. gehört das Töten zu den
Dienstpflichten. Sollen sie sich von diesem Gebot aus dem Dekalog angesprochen
fühlen oder nicht? Gelten die Zehn Gebote nur für gläubige Juden und Christen?
Unter allen Umständen? Aber auch Israel hat eine Armee. Und in die
Koppelschlösser der Wehrmachtssoldaten war eingeprägt: „Gott mit uns!“
Was Du gegen mein Verständnis von „Ethos“ hast, verstehe ich nicht recht -
zumal Du selbst immer wieder betonst, dass wir keine isolierten Individuen sind,
sondern immer in historisch entstandene und sich verändernde Lebensformen
hineingeboren und in ihrem Sinne erzogen werden.
Quote:Denn jede
letzte Begründung kann immer nur in der wahrnehmbaren Welt liegen. Was anderes
haben wir nicht. Irgendwo müssen also die Begründungen für unsere Werte aufhören
und im Hinweis auf eine Tatsache enden, die nicht erdacht werden kann, sondern
die sich zeigt: eben der humane ethische Willen in bestimmten konkreten
Situationen. Davon kann man alles mögliche ableiten und abstrahieren, er selbst
aber ist nicht ableitbar und abstrahierbar.
Eberhard hat dazu
schon Kritisches geschrieben, das ich unterstütze. –
Aber es wäre
hinzuzufügen: Zwar sind Normen insofern etwas Faktisches, als es an jedem Ort
auf der Erde und zu jedem Zeitpunkt irgendwelche anerkannte Normen gibt. Aber
die Normen selbst beziehen sich nicht auf Fakten, sondern auf zukünftige
Handlungen. Ihre Funktion besteht darin, künftige Handlungen an die bisherige
Praxis anzuschließen, also Ordnungsstrukturen in die Zukunft „fortzuschreiben“.
Werden Normen geändert - siehe die Gesetzgebung -, so soll mit einer bestehenden
Ordnung an bestimmten Punkten ausdrücklich gebrochen werden.
Nun finde
ich ziemlich klar, dass eine solche angestrebte Veränderung nicht einfach aus
der „wahrnehmbaren Welt“ begründet werden kann, sondern aus menschlichen
Bewertungen der Welt, wie sie (bisher) ist. Und das macht darauf aufmerksam,
dass auch die bestehende Ordnung nicht „einfach so ist, wie sie ist“, sondern
stets in irgendeiner Weise eine gewollte oder nicht gewollte Ordnung ist. Nur
erfahren wir bei eingespielten, eingewöhnten Lebensformen nicht immerzu unseren
ausdrücklichen Willen oder unsere Bejahung. Es wäre ein absurdes, völlig
verkrampftes Leben, wenn wir uns bei jeder noch so kleinen Routinehandlung neu
entschieden und uns fragten, ob wir sie „wirklich wollen“. Entscheidung und
„Wille“ treten nur auf, wo wir entweder über keine Routine verfügen oder wo wir
mit einer Routine nicht einverstanden sind. Und es ist wohl zuzugeben, dass
jederzeit der Fall eintreten kann, dass wir mit einer gängigen Praxis nicht
einverstanden sind.
Die Gründe für unser Einverständnis oder unsere
abweichende Bewertung können vielfältig und schwer durchschaubar sein, aber sie
lassen sich nicht schlichtweg aus der „wahrnehmbaren Welt“ ableiten.
So, hier muss ich einfach abbrechen. Ich gehöre ins Bett.
Es grüßt
Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 06.
Nov. 2005, 11:31 Uhr
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Hallo abrazo,
in Deiner Kritik an den vertragstheoretischen Kriterien für
legitime soziale Ordnungen(Hätten freie Individuen im Urzustand einer solchen
Ordnung zugestimmt? bzw. Hätte eine solche Ordnung aus einer vertraglichen
Übereinkunft freier Individuen hervorgehen können?) schreibst Du:
“Was
ist das Gemeinsame zwischen beiden Annahmen? Der Konjunktiv. Das heißt,
argumentiert wird mit einer fiktiven Situation. Was begründet eine fiktive
Situation? Das Denken. Wer denkt? Ein Subjekt. Also ist eine fiktive Situation
immer subjektiv; ich könnte auch sagen: sie entspricht dem Wunschdenken. Damit
etwas zu begründen halte ich nun mal für unsauber.“
Diesen Gedankengang
kann ich nicht nachvollziehen. Richtig ist, dass eine fiktive Situation etwas
von einem Subjekt Erdachtes ist. Aber dass eine erdachte Situation immer dem
Wunschdenken entspricht, folgt daraus keineswegs.
Ein Gegenbeispiel kann
dies vielleicht am besten demonstrieren.
Wenn ich überlege, ob ich mir
für das letzte Geld in meinem Portemonnaie lieber eine Kinokarte oder eine Pizza
kaufen soll, dann denke ich mir fiktive Situationen aus, die im Konjunktiv
formuliert sind, wie z.B.: „Wenn ich die Kinokarte kaufen würde, dann würde ich
erst kurz vor Mitternacht aus dem Kino kommen und hätte inzwischen einen
ziemlichen Hunger“ und dergleichen.
Solche Erwägungen verschiedener
Möglichkeiten im Konjunktiv sind keineswegs Wunschdenken und ihre Verwendung im
Rahmen einer Argumentation führt keineswegs zu logisch unsauberen Begründungen.
Zu der Frage, ob sich die Gleichheit vor dem Gesetz aus der Konstruktion
eines freiwilligen Vertragsabschlusses ableiten lässt, schreibst Du:
„Im
Rudel verlangt der Mitläufer selbstverständlich nicht die gleichen Rechte wie
der Anführer. Er folgt - und dafür erhält er Sicherheit. Willst du behaupten,
dass diese Alternative nicht tatsächlich oft gewählt wird?“
Ich halte es
ebenfalls für fraglich, ob sich die Gleichheit vor dem Gesetz
vertragstheoretisch herleiten lässt. Die Begründung für diesen Zweifel hatte ich
ja bereits mit dem Hinweis auf die möglicherweise ungleiche Verhandlungsmacht
gegeben.
Denken wir uns mal in die Fabelwelt hinein und nehmen an, dass
die Tiere, vom Löwen über den Hirsch bis hin zum Hasen und der Maus, ihren
rechtlosen Zustand durch einen Gesellschaftsvertrag beenden wollen. Für den
Hasen wäre es sicher eine Verbesserung seiner Lage, wenn er sich gegenüber
Wölfen, Hunden u.a. unter den Schutz des Löwen begeben könnte, selbst wenn er
dann nicht rechtlich dem Löwen gleichgestellt ist.
Deshalb kann für mich
der Vertrag auch nicht der Ursprung allgemeingültiger Normen sein.
Diese
Kritik gilt m.E. jedoch nicht für die diskurstheoretische Normenbegründung, zu
der ich neige. Bei der Suche nach einem zwangfreien Konsens kann der Löwe seine
überlegene Kraft nicht als Argument für Sonderrechte einbringen, denn der Löwe
hat ja kein bereits bestehendes Recht, diese Kraft einzusetzen. Auch über den
Einsatz seiner Kraft wäre ja ein rein argumentativer, zwangloser Konsens
herzustellen.
Deshalb ergibt sich für mich aus der Orientierung aller an
einem zwangfreien Konsens die Schlussfolgerung, dass nur solche Normen
konsensfähig sind, bei denen die Interessen aller Beteiligten unparteiisch
berücksichtigt werden.
Ich ordne solche theoretischen Konstruktionen
nicht unter die Rubrik: Was-wäre-wenn Spielchen ein. Du schreibst:
“Was
sind einsichtige Argumente, die einer zwanglos nachvollziehen kann? Argumente,
die unmittelbar auf die wahrnehmbare Welt verweisen. Tatsachen. … Nicht, wie
Mensch und
Welt sein sollen, zählt, sondern wie sie ist.“
Ich sehe
die Beziehung zwischen Tatsachen und Normen etwas anders. Für mich ist die
Erforschung der Welt, wie sie ist, Aufgabe der empirischen Wissenschaften und
hat sich an den Methoden zu orientieren, die für diese Art von Fragen entwickelt
wurden. Hier ist nüchterner Realismus angesagt.
Aber aus noch so vielen
Tatsachen lässt sich logisch keine einzige Norm ableiten.
Und es gibt
zahlreiche Arten von Argumenten, die keine Verweise auf Tatsachen sind. In der
gesamten Logik und Mathematik kommen z.B. keine empirischen Argumente vor.
Mit diesen Worten zum Sonntag seid alle gegrüßt von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 06. Nov. 2005, 13:35 Uhr
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Hallo Alltag, hallo Eberhard!
Alltag hat m.E. hiermit durchaus auf
etwas Wichtiges hingewiesen:
Quote:Da jedes Individuum auch Teil der
Gemeinschaft ist, besteht doch im voraus bereits ein Abhängigkeitsverhältnis.
Dieses (von Natur aus bestehende) Abhängigkeitsverhältnis ist doch stärker als
die Bindung, die erst infolge eines Vertrages entsteht. Daher ist doch zu
Fragen, ob das Model "Vertrag" dem Problem Gemein- und Individualwohl qualitativ
angemessen ist?
Eberhards Antwort darauf ist m.E. auch richtig:
Quote:Dein Argument gegen die vertragstheoretische Begründung der
Rechtsordnung trifft nicht, denn die gemeinschaftliche Ordnung wird dort ja erst
durch die vertragliche Übereinkunft der Einzelnen hergestellt. Deshalb kann die
wechselseitige Abhängigkeit der Individuen in der Gemeinschaft kein Argument
gegen die unabhängige Entscheidung der Individuen für den Gesellschaftsvertrag
sein.
Aber: Wechselseitige Abhängigkeit besteht zwischen den
Individuen nicht erst im Rechtszustand. Die wechselseitige Abhängigkeit
innerhalb der Rechtsordnung ist eine Abhängigkeit zwischen Rechtspersonen. Aber
wir sind eben nicht nur Rechtspersonen. Um uneingeschränkt geschäftsfähige
Rechtspersonen zu werden, sind wir auf viele Voraussetzungen angewiesen, die die
Rechtsordnung selbst nicht erschaffen kann. Ich hatte das schon so formuliert,
dass das Recht „nicht autark“ sei. Es ist auf Formen der Gemeinschaft
angewiesen, die nicht nach dem Modell des freiwilligen Vertrags geformt und
entstanden sind.
Zwar zieht ein Rechtsstaat jede Form von Gemeinschaft
an sich, schützt oder regelt sie, wenn erforderlich. So bekommen auch
ursprünglich nicht „auf dem Rechtsweg“ entstandene Gemeinschaften einen
Stellenwert in der Rechtsordnung. So steht nicht nur das unmündige Kind unter
rechtlichem Schutz, sondern auch die Familie, Partnerschaften, regionale
Lebensformen, Glaubensgemeinschaften, politische Parteien, Gewerkschaften,
„Interessengemeinschaften“ usw. Alle diese Zusammenschlüsse haben inzwischen
auch eine Rechtsform, aber diese Rechtsform macht nicht ihr „Wesen“ aus, d.h.
ist nicht das, was sie entstehen lässt und zusammenhält, sondern nur das, was
sie mit der rechtsstaatlichen Ordnung insgesamt verträglich macht. Dass der
Staat hier überall regelnd oder schützend eingreifen darf, ist Ausdruck seiner
„Souveränität“. Aber ich denke, es ist leicht zu sehen, dass diese Souveränität
nicht mit Autarkie verwechselt werden kann, dass also das Recht nur ein
gesellschaftliches „System“ neben anderen gesellschaftlichen Systemen ist.
Außerdem gibt es zwischen verschiedenen Staaten, die alle nach dem Modell
„Republik“ geordnet sind, doch erhebliche Unterschiede. Unsere föderale
„Bundesrepublik“ etwa nimmt sehr stark Rücksicht auf die historisch entstandenen
„Länder“, erkennt den Ländern ausdrücklich die „Kulturhoheit“ zu, während
Frankreich wegen seiner ganz anders verlaufenen Geschichte viel
„zentralistischer“ verfasst ist usw. - Kurz, eine Rechtsordnung ist immer eine
Ordnung von etwas, das selbst nicht wieder aus Recht besteht oder aus dem Recht
hervorgegangen ist. Oder systemtheoretisch ausgedrückt: Das ausdifferenzierte
Rechtssystem kann nur bestehen in Abhängigkeit von und in Beziehung auf eine
„Umwelt“, und zwar eine Umwelt, in der es auch andersartige Systeme gibt – wobei
diese Systeme keineswegs durch die (räumlichen und rechtlichen) Grenzen der
Staaten eingeschränkt sind.
Was bedeutet es, wenn der Staat
schützend oder regelnd in gesellschaftliche Prozesse eingreift? Was wird da
jeweils „geschützt“ – und wogegen? Doch offenbar nicht nur die Interessen
einzelner Individuen, sondern auch die von „Interessengemeinschaften“. Und sie
werden dagegen geschützt, dass die Abhängigkeiten, in denen sie sich jeweils
befinden, von anderen ausgenutzt werden – damit sie ihre gemeinschaftlichen
Interessen ungestört weiter verfolgen können. - So werden nicht nur Kinder gegen
ihre Eltern geschützt, sondern auch Betriebsräte gegen die
Unternehmensleitungen. Oder es werden Minderheiten (z.B. religiöse) gegen
Diskriminierung geschützt oder Mehrheiten gegen die Übermächtigung durch
ökonomisch starke Minderheiten.
Fazit: Die Rechtsordnung selbst
erkennt an, dass es Gemeinschaften gibt, die jeweils ein eigenständiges „Gut“
anstreben und dabei auch eigenständig verfasst sind, also eigenständige Normen
und Bewertungsmaßstäbe haben. Unser „Pluralismus“ ist eben ganz wesentlich ein
Pluralismus von Gemeinschaften und Gemeinschaftsformen. Allerdings ist es in
unseren „westlichen“ Republiken in der Tat so, dass den Individuen gewisse
allgemeine und unveräußerliche Rechte zugestanden werden, die dann im „Konzert“
der Lebensformen letztlich immer Vorrang haben, wenn es zum Konflikt kommt.
Also, ich plädiere ganz entschieden dafür, den Gemeinwohlbegriff so
differenziert zu verstehen, dass er sich auf den Pluralismus der Gemeinschaften
anwenden lässt. Es kann nicht genügen, nur das Rechtsmodell im Blick zu haben
und es zu generalisieren. – Diese Differenzierung verhindert dann allerdings,
dass man eine für alle Gemeinschaften gültige „Formel“ aufstellt, nach der sich
das Gemeinwohl immer bestimmen lässt.
Es grüßt Euch
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 06.
Nov. 2005, 15:10 Uhr
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Bezug: #4
Hi, Urs,
ich weiß, dass diese Ansicht weit verbreitet
ist, vielleicht sogar die herrschende ist, ich halte sie trotzdem für falsch.
Ich behaupte: jede Begründungskette hat irgendwo ein Ende und das Ende ist
eine Tatsache in der wahrnehmbaren Welt. Das gilt genau so für die Ethik.
Wenn ich von Herrn Hund rede, kannst du fragen: was meinst du? Dann kann ich
dir den Herrn mit allen Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen beschreiben.
Kannste fragen, ob es denn das, was ich beschreibe, überhaupt gibt. Die Fragen
kannst du weiter führen bis zu dem Punkt, woher wir denn wissen können, dass es
die Welt gibt. Dann sage ich dir, das ist Unsinn, was du da sagst, denn du
kannst nicht fragen, ob es die Welt gibt ohne vorauszusetzen, dass es sie gibt.
Wenn es die Welt nicht gäbe, könntest du an ihrer Existenz nicht zweifeln. Gut.
Aber damit kannst du immer noch an der Existenz von Hunden zweifeln. Wie löst
man diesen Zweifel? Nicht, indem man argumentiert, sondern indem man zeigt:
siehst du das Objekt da? - Ja. - Das ist ein Hund. Das Ende der Begründungen ist
also das, was sich zeigt.
Entsprechend sage ich: das Ende der
Begründungen unserer Normen ist das, was sich zeigt, und das nenne ich die
Ethik.
Wer an Gott/Götter glaubt, hat damit kein Problem. Denn der sagt,
das Ende der Begründungen unserer Normen ist das göttliche Gebot, auf irgend
eine Weise an seine Kinder / Diener / Priester / Propheten übermittelt. Problem
gelöst.
Wer aber die Existenz eines Göttlichen bezweifelt oder einen
Kommunikationsweg, muss sich mit der Begründung der Normen befassen.
Üblich ist, die Normen qua Vernunft zu begründen oder über unsere
gesellschaftliche Entwicklung. Das funktioniert aber nur so lange, wie wir
unsere Zivilisation als selbstverständlich und als einzige Möglichkeit
menschlichen Zusammenlebens voraussetzen. Sobald wir andere Möglichkeiten sehen,
funktioniert das nicht mehr. Es funktioniert spätestens nicht mehr, seit es den
Nationalsozialismus gibt, denn der ist eine Alternative.
Der
Nationalsozialismus gründet letztlich auf der Biologie, also auf den
biologischen Steuerungen, den Gefühlen, und die sind evident. Die kann man
wahrnehmen. Den ganzen Bereich Humanität / Ethik / Moral erklärt er zu einer
Lüge, insinuiert von den Juden zwecks Selbsterhalt einer ansonsten unterlegenen,
nur durch Schmarotzen an anderen Völkern überlebensfähigen Menschenabart. Du
sollst nicht töten heißt danach, du sollst die nicht töten, die dich aussaugen
und von dir leben. Ein egoistisches Zweckgebot derjenigen, die auf sich gestellt
nicht überlebensfähig sind und dazu noch die Weiterentwicklung der Fähigen
verhindert, auf dass sie nicht so stark werden, dass sie sich doch über die
'Humanitätslüge' hinwegsetzen können.
Wie gesagt, hier enden die
Begründungen in Evidenzen. Evidenzen sind stärker und einleuchtender als Glauben
und Vernunft.
Der Schwachpunkt dieser Theorie ist, ist die Humanität eine
Lüge oder nicht. Darauf mit der Vernunft, z.B. Kant zu antworten, zieht nicht.
Denn die Frage ist, warum soll ich der Vernunft folgen, wenn meine Natur etwas
anderes sagt. Also warum soll ich den Kerl nicht umbringen, wenn ich vom Gefühl
her der Auffassung bin, dass für uns beide kein Platz auf dieser Erde ist. Ist
für den Täter, das Individuum, kein Problem. Wohl aber für die Beobachter. Die
reagieren nämlich auf das Ergebnis mit Abscheu und sehen deswegen zu, den Täter
dingfest zu machen. Dieser Abscheu aber ist weder logisch noch vernünftig
herleitbar, der ist. Der zeigt sich. Der ist evident. Dass er sich zeigt,
scheint mir nicht zu einigen Kulturen zu gehören, sondern es scheint mir doch
eine allgemein menschliche Eigenart zu sein.
Wenn du nun GG Art. 2 (2)
nimmst: "jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" und mich
fragst, wie willste dat begründen, würde ich dir entgegnen, weil wir das so
wollen. Und wir wollen es deswegen so, weil das zu unserem Wesen als Menschen
gehört. Kannste zeigen.
Mir scheint, wir haben mit der Ethik, also den
Grundnormen, immer dann ein Problem, wenn wir das Individuum betrachten. Hier
verweise ich auf unsere Diskussion über Möglichkeiten: das Individuum hat zwar
die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen, aber warum soll es die
vernünftige oder die menschliche Alternative wählen, wenn es zur biologischen
viel mehr Lust hat und die für ihn auch von Vorteil ist. Wenn er aber diese
Alternative wählt, tritt er damit aus der humanen Gemeinschaft aus, denn die
lehnt das ab. Das Problem ist also für den Täter nicht die Tat, sondern die
Isolation, durch die er auf genau den reinen Individualzustand geworfen wird,
von dem manche Moraltheorien überhaupt erst ausgehen. Was mich nun zu der Frage
bringt: ist deren Ansatz überhaupt richtig? Ist es überhaupt möglich, Ethik,
Moral, Normen zu begründen, ohne den Menschen als vergesellschaftetes Wesen zu
betrachten, nicht, weil er sich so entwickelt hat, sondern weil das nun mal zu
seinem Wesen gehört?
Die These lautet: Ethik ist eine Eigenart der
Menschheit, sie ist evident und zeigt sich in den Situationen, in denen ein
Individuum (oder eine Gruppe) davon abweicht. Woraus folgt, je mehr ein
Individuum sich als Teil der Menschheit begreift, desto mehr wird es sich im
Konfliktfall für die ethische Alternative entscheiden.
Rechtssysteme
(codifizierte Normen) werden letztlich aus den ethischen Evidenzen abgeleitet
und durch sie begründet. Dass es dabei auch zu Differenzen und Fehlern kommen
kann, ist klar - aber vom sozialen Aspekt aus betrachtet zeigt es auch, warum
sie notwendig sind. Denn was ethisch verwerflich ist, ist zwar den Zeugen qua
Evidenz klar, nicht aber notwendigerweise dem handelnden Individuum. Weswegen
man ihm vorher beibringt, was es darf und was nicht.
Wenn wir nun die
Gemeinschaft als das Primäre sehen, dann ist sie es, die das Wohl des
Individuums einigermaßen garantiert - über die von ihr geschaffenen Normen,
begründet letztlich durch die Ethik. Individuen, die dagegen verstoßen, werden
von der Gemeinschaft - je nach Schwere der Tat - 'rausgeschmissen. Das würde,
unabhängig von dem, was als solches definiert wird, bedeuten, dass auch
Individuen oder gar Gruppen, die gegen das Gemeinwohl verstoßen (was immer das
Wohl anderer Individuen ist), Gefahr laufen, von der Gemeinschaft abgestoßen zu
werden; das könnte dem Interesse solcher Individuen oder Gruppen durchaus
widersprechen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 06.
Nov. 2005, 17:51 Uhr
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:-) Hallo Allseits,
Lieber Urs danke, dass Du den Gedanken, betreffs des
Abhängigkeitsverhältnisses von Individuum und Gemeinschaft, nochmals aufnimmst
und zugleich eingehst auf Eberhards Gegenargument.
Lieber Eberhard, ich
bin auf Dein (soeben angesprochenes) Gegenargument noch nicht eingegangen, weil
ich es ganz einfach noch nicht verstanden hatte. Die Erörterungen von Urs
bringen mich aber weiter.
@All,
Vielleicht hilft uns ein
einschlägiges Beispiel für ein eigenständiges, schützenswertes "Gut" weiter. Ich
denke an <Treu und Glaube>. Es ist ein Gut, das sowohl dem Gemeinwohl als auch
dem Individualwohl angehört: siehe /1/! <Treu und Glaube> ist also das Fundament
für dauerhaftes Zusammenleben.
Nach meinem Verständnis ist <Treu und
Glaube> jedoch keine Norm. Denn es wird nicht weiter definiert oder erörtert,
sondern als selbsterklärend stehen gelassen. Obwohl oder weil es damit sehr
schwammig bleibt, ist es in juristischen Prozessen eines der schlagkräftigsten
Argumente. - Ich denke wir können an diesem beispielhaften Bezug zur Praxis,
unsere Erwartungshaltung beim Problem <Gemein- und Individualwohl> messen.
Lieber Abrazo, der Bezug zur Praxis ist Teil der wahrnehmbaren Welt, oder?
In Treu und Glaube --- Euer Alltag :-)
/1/ In der CH Verfassung
heisst es in:
Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns
1 Grundlage und
Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2 Staatliches Handeln muss im
öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig
sein.
3 Staatliche
Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4 Bund und Kantone beachten
das Völkerrecht.
Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und
Glauben
Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne
Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 06. Nov. 2005, 19:08 Uhr
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Hallo Abrazo!
Tut mir leid, manche Deiner Ansichten sind in meinen Augen
so verquer, dass ich an ein paar grundsätzlichen Erläuterungen nicht vorbei
komme.
Quote:Das Ende der Begründungen ist also das, was sich zeigt.
Das ist richtig. Aber erstens muss es, damit etwas „sich zeigt“, jemanden
geben, dem es sich zeigt. Und zweitens muss das, was „sich zeigt“, keineswegs
eine „Tatsache in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“ sein. Es kann auch – wie
Eberhard schon sagte - ein abstrakter Sachverhalt sein.
Darum stelle ich
richtig: Das Ende der Begründung ist die unmittelbare Einsicht, dass sich etwas
so und so verhält.
Wer braucht „Begründungen“ dafür, dass etwas sich
so und nicht anders verhält? Jemand, der einen behaupteten Sachverhalt nicht
einsieht. Wie hilft man ihm, den Sachverhalt einzusehen? Indem man ihn von einer
Einsicht, die er hat, schrittweise zu dem fraglichen Sachverhalt hinführt.
Beispiel: Jemand findet „evident“, dass 1 + 1 = 2, aber nicht, dass 2 + 2 =
4. Wie kann man ihm zeigen, dass auch dieser zweite Satz „evident“ ist? Nun, man
sagt z.B.: 1 + 1 = 2; 2 + 1 = 3; 3 + 1 = 4. Hier wird ihm also zuerst gezeigt,
wie man durch wiederholte Addition von 1 bis zur 4 kommt. Und nun kann er den
Schluss nachvollziehen: „Wenn 1 + 1 = 2 und 2 + 1 + 1 = 4, dann gilt auch 2 + 2
= 4.“
So hat man also den nicht evidenten Sachverhalt 2 + 2 = 4 schrittweise
auf den evidenten Sachverhalt 1 + 1 = 2 „zurückgeführt“. Nun „zeigt sich“, dass
2 + 2 = 4.
Halten wir fest:
1. „Evident“ ist ein Sachverhalt
nicht „an sich“, sondern immer für jemanden. „Evidenz“ ist also ein Wort für
eine Relation zwischen einem Sachverhalt und einem „Subjekt“.
2. Eine
Begründung braucht zwar nur derjenige, der etwas nicht unmittelbar einsieht.
Aber die Begründung, die man ihm gibt, ist nicht nur für ihn persönlich gültig.
Sondern diese Schrittfolge kann jeder nachvollziehen. Darum findet eine
Begründung nur dann statt, wenn die „Evidenz“, in der sie endet, eine Evidenz
für jedermann ist.
3. „Tatsachen in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“
haben einen kleinen Haken. Denn sinnliche Wahrnehmungen sind immer individuelle
Wahrnehmungen, werden also von diesem oder jenem Individuum gemacht, folglich
immer mit gewissen Varianzen. Außerdem sind sie flüchtig. Dass ein Blitz da und
da eingeschlagen hat, kann ich allein dadurch verpassen, dass ich für eine
Sekunde die Augen geschlossen halte. – Was heißt das für das Begründungsproblem?
Dass sinnliche Wahrnehmungen nur dann in für jedermann gültige Begründungen
eingehen können, wenn sie von jedermann höchstpersönlich nachvollzogen werden
könnten. Diese Nachvollziehbarkeit muss unbedingt sichergestellt sein, weil man
sonst gar nicht wissen kann, ob etwas eine „Tatsache in der sinnlich
wahrnehmbaren Welt“ ist.
Die Vorkehrungen, die getroffen werden müssen,
um die Nachvollziehbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung zu sichern, gehören
offensichtlich nicht zu den wahrgenommenen Sachverhalten selbst. Diese
Vorkehrungen müssen die erkennenden Subjekte leisten und - untereinander
verabreden. Erst wenn sie erfolgreich getroffen sind und wenn alle, die es
angeht, sich über den Sachverhalt verständigt haben, dann kann man sagen: „So
isses einfach.“ – „Das ist eine Tatsache“. – „Das und das zeigt sich.“ Also:
Wenn eine Tatsache „sich zeigt“, dann bedeutet das: sie zeigt sich unter
gleichen Bedingungen jedermann immer gleich.
Wenn dies eine
zutreffende Erläuterung von „Begründung“ im Allgemeinen ist, dann muss sie auch
für die Begründung von Normen gelten.
Nun sagst Du:
Quote:Entsprechend sage ich: das Ende der Begründungen unserer Normen ist das,
was sich zeigt, und das nenne ich die Ethik.
Wenn Du meine
Erläuterung von „Begründung“ akzeptierst, müsstest Du auch akzeptieren: Eine
Norm kann dann als begründet gelten, wenn ihre Begründung von jedem eingesehen
werden kann.
Eine Norm gilt ja, wie gesagt, nicht nur für eine einzelne
Person, sondern für bestimmte Personen in einer typischen Situation. (Z.B. eine
bestimmte Verkehrsregel für das Linksabbiegen: Sie gilt für jeden
Verkehrsteilnehmer, der irgendwo links abbiegen will.) Und folglich muss die
Begründung mindestens so allgemein sein, dass jeder, der von der Norm betroffen
ist, sie nachvollziehen könnte.
Und jene theoretischen Vorkehrungen, die
man zu einer solchen allgemeinen Begründung von Normen treffen müsste, würden
dann zusammengenommen den Bereich der Philosophie ausmachen, den man gemeinhin
„Ethik“ nennt.
Sicher: Normen müssen nicht notwendigerweise
philosophisch begründet sein. Sie können ganz unbegründet sein und trotzdem
befolgt werden. (Begründungen brauchen ja, wie oben gesagt, immer nur die
Uneinsichtigen.) Normen können auch durch göttliche Gebote begründet sein –
zumindest für diejenigen, denen ein „Gott will es so.“ genügt. Sie können auch
willkürliche Diktate von Tyrannen sein, die mit Gewalt durchgesetzt werden. Und
sicher sind Kerker, Folter, Tod sehr nachvollziehbare „Argumente“ für den
Gehorsam. Aber es sind nicht die Art von Argumenten, mit denen die Philosophie
Normen begründet.
Übrigens „zeigt sich“ ja gerade in diktatorischen
Regimes immer wieder, dass viele Menschen sich auch von der Drohung mit Kerker,
Folter, Tod nicht zum Gehorsam pressen lassen. Zwar sagt das Regime: „Das ist
hier geltendes Gesetz – Vogel friss oder stirb!“, aber die Uneinsichtigen lassen
sich von diesem „So ist es einfach!“ offenbar nicht beeindrucken. Ihnen beweist
das nix.
Und das macht uns einmal mehr darauf aufmerksam, dass schiere
Fakten niemals etwas begründen, sondern immer nur die Einsicht. Und Einsicht
lässt sich nicht erzwingen, sie ist immer „spontan“.
Das ist das Schöne
an der „vernünftigen Einsicht“. Allerdings ist es immer wieder auch eine Quelle
der Frustration, wenn man diskutiert. Man kann sich „den Mund fusselig“ reden –
der andere will es einfach nicht einsehen. Dagegen ist man machtlos...
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 06.
Nov. 2005, 19:56 Uhr
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Bezug: #5
Hi,
Eberhard, deine Analogie hinkt insofern, als dass du
noch Geld im Portmonee hast. So, wie wir in einer organisierten Gesellschaft
leben. Das, was ich in meinem Kontext meinte, war, welche Überlegungen würdest
du denn anstellen, wenn du kein Geld im Portmonee hättest. Dann merkt man, wie
unsinnig solche Überlegungen sind - denn du bist nun mal nicht in der Situation,
und alle Überlegungen, wie du denn jetzt, wo du nicht in dieser Situation
wärest, entscheiden würdest, wenn du in dieser Situation wärest, sind nun
wirklich fiktiv, da du dir die Situation, über die du nachdenkst, vielleicht
noch nicht einmal realistisch vorstellen kannst.
Die Tatsachen zu
erforschen ist zweifellos Aufgabe der empirischen Wissenschaften. Aber kann eine
Philosophie eine brauchbare und überzeugende Theorie entwickeln, ohne die
Ergebnisse der Empirie zur Kenntnis zu nehmen, sie teils kritisch zu
durchleuchten, teils, wenn sie der Kritik stand halten, aufzunehmen, auf
gemeinsame Prinzipien zurück zu führen bzw. Prinzipien aus ihnen zu entwickeln?
Und ist es nicht auch Aufgabe der Philosophie zu prüfen, ob Theorien insofern
wahr sind, als dass sie Tatsachen nicht widersprechen?
Wir leben in einer
komplizierten organisierten Gesellschaft. Und wir könnten gar nicht leben, weil
wir mit nichts zu Potte kämen, wenn wir jede einzelne Handlung daraufhin
überdenken würden, was wir denn nun wirklich wollen; mal abgesehen davon, dass
das Subjekt, das Individuum sich dabei durchaus irren kann, entweder, indem es
die Situation verkennt, oder indem es kurzsichtig seinen persönlichen oder
natürlichen Impulsen folgt. Da stimme ich dir also zu. Ich lehne also ganz und
gar nicht ab, dass wir Normen im Diskurs und im Konsens entwickeln müssen, im
Gegenteil. Ich will aber, dass ein solcher Diskurs auf wahren, evident wahren
Grundaussagen aufbaut. Sonst wäre er nämlich sinnlos, weil zum einen eine
mögliche Norm tatsachenfremd, irreal wäre, zum anderen dürfte dann wohl kaum ein
Konsens erzielt werden können; es könnte immer nur ein Konsens derjenigen sein,
die sich die Welt und die Menschen so wünschen, während der, der unter anderen
Verhältnissen lebt, ihn als unmöglich und unsinnig ablehnt.
Darum weise
ich als Basis eines solchen Diskurses auf zwei imho (= in my humble opinion ;-))
evidente Aussagen hin.
1. Unwahr ist, dass der Mensch von Natur aus frei
ist. Er ist den Zwängen unterworfen, die die Biologie zwecks Erhalt seines
Lebens vorgibt. Der Mensch ist nur potentiell frei, weil er ein
reflexionsfähiges Wesen ist. Wer den freien Menschen will, und das heißt, den
Menschen, der zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann, muss dafür
sorgen, dass er seine Grundbedürfnisse so befriedigen kann, dass er überhaupt
die Muße hat, Entscheidungen kritisch zu überdenken. Wenn das für unsere
Verhältnisse nicht zutrifft, so gibt es doch Verhältnisse, in denen die
potentielle Freiheit des Menschen keineswegs verwirklicht ist. Wobei mit
derartig unfreien Menschen kein freier Konsens zu erzielen ist - will sagen, die
werden den Teufel tun, sich an entsprechende Vereinbarungen zu halten. Weil sie
das aufgrund biologischer Zwänge gar nicht können.
2. Es gibt eine humane
Ethik, die dazu führt, dass bestimmtes individuelles Verhalten von Menschen
allgemein rigoros abgelehnt wird. Hier können wir sogar mit den Religiösen in
einen Konsens kommen, denn auch wenn Menschen glauben, dass dieses Verhalten
aufgrund göttlichen Gebotes abgelehnt wird, so müssen sie doch zugeben, dass
Menschen diese Gebote erst einmal für wahr halten müssen, bevor eine Religion
entstehen kann - und das liegt nun mal am Menschen. Überhaupt möchte ich hier
bei den Religionen wildern: eine Handlung, durch die ein Individuum sich wegen
der rigorosen Ablehnung von der menschlichen Gemeinschaft trennt, können wir
Sünde nennen.
Mir scheint, was Menschen rigoros ablehnen, ist das Zufügen
von Leid, das grundlose Vernichten und Vertrauensbruch (Liste erhebt keinen
Anspruch auf Vollständigkeit). Wir akzeptieren z.B. nicht, wenn ein Tier
stückweise bei lebendigem Leib gefressen wird, wir akzeptieren nicht, wenn aus
Spaß am Feuerchen ein Wald in Brand gesetzt wird und wir akzeptieren es nicht,
wenn gelogen, betrogen, bestohlen oder gar hinterrücks gemordet wird (merke den
Unterschied zwischen Mord und Totschlag, der meines Wissens auch in allen
Kulturen bekannt ist). Dass das Opfer das nicht akzeptiert, ist klar; aber
maßgebend sind die unbeteiligten Zeugen des Geschehens, und die akzeptieren das
auch nicht. Daraus folgt, im Diskurs zu entwickelnde Normen dürfen diesen sich
aus ethischen Entscheidungen bzw. Urteilen ergebenden ethischen Prinzipien nicht
widersprechen, widrigenfalls - werden sie nicht akzeptiert.
Und eine
staatliche Ordnung, besonders das staatliche Gewaltmonopol, wird nur dann
akzeptiert, wenn es diese Normen übernimmt. Eine Exekutive, die Betrug,
Diebstahl und Mord je nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nur verfolgt,
wenn Betroffene Opfer, nicht aber, wenn sie Täter sind, wird von anderen
sozialen Gruppen nicht als rechtmäßige Exekutive anerkannt.
Es ist
offensichtlich, dass der Hinweis auf diese beiden Grundaussagen einen Diskurs
über moralische Normen nun wirklich nicht überflüssig macht.
:-)
Du
schreibst:
Deshalb ergibt sich für mich aus der Orientierung aller an einem
zwangfreien Konsens die Schlussfolgerung, dass nur solche Normen konsensfähig
sind, bei denen die Interessen aller Beteiligten unparteiisch berücksichtigt
werden.
Ich halte dagegen, konsensfähig sind nur solche Normen, die die
anscheinend zum menschlichen Wesen gehörende Ethik berücksichtigen. Ich könnte
mir vorstellen, dass die unparteiische Berücksichtigung der Interessen aller
Beteiligten sich aus der Ethik ergeben könnte, denn die Ethik ist zwar keine
Angelegenheit des sündhaft handelnden Individuums, sondern der dieses Handeln
(bzw. dessen Ergebnis) beobachtenden Gemeinschaft, deren Urteil über diese
Handlung aber offensichtlich dem Schutz jedes potentiell als Opfer betroffenen
Individuums dient.
Daraus folgt aber auch, dass Versuche, das Gemeinwohl
rücksichtslos über das individuelle Wohl zu stellen, dauerhaft zum Scheitern
verurteilt sind, weil sie der humanen Ethik widersprechen, die genau dieses
Individuum schützt (sofern es nicht selbst sündhaft handelt).
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 07.
Nov. 2005, 00:59 Uhr
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Hi, Urs,
offenbar meinen wir auch mit dem Wort Evidenz unterschiedliches.
Dass 1+1=2 ist, ist für mich ebenso wenig evident, wie dass 2+2=4 ist. Es
sind Zeichen, die folglich für etwas stehen, und dass 2+2=4 ist erfasse ich
nicht aufgrund der Evidenz, sondern weil ich eine Regel verstanden habe.
Was evident ist, ist, dass zwei Eier anders aussehen als ein Ei. Es ist auch
evident, dass 1 anders aussieht als 2, aber wenn ich das feststelle, habe ich
damit überhaupt nichts zu dem gesagt, was 1 und 2 bedeuten. Ich muss es noch
nicht einmal wissen. Aber dass sie anders aussehen, ist nicht bezweifelbar.
Eine Argumentation kann mir einleuchten. Wenn ich die Reihe 0;1;3;6;10 habe,
dann leuchtet mir ein, dass die 15 als nächste Zahl richtig ist, weil ich die
Regel verstanden haben, nach der diese Reihe gebildet ist. Aber wir wissen, dass
so etwas keineswegs zweifelsfrei ist. Wir können uns nämlich auch in der Regel
irren - und dann leuchtet uns eben eine andere Zahl als Fortsetzung ein. Die
dann natürlich falsch ist.
Als evident bezeichne ich etwas nur dann, wenn
es zweifelsfrei ist.
Was ich wahrnehme, ist zweifelsfrei (nicht
zweifelsfrei sind allerdings die damit verbundenen Zusammenhänge; die sind
erdacht, also Irrtum möglich). Allerdings ist es subjektiv evident. Von einer
objektiven Evidenz kann ich nur ausgehen, wenn etwas intersubjektiv evident ist.
Es gibt intersubjektive Evidenzen, sonst könnten wir nicht sprechen.
Mit dem Satz 'Wasser hat die Formel H2O' könnte ich nichts anfangen, wenn ich
nicht wüsste, was mit Wasser gemeint ist. Was eine Formel ist, kann man
erklären, was H und O sind, kann man erklären - aber irgendwo sind die
Erklärungen zuende, dann ist eine weitere Erklärung nicht mehr möglich, dann
muss man zeigen, was man meint.
Mit der Ethik läuft das genau so. Du
kannst Normen vernünftig herleiten und begründen, die gut sind. Aber du kannst
nicht vernünftig begründen, was gut ist. Du kannst Gegenstände oder Taten
nennen, die gut sind, du kannst begründen, warum sie deiner Ansicht nach gut
sind, aber du kannst nicht sagen, was gut ist. Die böse Wespe hat dich
gestochen, der gute Weihnachtsmann bringt Geschenke - so lernt man gut und böse,
wobei man aus dem Kontext weiß, nicht die äußere Beschreibung, sondern die
eigene urteilende Empfindung ist gemeint. Und alles andere kommt erst danach.
Auch die Kritik am erlernten - z.B. dass die Wespe gar nicht böse ist. Dafür
vielleicht die eine oder andere Sache, die einem als gut begebracht wurde.
So weit erst mal.
Nur noch ne kleine Anmerkung: ich kann durchaus
einsehen, dass und wie eine Norm begründet ist. Damit muss ich sie aber noch
lange nicht akzeptieren. Auch bösartige Normen können vernünftige Begründungen
haben, die auch manchem einleuchten.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 07. Nov. 2005, 10:33 Uhr
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Hallo Eberhard!
Du machst die Beantwortung der Frage, ob Gemeinschaft
nur durch Rückgang auf die Interessen der Individuen zu legitimieren sei, davon
abhängig, wie man das Interesse des Individuums definiert. Werde mit
„individuelles Interesse“ nur das eigene Wohlergehen des Individuums gemeint,
dann müsse man die Frage verneinen. Aber so strikt eigennützig seien Individuen
in Wirklichkeit gar nicht:
Quote:Der Fehler der obigen Konstruktion
liegt darin, dass die Interessen der Individuen in Wirklichkeit nicht nur im
engeren Sinne eigennützig sind, sondern dass sie weit über ihr eigenes
individuelles Leben hinausgehen. Menschen haben Interesse daran, dass über ihr
individuelles Dasein hinaus die von ihnen geschätzte Gesellschaft samt ihrer
Kultur fortbesteht.
Deshalb wünschen sich die Individuen Nachkommen, fördern
sie die nachwachsenden Generationen, machen Vermächtnisse und Stiftungen über
ihren Tod hinaus oder opfern sich für die Gemeinschaft auf.
Menschen sind
nicht so borniert individualistisch und egozentrisch. Einen Hinweis darauf gibt
bereits die Biologie des Menschen.
Liegt darin aber nicht eine
Rückkehr zum aristotelischen Verständnis des Menschen als „zoon politikon“ und
zu einer teleologischen Naturauffassung? Der Mensch ist faktisch ein
Gemeinschaftswesen, und deshalb streben die menschlichen Individuen von Natur
aus die Gemeinschaft als das größere Gut an. Das Ziel („telos“) der
Gemeinschaftsbildung ist ihnen von der Natur einbeschrieben (modern gesprochen:
ist ihr genetisches Programm). Sie streben also eigentlich immer das Gute an,
nur können sie sich fallweise über ihr wahres Interesse irren, und dieser Irrtum
ist die Quelle des Bösen, der Sünde, des Streits...
Ich habe ja auch
verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Menschen Gemeinschaftswesen sind, und
genau mit diesem Argument die Hobbes’schen anthropologischen Voraussetzungen
über den Menschen im Naturzustand kritisiert. Und ich denke auch, das
„aufgeklärte Eigeninteresse“ der Individuen schließt die Einsicht mit ein, dass
es auf die Gemeinschaft zum schieren Überleben und zu seiner persönlichen
Selbstverwirklichung angewiesen ist.
Mir scheint aber, dass man an
diesem Punkt vorsichtig sein muss, wenn man die neuzeitliche (liberale)
Würdigung des Individuums nicht wieder verspielen will. Es ist klar: Irgendwie
muss jede Legitimation von Gemeinschaft und Gemeinwohl (und damit implizit auch
von allgemein gültigen Normen) zeigen, wie individuelle Interessen mit den
Forderungen der Gemeinschaft vermittelt sind. Dem Individuum muss gezeigt werden
können, dass die Gemeinschaft nicht „das Andere“, das Fremde, der Zwang, die
Unfreiheit ist.
Aber m.E. kommt es hier darauf an, diese Vermittlung
nicht sozusagen hinter dem Rücken der Individuen stattfinden zu lassen. Und
genau das wäre der Fall, wenn man sie in die Natur verlegt. Dann genügte als
Legitimation von Gemeinschaftsforderungen an das Individuum, dass ein Experte
ihm sagte: „Mein Guter, was regst du dich auf? Komm schon, eigentlich willst du
es doch auch. Es liegt in deinen Genen.“
Das kann es ja wohl nicht sein.
Vielmehr besteht das, was wir gesellschaftliche „Freiheit“ nennen, doch darin,
dass die Vermittlung von individuellen Interessen und Gemeinschaftsforderungen
im Gemeinschaftsleben selbst vollzogen wird. D.h. dass die Individuen mit ihren
unterschiedlichen und abweichenden Meinungen daran kompetent beteiligt sein
müssen, was bedeutet, dass man ihnen zutraut zu wissen, was für sie persönlich
das Gute ist. Und es bedeutet auch, dass diese dauernde Vermittlung in gewisser
Weise ergebnisoffen sein muss, so dass die Anpassung nicht immer nur vom
Individuum gefordert wird, sondern umgekehrt die Form der Gemeinschaft auch vom
Willen der Individuen abhängt, die sie bilden. Und das hätte zur Folge, dass es
viele verschiedene Formen von Gemeinschaft gäbe, je nachdem, welche Individuen
sich wie zusammenschlössen und wie sie sich gemeinsam weiterentwickelten.
Aus diesen Überlegungen heraus halte ich gerade den Pluralismus der
Gemeinschaftsformen für einen (vermittelten) Ausdruck – und für einen Garanten -
von individueller Freiheit.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 07.
Nov. 2005, 12:22 Uhr
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Hallo allerseits,
Hallo Urs,
es wäre ein Missverständnis, wenn meine
Ausführungen zu den nicht nur egozentrischen Interessen der Individuen als eine
Bestimmung der individuellen Interessen hinter dem Rücken dieser Individuen oder
über deren Köpfe hinweg verstanden würde.
Die Bestimmung der Interessen
bestimmter Individuen bleibt immer an das Kriterium der allgemeinen
Konsensfähigkeit gebunden, und damit an die Zustimmung der betreffenden
Individuen. Wer meine Interessen zu formulieren beansprucht, ohne dass ich diese
Formulierung einsehen und teilen kann, der verkündet ein Dogma und verlässt
damit die Ebene von Argumentation und rationaler Wahrheitsfindung.
Hallo
abrazo,
die intuitionistische Ethik-Konzeption, die Du vertrittst, ist mit
einer diskurstheoretischen Konzeption vereinbar. Wenn es einen gemeinsamen Satz
von intuitiven ethischen Prinzipien gibt, der in der Motivation aller Menschen
verankert ist, dann kommt das einer am zwangfreien Konsens orientierten
diskurstheoretischen Konzeption entgegen, denn es ist in diesem Fall einfacher,
zu einem einsichtig begründeten Konsens über die Normen des Umgangs miteinander
kommen. Das, was alle am ehesten gemeinsam wollen können, wäre dann leichter zu
ermitteln.
Wenn es diesen allgemeinmenschlichen ethischen Willen gibt,
dann müsste er beim Diskurs über Normen des Handelns zum Vorschein kommen, so
dass ein praktischer Konflikt zwischen beiden Ansätzen eigentlich ausgeschlossen
scheint.
Noch eine Anmerkung zu der Frage, welchen Stellenwert das
Individuum in der Verfassung der Bundesrepublik besitzt. Es gibt zwar im
Grundgesetz nicht die Formulierung wie in der Erklärung der Menschenrechte, dass
jeder das Recht hat, sein eigenes Glück zu verfolgen, aber es gibt im
Grundgesetz stattdessen den § 2, der mit dem Satz beginnt: „Jeder hat das Recht
auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, der den Interessen der
Individuen ebenfalls einen hohen Rang einräumt.
In der von alltag
dankenswerter Weise eingebrachten Schweizer Verfassung heißt es: „Staatliches
Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen.“ Mir scheint, dass die
Eidgenossen den Begriff des „öffentlichen Interesses“ viel selbstverständlicher
gebrauchen als die Bundesdeutschen. Im angelsächsischen Raum ist der Begriff des
„public interest“ ebenfalls ganz selbstverständlich.
Zum besseren
gegenseitigen Verständnis will ich abschließend noch einmal kurz skizzieren,
welche Funktion der Begriff des Gemeinwohls für mich hat.
Der Begriff
„Gemeinwohl“ (bzw. „Gesamtinteresse“) dient der Anleitung von Entscheidungen und
Handlungen im Namen der Gemeinschaft sowie der Orientierung bei der Gestaltung
der Verfahren der Normsetzung.
1. Entscheidungen im Namen der
Gemeinschaft (z.B. des Regierungschefs eines Staates), sollten sich am
Gemeinwohl orientieren.
2. Die Institutionen zur Setzung verbindlicher
Normen (z.B. Wahl- und Abstimmungsverfahren, Gerichte, Wirtschaftsordnung)
sollten so gestaltet werden, dass deren Resultate dem Gemeinwohl möglichst
entsprechen.
Der Begriff hat also seinen Platz innerhalb einer normativen
politischen Philosophie.
Da er dort eine zentrale Stellung einnimmt, hat
die Art und Weise seiner inhaltlichen Bestimmung erhebliche Konsequenzen.
Dieser begriffliche Bezugsrahmen enthält noch keinerlei Voraussetzungen über
die Struktur der Gemeinschaft, die Art der Beziehungen zwischen den Individuen
und Gruppen sowie die Art der Sozialisierung des Individuums. Er ist z.B. auch
auf nicht-kapitalistische Gesellschaften oder Landkommunen anwendbar.
Wenn man davon ausgeht, dass die Gemeinschaft dem Wohl der Individuen zu dienen
hat, dann lässt sich das Gemeinwohl nur auf der Grundlage des Wohls der
Individuen bestimmen.
Dies ist vielleicht eine individualistische jedoch
noch keine liberale Konzeption.
Dazu gelangt man erst, wenn man weiterhin
festlegt, dass die Individuen ihre Interessen selbst formulieren (Mündigkeit),
und wenn man Bereiche bestimmt, die den einzelnen Individuen zugeordnet sind und
über die sie allein verfügen dürfen (Eigentumsordnung mit Vertragsfreiheit, also
Marktwirtschaft).
Wenn man die gemeinsame Gestaltung der Rechtsordnung
der gleichgewichtigen Entscheidung der als mündig angesehenen erwachsenen
Individuen überlässt, kommt man zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen. Dies
Verfahren ist nicht dem politischen Liberalismus entsprungen ist, der historisch
immer Gegner des allgemeinen gleichen Wahlrechts war.
Es grüßt Euch
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 07.
Nov. 2005, 20:50 Uhr
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Hallo allerseits,
zum Verhältnis von Gemeinwohl und Wohl der Individuen.
Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl nicht
universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten Staat
beschränkt
Auch wenn abrazo mit Gedankenexperimenten (was wäre wenn)
seine Probleme hat, will ich mal modellhaft etwas durchspielen.
Nehmen
wir an, die Menschheit ist in verschiedenen souveränen Staaten organisiert, die
alle das Bestreben haben, sich auszudehnen und deshalb immer wieder Krieg
gegeneinander führen. Der jeweilige Sieger vernichtet oder versklavt die
Bevölkerung des besiegten Staates.
Dann hängt Wohl und Wehe der
Individuen eines bestimmten Staates entscheidend von dessen militärischer Stärke
ab.
Wahrscheinlich würde unter diesen Bedingungen Nationalismus,
Patriotismus, Heldentod fürs Vaterland vorherrschende Einstellungen sein und man
würde nicht auf das Wohl der Individuen schauen, wenn man das Gemeinwohl
bestimmen wollte, sondern auf die Bewaffnung und Stärke des Militärs.
Ich
frage mich, ob das Verhältnis von Gemeinwohl und Individualwohl tatsächlich in
der Weise von außenpolitischen Bedingungen abhängt, wie es hier scheint?
Grüße an alle von Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
08. Nov. 2005, 10:24 Uhr
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Hallo,
"Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat, wenn das Gemeinwohl
nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B. auf einen bestimmten
Staat beschränkt." Eberhard
Das Verhältnis europäischen Gemeinwohl sowie
Individualwohl war, seitdem westeuropäische Staaten aussenpolitisch
chauvinistisch-militärisch auftraten, nationalistisch gestimmt. Angenommen, in
der sogenannten Globalisierungs-Zeit erscheinen Völkern europäische Staaten
aussenpolitisch nicht mehr einseitig-militärisch, innenpolitisch nicht mehr
vaterländisch, sondern, im Gegenteil, völkerverbindend. Das besagte Verhältnis
besteht auch dann weiterhin, ist auch weiterhin aussenpolitisch bedingt, nun
jedoch nicht mehr mit nationalstaatlicher Kriegsorganisation ... , sondern u.a.
von global-völkerbindenen Inhalten bestimmt. Nicht mehr soldatisches Heldentum,
nationale Kriegswirtschaft ... vielmehr Verständnis und Solidarität mit den
Völkern, die den Wohlstand der Industriestaatlichkeit mangeln, könnte die
Zielrichtung abgeben, von dem das Verhältnis europäischen Gemeinwohl und
Individualwohl bestimmt wird.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 08. Nov. 2005, 13:59 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Ich frage mich, welche Konsequenzen es hat,
wenn das Gemeinwohl nicht universal verstanden wird, sondern partikular, z.B.
auf einen bestimmten Staat beschränkt
Der Begriff des
Gemeinwohls kann sich m.E. auf jede Form von Gemeinschaft beziehen, in die
Menschen faktisch eingebunden sind. Das schließt eine globale Anwendung des
Begriffs ein, aber es schließt seine universalistische Begründung aus.
Das Problem der universalistischen Normenbegründung liegt darin, dass sie von
den konkreten Individuen methodisch abstrahiert. Das wird an Rawls’ „Schleier
des Nichtwissens“ besonders anschaulich. Die Individuen müssen so tun, als ob
sie nicht wüssten, wer sie im Unterschied zu den anderen sind. Diese
Unterschiede dürfen keine Rolle spielen.
Auch die diskurstheoretische
Begründung von Normen, die Du favorisierst, hat dieses Problem. Zugelassen sind
ja nur Argumente, die jeder vertreten könnte, die, wie Du sagst, „allgemein
konsensfähig“ wären. Der faktische Konsens zwischen faktischen Betroffenen
spielt keine Rolle. „Konsensfähigkeit“ ist eine normative Idee, die jeder
Beteiligte beim Argumentieren anstreben soll, ohne jemals überprüfen zu können,
ob seine faktischen Äußerungen, gerichtet an faktische Gesprächspartner,
wirklich allgemein konsensfähig sind.
Bei der Begründung von
intersubjektiv geltenden Tatsachenaussagen stellt sich das Problem der
Individualität bei den Erfahrungen. Aber hier kommen ganz entscheidend die
technischen Fähigkeiten ins Spiel, Erfahrungen so zu manipulieren, dass sie
unter gleichen Bedingungen faktisch immer gleich sind. Eine technische
Erzwingung von Gleichheit unter menschlichen Individuen ist aber, wo es um eine
zwanglose Verständigung gehen soll, weder sinnvoll noch wünschenswert.
Das Mittel, mit dem Individuen gleiches Handeln unter gleichen Bedingungen
ermöglichen, sind Normen. Normen können unter Zwang befolgt werden, aber auch
mehr oder weniger freiwillig. Freiwillig normenkonform ist Handeln, wenn der
Handelnde die Norm für sich akzeptiert – aus welchen Gründen auch immer.
Nun sollen, nach dem Credo der Philosophen, die eine universalistische
Normenbegrünung vertreten, Normen nur dann eine „moralische“ Qualität aufweisen,
wenn sie mit solchen Gründen gestützt werden können, die ausnahmslos jeder
einsehen müsste. Nun ist aber Einsicht nicht erzwingbar. Und somit tritt an
dieser Stelle mit systematischer Zwangsläufigkeit das Problem auf, dass jemand
„logisch zwingend“ argumentiert, aber die Einsicht des anderen ausbleibt.
Bei Dir, Eberhard, wird in einer ziemlich krassen Weise deutlich, dass Du
aus der logischen Zwangsläufigkeit von Argumenten auch die Berechtigung ableiten
willst, andere zum konformen Handeln zu zwingen (siehe die Fußnote). Wenn der
andere die Begründung der Norm nicht freiwillig einsieht, obwohl das Argument
formal korrekt (und somit „wahr“) ist, so ist der Einsatz von Gewalt legitim und
geboten.
Hier schlägt die Liberalität, der doch die Freiheit und das
Wohl der Individuen so am Herzen liegt, in Zwangsherrschaft über die
uneinsichtigen Individuen um. Mir ist klar, dass das Rechtssystem so verfährt,
und ich sehe auch ein, dass es vernünftig ist, so zu verfahren. Große
Zusammenschlüsse von Individuen, mit reicher Binnendifferenzierung, kommen ohne
ein zwangsbewehrtes Recht nicht aus.
Aber ich bestreite energisch, dass das
für das Recht charakteristische Verfahren geeignet sei, Moralität schlechthin zu
begründen.
Moralisches Handeln – d.h. gemeinschaftsorientiertes Handeln
– kommt zustande durch Bildungsprozesse, in denen die Individuen lernen, ihr
Handeln und ihre Ansprüche mit dem Handeln und den Ansprüchen der andern
abzustimmen. Auch in diesen Lernprozessen spielt Zwang immer wieder eine Rolle,
und jeder kennt die Widerstände derjenigen, die lernen sollen, sich zu
disziplinieren. Aber immer wieder dreht es sich in diesen Lernprozessen darum,
dem Lernenden zur freiwilligen Einsicht zu verhelfen – mit Druck, mit Lockungen
und Belohnungen, mit List (Hegel sprach von der „List der Vernunft“), und immer:
mit möglichst viel „Spielraum“, mit persönlicher Anteilnahme und Anerkennung der
Persönlichkeit des Lernenden.
Mit dem Verständnis dieser Prozesse fängt
für mich Moralphilosophie eigentlich erst an - also dort, wo sie für Dich schon
aufgehört hat. [1]
Freie Einsicht kommt nur zustande in faktischen
Beziehungen zwischen Individuen, und zwar solchen Beziehungen, die den
Individuen möglichst viel faktischen Spielraum lassen, sich zu entfalten.
Spielraum wofür? Für ihre Eigenheiten. Denn es ist doch plausibel, dass sich
Individuen auch im normenkonformen Handeln dann frei fühlen, wenn sie dabei „sie
selbst“ bleiben, wenn sie ihre Eigenheiten „einbringen“ und diese auch anerkannt
werden.
Ein Begriff von Gleichheit, der sich auf die Abstraktion vom
Individuellen gründet, ist dieser Realität nicht angemessen.
(Ich wollte ursprünglich auf das Gemeinwohl zurück kommen, aber der Beitrag ist
so schon sehr lang. Ein andermal.)
Es grüßt Dich
Urs
[1] So schreibst Du im Thread „Darf man sich zugrunde richten?“ im Beitrag Nr.
93:
Quote:Für die Moralphilosophie stellt der nicht Konsenswillige
kein theoretisches Problem dar, weil er seine Normen ohne den Anspruch auf
nachvollziehbare Begründbarkeit vertritt, womit sie wissenschaftlich irrelevant
sind. (Was jedoch nicht ausschließt, dass der nicht Konsenswillige weiterhin ein
großes praktisches Problem darstellt.)
Die Aufgabe der Moralphilosophie
ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine
Bekämpfung kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.
Die „Bekämpfung“ des nicht Konsenswilligen... Das sind Worte, die in einem
Zusammenhang mit Moral m.E. nichts zu suchen haben. Hier wird ganz deutlich,
dass Dein Verständnis von Moral sich ausschließlich am zwangsbewehrten Recht
orientiert.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 08. Nov. 2005, 15:13 Uhr
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Hallo Metin!
Ich glaube, Du hast ziemlich genau verstanden, was ich
meinte. Du sagst in Deinen Worten etwas Ähnliches.
Was in unseren
europäischen Staaten die Freiheit ganz wesentlich ausmacht, ist der Pluralismus.
Und damit meine ich nicht nur einen Pluralismus der Meinungen (jeder darf
öffentlich sagen, was er für richtig hält), sondern auch den Pluralismus der
verschiedenen Lebensformen.
In einem Rechtsstaat sind alle Individuen
vor dem Gesetz gleich. Naja, zumindest sollte es so sein, in Wirklichkeit stimmt
das nicht immer.
Z.B. wäre wahrscheinlich jeder normale Bürger in Beugehaft
genommen worden, der sich wie Helmut Kohl geweigert hätte, eine Zeugenaussage
über kriminelle Handlungen ihm bekannter Personen zu machen. Aber Helmut Kohl
ist eben Helmut Kohl, klarer Fall.
Auch die Vorgänge um den ehemaligen
Münchener Staatsanwalt, der die Steuerhinterziehung von Max Strauß (Sohn von
Franz-Josef Strauß) konsequent verfolgte, zeigen, dass nicht immer gleiches
Recht für alle gilt. Denn dieser aufrechte Staatsanwalt erfuhr Druck von
politischer Seite, Mobbing von seinen Kollegen und wurde schließlich
strafversetzt. Er hat inzwischen eine Initiative von Juristen gegründet, die
sich für mehr Unabhängigkeit der Staatsanwälte von politischen Instanzen
einsetzt.
Nun gut, in einem Rechtsstaat sind – im Prinzip – alle
Individuen vor dem Gesetz gleich. Aber deswegen bleiben sie trotzdem Individuen
mit ihren Eigenheiten und Ansprüchen. Und nur, wenn sie diese Eigenheiten auch
ausleben dürfen, können sie sich frei fühlen. Ja, ein Rechtsstaat muss auch die
vielfältigen Lebensformen seiner Bürger als ein schützenswertes Gut anerkennen.
Außerdem denke ich, dass es gerade das pluralistische „Konzert“ der
gesellschaftlichen Lebensformen ist, aus dem freiheitlich und zugleich
verantwortlich denkende Staatsbürger hervorgehen. Ein Staat lebt eben nicht vom
Recht allein. Er braucht als Staatsbürger solche Individuen, die auch im Sinne
des Ganzen denken und handeln können. Und solches Denken und Handeln lernt man
nicht in Gerichtsverhandlungen, wo jeder nur um sein persönliches Recht kämpft.
Aber auch nicht in einem ökonomischen Handeln, bei dem jeder nur seinen
persönlichen Vorteil sucht...
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 08.
Nov. 2005, 17:45 Uhr
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Hallo Urs,
Du siehst im diskurstheoretischen Ansatz bestimmte Probleme,
auf die die ich später eingehen werde.
Zuvor möchte ich jedoch noch
deutlich machen, dass ich mit Deiner Interpretation meiner Position nicht
einverstanden bin.
Du schreibst:
“Bei Dir, Eberhard, wird in
einer ziemlich krassen Weise deutlich, dass Du aus der logischen
Zwangsläufigkeit von Argumenten auch die Berechtigung ableiten willst, andere
zum konformen Handeln zu zwingen (siehe die Fußnote). Wenn der andere die
Begründung der Norm nicht freiwillig einsieht, obwohl das Argument formal
korrekt (und somit „wahr“) ist, so ist der Einsatz von Gewalt legitim und
geboten.“
Die Fußnote, auf die Du diese Einschätzung stützt, enthält das
folgende Zitat von mir:
„Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt,
wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen identifiziert. Seine Bekämpfung
kann nicht mit Argumenten erfolgen sondern bedarf anderer Mittel.“
Wenn
man diesen Satz isoliert betrachtet, liegt tatsächlich die Interpretation nahe,
dass der Nicht-Konsenswillige bekämpft werden müsse (obwohl dies nicht gemeint
ist und auch so nicht explizit ausgesagt wird).
Dass eine solche
Interpretation falsch ist, geht zweifelsfrei aus der folgenden Passage hervor,
die kurz vor dem von Dir herangezogenen Satz steht. Dort schreibe ich:
„Wer sich nicht zwangfrei einigen will, der gehört für mich nicht zu den
‚Menschen guten Willens’, Vor ihm muss ich mich in Acht nehmen.
Das
bedeutet noch nicht, dass ich ihn als Feind betrachte, den ich unschädlich
machen muss. Ich kann aus meiner Sicht seine Interessen mit berücksichtigen und
ihm seine Rechte erhalten in der Hoffnung, dass er doch noch einsichtig wird.
Diesen Prozess kann ich mit pädagogischen oder therapeutischen Mitteln
unterstützen.“
Ich beziehe den schwierigen Weg hin zur
konsensorientierten Argumentation hier ausdrücklich mit ein. Dazu gehört z.B.
das Erlernen der nötigen Begriffe, die Anwendung der Logik und die Beseitigung
von Vorurteilen und emotional verankerten Denkblockaden. Ich erwähne
ausdrücklich das pädagogische und das therapeutische Verhältnis zum nicht
Konsenswilligen.
Um zukünftige Missverständnis zu vermeiden, werde ich
den anstößigen Satz folgendermaßen umformulieren: „Die Aufgabe der
Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen als solchen
identifiziert. Die weitere Auseinandersetzung mit ihm kann nicht mehr auf der
Ebene der Argumentation erfolgen sondern erfordert praktisches Handeln.“
Dies erstmal vorweg, damit sich hier nichts Falsches verfestigen kann von
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 09.
Nov. 2005, 00:18 Uhr
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Hi zusammen,
Moralisches Handeln – d.h. gemeinschaftsorientiertes Handeln
– kommt zustande durch Bildungsprozesse, in denen die Individuen lernen, ihr
Handeln und ihre Ansprüche mit dem Handeln und den Ansprüchen der andern
abzustimmen.
Bedeutet das, dass unsere Normen sich in gegenseitiger
Abstimmung der Individuen untereinander von der Steinzeit bis jetzt entwickelt
haben? Dann frage ich allerdings, warum sie sich so etnwickelt haben und nicht
anders und warum wir gesellschaftliche Entwicklungen, die uns für uns selbst
nicht so geeignet erscheinen (Pol Pot) nicht als Entwicklung in gegenseitiger
Abstimmung von Individuen von Gesellschaften ansehen, die nicht unserer Kultur
angehören und die man deshalb so lassen sollte wie sie sind.
Wenn aber
unsere Normen nicht oder nicht ausschließlich Ergebnis solcher Entwicklungen
sind (und warum sonst sollte man sich um Normen bemühen?), dann kannst du doch
nicht sagen:
Mit dem Verständnis dieser Prozesse fängt für mich
Moralphilosophie eigentlich erst an
Denn was ist es, was da vor sich geht?
Und was wäre die Konsequenz?
Wenn ein achtjähriges Mädchen in der Szene ihrer
Mutter beim Haschischdealen hilft, dann lernt sie die Normen dieser Szene, wie
du es beschreibst. Aber - da kommt eben wieder die alte Frage: wollen wir das?
Und wenn wir es nicht wollen: warum nicht?
Ich stimme Eberhards Bemühen
um einen diskurstheoretischen Konsens zu - wenn mir auch dein
individualistischer Ansatz nicht so recht gefällt. Aber das mag vielleicht daran
liegen, dass ich mehr Vertrauen in den Willen von Gemeinschaften habe, das
Individuum zu schützen. Deswegen habe ich wohl weniger Sorge um Totalitarismus.
Er ist schlimm genug, aber in meinen Augen eine staatliche Organisationsform,
die sich nicht bis in die menschlichen Gemeinschaften hinein durchsetzt.
Ich stimme zu, weil ich nicht sehe, wie man sonst Normen entwickeln und
etablieren will. Ist nicht unser Rechtssystem auf einen Grundkonsens angewiesen?
Und weicht es nicht überall da auf, wo dieser Grundkonsens nicht mehr gilt, sei
es in Subkulturen, sei es aber auch, wo ich im Moment entsprechende Tendenzen
sehe, im Konflikt zwischen Wohlhabenden und sehr Wohlhabenden, die sich zur
Mehrung ihres Besitzes bei Strafe des Gefressen Werdens von anderen, wenn sie
das nicht tun, über bisher geltende Normen hinwegsetzen, und Arbeitslosen,
insbesondere Hartz IV-Empfängern, die die ihnen gesetzten Normen nicht mehr als
rechtmäßig empfinden und deswegen offenbar vielfach zu torpedieren trachten?
Normen sind doch nur dann Normen, wenn man sich allgemein daran hält. Wenn
allgemein anerkannt wird, dass sie richtig sind. Ist das nicht der Fall, dann
sind es nur papierne Normen, die nur ein Teil der Gesellschaft lebt, wenn
überhaupt. Welche Möglichkeit gäbe es denn, eine allgemeine Gültigkeit zu
erreichen, außer dem Konsens?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 09. Nov. 2005, 02:00 Uhr
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Hallo Abrazo!
Quote:Bedeutet das, dass unsere Normen sich in
gegenseitiger Abstimmung der Individuen untereinander von der Steinzeit bis
jetzt entwickelt haben? Dann frage ich allerdings, warum sie sich so entwickelt
haben und nicht anders und warum wir gesellschaftliche Entwicklungen, die uns
für uns selbst nicht so geeignet erscheinen (Pol Pot) nicht als Entwicklung in
gegenseitiger Abstimmung von Individuen von Gesellschaften ansehen, die nicht
unserer Kultur angehören und die man deshalb so lassen sollte wie sie sind.
Ich wüsste nicht, wie sich unsere Normen anders als durch eine Art
von „trial and error“ im Laufe der Geschichte sollten entwickelt haben. Es
wurden ja eine Menge von Lebensformen entwickelt, viele sind wieder
untergegangen, teils durch äußere Einwirkung, teils wegen innerer Brüchigkeit.
Und da „wir“ nun mal Lebewesen mit Vernunft sind, haben immer auch Reflexion,
Vernunft und gezielter Gestaltungswille ein Wörtchen mitgesprochen bei diesen
Entwicklungen.
Über Pol Pot weiß ich nicht viel. Aber er scheint ja, wie
die meisten Unglücksbringer unter der Sonne, im Namen einer Idee gehandelt zu
haben. Hitler und die Seinen wollten ja auch nur das Beste für das deutsche
Volk. Ich glaube, es gab überhaupt nur sehr wenige Tyrannen, die das Böse taten,
weil sie das Böse wollten.
Tiere haben, ihren Artgenossen gegenüber,
eine natürliche Tötungshemmung. Menschen haben sie eigentlich auch, aber sie ist
überwindbar. Und zwar, wie uns die Sozialpsychologen gezeigt haben, durch Ideen,
namentlich durch die feste Überzeugung, im Auftrag des Guten zu handeln. Diese
Überzeugung scheint uns zu beflügeln und zu einer besonderen Konsequenz im
Umgang mit dem Bösen anzuhalten...
Im Übrigen finde ich es
schwer, Deine Position zu verstehen. Einerseits sprichst Du Dich im Namen des
Glaubens vehement gegen vernünftige moralische Prinzipien aus, andererseits
stimmst Du Eberhard zu, dem es nun ganz ausgeprägt um den Zusammenhang von
Wahrheit – Vernunft – Normen geht, und der mit religiösen Autoritäten („Dogma“)
nichts anfangen kann. Er setzt auf die Wissenschaft.
Einerseits betonst Du
die Vielfalt der verschiedenen Gemeinschaften (z.B. Köln), andererseits siehst
Du den erforderlichen Grundkonsens durch „Subkulturen“ gefährdet.
Was
mich angeht, so bin ich nicht gegen Konsens. Ich bin nur gegen die Idee eines
Konsenses, der die Individualität der Individuen nicht zu integrieren vermag.
Ich bin gegen das „abstrakte Allgemeine“, das sich in die Wirklichkeit nur gegen
die bzw. auf Kosten der Individualität umsetzen lässt. Diese Linie habe ich von
Anfang an verfolgt.
Ich habe in fast jedem Beitrag irgendetwas
Zustimmendes zum modernen Rechtsstaat und seiner (im Prinzip) egalitären
Begründung gesagt. Aber ich habe immer betont, dass dieses (im Prinzip)
egalitäre Recht nicht die einzige Form menschlicher Vergesellschaftung ist und
sein kann.
I can’t help it – wir Menschen sind eine Art, die sich
aufgrund ihrer art-allgemeinen Anlagen durch eine besondere Individualisierung
des Handelns auszeichnet. Und ich bestehe hartnäckig darauf, dass DIESES
Allgemeine, das sich IM Individuellen realisiert, nicht durch untaugliche
philosophische Konzepte unter den Teppich gekehrt wird. Es gilt, das KONKRETE
ALLGEMEINE zu verstehen und anzuerkennen, das jeder von uns auf seine
unverwechselbare Weise ist. Dies anerkennen ist für mich gleichbedeutend mit
„Humanität“.
Die universalistische Normenbegründung dagegen muss schon
wegen ihres Ansatzes vor einem großen Teil der menschlichen Wirklichkeit die
Augen verschließen. Diese Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen
ist, geht sie nichts mehr an. Wie könnte das deutlicher ausgedrückt werden als
durch Rawls’ „veil of ignorance“? Oder durch Eberhards Satz, die Aufgabe der
Moralphilosophie sei da beendet, wo der nicht Konsenswillige identifiziert sei?
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 09. Nov. 2005, 02:10 Uhr
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PS.
Zur Erinnerung zitiere ich mal, wie Du damals auf Eberhards Beitrag
geantwortet hast, aus dem ich oben zitiert habe:
Quote:(Eberhard)
Die Aufgabe der Moralphilosophie ist erfüllt, wenn sie den nicht Konsenswilligen
als solchen identifiziert
(Abrazo) Um Himmels willen, Eberhard, denk mal
daran, was du da sagst!
Wir dürften nicht den jeweiligen Kontext aus den
Augen verlieren. Es gibt die nicht konsenswillige Einzelperson und die nicht
konsenswillige Subkultur innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft. Es gibt
aber auch andere nicht konsenswillige, Gruppen, die Millionen Menschen umfassen,
nämlich Angehörige anderer Kulturen und Staaten. Soll es die Konsequenz der
Moralphilosophie sein, zu ihnen Kontakte abzubrechen, ggf. Kriege zu führen? Das
kann dann keine Moralphilosophie sein.
In der Theorie klingt das alles
ja recht nett. Auch die Sache mit dem Verzichten auf eigene Interessen. Aber wie
sieht das bitte in der Praxis aus?
Es ist wirklich nicht einfach, Deine
Position zu verstehen...
:-)
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 09.
Nov. 2005, 11:53 Uhr
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Hallo Urs,
Du schreibst:
“Wir Menschen sind eine Art, die sich
aufgrund ihrer art-allgemeinen Anlagen durch eine besondere Individualisierung
des Handelns auszeichnet. Und ich bestehe hartnäckig darauf, dass DIESES
Allgemeine, das sich IM Individuellen realisiert, nicht durch untaugliche
philosophische Konzepte unter den Teppich gekehrt wird. Es gilt, das KONKRETE
ALLGEMEINE zu verstehen und anzuerkennen, das jeder von uns auf seine
unverwechselbare Weise ist. Dies anerkennen ist für mich gleichbedeutend mit
„Humanität“.
Die universalistische Normenbegründung dagegen muss schon
wegen ihres Ansatzes vor einem großen Teil der menschlichen Wirklichkeit die
Augen verschließen. Diese Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen
ist, geht sie nichts mehr an.“
Mit diesen Sätzen erweckst den Eindruck
einer unzulässigen Gleichmacherei durch Ansätze wie z.B. die Diskurstheorie.
Dabei erscheint es so, als wollten derartige Konzeptionen die
unverwechselbare Individualität der Menschen verschwinden lassen („unter den
Teppich kehren“).
Dazu sind zwei Richtigstellungen nötig.
Zum
einen ist nicht das ganze Leben durchmoralisiert und durchnormiert. Moral und
Recht betreffen nur einen begrenzten Ausschnitt unseres Lebens. Weite Bereiche
sind – zum Glück – fern aller Pflichten und Rechte. Der ganz individuelle Reiz
von Leonardos Mona Lisa, die Freude an einem lustigen persönlichen Erlebnis,
mein besonderes Verhältnis zu meinen Eltern, die Charakteristika meiner
persönlichen Handschrift usw. usf. all diese inviduelle Vielfalt, die nicht auf
allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der
Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch
diese beeinträchtigt werden. Ins Blickfeld der Moralphilosophie können nur
moralisch relevante Eigenheiten der Individuen gelangen, und das sind m.E. vor
allem solche, die zu Konflikten mit anderen führen können.
Zum Zweiten.
Es ist in der Tat so, dass moralische und rechtliche Normen gewöhnlich von der
spezifischen Identität der Individuen abstrahieren:
- In der christlichen
Moral ist ganz allgemein vom „Nächsten“ die Rede,
- Kants Kategorischer
Imperativ richtet sich an jedes beliebige Individuum,
- die Menschenrechte
sollen für alle Menschen gelten,
- dem Utilitarismus geht es nur um das
größte Glück als solchem, unabhängig davon, wessen Glück das ist usw.
Dies ist nun kein Zufall sondern ergibt sich aus dem Zweck, dem diese Normen
dienen sollen, nämlich eine allgemein akzeptable Regelung des Umgangs
miteinander zu schaffen.
Dieser Zweck kann meines Erachtens nur dann
erreicht werden, wenn diese Regelungen unabhängig davon formuliert und
angewendet werden, um welche Person oder Gruppe es gerade geht. Damit Normen
allgemein akzeptabel sein können, müssen sie deshalb „personunabhängig“
formuliert sein.
Umgekehrt schafft eine singuläre Norm (also eine
Vorschrift, die nur einen bestimmten individuellen Fall regelt) ein „Präjudiz“
für alle anderen, gleich gelagerten Fälle.
Wer die
Einzelfallentscheidung billigt, der muss auch für alle andern Fälle, auf die
dieselbe Beschreibung zutrifft wie auf den Einzelfall (also gleichartige Fälle),
eine entsprechende Entscheidung billigen.
Abschließend noch zwei Punkte:
Die Herstellung einer Situation der Ungewissheit als Mittel zur
Verhinderung eigeninteressierten Urteilens und Handelns und damit zur
Erleichterung eines Konsens, ist keineswegs ein Mittel zur Gleichmacherei der
Individuen. Diese Konstruktion kann man z.B. praktisch anwenden, wenn es um die
Aufteilung eines Erbes auf 3 gleichberechtigte Erben geht. Man bildet zuerst
einvernehmlich 3 möglichst gleichwertige Teile und lost erst danach diese Teile
unter den 3 Erben aus.
Außerdem möchte ich den mir zugeschriebenen Satz:
„die Aufgabe der Moralphilosophie sei da beendet, wo der nicht Konsenswillige
identifiziert sei“ in seinen argumentativen Zusammenhang stellen, damit hier
keine Missverständnisse entstehen (z.B. dass dies die einzige Aufgabe sei o.ä.).
Der zitierte Satz bezieht sich auf das Problem der Auseinandersetzung
mit jemandem, der für die von ihm vertretene Norm allgemeine Geltung und
Befolgung verlangt und der sich dabei auf intersubjektiv nicht nachvollziehbare
Argumente stützt.
Die vorrangige Aufgabe der Philosophie als
Wissenschaft ist es in diesem Fall, die behauptete fehlende intersubjektive
Nachvollziehbarkeit (und damit Konsensfähigkeit) einer solchen Position
nachvollziehbar zu begründen. Mehr zu verlangen, etwa die Widerlegung seiner
Ansichten oder gar die Herbeiführung der Einsicht des Betreffenden in die
Falschheit seiner Ansichten, wäre der Situation nicht angemessen.
Die
daran anschließenden Fragen, wie man psychologisch, pädagogisch, therapeutisch,
taktisch oder politisch mit einem nicht Konsenswilligen umgeht, der seine Norm
dogmatisch vertritt und Befolgung verlangt, überschreiten die Grenzen der
Moralphilosophie. Dazu muss man z.B. die sozialpsychologischen Forschungen zu
Vorurteilen, Einstellungsänderungen, Verinnerlichung von Normen etc.
heranziehen.
In der Hoffnung, möglichen Missverständnissen zumindest
etwas entgegengewirkt zu haben, grüßt Dich und alle Interessierten Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 09. Nov. 2005, 13:41 Uhr
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Hallo Eberhard!
Wir haben unterschiedliche Auffassungen von der
Aufgabe der philosophischen Ethik.
Du beschränkst Ethik auf normative
Ethik, wobei Normen Dich interessieren als Regelungen für mögliche Konflikte.
Mich interessieren die „Bedingungen der Möglichkeit“ von moralischem Handeln
insgesamt. Es geht mir also nicht nur um die Frage, wie Menschen handeln sollen,
sondern wie sie gemeinschaftlich handeln können, ohne dabei ihre individuelle
Freiheit einzubüßen.
Denn was nützt es zu wissen, wie Menschen handeln
müssten, um für Gerechtigkeit auf der Welt zu sorgen, wenn man nicht weiß, ob
und wie die Verwirklichung möglich ist, und was Menschen – Gruppen oder
Individuen – konkret dazu beitragen können.
Quote:All diese
individuelle Vielfalt, die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird
von der Moral und damit auch von der Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert
und kann folglich auch nicht durch diese beeinträchtigt werden. Ins Blickfeld
der Moralphilosophie können nur moralisch relevante Eigenheiten der Individuen
gelangen, und das sind m.E. vor allem solche, die zu Konflikten mit anderen
führen können.
Es kann der Philosophie in der Tat nicht darum
gehen, die ganze individuelle Vielfalt auf Begriffe zu bringen. Wohl aber kann
sie nach den allgemeinen Bedingungen fragen, unter denen Individuen moralisch
handeln. Und sie kann, über Analyse und Begründung hinaus, auch jene
„praktischen Probleme“ ins Auge fassen, die eine rein normative Ethik
ausklammert.
Quote:Dieser Zweck [= eine allgemein akzeptable
Regelung des Umgangs miteinander zu schaffen] kann meines Erachtens nur dann
erreicht werden, wenn diese Regelungen unabhängig davon formuliert und
angewendet werden, um welche Person oder Gruppe es gerade geht. Damit Normen
allgemein akzeptabel sein können, müssen sie deshalb „personunabhängig“
formuliert sein.
Normen müssen „allgemein akzeptabel“ sein, ja.
Und sie müssen so weit unabhängig von den Personen formuliert sein, dass sie für
jede Person in einer bestimmten typischen Situation gelten können.
Es
fragt sich aber, wie weit man hier die Allgemeinheit versteht. Meine Antwort: Es
genügt die Allgemeinheit der faktisch Betroffenen. Es ist unnötig – und auch gar
nicht zweckdienlich -, jede Norm universell begründen zu wollen. Die Gründe
müssen einsichtig sein für jeden, der von einer Norm betroffen sein kann.
Wenn die Heiratsregeln bei den Kwakiutl vom Ehemann verlangen, dass er
einen Brautpreis an die Eltern zu entrichten hat, so bin ich davon nur
betroffen, wenn ich eine Kwakiutl heiraten will. Und sollte dies der Fall sein
(man weiß ja nie, was alles passieren kann), werde ich nicht anfangen, mit den
Eltern meiner Braut über die rationale Begründung dieser Norm zu diskutieren,
sondern ich werde diesen Brauch respektieren oder – sollte der Preis mein
Vermögen übersteigen – die Braut bei Nacht und Nebel entführen (ihr
Einverständnis und ihre leidenschaftliche Liebe vorausgesetzt). Da aber
Heiratsregeln keine Regeln zur Verhinderung von Heiraten sind, werden die Eltern
schon keinen Preis verlangen, den kein Mensch bezahlen kann...
Es würde mich
auch keine Verbiegung meiner selbst kosten, diesen Brauch zu respektieren. Alle
liebenden Eltern auf der Welt möchten sicher sein, dass der künftige Mann ihre
Tochter nicht unglücklich macht. Sie möchten als Eltern respektiert werden, sie
möchten auch spüren, dass mir viel an ihrer Tochter liegt – lauter
nachvollziehbare Motive, die hinter so einer Regel stehen mögen. Für mich, der
ihre Tochter liebt, ist sie wie ein Geschenk; warum sollte ich den Eltern nicht
ein Gegengeschenk machen?
Ich habe dieses Beispiel ausgewalzt, um zu
zeigen: Wenn man sich auf Menschen handelnd einlässt, mit ihnen kommuniziert,
sich in ihre Lage versetzt – dann wird ihr Handeln verständlich, dann lässt sich
in der Regel (nicht immer, ich weiß) ein gemeinsamer Weg finden. – Diese
faktische Kommunikation ist etwas ganz anderes als die Beurteilung einer
kuriosen Heiratsregel nach universellen Prinzipien, die ein Philosoph fernab und
unbeteiligt am Schreibtisch vornehmen mag.
Und nach allem, was wir über
Konflikte zwischen Menschen und Völkern wissen, ist es in der Regel so, dass
Abstraktionen - wie Vorurteile, Entdifferenzierungen, Generalisierungen -
Konflikte auslösen oder verschärfen. Jeder Streit nimmt sofort an Schärfe zu,
wenn es nicht nur um die Bereinigung der konkreten Sache geht, sondern „ums
Prinzip“.
Die treibende Kraft moralischen Handelns liegt also darin,
dass Menschen konkret miteinander umgehen, sich streiten und einigen, nicht in
der Verordnung universeller Normen, die präventiv jeden Streit vermeiden sollen.
Das ist eine Einsicht der praktischen Menschenkenntnis, die von
wissenschaftlichen Generalisierungen nicht aufgewogen werden kann. Und da es in
der Ethik um das konkrete Handeln konkreter Individuen geht, verfehlt die Ethik
ihre Aufgabe, wenn sie sich auf Prinzipien zurückzieht.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 09.
Nov. 2005, 17:04 Uhr
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Hallo allerseits, hallo urs,
Du schreibst:
„Es ist unnötig – und
auch gar nicht zweckdienlich -, jede Norm universell begründen zu wollen. Die
Gründe müssen einsichtig sein für jeden, der von einer Norm betroffen sein
kann.“
Da bin ich mit Dir einer Meinung. Eine Norm muss erstmal nur für
diejenigen konsensfähig sein, von denen die Befolgung der Norm verlangt wird.
Wenn irgendwelche Individuen oder Gruppen sich selber bestimmte Verhaltensregeln
geben, so habe ich damit solange kein Problem, als diese Regeln nicht auch von
mir befolgt und akzeptiert werden sollen. Insofern bin auch ich kein Anhänger
universalistischer Prinzipien.
Deine Formulierung geht über den Kreis
der Adressaten einer Norm noch hinaus und verlangt die Konsensfähigkeit der von
einer Norm Betroffenen.
Dies ist insofern richtig, als eine Norm zwar
für die Adressaten akzeptabel sein kann, aber nicht für Dritte, die von der
Befolgung der Norm betroffen sind. Ein extremes Beispiel wären z.B. die Normen
einer Mafia, die nur für deren Mitglieder gelten („Zeugen sind sofort für immer
zum Schweigen zu bringen“).
Die potentiellen Zeugen wollen keineswegs
erschossen werden, so dass durch die Befolgung der internen Norm ein Konflikt
mit Außenstehenden geschaffen wird.
Die internen Normen stellen keine
akzeptable Lösung dieses Konfliktes dar, im Gegenteil, sie erzeugen ihn erst.
Wenn es um die inhaltliche Richtigkeit einer Norm geht, die einen bestimmen
Konflikt regeln soll, so müssen alle am Konflikt Beteiligten zustimmen können
Abschließend noch einige Klarstellungen zum „moralischen Diskurs“ also zur
Rolle der konsensorientierten, zwangfreien Argumentation bei der Beantwortung
normativer Fragen (Wie soll ich handeln?).
Neben der Ebene des von
praktischen Handlungszwängen entlasteten wissenschaftlichen Streits der
Gelehrten um inhaltlich richtige Normen muss es noch die Ebene der verbindlich
gesetzten Normen geben, wenn eine soziale Kooperation und Koordination erfolgen
soll.
Warum reicht die Ebene der inhaltlichen Diskussion um das Für und
Wider der normativen Alternativen nicht aus?
Die Diskussion darüber,
welches die am ehesten gemeinsam akzeptierbare Normalternative ist, muss kein
definitives Resultat haben. Selbst wenn es einen „ausdiskutierten Konsens“ gibt,
so kann dieser mit neuen Argumenten jederzeit wieder in Frage gestellt werden.
(Insofern ist die Befürchtung unbegründet, dass aus dem Diskurs
Philosophen-Könige hervorgehen könnten, die sich „im Besitze der Wahrheit“
wähnen und ein Zwangsregime errichten.)
Weil der an inhaltlicher
Richtigkeit orientierte Diskurs kein praktikables Verfahren der Normsetzung ist
(er muss kein definitives Resultat erbringen, er berücksichtigt weder
Termindruck noch Entscheidungskosten), bedarf es daneben der ausdrücklichen
Normsetzung. Dies kann durch die konkrete Auslegung einer heiligen Schrift oder
der überlieferten Traditionen durch einen autorisierten Priester geschehen, dies
kann auch durch eine Abstimmung in einer gesetzgebenden Versammlung geschehen.
Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Ebenen, die nicht
zugunsten einer Ebene entschieden werden kann: Der Mehrheitsbeschluss ist zwar
inhaltlich falsch aber er bleibt nichtsdestoweniger verbindlich.
Meines
Erachtens ist die Berücksichtigung dieser beiden Ebenen (einerseits die durch
Argumente begründete inhaltliche Richtigkeit einer Norm und andererseits die
durch Verfahren - also institutionell - erzeugte Verbindlichkeit einer Norm)
außerordentlich wichtig für das Verständnis des gemeinschaftlichen
Zusammenlebens.
Damit schließt Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 09.
Nov. 2005, 17:17 Uhr
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Urs:
Quote:Und nach allem, was wir über Konflikte zwischen Menschen und
Völkern wissen, ist es in der Regel so, dass Abstraktionen - wie Vorurteile,
Entdifferenzierungen, Generalisierungen - Konflikte auslösen oder verschärfen.
Jeder Streit nimmt sofort an Schärfe zu, wenn es nicht nur um die Bereinigung
der konkreten Sache geht, sondern „ums Prinzip“.
Genau so ist es,
bravo Urs, dies gilt auch für die Freiheit "als Prinzip"
Moral und Freiheit
sind immer relativ.
Aber täuschen wir uns nicht, welche unglaublichen
Handlungen und Baudenkmäler (Dom) hat der Mensch nur auf Grund seiner irrealen
Hirngespinste vollbracht.
Salve
[skater]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 09.
Nov. 2005, 23:21 Uhr
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Hi,
wie wäre es, theoretische Überlegungen zur Normenfindung mal an einem
praktischen Beispiel auszuprobieren (geklaut aus einer anderen Diskussion)?
Problem:
Das BVerfG hat heute über § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz
verhandelt, also über die Befugnis der Bundeswehr, entführte Flugzeuge, von
denen man ausgehen muss, dass sie "gegen das Leben von Menschen eingesetzt"
werden sollen, auch dann abzuschießen, wenn sich darin (unschuldige)
Besatzungsmitglieder und Passagiere befinden. Die Bf. (ua Burkhard Hirsch und
Gerhart Baum) argumentieren zum einen, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen
werden dürfe (obwohl Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ja unter einfachem Vorbehalt steht)
und dass die Tötung Unschuldiger auch zur Rettung anderer die Menschenwürde
verletze, weil die Unschuldigen zu bloßen Objekten staatlicher Opportunität
gemacht würden. Die Bf. gehen wohl davon aus, dass eine Tötung Unschuldiger in
Friedenszeiten immer menschenwürdewidrig sei. Aber auch sie erkennen an, dass
die Täter selbst getötet werden dürfen. Auch sie meinen also, dass das
Lebensrecht über die Menschenwürde hinausreiche, wenn auch nicht weit. Der
Bundesinnenminister hat unter anderem argumentiert, dass die Unschuldigen im
Flugzeug ja ohnehin bald tot seien. Gleichzeitig hat er bestritten, dass in
dieser Erwägung ein Abwägen von Leben gegen Leben liege.
Antwort:
Der
Erste Senat des BVerfG hat bereits in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 -- 1
BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 -- ausdrücklich klargestellt, dass folgende (jeglicher
militärischen Gewalt zugrunde liegende) Denk- und Handlungsweise mit der
Verfassung nicht vereinbar sei:
"Die pauschale Abwägung von Leben gegen
Leben, die zur Freigabe der Vernichtung der vermeintlich geringeren Zahl im
Interesse der Erhaltung der angeblich größeren Zahl führt, ist nicht vereinbar
mit der Verpflichtung zum individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens.
"
BVerfGE 39, 1 ff - Dem kann man nur zustimmen und fragt sich, wie dann
noch militärische Gewalt in staatlichem Auftrag zulässig sein soll.
Wer
nachliest, findet des Rätsels Lösung: Es ging um die Verfassungsmäßigkeit der
Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.
Gemeinwohl, Individualwohl,
Ethik, alles drin.
Und nu?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 10. Nov. 2005, 02:27 Uhr
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Hallo Eberhard!
Ein wichtiger Punkt meiner Kritik an einer rein
normativen Ethik ist der Umstand, dass Normensysteme nicht „autark“ sind.
Normen, deren Aufgabe in der Regelung von Konflikten besteht, setzen offenbar
ein gesellschaftliches Zusammenleben voraus. Und damit es Individuen gibt, die
überhaupt imstande sind, ihre Interessen mit „allgemein konsensfähigen
Argumenten“ zu vertreten, ist eine gewisse, nicht ganz anspruchslose
Sozialisation der Individuen nötig. Denn argumentierende Subjekte fallen nicht
vom Himmel, wenn sie gerade für einen Normendiskurs gebraucht werden, es muss
sie schon geben. Und mir scheint, dass eine Morallehre, die im Namen der
Vernunft auftritt, die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit reflektieren
sollte.
Das Recht begrenzt und schützt seinem Wesen nach
Freiheitsspielräume, es sorgt für die Verträglichkeit individueller oder
gemeinschaftlicher Interessen mit den Interessen anderer. Wie die rechtlich
begrenzten Freiheitsspielräume genutzt werden, dazu schweigt das Recht. Wie
Menschen die Kompetenz erwerben, ihre Freiheitsspielräume sinnvoll zu nutzen,
ohne dabei mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, lässt sich aus Gesetzbüchern
so wenig lernen wie aus Büchern über diskurstheoretische Normenbegründung.
Dabei liegt es im Interesse des Rechtssystems, dass es von den Bürgern nicht
zu stark beansprucht wird. Wenn nämlich jeder kleine Nachbarschaftskonflikt,
jeder Streit zwischen Mietern und Vermietern vor Gericht ausgetragen würde,
würde das System zusammenbrechen. Es ist aber in Deutschland schon seit
Jahrzehnten so, dass die Justizbehörden von der schieren Masse der zu
bearbeitenden Fälle erdrückt werden. Die Gefängnisse sind überfüllt. Das macht
deutlich: Das Rechtssystem ist keine Institution zur Erziehung von
Staatsbürgern, im Gegenteil, wer erst einmal im Gefängnis angekommen ist, der
wird dort allenfalls für eine Kriminellenlaufbahn „sozialisiert“.
(Gleichzeitig klagen die staatlichen Schulen über die zunehmenden
Sozialisationsdefizite bei den Schülern. Und immer wieder wird gesagt, dass die
Schulen keine elementare Erziehung leisten können.)
Ein Blick auf
Frankreich und die dort ausgebrochenen Jugendkrawalle sollte ebenfalls deutlich
machen, dass Normensysteme für den Konfliktfall nicht genügen, um ein
friedliches und befriedigendes Zusammenleben der Bürger zu ermöglichen. Die
Menschen, die da nun ihrer Frustration, ihrer Hoffnungslosigkeit gewaltsam
Ausdruck verleihen, wurden vom Staat buchstäblich an den Rand gedrängt und sich
dort selbst überlassen. Man hat sich mehr für die Ausbildung der Eliten
interessiert. Und ein Innenminister, der dieses Problem in Kategorien der
Hygiene (konkret: Reinigung der Straßen vom Abschaum) formuliert und es nur mit
staatlicher Zwangsgewalt bekämpft, zeigt doch, wie ohnmächtig im Grunde ein
Denken in rein rechtlichen Kategorien hier ist.
(Auch dieser
Innenminister hat gewiss die "nicht Konsenswilligen als solche identifiziert".
Es ist ja auch nicht so schwer, Gewalttätige als solche zu erkennen. Frage ist
aber: Wie bekommt man konsenswillige Bürger, die argumentieren und friedlich
protestieren statt durch Gewalt auf sich aufmerksam zu machen?)
Kurz:
Normen für den Konfliktfall kommen eigentlich immer zu spät.
Die Frage
nach dem Gemeinwohl weist nach meinem Verständnis in die Richtung, aus der die
Defizite einer rein normativen Ethik ausgeglichen werden könnten. Denn das
„Wohl“ der Individuen oder der Gemeinschaft ist ein positiver Begriff. Er
bezieht sich gerade auf das, was von der normativen Ethik ausgespart wird –
nämlich auf das gute Leben der Individuen und Gemeinschaften sowie die
Voraussetzungen, die sie dazu brauchen.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 10. Nov. 2005, 13:35 Uhr
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Hallo Eberhard!
Ich komme zur weiteren Verdeutlichung noch einmal auf
diese Deine Sätze zurück:
Quote:Zum einen ist nicht das ganze Leben
durchmoralisiert und durchnormiert. Moral und Recht betreffen nur einen
begrenzten Ausschnitt unseres Lebens. Weite Bereiche sind – zum Glück – fern
aller Pflichten und Rechte. (...) All diese individuelle Vielfalt, die nicht auf
allgemeine Begriffe zu bringen ist, wird von der Moral und damit auch von der
Moralphilosophie überhaupt nicht tangiert und kann folglich auch nicht durch
diese beeinträchtigt werden.
Nun hatte ich zuvor gesagt, ich sei gegen
die „Idee eines Konsenses, der die Individualität der Individuen nicht zu
integrieren vermag.“ Und ich denke: Weite Bereiche „nicht tangieren“ und „nicht
beeinträchtigen“ – also nicht berücksichtigen oder sich selbst überlassen – ist
etwas anderes als sie „integrieren“.
Deine Sätze beschreiben sehr
treffend die Funktionsweise des liberalen Rechts: Es eröffnet und begrenzt
Freiheitsspielräume, die von den Rechtspersonen in eigener Verantwortung genutzt
werden können. Es schreibt nicht vor, wie die Bürger ihre Freiheit nutzen
sollen, sondern zeigt nur negativ die Grenzen ihrer Freiheit auf und droht für
den Fall der Grenzüberschreitung mit Zwang.
Dieses Modell – ich lege
hiermit ein weiteres Bekenntnis zum Rechtsstaat ab („...und aus dem Keller drang
das dumpfe Dröhnen der Bartaufwickelmaschine...“) – dieses Modell hat seine
unbestreitbaren Vorzüge, die keiner von uns mehr missen möchte oder könnte. Nur,
es basiert auf Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann. Es rechnet
nämlich mit Bürgern, die ihre Freiheit aktiv wahrnehmen und die Verantwortung
für ihr Handeln tragen können – also mit selbständigen Subjekten, die ein
gewisses Maß an Normen schon verinnerlicht haben müssen und ihr Leben friedlich
und befriedigend gestalten können.
Mit Massen von abhängigen
Proletariern, Arbeitslosen, Drogen- oder Konsumsüchtigen und unmündig Gläubigen
ist kein liberaler Staat zu machen. Dieser Gedanke stand ja hinter der
sozialdemokratischen Idee des Sozialstaats und der Arbeiterbildung: Man sah ein:
Die Staatsbürger, die selbständig für ihre Rechte eintreten und ihre gewonnene
Freiheit zum eigenen Wohl nutzen können, müssen erst noch herangebildet werden.
Und dieser Gedanke ist bis heute wahr, wenn auch in der Politik gegenwärtig
nicht „en vogue“. Man predigt „Deregulierung“ und „Selbstverantwortung“ und
verkleidet mit diesen schönen Begriffen: „Jeder möge selbst sehen, wo er bleibe,
und wer steht, dass er nicht falle.“ Die Konsequenzen, die dieses politische
Denken mittelfristig haben wird, zeichnen sich z.B. gerade in Frankreich ab oder
an den Stacheldrahtzäunen, die Spanien um seine afrikanischen Enklaven
hochgezogen hat oder ...
Eine normative Ethik, wie Du sie favorisierst,
fasst dies alles unter „praktische Probleme“ zusammen, die bestenfalls einen
Anhang zur eigentlichen Aufgabe bilden. Dagegen behaupte ich, dass eine so
begrenzte Moralphilosophie sich blind macht für die notwendigen Voraussetzungen
ihres Funktionierens. Der Umstand, dass diese Voraussetzungen reale sind –
nämlich aus dem faktischen, historischen Zusammenleben von Menschen bestehen -,
ist ein Problem nur dann, wenn man keine Kategorien ausbildet, die differenziert
genug sind, um diese Voraussetzungen theoretisch zu erfassen. Ohne solche
Differenzierung fallen in der Tat Begriffe/Normen/Prinzipien einerseits und die
kontingente Wirklichkeit andererseits schroff auseinander.
Dass eine
vernünftige - und mit dem liberalen Rechtsstaat sehr wohl vereinbare - Ethik
möglich ist, die allgemeine Normen oder Prinzipien mit der kontingenten,
historischen Wirklichkeit zusammenbringt, dafür gibt es Beispiele von
Aristoteles bis zu Charles Taylor (oder noch jüngeren Philosophen).
Es
grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 10.
Nov. 2005, 17:15 Uhr
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Hallo allerseits,
vorweg zu abrazo: mir scheint es an dieser Stelle
wichtiger, die Kontroverse über das Verständnis von Moralphilosophie
fortzusetzen. Ich bitte da um Dein Verständnis.
Urs, Du bemängelst
Defizite einer (normativen) Ethik, die sich auf die Frage konzentriert, wie
Menschen handeln sollen bzw. welche Institutionen der Normsetzung angewendet
werden sollen.
Eine solche Theorie setze vieles voraus. Z.B. setze die
diskurstheoretische Begründung voraus, dass es Individuen gibt, die
konsensorientiert argumentieren können. Diese Voraussetzungen, die den Diskurs
erst möglich machen, müssten als "Bedingungen der Möglichkeit", die Theorie
anzuwenden, mitreflektiert werden.
Da ich derartiger Kritik immer wieder
begegne, will ich etwas grundsätzlicher darauf eingehen.
Niemand kann
alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine
Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten will.
Deshalb ist die
bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene Frage vernachlässigt, zur Kritik
untauglich.
Erst wenn man zeigen kann, dass die gestellte Frage nicht
richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor eine bestimmte andere Frage
beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer solchen Frage einen
methodischen Fehler dar. (So ist z.B. für die Beantwortung der Frage, wie man
eine irrationale heftige Angst vor dem Benutzen von Fahrstühlen beseitigen kann,
vorweg die Beantwortung der Frage notwendig, in welcher Situation diese Angst
zum ersten Mal aufgetreten ist.)
Ein Kritiker müsste also aufzeigen,
dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen
nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik sehe ich noch
nicht.
Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass es mir nicht nur um
rechtsförmige Normen geht, sondern um die Möglichkeit, inhaltlich für oder gegen
vorgeschlagene Normen zu argumentieren.
Dass eine Gesellschaftsordnung
auf der Angst vor rechtlichen Sanktionen nicht dauerhaft aufgebaut werden kann,
sondern dass die Mehrheit der Menschen auch von der Richtigkeit dieser Ordnung
überzeugt sein muss, ist unbestritten. Man kann nicht hinter jeden Menschen
einen Polizisten stellen. Und selbst wenn man dies könnte: Wen soll man hinter
den Polizisten stellen?
Urs, Du schreibst:
"Das 'Wohl' der
Individuen oder der Gemeinschaft ist ein positiver Begriff. Er bezieht sich
gerade auf das, was von der normativen Ethik ausgespart wird – nämlich auf das
gute Leben der Individuen und Gemeinschaften sowie die Voraussetzungen, die sie
dazu brauchen."
Ich sehe keinen Grund, warum diese Fragestellung nicht
verfolgt werden könnte. Eine normative ethische Theorie ist da keineswegs ein
Hindernis. Umgekehrt wird eine solche Ethik wahrscheinlich bald gebraucht
werden, nämlich dann, wenn man sich uneinig ist, worin denn ein "gutes" Leben
der Gemeinschaften besteht.
Es grüßt Dich und alle Interessierten
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 10. Nov. 2005, 18:24 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar
nicht auf einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er
beantworten will.
Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder
jene Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich. Erst wenn man zeigen kann,
dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor
eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer
solchen Frage einen methodischen Fehler dar.
Ein Kritiker müsste also
aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen Ergebnissen kommt, weil
bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine derart konkretisierte Kritik
sehe ich noch nicht.
Meine Kritik ist keine Kritik an Deiner Methode,
sondern eine an Deiner eingegrenzten Fragestellung. Und selbstverständlich kann
man Fragestellungen kritisieren – z.B. als unangemessen oder zu eingegrenzt.
Natürlich ist es Dir - wie jedermann - unbenommen, nur die Fragen zu stellen,
die Du wichtig findest. Aber wenn unser Thema das Wohl der Individuen und das
Wohl der Gemeinschaft ist, dann kann im Rahmen einer solchen Diskussion doch
diskutiert werden, mit welchen Fragestellungen man dem sachlichen Problem
beikommt.
Niemand verlangt von Dir, Deine Fragestellungen zu
rechtfertigen. Niemand verlangt von Dir, einem Diskussionspartner Rede und
Antwort zu stehen. Und selbstverständlich wäre es auch ein Ergebnis der
Diskussion, wenn einfach zwei verschiedene Auffassungen von Moralphilosophie
nebeneinander vertreten werden.
Quote:Ich sehe keinen Grund, warum diese
Fragestellung nicht verfolgt werden könnte. Eine normative ethische Theorie ist
da keineswegs ein Hindernis.
Dass eine normative Theorie ein Hindernis
für eine Ethik des „guten Lebens“ sei, habe ich auch nicht behauptet. Ich sprach
nur davon, dass die Beschränkung auf eine normative Ethik unzureichend sei, und
zwar im Hinblick auf die realen gesellschaftlichen Probleme, bei deren
Bewältigung philosophische Ethik und Sozialphilosophie helfen sollten (wie
begrenzt ihre Möglichkeiten dabei auch immer sein mögen).
Quote:Umgekehrt wird eine solche Ethik wahrscheinlich bald gebraucht werden,
nämlich dann, wenn man sich uneinig ist, worin denn ein "gutes" Leben der
Gemeinschaften besteht.
Das kann gut sein. Allerdings lässt uns das
Recht – wie Du selbst sagst - ja große Spielräume, innerhalb derer viele
verschiedene Formen von Gemeinschaft – als Ausdruck gemeinsam genutzter Freiheit
– möglich sind. Das geht von der Familie über den Sportverein, den Weltladen,
das Technische Hilfswerk... bis zur Religionsgemeinschaft und zur politischen
Partei. Alle diese Gemeinschaften streben ein je eigenes gemeinsames Gut an,
dessen Verwirklichung auch zum „guten Leben“ der Mitglieder beiträgt. Auch
erfüllen solche Gemeinschaften eine wichtige sozialintegrative Funktion –
besonders bei Jugendlichen.
Selbstverständlich wären Gemeinschaften zur
Förderung des Frauenhandels und der Prostitution mit dem Recht nicht vereinbar;
auch könnte man nur sehr bedingt von einem „guten Leben“ der Beteiligten
sprechen...
Es Grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 10.
Nov. 2005, 23:01 Uhr
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Hallo Urs,
was Du eine Ethik des guten Lebens nennst, würde ich wohl
unter dem Titel: Theorie der menschlichen Bedürfnisse abhandeln.
Eine
solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt, wenn die Interessen von
Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden können, sondern
stellvertretend rekonstruiert werden müssen. Die Frage:_ Was ist ein "gutes"
bzw. "bedürfnisgerechtes" Leben? verdient eine eigene Diskussionsrunde.
Es grüßt Dich und alle andern Eberhard.
p.s.: Ich werde wegen einer Reise
in den nächsten Tagen nur begrenzt aktiv sein können.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 10.
Nov. 2005, 23:16 Uhr
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Hi, Metin,
krasses Beispiel: einer hat ein Kind. Und überlegt nun, wie
hätte ich meinen letzten Urlaub verbracht, wenn ich kein Kind hätte. Wie kann er
das wissen? Dann hätte er ganz andere Interessen, würde anders denken und fühlen
- und hätte ein ganz anderes Leben geführt. Wie also will er diese Frage auch
nur einigermaßen richtig beantworten können?
Das beantwortet auch gleich
die Frage nach der Empathie. Die ist m.E. nur begrenzt möglich. Ich kann nicht
sagen, wie einer denkt und fühlt, der in einer anderen Gesellschaft, in einer
anderen Umgebung, in einem anderen Klima und mit einer anderen Sprache
aufgewachsen ist. Weil ich dies alles nicht kenne. Ist aber nicht so schlimm,
denn ich kann mit ihm reden und er kann es mir sagen, bzw. wir können im
Gespräch versuchen, uns gegenseitig zu verstehen.
Für sehr wichtig halte
ich dein Argument von den gemeinsamen Zielen. Mit deiner Beobachtung hast du
meiner Ansicht nach recht. Das ist etwas, was wir vielleicht in unserer
Normendiskussion vernachlässigt haben. Verlangen gemeinsame Normen nicht, dass
wir gemeinsame Ziele haben? Müsste man also, bevor man über Normen diskutiert,
sich nicht erst einmal über die Ziele einig werden?
Ich beziehe das mal
auf die Flugzeugabschussdiskussion. Wenn unsere Gesellschaft die Verfassung
akzeptiert und deswegen das Ziel hat, wesentliche Inhalte und Sinn zu erhalten,
dann könnten wir uns auf eine Norm einigen, die dieses Ziel erfüllt - und darauf
hin arbeiten. Denken wir aber nicht an ein gemeinsames Ziel, dann sind wir
geneigt, nach unseren privaten Zielen zu entscheiden - und die dürften
verschieden sein.
Welche Tatsache soll die empirische Wissenschaft
erforschen
Die empirischen Wissenschaften = die Erfahrungswissenschaften.
Z.B. Physik, Biologie, Soziologie. Solche Forschungen sind natürlich nicht
Aufgabe der Philosophie. Aber sie wäre doch in lächerlicher Weise weltfremd,
wenn die Ergebnisse solcher Forschungen sie nicht kümmern würden!
die
Normen an hand einer Diskussion ermittelt willst, aber mit der Bedingung, dass
die Aussage evident sein muss.
Evident ist für mich nur das, was unmittelbar
einleuchtet, also letztlich die Daten, die ich wahrnehme (auch die inneren
Wahrnehmungen). Normen müssen nicht evident sein, sonst bräuchten wir sie ja gar
nicht zu entwickeln, denn dann wüssten wir, was in dieser oder jener Situation
zu tun wäre. Was ich meine ist, dass solche entwickelte Normen stringent, also
lückenlos auf Evidentes, und damit meine ich den ethischen Willen, rückführbar
sein müssen. Gut, bei schlichten Spielregeln, wie Stopp-Zeichen in roter oder
blauer Farbe, ist das nicht nötig. Aber bei allen moralischen Normen meine ich
schon, sonst überzeugen sie nicht und wir bekommen keinen Konsens. Und schon gar
nicht dürfen Normen dieser grundlegenden Ethik widersprechen. Auch hierfür das
Beispiel Flugzeugabschuss: die Verfassungsklage hat ja die Begründung, dass das
beanstandete Gesetz unserem Grundgesetz widerspricht, wenn man es analysiert.
ist eine Glaubensanschauung bzw. Weltanschauung zu verwirklichen, die sich
gegen die Natur des Menschen richtet?
Setze statt Natur Wesen ein. Denn
Natur ist Biologie, und die Biologie hat nichts dagegen, z.B. eine Frau zu
vergewaltigen, wenn Mann gerade Lust hat und sie haben will. Der humane Mensch
hat etwas dagegen, der ist es, der sich das selbst verbietet.
Ich denke
nicht, dass Religionen, die dem Wesen des Menschen entgegen standen, zu
Massenbewegungen geworden sind. Sie wurden eben nicht geglaubt oder nur von sehr
wenigen. Die Menschen früher werden so viel dümmer als wir heute nicht gewesen
sein. Und wir belächeln ja auch die zahllosen neuen 'Propheten' mit ihren
selbstgebastelten Religionen, die häufig sehr hübsch romantisch klingen, aber
bei genauerer Betrachtung ganz erhebliche Schwächen in der Ethik aufweisen. Die
dürften früher auch belächelt worden sein. Religionen, die zu Massenbewegungen
wurden, müssen schon was anderes aufgewiesen haben als hübsche (oder, je
nachdem, grauslige) Geschichtchen.
Ich hoffe, ich konnte deine Fragen
damit beantworten bzw. deine Überlegungen bestätigen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 11.
Nov. 2005, 00:54 Uhr
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Normativ oder nicht normativ,
das war hier die Frage.
Wenn sich alle
an den einfachen Satz halten könnten:
"Was du nicht willst, das man dir
tut, das füg auch keinem andren zu"
wären keine dicken Gesetzesbücher
notwendig.
Sie sind aber notwendig.
Und da das Leben so vielschichtig
ist, scheint mir jede Suche nach einer normativen Ethik suspekt und im Sinne von
Urs eben auch einschränkend.
Diese normative Ethik a la Kant ist es doch, die
die nach Freiheit schreiende Jugend Ethik sofort mit Altruismus gleichsetzen und
ablehnen lässt, weil sie sich in ihr nicht glaubt ausreichend entfalten zu
können.
Gerade die Verschiedenheit der Interessen macht einen strikten
Kanon ethischen Verhaltens gleich einem Küchenrezept, wie bei vielen Religionen,
immer unbefriedigend.
So hat denn unser lieber Aristoteles ganz auf einen
solchen Kanon verzichtet und vereinigt statt dessen ethisches Verhalten mit
persönlichem Glücksstreben!
Wie überaus aktuell,
das nenne ich einen
grossen Geist.
Salve
[skater]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von JustEndlessWaves
am 11. Nov. 2005, 01:23 Uhr
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on 11/10/05 um 17:15:37, Eberhard wrote:Hallo allerseits,
Da ich
derartiger Kritik immer wieder begegne, will ich etwas grundsätzlicher darauf
eingehen.
Niemand kann alle Fragen beantworten und schon gar nicht auf
einmal. Insofern muss jeder eine Auswahl der Fragen treffen, die er beantworten
will.
Deshalb ist die bloße Feststellung, jemand habe diese oder jene
Frage vernachlässigt, zur Kritik untauglich.
Erst wenn man zeigen kann,
dass die gestellte Frage nicht richtig beantwortet werden kann, wenn nicht zuvor
eine bestimmte andere Frage beantwortet ist, stellt die Nicht-Behandlung einer
solchen Frage einen methodischen Fehler dar. (So ist z.B. für die Beantwortung
der Frage, wie man eine irrationale heftige Angst vor dem Benutzen von
Fahrstühlen beseitigen kann, vorweg die Beantwortung der Frage notwendig, in
welcher Situation diese Angst zum ersten Mal aufgetreten ist.)
Ein
Kritiker müsste also aufzeigen, dass es bei meinem Vorgehen zu falschen
Ergebnissen kommt, weil bestimmte Fragen nicht mit einbezogen wurden. Eine
derart konkretisierte Kritik sehe ich noch nicht.
Dabei möchte ich noch
einmal betonen, dass es mir nicht nur um rechtsförmige Normen geht, sondern um
die Möglichkeit, inhaltlich für oder gegen vorgeschlagene Normen zu
argumentieren.
Dass eine Gesellschaftsordnung auf der Angst vor
rechtlichen Sanktionen nicht dauerhaft aufgebaut werden kann, sondern dass die
Mehrheit der Menschen auch von der Richtigkeit dieser Ordnung überzeugt sein
muss, ist unbestritten.
Hallo Eberhard, [user]
ich bin
mir nicht sicher, ob ich das Geschriebene von dir angemessen interpretiere. Fast
scheint es, als strebtest du eine Vermittlung antiker Glückstheorien mit der
habermasschen Diskursethik an. Allerdings könnte ich mich dahingehend auch
täuschen. [ruffle]
Dein Beispiel mit den "Polizisten", das ich jetzt hier aus
Übersichtsgründen nicht zitiere, lässt vermuten, dass die "Diskurse der Macht"
anderen ethischen Vorstellungen unterworfen sind als der Idealzustand eines
herrschaftsfreien Diskurses. Vielleicht wäre ja auch einmal zu überdenken, in
welchen diskursiven Zusammenhängen eine "Konsensfähigkeit" gegeben ist?
Gruß,[balloon]
Just
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 11. Nov. 2005, 13:31 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Hallo Urs,
was Du eine Ethik des guten
Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen
Bedürfnisse abhandeln.
Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt,
wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden
können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen. Die Frage:_ Was ist
ein "gutes" bzw. "bedürfnisgerechtes" Leben? verdient eine eigene
Diskussionsrunde.
Meinen unwirschen Ausfall bitte ich zu
entschuldigen. Ich nehme ihn zurück (und habe ihn also gelöscht). Im Sinne einer
produktiven Fortsetzung der Diskussion ist es wohl besser, ich erkläre kurz, was
ich - im Anschluss an die aristotelische Ethiktradition - mit einer Ethik des
"guten Lebens" meine. (Kommt später)
Sicher verdiente die
Gegenübsterstellung von normativer Ethik und ("eudaimonistischer") Strebensethik
einen eigenen Thread. Aber da das Gemeinwohl-Problem damit eng zusammenhängt,
können wir diesen Punkt nicht aussparen.
Mit Bitte um Entschuldigung
grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 11. Nov. 2005, 14:47 Uhr
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Hallo Eberhard!
Quote:Hallo Urs,
was Du eine Ethik des guten
Lebens nennst, würde ich wohl unter dem Titel: Theorie der menschlichen
Bedürfnisse abhandeln.
Eine solche Bedürfnistheorie wird z.B. dann benötigt,
wenn die Interessen von Menschen nicht von ihnen selbst formuliert werden
können, sondern stellvertretend rekonstruiert werden müssen.
Das
ist ein Missverständnis. Denn eine Ethik des „guten Lebens“ will ja gerade die
Fähigkeit des Menschen befördern, seine Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen,
sondern sie auch zu beherrschen. Diese aktive Fähigkeit der Selbstbeherrschung
und Selbstbestimmung ist es im Grunde, was Aristoles die menschliche „arete“
nennt, und was mit „Tugend“ nur missverständlich auf Deutsch wiedergegeben wird.
Die „eudaimonia“ – ebenfalls mit „Glück“ nur missverständlich zu übersetzen –
ist die dauerhafte „Wohlgestimmtheit“ oder „Verfassung“ desjenigen Menschen, der
seine verschiedenen Bedürfnisse und Bestrebungen zu einer gewissen harmonischen
Einheit integriert hat und diese Einheit auch gegenüber den Wechselfällen des
Lebens aufrecht erhalten kann – der sich also von glücklichen und unglücklichen
Umständen bis zu einem gewissen Grade unabhängig zu machen weiß. Dass eine
solche, auf eigener Leistung beruhende „Wohlgestimmtheit“ auch von dem Gefühl
der Freude oder lustvollen Erfüllung begleitet wird, ist klar. Aber diese
„Glücksgefühle“ sind eben nicht das Wesentliche. Vielmehr ist derjenige, der
unkontrolliert und gierig nur nach immer neuen Glücksgefühlen strebt, alles
andere als „sittlich vortrefflich“ und „glücklich“ im Sinne eines guten,
gelingenden Lebens.
Das Missverständnis, dem die „eudämonistsche“ Ethik
heute oft ausgesetzt ist, geht auf Kant zurück und hängt mit dem gewandelten
Naturverständnis der Neuzeit eng zusammen.
Aristoteles hatte ein von der
Biologie geprägtes Naturverständnis, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung des
Lebewesens und seine funktionale „Ganzheit“ („Organismus“) steht. Und im Sinne
einer solchen, sich entwickelnden „Ganzheit“ und „Integration“ betrachtet er
auch das erfüllte Leben des Menschen. Da der Mensch rationale „Seelenteile“ hat,
die ihn spezifisch von Tieren und Pflanzen unterscheiden, kann das Leben des
einzelnen Menschen nur dann „naturgemäß“ und für ihn selbst „erfüllend“ sein,
wenn darin die rationalen Seelenteile dauerhaft die Führung über die anderen
Teile haben. („Führung über“ ist allerdings gemeint als sinnvolle Anordnung und
Integration, nicht als tyrannische Diktatur oder gewaltsame Unterdrückung durch
Askese.) Ein Mensch, der das zustandebringt, ist selbstbestimmt und „glücklich“,
sprich er ist ein „Mensch“ im vollen Sinne.
In der Neuzeit wurde die
Physik zu einer Wissenschaft von der unbelebten Natur. Zielstrebige Entwicklung,
organische Integration sind in ihren mechanistischen Kategorien nicht mehr
denkbar. Und das wirkt sich radikal z.B. in Hobbes’ Anthropologie und der
Schilderung des Menschen im „Naturzustand“ aus. Menschen werden als isolierte
Individuen (= „Atome“) angesetzt, die von Natur aus nur auf nackte
Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung aus sind – nicht auf die Entfaltung
eines kohärenten, in sich stimmigen Lebens. Ihre rationalen Anlagen entfalten
dabei eher fatale Wirkung. Denn die Fähigkeit der Umsicht und Voraussicht löst
beim Individuum eine dauernde Besorgnis um seine Zukunft aus. Den Menschen macht
daher, wie Hobbes treffend sagt, schon sein zukünftiger Hunger hungrig. Diese
Sorge entfesselt und entgrenzt also das Streben nach Macht und Vermögen, so dass
das menschliche Individuum im Naturzustand eine gierige, getriebene Bestie ist.
Sie kann nur durch äußere Gewalt – die souveräne „Staatsgewalt“ und ihre Normen
eben – in Schach gehalten werden...
Das mag als Skizze genügen.
Ich finde es offensichtlich, dass der aristotelische Ethik-Ansatz nach wie
vor aktuell ist. Denn jedem Menschen stellt sich die Aufgabe des gelingenden
Lebens – also einer in sich stimmigen Lebensführung, die mit den individuellen
Anlagen und gesellschaftlichen Gegebenheiten gestalterisch umgehen kann und das
Beste daraus zu machen weiß. Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und
„Selbstverwirklichung“ wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um
sozialverträgliche Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach
vorausgesetzt. Aber ein Blick auf unsere Gesellschaft zeigt, dass sie keineswegs
einfach vorausgesetzt werden kann, sondern immer wieder aufs Neue erworben
werden muss. Und offenbar kann der Einzelne diese Fähigkeit auch nicht allein
erwerben, er ist dabei auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen, in der
er lebt.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 12.
Nov. 2005, 00:18 Uhr
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Hi,
was ist hier eigentlich die Norm?
Wir werden in eine
Gemeinschaft hinein geboren und wachsen in ihr auf. Unser ganzes Leben ist auf
das Leben in einer Gemeinschaft hin ausgerichtet; wir haben eine Sprache und die
wäre völlig unnötig, wenn wir primär allein lebende Individuen wären. Zu sagen,
die Individuen hätten einen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen, ist also schon
deswegen falsch, weil sie einen solchen Vertrag ohne Sprache gar nicht hätten
abschließen können. Der Mensch ist also dem Wesen nach tatsächlich ein zoon
politikon.
Wenn wir nun von Individuen ausgehen bei unseren Überlegungen,
dann gehen wir nicht von dem aus, was ist, sondern von dem, was sein soll. Wir
machen das Dasein des Individuums zu einer Norm. Und weil wir diesen Fehler
machen, uns von den Tatsachen zu lösen, bekommen wir mit unseren Überlegungen
Schwierigkeiten. Denn wie sollen wir von einem tatsächlich nicht bestehenden
Zustand aus - nämlich, dass der Mensch primär ein Individuum sei - einen
tatsächlich bestehenden Zustand - nämlich, dass der Mensch ein zoon politikon
ist - begründen?
Wir haben die Sorge, dass, wenn es um das Gemeinwohl
geht, Willen und Bedürfnisse des Individuums hintan gestellt werden könnten. Ist
öfter mal vorgekommen, die Sorge ist also berechtigt.
Allerdings: wieso
interessieren die Bedürfnisse des Individuums überhaupt, wenn der Mensch doch
ein zoon politikon ist?
Wenn wir uns die grundlegenden Prinzipien der
Moral anschauen, also das, was ich den evidenten ethischen Willen nenne (z.B.
nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen), stellen wir fest, dass die sich alle
auf ein Individuum beziehen. Ich brauche kein Gebot, mich nicht zu töten, mich
nicht zu belügen, mich nicht zu bestehlen; das wäre unsinnig. Hier geht es immer
um den anderen. Also behaupte ich: es ist nicht das Individuum, das seine Rechte
und seine Freiheit garantiert, sie eventuell in einen Vertrag einbringt, sondern
es ist die Gemeinschaft, die sie garantiert.
Daraus folgt, eine
Gemeinschaft, die so verfasst wäre, dass sie die individuellen Bedürfnisse und
Rechte nicht garantiert, widerspricht der humanen Ethik. Weil das der Fall ist,
kann es hier zu keinem Konsens kommen, denn Normen, die der humanen Ethik
widersprechen, sind nicht konsensfähig.
Das Gemeinwohl kann also aus
ethischen Gründen nur so bestimmt werden, dass es das Wohl aller zu ihr
gehörenden Individuen ist. Andernfalls ist der Konsens ausgeschlossen.
Wenn wir vom Individuum ausgehen, müssen wir uns auch Gedanken darüber machen,
wie denn das Individuum leben will oder leben soll. Wir müssen dies positiv
definieren. Gehen wir von der Gemeinschaft aus, müssen wir uns nur Gedanken um
die negative Definition machen, d.h. wie darf das Individuum nicht leben, weil
dies der Gemeinschaft schaden würde. Alles andere überlassen wir ihm selbst.
Urs beschreibt nun den Begriff glückliches Leben im Zusammenhang mit dem
Individuum. Hm. Mir würde so ein Leben nicht gefallen. Es wäre mir zu privat.
Und außerdem kommt die Gemeinschaft, mit der ich leben will, gar nicht darin
vor, höchstens als eine Art Bedrohung, vor der ich mich schützen muss. Ist dir,
Urs, aufgefallen, dass in deinem Modell selbst die Gruppen privat sind? Selbst
die Parteien in sich abgeschlossene soziale Gruppen, in denen man seinen
gemeinsamen Neigungen fröhnt? Und wo ist die Regierung? Wo das Parlament? Wo das
politische Engagement, die Einflussnahme, die Mitbestimmung? Es sieht mir danach
aus, als ob das alles auf einer anderen Ebene wäre, mit der das private
Individuum gar nichts zu tun hat. Aber wer ist dann derjenige, der über Staat
und Gesellschaft bestimmt?
Aber etwas anderes beschreibt er damit für das
Individuum: nämlich ein Ziel. Sein Lebensziel sei ein glückliches Leben. Könnte
aber auch die Gemeinschaft ein Ziel haben? Oder wäre eine primär aus Individuen
bestehende Gemeinschaft überhaupt in der Lage, sich ein Ziel zu setzen?
Und wer soll denn dem Individuum seine Freiheitsrechte garantieren? Die Normen?
Nun, wer die Freiheitsrechte des Individuums abschaffen will, schafft auch diese
beiseite.
Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“
wird von einer rein normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche
Freiheitsspielräume kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt.
Das stimmt, Urs. Nur dass ich da nichts Negatives bei finde. Wenn du aber eine
Norm setzen willst, wie das glückliche Leben des Individuums sein soll, dann
lässt du ihm doch im Endeffekt weniger Freiheit als der, der es voraussetzt.
Das heißt: lässt (!) nicht eine normative Ethik, die sich auf das Gemeinwohl
beschränkt und die auf den Prinzipien der humanen Ethik basiert, dem Individuum
letztlich mehr Freiheit?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 12.
Nov. 2005, 12:49 Uhr
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:-) Hallo Allseits,
Zurückschauend, kann man mit Fug und Recht sagen: Die
Fülle der Beiträge hier sind ein Brainstorming. Heutzutage steht in aller Regel
ein Brainstorming am Anfang eines Projekts. Ich möchte ausnahmsweise beim
Neudeutsch bleiben und damit einige weitere Mosaiksteinchen beisteuern. Gemäss
dem Projektmanagement folgt dem Brainstorming die Ausformulierung der Vision,
der Fernziele und des Auftrags sowie die Erörterung der Mittel, der
Randbedingungen usw. Dann geht es von der Konzeptphase über zur Planung und
Umsetzung usw.
Bevor man sich aber dieser Arbeitsflut hingibt, schaut
man sich besser noch kurz um: Es könnte ja sein, dass bereits was
Pfannenfertiges vorliegt, das man sich, obwohl der Hunger dadurch nicht gestillt
wird, als Zwischenverpflegung zu Gemüte führen kann. Daher Frage ich: Was ist
denn beim Thema/Projekt <Gemein- und Individualwohl> Vision, Fernziel, Auftrag?
Auf der Zunge liegt mir jedoch eine noch drängendere Frage: An wen
richtet sich denn das Produkt, das Ergebnis des Projekts <Gemein- und
Individualwohl>? Ich mein da gibt es nur eine Antwort: An alle Mündigen! Und da
sich das Brainstorming immer auch um Staat und Gesetz drehte, sind damit gewiss
die Wähler und Wählerinnen gemeint, respektive die Abstimmenden, falls zu
Sachgeschäften Stellung zu nehmen ist. Aber auch die übrigen Einwohner. Das
Produkt, das ja nichts anderes sein kann als ein Text, muss also von jedermann
konsumiert werden können! Das bedeutet, dass der Text selbsterklärend,
verständlich und attraktiv sein muss. Der härteste Test ist (wie könnte ich bei
meiner Herkunft etwas anderes behaupten) die Volksabstimmung!
So und nun
kehre ich zurück zur Frage am Ende des zweiten Abschnitts: Was ist denn Vision,
Fernziel, Auftrag? Als Antwort schlage ich vor, die Präambel der Verfassung oder
des Grundgesetzes als Vision, Fernziel und Auftrag zu lesen. Beispielsweise:
Präambel
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das ....volk und die
Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den
Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in
Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in
gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber
den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit
gebraucht,
und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung
.......
Mit dem fett Gedruckten wollte
ich deutlich machen, dass es hier offensichtlich um Auftrag und Fernziele geht,
sowie insgesamt um eine Vision, also um den fernen Stern, der angepeilt wird.
Übrigens mit dem ersten Satz der Präambel wird meiner Meinung nach einzig und
allein deutlich gemacht, dass Mensch Grenzen anerkennt, z.B.: DIE Wahrheit nicht
für sich gepachtet zu haben.
Danke & Gruss --- Euer alltägliches
Mosaiksteinchen ;-) ;-) ;-)
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 12. Nov. 2005, 13:42 Uhr
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Hallo Abrazo!
Quote:Wenn wir vom Individuum ausgehen, müssen wir uns
auch Gedanken darüber machen, wie denn das Individuum leben will oder leben
soll. Wir müssen dies positiv definieren. Gehen wir von der Gemeinschaft aus,
müssen wir uns nur Gedanken um die negative Definition machen, d.h. wie darf das
Individuum nicht leben, weil dies der Gemeinschaft schaden würde. Alles andere
überlassen wir ihm selbst.
Diese beiden Perspektiven, denke ich,
schließen einander nicht aus, sondern sie ergänzen sich Und das liegt daran,
dass zu den persönlichen Zielen des Individuums auch solche gehören, die es mit
anderen Individuen teilt, die also schon gemeinschaftliche Ziele sind. Und was
einer Gemeinschaft schadet, hängt jeweils auch vom Selbstverständnis dieser
Gemeinschaft ab, d.h. davon, welche Ziele diese Gemeinschaft als Gemeinschaft
anstrebt.
Eine universalistische normative Ethik wie die von Eberhard
vertretene lässt jedoch die Frage nach den individuellen oder gemeinschaftlichen
Zielen („Werten“, „Gütern“) insgesamt außen vor. Sie befasst sich nur mit der
Form des Verfahrens, durch das Normen im Fall des Zielkonflikts von den
Betroffenen gefunden werden sollen. Sie ist also eigentlich eine „Meta-Ethik“.
Meine These hierzu ist, dass der Begriff des Gemeinwohls sich gar nicht
auf die Ebene der Form bezieht, sondern auf die Ebene der gemeinschaftlichen
Ziele. Er meint also das, was eine Gemeinschaft als Gemeinschaft anstrebt und
was sich von einem isolierten Individuum gar nicht verwirklichen ließe.
Grundsätzlich müssten sich also eine Ethik der Ziele und eine Meta-Ethik nicht
ins Gehege kommen. Was ich an Eberhards Konzept kritisiere, ist die Beschränkung
von Ethik auf Meta-Ethik. Eine Meta-Ethik bekommt m.E. ein – so und so
bestimmtes – Gemeinwohl gar nicht erst in den Blick. Ihr Universalismus ist eben
erkauft durch ihren Formalismus.
Einer der Gründe, den ich gegen diese
Beschränkung einwende, ist dieser: Die Meta-Ethik beansprucht, unparteilich zu
sein, und zwar gerade deshalb, weil sie sich mit keinem bestimmten Ziel – sei es
eines Individuums, sei es einer Gemeinschaft – identifiziert. Die Anwendung des
von der Meta-Ethik postulierten Verfahrens aber, behaupte ich, wird faktisch
niemals unparteilich sein können. Sie ist gewissermaßen ein Verfahren für Wesen
aus einer anderen Welt, nicht für die wirklich existierenden Menschen.
Quote:Ist dir, Urs, aufgefallen, dass in deinem Modell selbst die Gruppen privat
sind? Selbst die Parteien in sich abgeschlossene soziale Gruppen, in denen man
seinen gemeinsamen Neigungen frönt? Und wo ist die Regierung? Wo das Parlament?
Wo das politische Engagement, die Einflussnahme, die Mitbestimmung? Es sieht mir
danach aus, als ob das alles auf einer anderen Ebene wäre, mit der das private
Individuum gar nichts zu tun hat. Aber wer ist dann derjenige, der über Staat
und Gesellschaft bestimmt?
Was verstehst Du unter „privat“? Ein
gemeinnütziger Verein oder gar eine Partei gestalten doch gewisse Teile des
gesellschaftlichen Lebens, d.h. sie bestimmen aktiv darüber mit, wie das Leben
der Gesellschaft ist und sein soll. Sicher, es sind Zusammenschlüsse von
„Privatleuten“, aber durch den Zusammenschluss hören diese doch auf, nur
Privatleute zu sein.
Die Mitglieder eines Vereins mögen ganz
verschiedenen Berufen angehören und für sich und ihre Familien jeweils
unterschiedliche Interessen verfolgen. Wenn aber ein Vereinsmitglied als
Vereinsmitglied spricht, spricht er eben im Interesse des Vereins, d.h. aller
Vereinsmitglieder. Die Vereinigung im Namen eines gemeinsamen Interesses zieht
also gewissermaßen eine neue Ebene in der komplexen Interessenstruktur jedes
einzelnen Mitglieds ein, und diese ist für jedes Mitglied gleich. Die
Mitgliedschaft in der Gemeinschaft macht also die „Privatleute“ in einer
bestimmten Hinsicht gleich. Und wirkt so auf die Individuen zurück und verändert
ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Ziele.
Die Gemeinschaft greift also
zunächst einmal schon gestaltend in das Leben ihrer Mitglieder ein und kann, je
nachdem, sich darüber hinaus auch zum Ziel machen, über ihre Grenzen hinweg
Einfluss zu nehmen – durch Anwerbung neuer Mitglieder, durch öffentliche
Verbreitung ihres Programms, durch tätige Hilfe usw.
Da wir alle in der
einen oder anderen Weise „Mitglied“ sind, ist die Vorstellung eines völligen
Privatlebens eigentlich unrealistisch.
Wenn Du fragst: „Und wo ist der
Staat?“ dann verhältst Du Dich gewissermaßen wie der Oxford-Besucher in Gilbert
Ryles Beispiel (Du erinnerst Dich an den „Ich, Person, Subjekt“-Thread): Man
zeigt ihm verschiedene Colleges, Bibliotheken, Verwaltungsgebäude, bis er
irgendwann ungeduldig fragt: „Schön und gut, aber wo ist jetzt die Universität?
Warum zeigt man mir nicht endlich die Universität?“
:-)
Quote:(Urs) Diese
Fähigkeit der Selbstbestimmung und „Selbstverwirklichung“ wird von einer rein
normativen Ethik, die sich nur um sozialverträgliche Freiheitsspielräume
kümmert, nicht gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt.
(Abrazo)Das
stimmt, Urs. Nur dass ich da nichts Negatives bei finde. Wenn du aber eine Norm
setzen willst, wie das glückliche Leben des Individuums sein soll, dann lässt du
ihm doch im Endeffekt weniger Freiheit als der, der es voraussetzt.
Das
heißt: lässt (!) nicht eine normative Ethik, die sich auf das Gemeinwohl
beschränkt und die auf den Prinzipien der humanen Ethik basiert, dem Individuum
letztlich mehr Freiheit?
Natürlich macht eine Ethik des „guten Lebens“
keine inhaltlichen Vorschriften darüber, welche Ziele die Menschen anstreben
sollen. Aber sie nimmt die Probleme des Zusammenlebens aus der Perspektive des
handelnden Individuums in den Blick, das bestimmte Ziele – wichtigere und
langfristigere oder unwichtigere und kurzfristige – verfolgt. Die dabei
auftretenden Probleme sind nun nicht unabsehbar verschieden, sondern haben eine
gewisse Typik, die sich aus der Struktur des Lebens jedes Einzelnen ergeben.
Und so ermöglicht diese Art von Ethik es ihrem Adressaten, mit diesen
bekannten „Klippen“ umzugehen, sich darauf einzustellen – kurz: aus der
Erfahrung anderer zu lernen. Diese Ethik verfolgt somit einen „Bildungsauftrag“,
sie greift unterstützend ein in den Prozess der „Sozialisation“, den jedes in
Gemeinschaften lebendes Individuum ohnehin durchlaufen muss, wenn es seine
Interessen verfolgt bzw. sein Lebensglück sucht. Sie hilft ihm also dabei, die
Perspektive der Gemeinschaft in die eigene Perspektive zu integrieren.
Begrenzt eine solche Hilfe beim Durchschauen praktischer Problemfelder die
Freiheit des Individuums? Ich würde eher sagen, ihr Sinn liegt gerade darin, ihm
seine Freiheitsspielräume vor Augen zu führen und sie im Sinne seiner
fundamentalen Interessen („Lebensglück“) zu nutzen.
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 12.
Nov. 2005, 23:54 Uhr
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Hi, Urs,
dass zu den persönlichen Zielen des Individuums auch solche
gehören, die es mit anderen Individuen teilt, die also schon gemeinschaftliche
Ziele sind.
Ist es nicht so, dass die persönlichen Ziele des Individuums
zumeist von der/den Gruppen, denen es angehört, bestimmt sind?
Und was
einer Gemeinschaft schadet, hängt jeweils auch vom Selbstverständnis dieser
Gemeinschaft ab, d.h. davon, welche Ziele diese Gemeinschaft als Gemeinschaft
anstrebt.
Zustimmung. Dat is relativ.
Eine universalistische
normative Ethik wie die von Eberhard vertretene lässt jedoch die Frage nach den
individuellen oder gemeinschaftlichen Zielen („Werten“, „Gütern“) insgesamt
außen vor. Sie befasst sich nur mit der Form des Verfahrens, durch das Normen im
Fall des Zielkonflikts von den Betroffenen gefunden werden sollen. Sie ist also
eigentlich eine „Meta-Ethik“.
Meine These hierzu ist, dass der Begriff
des Gemeinwohls sich gar nicht auf die Ebene der Form bezieht, sondern auf die
Ebene der gemeinschaftlichen Ziele. Er meint also das, was eine Gemeinschaft als
Gemeinschaft anstrebt und was sich von einem isolierten Individuum gar nicht
verwirklichen ließe.
Das ist ein schwieriges Kapitel. Die Bestimmung
der Verfahrensform halte ich durchaus für wichtig. Es ist die Frage, wie müssen
Normen überhaupt beschaffen sein, damit sie konsensfähig sind. Nehmen wir die
Pazifismus-Norm. Keine Gewalt, auch im Falle kriegerischer Aggression soll man
gewaltlos Widerstand leisten. Diese Norm ist nicht konsensfähig, weil sie einer
in einer bestimmten Kultur gewachsenen Überzeugung universale Gültigkeit
verschaffen will - was mit dem heiligen Verteidigungskrieg der Moslems
kollidiert. Woraus folgt, dass solche universalen Normen auf etwas anderem
basieren müssen als auf einer speziellen Kultur. Und das macht die 'Meta-Ethik'
wiederum wichtig und interessant, nämlich mit der Frage, worauf könnten sie dann
basieren.
Gehören nicht die gemeinschaftlichen Ziele ebenfalls, was die
Frage betrifft, welche überhaupt möglich sind, zur 'Meta-Ethik'?
Die
Meta-Ethik beansprucht, unparteilich zu sein, und zwar gerade deshalb, weil sie
sich mit keinem bestimmten Ziel – sei es eines Individuums, sei es einer
Gemeinschaft – identifiziert.
Die Frage nach den Zielen ist
problematisch. Einerseits stimme ich Metin zu: eine Gruppe kann sich
konstituieren, aber auch renovieren und erheblich festigen und stärken durch das
gemeinsame Ziel. Andererseits, wenn wir uns mit universalen Normen befassen
wollen, das wären dann Menschheitsnormen. Und welches Ziel hat die Menschheit?
Hier würde ich eine Diskussion verweigern und sagen, beschränken wir uns erst
mal darauf, das Beständige zu sichern, also das, was Menschen zu allen Zeiten
und an jedem Ort brauchen und wollen (und damit meine ich auch kulturelles).
Dann liegt das Ziel in den gegenwärtigen menschlichen Möglichkeiten - wobei die
Ethik sich natürlich auch damit auseinander setzen müsste, welche Möglichkeiten
sind akzeptabel und welche nicht.
Die Anwendung des von der Meta-Ethik
postulierten Verfahrens aber, behaupte ich, wird faktisch niemals unparteilich
sein können. Sie ist gewissermaßen ein Verfahren für Wesen aus einer anderen
Welt, nicht für die wirklich existierenden Menschen.
Berechtigter
Einwand. Ist aber letztlich die Frage, ob es eine zum Wesen des Menschen
gehörende allgemeine Ethik gibt. Wenn ja, wäre ein solches Verfahren imho auch
möglich. Natürlich würde eine solche Ethik nicht die kulturspezifischen
Eigenarten berühren.
So, und der Rest kommt morgen - ich geh jetzt ins
Bett.
Ciao!
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 13.
Nov. 2005, 23:21 Uhr
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Hi Urs,
zweiter Teil.
Du hast geschrieben:
Allerdings lässt
uns das Recht – wie Du selbst sagst - ja große Spielräume, innerhalb derer viele
verschiedene Formen von Gemeinschaft – als Ausdruck gemeinsam genutzter Freiheit
– möglich sind. Das geht von der Familie über den Sportverein, den Weltladen,
das Technische Hilfswerk... bis zur Religionsgemeinschaft und zur politischen
Partei. Alle diese Gemeinschaften streben ein je eigenes gemeinsames Gut an,
dessen Verwirklichung auch zum „guten Leben“ der Mitglieder beiträgt. Auch
erfüllen solche Gemeinschaften eine wichtige sozialintegrative Funktion –
besonders bei Jugendlichen.
Das klingt mir zu privat. Wo bleibt da die
Politik? Die Frage nach dem Gemeinwohl ist ja eine politische Frage - und es ist
eine Frage, bei der das Privatwohl des Parteimitgliedes durchaus auch in den
Hintergrund treten kann. Nach meiner Erfahrung gibt es gar nicht mal so wenige
einfache Parteimitglieder, die feststellen, dass es ihnen so gut geht, dass sie
eigentlich noch etwas abgeben könnten.
Auch die ehrenamtlichen
Tätigkeiten sollte man nicht unterschätzen. Es gibt nicht wenige, die gerne ihre
Privatinteressen dafür zurückstellen. Natürlich haben sie Freude an ihrer
Tätigkeit. Aber die Freude schöpft daraus, dass sie anderen helfen, nützlich
sein, bei ihnen etwas verbessern können (ich habe gerade eine einfache Frau im
Kopf, die irgendwie per Zufall dazu gekommen ist, sich in einem Krankenhaus
ehrenamtlich um allein stehende Schwerkranke zu kümmern). Also ist nicht nur der
Mensch ein zoon politikon, auch seine individuellen Interessen können durchaus
auf das Gemeinwohl hin ausgerichtet sein - so dass ich mich frage, ob die
derzeitige extreme Individualisierung in der Gesellschaft tatsächlich
'artgerecht' ist, oder ob sie nicht eher einer Ideologie folgt, nach der das
räuberische Individuum sowohl als Arbeitskraft als auch als Konsument die besten
Gewinne verspricht (was will man auch wirtschaftlich mit einem Individuum
anfangen, dass sozial gebunden, also immobil ist und kostenlose Arbeit für
andere leistet).
für sich und ihre Familien jeweils unterschiedliche
Interessen verfolgen.
Wenn ich mir vergegenwärtige, wie Menschen in
meiner Umgebung handeln, dann kann ich nicht finden, dass sie dabei ständig die
Interessen für sich und ihre Familien verfolgen. Es ist nicht so, dass die
sozialen Gruppen in unserer Gesellschaft ausschließlich Interessenverbände sind,
die sich zusammen geschlossen haben, um gemeinsam ihre Privatinteressen besser
vertreten zu können. Ich behaupte: es gibt durchaus eine interessierte Basis in
der Gesellschaft, die an Eberhards Normendiskurs teilnehmen würde.
Wenn
Du fragst: „Und wo ist der Staat?“
Ich denke hierbei aber an etwas
anderes. Ich denke an zahllose Bürger, die "den Staat" als Gegner ansehen, als
aufgeblähten Fresssack, mit dem sie überhaupt nichts zu tun haben, der ihnen
immer nur Geld weg nimmt und seinen Protagonisten zuschanzt, ohne das Geld im
Sinne des Gemeinwohles auszugeben und zu verteilen. An "den Staat" der "Bonzen",
in dem man zwar ab und zu mal wählen gehen kann, aber doch irgendwie nicht so
richtig. An Bürger, die Staat und Gemeinwohl nicht zur Deckung bringen wollen
und können.
Diese Ethik verfolgt somit einen „Bildungsauftrag“, sie
greift unterstützend ein in den Prozess der „Sozialisation“, den jedes in
Gemeinschaften lebendes Individuum ohnehin durchlaufen muss, wenn es seine
Interessen verfolgt bzw. sein Lebensglück sucht.
Und hier wiederum, Urs,
dieses 'Lebensglück' muss erst einmal möglich sein. Ist das möglich bei Kindern
aus Problemfamilien? Ich bestreite das. Das einzige, was ihnen möglich ist, ist,
sich kurzzeitig ein paar Krümel vom Kuchen widerrechtlich anzueignen. Z.B. indem
sie einem Gleichaltrigen aus besseren Verhältnissen die Jacke oder das Handy
abziehen.
Erziehung, Bildung, gute Sozialisation sind eine feine Sache.
Aber hier halte ich die universalistische normative Ethik insofern für
überlegen, als dass solche universalen Normen überhaupt erst die Voraussetzung
dafür schaffen, dass Erziehung, Bildung und Sozialisation allgemein möglich
sind. Was nützt dir denn das Ziel des guten Lebens, wenn es für viele aufgrund
ihrer Lebensbedingungen gar nicht zu erreichen möglich ist?
Wie sie das
gute Leben jeweils sehen, das kann man mit unterschiedlichen Gruppen diskutieren
und wird jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aber es muss doch erst
mal die Basis dafür geschaffen werden, dass solche Diskussionen überhaupt
möglich sind - und dazu gehören die materiellen Voraussetzungen ebenso wie die
Grenzziehung zwischen den unterschiedliche Gruppen, von denen jede im
Zweifelsfalle behauptet, allein das richtige gute Leben verwirklichen zu wollen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 14.
Nov. 2005, 19:50 Uhr
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Hallo Urs,
Nach einigen Tagen Abwesenheit versuche ich den – inzwischen
erheblich weitergesponnenen – Faden wieder aufzunehmen. Du schreibst (am 11.11.)
:
"Eine Ethik des 'guten Lebens' will … die Fähigkeit des Menschen
befördern, seine Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern sie auch zu
beherrschen." Ziel ist ein Mensch, "der seine verschiedenen Bedürfnisse und
Bestrebungen zu einer gewissen harmonischen Einheit integriert hat und diese
Einheit auch gegenüber den Wechselfällen des Lebens aufrecht erhalten kann – der
sich also von glücklichen und unglücklichen Umständen bis zu einem gewissen
Grade unabhängig zu machen weiß."
Wenn ich dich richtig verstehe, so geht
es in dieser Passage um spezielle Interessen des Individuums, die sich auf die
Formung seiner eigenen Person richten, also um Ziele der Selbsterziehung. Das
heißt, dass das Individuum, um dessen Wohl es geht, in seiner Persönlichkeit
nicht als gegeben angesehen wird, sondern selber etwas Veränderliches darstellt.
Diesen Punkt halte ich für wichtig, weil er die spezifisch menschliche
Fähigkeit zum Bezug auf sich selbst einbringt. Allerdings können die Ziele der
Selbsterziehung dem Individuum nicht als fertige Ideale vorgegeben werden. Diese
Ziele müssen vom Individuum selber gewollt werden. Das Individuum muss selber
ein Interesse an dieser Entwicklung haben. Nur unter dieser Bedingung wird durch
den Erwerb dieser Fähigkeiten sein Wohl auch wirklich gefördert.
Es
stellt sich die Frage: Wie ist das mit den Fähigkeiten, die vorhanden sein
müssen, damit ein Individuum überhaupt seine "echten" Interessen (einschließlich
seiner Interessen an der Entwicklung und Reifung der eigenen Persönlichkeit)
erkennen kann? Kann man das Interesse an der Fähigkeit zur klugen, fehlerfreien
Bestimmung der eigenen Interessen immer voraussetzen? Muss dieses Interesse
immer als gegeben angenommen werden? Oder speist sich die Motivation zur
Rationalität aus den schlechten Erfahrungen mit unreflektierter
Bedürfnisbefriedigung?
Gewöhnlich wird das Interesse an der eigenen
Rationalität offenbar vorausgesetzt. Wenn einem Individuum dies Interesse fehlt,
so wird es für unmündig erklärt und das Verhältnis zu ihm wird offen als ein
(fürsorgliches) Herrschaftsverhältnis verstanden.
Soviel erstmal von
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 14.
Nov. 2005, 21:34 Uhr
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Zitat: Eine Katastrophe wird mit der andern Katastrophe konkurieren die
Katastrophengruppierung zu verherrlichen. /homo_sapiens, 14.11.05 09:44 Uhr/
:-) Lieber homo_sapiens,
Es ist doch nicht die Frage, ob es Katastrophen
gibt - Es gibt solche, da sind wir uns einig -, sondern Frage ist, wie mit
Katastrophen umzugehen ist.
Manchmal ist das kinderleicht: In
katastrophenträchtigen Situationen soll man nicht nur kein Öl ins Feuer werfen,
sondern womöglich Energie entziehen.
Zitat: Und hier wiederum,
... dieses 'Lebensglück' muss erst einmal möglich sein. Ist das möglich bei
Kindern aus Problemfamilien? Ich bestreite das. /Abrazo, 13.11.05 23:21 Uhr/
:-) Hallo Abrazo,
mit viel Geduld ist es nicht selten, doch möglich,
meist indem man Energie herausnimmt.
Zitat: Wenn ich dich richtig
verstehe, so geht es in dieser Passage um spezielle Interessen des Individuums,
die sich auf die Formung seiner eigenen Person richten, .... /Eberhard, 14.11.05
19:50 Uhr/
:-) Hallo Eberhard,
Ich möchte Deinen Gedanken noch etwas
zuspitzen: Was ist das Ziel der Erziehung? Angesichts dieser Frage, verwirft man
schnell die Hände und wendet sich ab. Ich meine auf diese Frage eine
zustimmungsfähige Antwort geben zu können: Das Ziel der Erziehung ist es,
jemanden so zu erziehen, dass er sich selbst erziehen kann.
Für viele
darf das nur eine Teilantwort sein, weil für sie die Richtung fehlt. Aber genau
damit hat so manche Individualkatastrophe angefangen.
Du fragst: <Kann
man das Interesse an der Fähigkeit zur klugen, fehlerfreien Bestimmung der
eigenen Interessen immer voraussetzen? Muss .... ? Oder speist sich ....?> Und
ich denke: Ach wie sind diese Fragen doch normenträchtig! Um alles in der Welt!
Wie und wann soll einer etwas lernen, ohne "Versuch und Irrtum".
Danke &
Gruss --- Euer fürsorglicher Alltag
P.S.: Irgendwie hat doch das noch mit
dem Thema zu tun, oder?
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 15.
Nov. 2005, 11:43 Uhr
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Hi zusammen,
es scheint mir angebracht zu sein, sich erst einmal darauf
zu besinnen, was ein Gemeinwesen überhaupt ist. Wodurch wird es umschlossen? Da
haben wir bei einem Verein die Mitgliederschaft. Die Mitglieder sind im
Vereinsregister eingetragen und können sich meist auch als solche ausweisen. Es
handelt sich also um eine klar definierte und begrenzte Menge. Das gleiche gilt
für eine Gesellschaft, die einen Staat bildet. Ihr Mitgliedsausweis ist der
Personalausweis.
In jedem Verein gibt es eine Minderheit, die sich
engagiert oder die mit dem Verein bestimmte Privatinteressen durchzusetzen
trachtet. Die Mehrheit zählt zu den Mitläufern oder gar Karteileichen. Sie
gehören dem Verein zwar an, weil sie ihn wichtig finden, ihn unterstützen
möchten oder sich im Notfall Vorteile durch die Unterstützung des Vereins
erhoffen, beschränken sich aber ansonsten auf die Zahlung der Mitgliedsbeiträge.
Üblicherweise dominieren die Engagierten. Sie bilden Flügel und Parteien,
raufen sich miteinander und sind auch wissensmäßig, sowohl was Sachthemen
betrifft, als auch, was Informationen über Interna betrifft, allen anderen
Mitgliedern weit überlegen.
Den übrigen Vereinsmitgliedern macht das nach
dem Motto 'lass andere arbeiten' so lange nichts aus, wie ihre Interessen nicht
vernachlässigt werden, ja, so lange, wie sie überhaupt noch als vorhanden
wahrgenommen werden. Denn es kann vorkommen, dass die Dominierenden gar nicht
mehr merken, dass es da auch noch andere Vereinsmitglieder gibt. Was nicht
selten dazu führt, dass der Verein zerbricht.
Beziehen wir das auf den
Staat. Auch da gibt es zweifellos dominierende Gruppen, die zumeist der
bürgerlichen Lebensform angehören. Wenn ich mir einige Äußerungen hier anhöre,
habe ich den Verdacht, dass es da noch andere, nicht bürgerliche
Vereinsmitglieder gibt, wird übersehen. Das zeigt sich, wenn vom Thema Erziehung
und Enkulturation die Rede ist. Die liberalen bürgerlichen Erziehungsmaßstäbe
werden absolut gesetzt. Es wird nicht beachtet, dass die keineswegs allgemein
als richtig anerkannt sind. Schon in kleinbürgerlichen Kreisen kann man mit
Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung nicht viel anfangen; gefragt ist
Anpassung, und zwar bis hinein in die unmittelbare persönliche Umgebung, und das
Erziehungsziel ist ganz klar, dem Nachwuchs durch eben diese Anpassung zu
ermöglichen, ein Leben auf möglichst sicherer materieller Grundlage zu führen.
Hier ist eine Erziehung zur Selbsterziehung nicht gefragt, denn diese bietet die
Gefahr, dass zum Einen das Individuum die Sicherheit aufgibt, die die materielle
Grundlage bietet, dass das Individuum sich zum anderen von den sozialen
Verpflichtungen löst, die den Lebensverlauf in seiner sozialen Gruppe bestimmt
und von deren Einhaltung alle abhängig sind. Das Ergebnis eines solchen
Verhaltens wäre wahrscheinlich Rausschmiss und Diskriminierung.
Wir
können also von denen, die nicht die sichere materielle Basis des Bürgertums
haben, nicht erwarten, dass sie sich für das Ziel der Verwirklichung
bürgerlicher Freiheiten überhaupt interessieren. Ich komme eben immer wieder
darauf zurück, dass die materielle Lebenswirklichkeit die Basis für die
Humanisierung des Menschen ist. Das heißt, wenn in einer Gemeinwohldiskussion
Konsens über die Förderung der Humanität bestehen sollte, dann folgt daraus
notwendig, dass es im Sinne des Gemeinwohls ist, die materiellen Voraussetzungen
dafür zu schaffen und dass es sinnlos ist, ohne die Schaffung der materiellen
Voraussetzungen Humanität zu predigen und damit ein hehres Ziel an die Decke zu
hängen, das mangels Vorhandensein von Leitern der größte Teil derer, die im
Predigtsaal versammelt sind, auch nicht ansatzweise erreichen können.
Was
folgt daraus, wenn man auf die herrlichen Geschenke weist, die jedermanns Ziel
sein sollten - und übersieht, dass nur die ihrer habhaft werden können, die sich
eine Leiter beschaffen können? Die anderen werden die Leitern zerbrechen. Und
zwar schon dann, wenn sie merken, dass sie von den tollen Sachen nur ein paar
Brosamen nach Gusto der Besitzenden abkriegen. Dies wird um so eher der Fall
sein, wenn die Leiterbesitzer gar nicht mehr sehen, dass da unten etliche Leute
herum krauchen, von denen sie behaupten, dass die leider nicht wollen, während
sie in Wirklichkeit nicht können.
Fazit: wenn wir von Gemeinwohl reden
wollen, müssen wir erst einmal feststellen, von welcher Gemeinde wir überhaupt
reden - und wer alles dazu gehört. Sonst brauchen wir nämlich gar nicht erst mit
einem Bemühen um einen Konsens anzufangen, denn unsere Vorschläge werden
möglicherweise gar nicht konsensfähig sein. Vorstellungen von dem, was für das
Individuum gut und richtig ist, werden in den meisten Fällen nicht konsensfähig
sein, denn wenn die Gemeinde nicht definiert ist, ist die Wahrscheinlichkeit
hoch, dass es sich hierbei um den Vorschlag handelt, eigenen Gruppennormen zur
Allgemeingültigkeit zu verhelfen; als solche sieht man sie an, weil man gar
nicht zur Kenntnis genommen hat, dass die Gemeinde nicht nur aus der eigenen
Gruppe besteht.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 15.
Nov. 2005, 17:10 Uhr
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Hallo allerseits,
Ich will noch einmal darlegen, in welchen
Zusammenhängen ich die Fragen nach dem Wohl der Individuen und dem Gemeinwohl
sehe.
Die Theorie der rationalen Entscheidung bemüht sich um die
Beantwortung der Frage, welche Handlungen eines Subjektes dessen Wohl am besten
verwirklichen. Es wird nach einer „klugen“ Entscheidung gesucht, die das Subjekt
nicht bereuen muss.
Die Ermittlung der in diesem Sinne besten
Entscheidung stellt an das Subjekt (bzw. dessen Ratgeber) folgende
Anforderungen:
- es muss in der Lage sein, empirische Daten zu erfassen,
um die Ausgangssituation in ihren entscheidungsrelevanten Aspekten richtig und
möglichst vollständig zu beschreiben,
- es muss Wissen über empirische
Regelmäßigkeiten besitzen, um die zu erwartenden Konsequenzen der möglichen
Handlungsstrategien zu erkennen,
- es muss die Wahrscheinlichkeiten der
zu erwartenden Konsequenzen abschätzen und bei der Entscheidung berücksichtigen
können,
- es muss sich seiner verschiedenen Ziele bewusst sein und diese
Ziele gewichten können, um die zu erwartenden Konsequenzen nach diesen Kriterien
bewerten zu können.
Weil eine nach diesen Kriterien durchdachte
Entscheidung einen Aufwand erfordert, der je nach Zeithorizont und
Detailliertheit der Berechnungen auch sehr hoch sein kann, bedarf es
gleichzeitig eines Überblicks über die Angemessenheit des betriebenen
Entscheidungsaufwands.
Wenn ich ein Auto kaufe ist z.B. ein höherer
Aufwand bei der Entscheidungsfindung gerechtfertigt als beim Kauf eines
Rasierapparates.
Die Entscheidungskosten sind auch einer der Gründe,
warum Individuen für wiederkehrende Typen von Situationen und Entscheidungen
bestimmte Grundsätze oder Prinzipien ausbilden, nach denen sie gewohnheitsmäßig
handeln. Die einmal gefundenen Entscheidungen gelten dann nicht nur für eine
bestimmte Situation sondern für eine ganze Klasse gleichartiger
Entscheidungssituationen.
Insofern das Subjekt in einer Welt mit anderen
Akteuren lebt, die ebenfalls ihre Ziele verfolgen, muss es deren Handeln in
seine Überlegungen mit einbeziehen. Das Handeln mehrerer Akteure, die unabhängig
voneinander ihre Interessen verfolgen, wird modellhaft von der Spieltheorie
untersucht. Das Resultat dieser Analysen sind Empfehlungen hinsichtlich der für
einen Akteur besten Handlungsstrategie.
Die Frage, die ich stelle,
unterscheidet sich von dieser Perspektive insofern, als ich voraussetze, dass
die Individuen eine gemeinsame Entscheidung finden wollen. Sie wollen als
Gemeinschaft handeln und stehen damit vor der Frage: Was ist die für uns alle
beste Entscheidung? Welche Entscheidung entspricht am besten dem allgemeinen
Wohl?
Dies beantwortet auch die Frage von Abrazo: Die Theorie des
Gemeinwohls bezieht sich auf alle Kollektive, die in bestimmten Bereichen
einheitlich handeln und die für alle Einzelnen, aus denen sich das Kollektiv
zusammensetzt, geltende Normen aufstellen.
Mir geht es also um die
Beantwortung der Frage, welche Entscheidungen, Normen und Handlungen das
Gemeinwohl verwirklichen, wobei ich unter "Gemeinwohl" etwas verstehe, das von
allen Mitgliedern einer Gemeinschaft trotz unterschiedlicher und miteinander im
Konflikt befindlicher Interessen akzeptiert und gemeinsam gewollt werden kann.
Abschließend noch ein Wort zur Begrifflichkeit: Ich würde in Bezug auf die
skizzierte Fragestellung nicht von "Meta-Ethik" sprechen, da unter Metaethik
üblicherweise die sprachanalytische Untersuchung ethischer Aussagen verstanden
wird. Die Metaethik untersucht normative Sätze, sie behauptet selber aber keine
Normen. Im Unterschied dazu dient die skizzierte Theorie des Gemeinwohls der
normativen Regelung des Handelns angesichts unterschiedlicher Interessen der
Individuen.
Es grüßt alle an normativen sozialen Fragen Interessierte
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
16. Nov. 2005, 11:04 Uhr
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Hallo zusammen,
" ... wenn wir von Gemeinwohl reden wollen, müssen wir
erst einmal feststellen, von welcher Gemeinde wir überhaupt reden - und wer
alles dazu gehört. Sonst brauchen wir nämlich gar nicht erst mit einem Bemühen
um einen Konsens anzufangen, denn unsere Vorschläge werden möglicherweise gar
nicht konsensfähig sein." Abrazo & Hund
Wenn das nicht auf provinzieller
Vereinsebene verbleiben soll, scheint mir wichtig, nicht nur die Gruppen, mit
denen sich Gemeinwohl und Individualwohl entfaltet, sondern auch die jeweiligen
Strukturen dieser Gruppen zu berücksichtigen und herauszustellen. In welchem
Verhältnis stehen etwa gesellschaftliche Gruppen die religiös strukturiert sind,
zu gesellschaftlichen Gruppen die ihre praktischen Regeln nicht über Religion
finden, für die Religion nicht das Entscheidene ist? Was bedeutet das, etwa für
den Begriff des Allgemeinwohles? Einleitend, dazu:
Nach Fukuyama ist mit
der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie die Geschichte an ihren
Endpunkt angekommen. Die Entfaltung von Naturwissenschaft und Technologie, in
Verbund mit Ökonomie, führe notwendigerweise zu liberaler Demokratie. Die
Rationalität der Weltgesellschaft "basiere auf den Prinzipien technologischer
Funktionalität und ökonomischer Effizens ebenso wie auf dem politischen Diskurs
freier, mit Selbstbewusstsein ausgestatteter Bürger."
Dagegen liesse sich
fragen, ob nicht auch die in Europa wurzelnde Demokratie mit dem Scheitern des
Kommunismus und dem politischen Umbruch in Osteuropa zu ihren Ende gekommen ist?
Und wenn ja, ob dann nicht ebenfalls abendländische Metaphysik, monotheistische
Religion und die damit manifestierenden Moralen zu ihren Ende gekommen? Wenn
nicht, welche Aufgabe übernehmen diese im favorisierten Rahmen der Rationalität
der Weltgesellschaft. Was bedeuten dann Metaphysik, Philosophie ... bei der
Definition des Allgemeinwolhes? Die seit 1789 institualisierte Demokratie, Volk
und Nationalstaat, geben jedenfalls seit der weltweiten Durchsetzung der
liberalen Demokratie nicht mehr den Rahmen der ökonomischen Unternehmungen
Europas ab, an dem sich europäische Bürger orientieren. Westeuropäische Bürger
finden ihre Freiheit nicht mehr mit ihren angestammten politischen
Ordnungsgefüge; europäische Nationen werden, süd- mittel- und nahosteuropäische
Innenpolitik wird nicht mehr von jener Nationalstaatlichkeit begrenzt und
entgrenzt, die sich mit der kapitalistischen Expansion Westeuropas
(Kolonialisierung, Weltriege) entfaltete. Die Bürger der liberalen
Weltdemokratie "seien lediglich juristische Personen mit Rechten und Pflichten.
Sie befinden sich in einem abstrakten Raum mit zunehmend ungewissen
territorialen Grenzen. ... Es wird unerheblich sein, ob Privatunternehmen oder
Verwaltungsbeamte eine Norm durchsetzen. Die Norm wird nicht mehr Ausdruck der
Souveränität (etwa Religion, Metaphysik, p.) sein, sondern einfach ein Faktor,
der Ungewissheit reduziert, ein Mittel zur Senkung der Transaktionskosten, indem
sie die Transparenz der sozialen Interaktionen erhöht." Recht wird "reduziert
auf einen Regelkodex und nur durch den täglich erbrachten Beweis seiner
Funktionsfähigkeit legitimiert." Diese sozioökonomische Abstraktheit ist jene
des Pragmatismus, da diese aus allem anderen resultiert, jedoch nicht, etwa aus
monotheistischer Religion oder aus, weniger aktuell, Institutionen territiol
begrenzter Staatlichkeit. Unterschiede somit Identität manifestieren sich nicht
mit der Rationalen Norm us-amerikanischer und europäischer
ökonomisch-kapitalischer Expansion, sondern mit jenem Bereich der beispielsweise
als Glauben auftritt, d.h. mit Religionen (weltweit als Polytheismus) und
entsprechenden Moralen. Dieser Bereich bietet Prinzipien, welche die, etwa von
abendländischer Metaphysik, Kant ... entgrenzte Rationale Logik
gesellschaftlicher Vernetzung somit auch liberale Demokratie nicht hergibt.
Nach Huntigton "eroberte der Westen die Welt nicht durch die Überlegenheit
seiner Werte oder seiner Religion, ... sondern durch seine Überlegenheit in der
Anwendung organisierter Gewalt ... Um die Kultur des Westens bei schrumpfender
Macht des Westens zu bewahren, sei es ... unter anderem nötig, die
technologische und militärische Überlegenheit des Westens über andere Kulturen
zu behaupten. ... weil sie das mächtigste Land des Westens sind, falle diese
Aufgabe überwiegend den USA zu."
Das Gesellschaft Zusammenhaltene ist
nach Fukuyama und Huntigton also nicht Religion, abendländische Metaphysik sowie
die damit auftretenden Moralen und Diskurse, auch nicht europäische
Nationalstaatlichkeit, sondern die Rationalität liberaler Weltgesellschaft. Mit
den "Prinzipien technologischer Funktionalität und ökonomischer Effizens"
auftretend übernehme die liberale Weltdemokratie jene Sinnstiftung, die bisher
in Europa monotheistische Religion, Metaphysik ..., aber auch
Nationalstaatlichkeit, Patriotismus ... für sich in Anspruch nahm, Normen der
Gesellschaft zu favorisieren. Sollten derartige Veränderungen struktureller
Zusammenhänge nicht ebenfalls berücksichtigt werden, wenn die Frage nach dem
Verhältnis Gemeinwohl sowie Individualwohl diskutiert wird? Wenn sich Identität
von gesellschaftlichen Gruppen etwa über Religion und nicht über liberale
Demokratie verzeitigt, sollte bei der Behandlung der Frage nicht vernachlässigt
werden, die Strukturen dieser Gruppen näher zu bestimmen? Denn die mit der
liberalen Demokratie expandierende Normativität findet ihre Begrenzung mit jenen
gesellschaftlichen Gruppen, denen nicht institualisierte Diskurse der Maßstab
der Freiheit sind. Das gilt ebenso für die Innen- wie auch der Aussenpolitik
verschlankter Staatlichkeit im sogenannten globalen Zeitalter.
"Mir geht
es also um die Beantwortung der Frage, welche Entscheidungen, Normen und
Handlungen das Gemeinwohl verwirklichen, wobei ich unter "Gemeinwohl" etwas
verstehe, das von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft trotz unterschiedlicher
und miteinander im Konflikt befindlicher Interessen akzeptiert und gemeinsam
gewollt werden kann." Eberhard
Was akzeptieren denn die unterschiedlichen
Mitglieder einer Gesellschaft die, religiöse Identität und liberale Normativität
favorisieren, als Gemeinwohl? Was ist denn überhaupt das Gemeinwohl der von
diesen Ausrichtungen geprägten Gesellschaft im sogenannten globalisierten
Kapitalismus? Sollte nicht erst diese Frage behandelt werden, bevor von
Entscheidungen, Normen und Handlungen, mit denen Gemeinwohl verwirklicht werden
soll, die Rede sein kann?
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 16.
Nov. 2005, 11:57 Uhr
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Hallo allerseits,
Ich will meine Skizze zur Funktion des Begriffs
"Gemeinwohl" noch etwas detaillierter ausführen.
Mehrere Einzelne, die
eine Gemeinschaft bilden und gemeinsam handeln, stehen vor der Frage: Was ist
die für uns alle gemeinsam beste Entscheidung? Oder kürzer: Welche Entscheidung
entspricht dem allgemeinen Wohl?
Diese Frage wird gestellt unter der
Annahme, dass diejenige Entscheidung, die dem allgemeinen Wohl entspricht, für
alle Einzelnen normativ gilt und von diesen zu respektieren ist.
Wenn
dies für den Einzelnen jedoch mehr sein soll als eine Forderung nach Gehorsam
und Unterordnung, so muss das allgemeine Wohl so bestimmt werden, dass es auch
allgemein konsensfähig ist.
An diesem letzten Satz scheiden sich
gewöhnlich die Geister und ich gebe zu, dass der Begriff der „allgemeinen
Konsensfähigkeit“ eine Reihe zum Teil noch unbefriedigend beantworteter Fragen
aufwirft.
Zum einen handelt es sich um einen Möglichkeitsbegriff: die
Zustimmung aller Einzelnen muss möglich sein, sie muss nicht tatsächlich
stattgefunden haben.
Dagegen wird der Einwand erhoben, dass dies kein
brauchbares Kriterium ist, denn man kann praktisch allem zustimmen, wenn die
Zustimmung darin besteht, bei einer bestimmten Frage ja zu sagen, die Hand zu
heben oder auf einem Zettel etwas anzukreuzen.
Dieser Beliebigkeit stehen
jedoch bestimmte allgemeine Annahmen über den Menschen entgegen, die meist nicht
explizit gemacht werden sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. So wird
angenommen, dass kein Individuum einer Alternative zustimmt, zu der es andere
verfügbare Alternativen gibt, die für das betreffende Individuum besser sind,
die also seinem individuellen Wohl mehr entsprechen.
Die tatsächliche
Zustimmung kann sinnvoller Weise kein Kriterium dafür sein, ob eine bestimmte
Alternative dem Allgemeinwohl entspricht oder nicht. Wenn Individuum A sich aus
Zeitmangel, aus Desinteresse oder weil es die ganze Argumentation nicht versteht
noch gar nicht die Frage vorgelegt hat, ob es der Alternative x zustimmt oder
nicht, dann kann die fehlende Zustimmung von A kein inhaltliches Argument gegen
dagegen sein, dass Alternative x dem Gemeinwohl entspricht.
Wie man
sieht, ist die Konsensusfähigkeit, um die es hier geht, nicht dasselbe wie ein
Abstimmungsverfahren nach dem Prinzip der Einstimmigkeit.
Aus der
Argumentation über das allgemeine Beste ergeben sich Überzeugungen der
Individuen hinsichtlich des Gemeinwohls, jedoch bewegen sich diese Überzeugungen
auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit.
Dies ist noch nicht
automatisch auch das sozial Verbindliche. Dazu bedarf es besonderer
institutioneller Aktivitäten.
So können die Überzeugungen der Individuen
unterschiedlich bleiben, weil z.B. mehrere Ansichten zum Gemeinwohl rational
vertretbar sind aufgrund unterschiedlicher empirischer Annahmen über die
Auswirkungen bestimmter Handlungen.
Die inhaltliche Diskussion darüber,
ob eine bestimmte Norm dem Gemeinwohl entspricht, kann deshalb auch
stellvertretend geführt werden, indem man in Bezug auf die Interessenlage von
Einzelnen oder Gruppen bestimmte Annahmen macht.
Dies entschärft etwas
die von Abrazo betonte Problematik, dass es Lebensverhältnisse gibt, unter denen
sich ein Mensch derartige Fragen weder stellen will noch kann.
Es grüßt
Euch Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 16.
Nov. 2005, 21:38 Uhr
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Hallo allerseits,
ich hatte geschrieben, dass der Begriff des allgemeinen
Wohls eine normative Bedeutung für das Handeln der Einzelnen hat. Das, was dem
allgemeinen Wohl dient, ist grundsätzlich zu verwirklichen, auch wenn es dem
Einzelnen keinen Vorteil bringt sondern für ihn eine Einschränkung bedeutet.
Ich hatte jedoch die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen gemacht:
Erstens der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit.
Hier ist der inhaltliche
argumentative Streit angesiedelt, ob ein bestimmtes gemeinsames Handeln dem
allgemeinen Wohl dient oder nicht. Dabei treten all die Probleme auf, die auch
bei der Entscheidungsfindung zum eigenen Wohl eine Rolle spielen (Prognose von
Folgewirkungen, Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten, Bestimmung des Bereichs
der verfügbaren Alternativen, Gewichtung und Abwägung von Interessen u.a.m.).
Hinzu kommen die besonderen Probleme einer kollektiven Entscheidung,
insbesondere die interpersonale Gewichtung und Abwägung von Vor- und Nachteilen
für die Einzelnen.
Zweitens der Ebene der sozialen Verbindlichkeit.
Hier wird der „endlose Streit der Gelehrten“ verlassen und es werden „Nägel
mit Köpfen“ gemacht. Angesichts eines konkreten Problems wird eine einzelne
Entscheidung oder eine generelle Norm als verbindlich „gesetzt“. Dazu müssen
Verfahren der Normsetzung institutionalisiert werden (Regierungen, Gerichte,
Eigentumsrechte, Befehlsbefugnisse, Entscheidungsgremien, Verträge etc.). Die
Verfahren der Normsetzung greifen dabei auf die inhaltlichen
Diskussionsergebnisse zurück und stehen weiterhin unter dem Anspruch der
Gemeinwohlorientierung.
Die Bestimmung des Gemeinwohls geschieht nach
diesem Verständnis auf der Ebene der inhaltlichen Richtigkeit. Die Probleme des
praktischen Handelns (Zeitdruck, beschränkte Ressourcen, Informations- und
Entscheidungskosten) spielen keine Rolle. Die theoretische Diskussion geschieht
also „handlungsentlastet“.
Das Gemeinwohl ist zwar der
Orientierungspunkt des individuellen Handelns und der verfahrensmäßigen
Normsetzung, aber den Überzeugungen der Einzelnen vom Gemeinwohl kommt keine
unmittelbare Verbindlichkeit für das Handeln zu. Dazu bedarf es eines
kollektiven Entschlusses.
Ohne die Unterscheidung zwischen den zwei
Ebenen der inhaltlichen Richtigkeit und der sozial gesetzte Verbindlichkeit und
ohne Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen beiden Ebenen kann m.E. keine
brauchbare normative Theorie des Gemeinwohls entwickelt werden.
Ich bitte
um Nachsicht für diese zugegebenermaßen recht abstrakt geratenen theoretischen
Erörterungen und hoffe auf eine Konkretisierung anhand von Beispielen.
Bis dann grüßt Euch Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 18.
Nov. 2005, 10:53 Uhr
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Hallo allerseits,
ich gehe einmal von einer Gemeinschaft aus, die im
Sinne des Gemeinwohls handeln will.
Angenommen, es würde innerhalb dieser
Gemeinschaft immer wieder zu Konflikten kommen, weil sich Mitglieder der
Gemeinschaft durch Lärm in ihrer Nachtruhe gestört fühlen.
Weiterhin sei
angenommen, dass allen Mitgliedern ein ungestörter Nachtschlaf wichtiger ist als
die Möglichkeit, zu nächtlicher Zeit Tätigkeit nachzugehen, die mit lauten
Geräuschen verbunden sind. Das heißt, dass es für alle besser wäre, wenn die
nächtliche Ruhe eingehalten würde.
In diesem einfach gelagerten Fall
könnte man sagen, dass die Einhaltung einer solchen Norm dem Gemeinwohl
entspricht, weil sie für alle besser ist als der ungeregelte Zustand.
Da
die Menschen zwar verschieden sind, aber da es auch vieles gibt, was allen
Menschen gemeinsam ist, gibt es zahlreiche Regelungen, die für alle einzelnen
vorteilhaft sind. In diesem Fall – auch nur in diesem Fall – lässt sich das
Gemeinwohl durch die Anwendung der Goldenen Regel bestimmen: „Was du nicht
willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“
Diese
Regelungen, die unter normalen Bedingungen und in der ganz überwiegenden Zahl
der Fälle dem Wohle aller Einzelnen und folglich auch dem Wohle der
Allgemeinheit dienten, machen den Grundbestand der üblichen, von Generation zu
Generation weitergegebenen Moral aus. In traditionellen Gesellschaften, in denen
der Einzelne noch abhängiger war von seiner sozialen Umgebung, reichte für die
Durchsetzung solcher Normen die moralische Verachtung der Mitmenschen gegenüber
demjenigen, der diese Normen verletzte. Ein besonderer Apparat von Polizei,
Gerichten und Strafvollzugsanstalten war dort nicht nötig, wo jeder jeden kannte
und wo jeder auf sein soziales Ansehen achten musste, weil davon sehr viel für
ihn abhing.
Es grüßt Euch Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 18.
Nov. 2005, 23:11 Uhr
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Hi zusammen,
Eberhards #58 stimme ich zu.
Philoschall, die Thesen
Huntingdons und Fukuyamas kann man imho getrost auf den Müll werfen. Nach
wenigen Jahren hat sich erwiesen, dass die USA das meist gehasste Land der Erde
sind, als Kultur ein Negativbeispiel für eine Entwicklung, die man auf keinen
Fall einschlagen möchte - und auch die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen,
hat sich als äußerst begrenzt erwiesen. Mit anderen Worten: eine Seifenblase.
die Zustimmung aller Einzelnen muss möglich sein
Dieser kleine
Halbsatz erscheint mir sehr wichtig. Was heißt, die Zustimmung muss möglich
sein?
Nehmen wir als Beispiel unser Grundgesetz. Es ist von einer
kleinen Gruppe entwickelt und niedergeschrieben worden und von einer weiteren
kleinen Gruppe beschlossen worden. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der
dem Grundgesetz nicht zugestimmt hätte. Einwände kamen stets aus formalistischer
Richtung: es sei nicht in einer Volksabstimmung abgesegnet worden. Nie aber
inhaltlicher Art. Das Grundgesetz war also zum Zeitpunkt, als es
niedergeschrieben wurde, offenbar ein Normenkatalog, zu dem Zustimmung möglich
war. Das hat eine Konsequenz: eine Ablehnung im Konsens erscheint mir unmöglich.
Vergleichen wir das mit Huntingdon und Fukuyama, oder auch mit dem
islamischen Staatsideal. Ich will nicht ausschließen, dass die Zustimmung zu
diesen Vorstellungen in einer Gesellschaft möglich ist. Global aber ist sie
unmöglich. Global könnte eine 'Zustimmung' nur mit Gewalt erreicht werden, doch
auch das ist so gut wie ausgeschlossen.
Daraus folgt die These, dass ein
entwickelter Normenkatalog nur dann das Papier wert ist, auf dem er steht, wenn
die Zustimmung zu diesem Normenkatalog in der sozialen Gruppe, für die er gelten
soll, grundsätzlich möglich ist. Die Möglichkeit der Zustimmung kann man aber
m.E. nicht von den individuellen Interessen abhängig machen (jedenfalls nicht
bei größeren sozialen Gruppen), vielmehr ist sie abhängig von der Vereinbarkeit
eines solchen Normenkataloges mit den im Zustimmungsbereich als gültig oder wahr
angesehenen bestehenden Normen und Werten.
So wird angenommen, dass kein
Individuum einer Alternative zustimmt, zu der es andere verfügbare Alternativen
gibt, die für das betreffende Individuum besser sind, die also seinem
individuellen Wohl mehr entsprechen.
Setzt diese Auffassung nicht
voraus, dass das Individuum keine Gemeinschaftsinteressen hat - und ist nicht
diese Auffassung falsch? Läuft nicht der politische Streit eher in die Richtung,
welche Alternative besser für die Gemeinschaft ist und ist nicht das
individuelle Interesse daran relativ unbeteiligt, taucht nur auf in der
Berücksichtigung der Interessen aller unter dem behandelten Aspekt gleichartiger
Individuen?
Ich bitte um Nachsicht für diese zugegebenermaßen recht
abstrakt geratenen theoretischen Erörterungen und hoffe auf eine Konkretisierung
anhand von Beispielen.
Nö. Wieso? Is doch auch so klar.
Ich sehe
allerdings Probleme in dem Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher Richtigkeit
(hm) und sozialer Verbindlichkeit. Denn: wie kann diese inhaltliche Richtigkeit
behauptet werden?
Denken wir mal an den Ausdruck 'politisch nicht
durchsetzbar'. Gemeint ist damit eine Norm, die als inhaltlich richtig erkannt
ist, die aber nicht befolgt wird. Woraus ich schließe, dass sie weder
konsensfähig noch richtig ist.
Jetzt doch ein praktisches Beispiel: das
Hundegesetz. Wird bei uns in weiten Teilen nicht befolgt. Das heißt, die
Junkie-Hunde sind weiterhin leinenlos in Gesellschaft ihrer Herrschaft auf der
Domplatte anzutreffen, in den Vororten laufen Herr und Hund weiterhin ohne Leine
über die Bürgersteigen und in Grünanlagen und Stadtwald läuft kaum ein Hund
angeleint herum. Das zu unterbinden ist aussichtslos. So viele Kontrolleure kann
die Stadt gar nicht einstellen - und Anzeigen aus der Bevölkerung gibt's so gut
wie gar nicht, weil es die nicht stört. Wir haben hier also eine von einer
Vielzahl Experten als inhaltlich richtig entwickelte Norm, die in etlichen
Teilen mangels Zustimmung nicht durchsetzbar ist. Man sollte sich also keine
Illusionen machen: eine theoretische inhaltliche Richtigkeit muss nicht
notwendigerweise auch praktisch als inhaltlich richtig anerkannt sein. Dann
nämlich, wenn die Prinzipien, aufgrund derer die Normen entwickelt wurden (hier:
größere Hunde sind potentiell gefährlich), in der Gesellschaft für falsch
befunden werden (Quatsch, der is nich gefährlich, den kennen wir doch).
Also weitere These: es ist nur sinnvoll, Normen zu entwickeln, die bereits auf
allgemein anerkannten Prinzipien beruhen (womit wir im Grunde wieder bei meiner
Behauptung des Vorhandenseins eines zum Wesen des Menschen gehörenden ethischen
Willens wären - gut, betrifft nicht notwendigerweise die Hunde :-), wohl aber
etliche andere Normenkomplexe).
Diese Regelungen, die unter normalen
Bedingungen und in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle dem Wohle aller
Einzelnen und folglich auch dem Wohle der Allgemeinheit dienten, machen den
Grundbestand der üblichen, von Generation zu Generation weitergegebenen Moral
aus.
Hier möchte ich ein Problem nur andeuten: sind diese Regelungen, die
dem Wohl der Allgemeinheit dienten, nicht abhängig von der Lebensform der
Allgemeinheit? Ich denke hier an die alle-Jahre-wieder-kehrende Diskussion, ob
und warum an Karfreitag und Allerheiligen die Discos geschlossen sein müssen -
noch vor paar Jahrzehnten eine völlig undenkbare Diskussion.
Grüße
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
19. Nov. 2005, 20:29 Uhr
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Hallo zusammen,
"Philoschall, die Thesen Huntingdons und Fukuyamas kann
man imho getrost auf den Müll werfen. Nach wenigen Jahren hat sich erwiesen,
dass die USA das meist gehasste Land der Erde sind, als Kultur ein
Negativbeispiel für eine Entwicklung, die man auf keinen Fall einschlagen möchte
- und auch die Fähigkeit, sich mit Gewalt durchzusetzen, hat sich als äußerst
begrenzt erwiesen. Mit anderen Worten: eine Seifenblase." Abrazo & Hund
Abrazo, leider stellst Du das Unwichtigste aus meinem Beitrag - mit einer
Wertung auf die ich nicht eingehen werde - heraus. Wichtiger, und das versuchte
mein letzter Beitrag, ist die von Eberhard gestellte Frage nach Gemeinwohl und
Individualwohl in Zusammenhänge zu bringen, die von Dir hier bereits
angesprochen worden.
"Hier möchte ich ein Problem nur andeuten: sind
diese Regelungen, die dem Wohl der Allgemeinheit dienten, nicht abhängig von der
Lebensform der Allgemeinheit?" Abrazo & Hund
"Lebensform der
Allgemeinheit?" ?
Die Zusammenführungen von Menschen unterschiedlicher
Herkunft auf staatsrechtlich begrenzter Räumlichkeit, deren unterschiedlich
strukturierte Lebensausrichtungen nicht mehr ausschließlich durch
Nationalstaatlichkeit organisiert werden, bedingt einen gravierenden
Begriffswandel des Politischen, der auch bei der Behandlung des Gemeinwohles
berücksichtigt werden kann. Theorie, demokratisches Ideal: Politische
Repräsentanten transnationalen Staatsgefüges sowie deren "nationale"
Wählerschaften sind Träger jener transnationalen Gesetzlichkeit, mit der das
herausgestellt wird, was allen Menschen ihr Gemeinsames ist. Transnationale
Gesetzlichkeit, d.h. nicht mehr (nur) im Rahmen des Nationalstaates auftretende
Gesetzlichkeit gibt die Regel gesellschaftlicher Handlungen her. Politische
Repräsentanten, da diese nicht mehr kulturelle Unterschiede zum Maß
gesellschaftlicher Handlungen erheben, setzen sich ins Vermögen, Recht auf
veränderter Grundlage zu definieren und zu praktizieren: Transnationales Recht
sowie das "nationale" Handeln ist stimmig, wenn nicht mehr die kulturellen
Unterschiede der Zusammengeführten das Auschlaggebende darstellen. Dass den
"nationalen" Repräsentanten Gemeinsame, eben dass die Gleichheit verbürgende
transnationale Recht, gibt die Richtlinie "nationalen" Handels ab. - Die Frage
nach dem Allgemeinwohl verschiebt sich; auschliesslich im Rahmen von
Nationalstaatlichkeit kann diese nicht mehr beantwortet werden. Dass von
kultureller Vielfalt, dass von bisheriger bürgerlicher Nationalstaatlichkeit
abstrahierte, d.h. das transnationale Recht soll jene Rechtsordnung darstellen,
mit der "nationale" Gesellschaft geformt wird.
Der Alltag,
gesellschaftliche Lebenspraxis, lehrt das genaue Gegenteil: Unterschiede der auf
staatlich begrenzter Räumlichkeit sich "begegnenden" Lebensweisen werden von
ihren Trägern herausgestellt; die Zusammengeführten entfalten sich nicht in
jenem globalen Rahmen bürgerlich verschlankter Staatsgesetzlichkeit, mit dem die
rechtliche Gleichheit der Menschen jenseits von "nationalen" 'Eigenschaften'
favorisiert wird. Folge des nicht von diesen Trägern mitgetragenen globalen
Ideals: Mit einem Schlagwort bezeichnet; gesellschaftliche Parallelwelten
entstehen, denen mit von transnationaler Gesetzlichkeit bedingter, d.h.
verschlankter Staatlichkeit, etwa mit Bildungsprogrammen, begegnet wird. Dass
Interesse jener gesellschaftlichen Gruppen erreicht nicht mehr jene
liberal-global ausgegebene Gleichheit, die bereits seit Jahrhunderten
staatsrechtlich-formal, jedoch im Rahmen der Nationalstaatlichkeit ausgegeben
und jene Interessen vermochte zu integrieren, bezw. nationalstaatlich
auszugrenzen. Jede dieser gesellschaftlichen Gruppen erhebt den Anspruch, ihr
Interesse sei das Richtige, mit dem Allgemeinwohl favorisiert wird. Solange
derart strukturierte gesellschaftliche Gruppen liberale Gesetzlichkeit - und im
sogenannten globalen Zeitaler wird das nicht mehr gelingen - nicht auf die Ebene
ihres absolutgesetzten Individualwohles heruntergezogen, solange wird dieses
Einzelinteresse auch nicht als rechtlich-verbindliches Gemeinwohl umgesetzt und
praktiziert. Dass Verabsolutieren des Individualwohles wird jedoch auch dann
praktiziert, wenn deren Träger das von ihnen favorisierte Gemeinwohl weder im
Rahmen des "nationalen", noch im Rahmen des globalen Rechts vermögen
durchsetzen. Die im "Nationalen" verbleibende mannigfaltige Konstruierung zwecks
Ab- und Ausgrenzung, die nationalistische Herabsetzung des Menschen zum
"Anderen" verbleibt innerhalb des Alltäglich-Moralischen, d.h. die Macht die
hier gesellschaftlich geübt wird, vermag nicht mehr die "national-verbindliche"
Rechtstaatlichkeit - da diese verschlankt auftritt - erreichen, dass Naturrecht
vermag auch nicht - und diesen schon gar nicht - den Handlungsspielraum globaler
Rechtsordnung erreichen.
Dass zeigt, dass Gemeinwohl ohne der Lebensform
der Allgemeinheit, Theorie bleibt. Zeigt aber auch, dass, wenn verabsolutierte
Einzelinteresse herrschen, wenn Naturrecht herrscht, kein Allgemeinwohl
umgesetzt wird. Allgemeinwohl wird in der repräsentativen Demokratie umgesetzt,
da die von unterschiedlichen Interessengruppen getragenen demokratischen
Parteien aufgetreten. Dieser bürgerlich-demokratische Staatsaufbau vermag, da
hier unterschiedlich ausgerichtete gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind,
Allgemeinwohl organisieren. Die bürgerliche Volks-Parteien-Praxis somit das
damit demokratisch sich manifestierende Allgemeinwohl (deren staatliche
Institutionen ... ) wird ausser Kraft gesetzt, wenn verschlankte Staatlichkeit
bezw. wenn globales Recht aufgetreten, bezw. wenn das (gegen politische Theorie
ala Abrazo - Hund kann nichts dafür) was als Volk ausgegeben wird, ethisiert
wird.
Bürgerliches Staatswesen, mit in Wählerschaften verankerten
Volksparteien auftretend, vermag sich demokratisch legitimieren, vermag jedoch
Wandlungen vollziehen, mit der demokratische Rechtsstaatlichkeit - wie bereits
in Deutschland von 1933 bis 1945 vollzogen - ausser Kraft gesetzt wird. Die Rede
vom Gemeinwohl tritt als Schein, als repräsentative Demokratie zersetzendes
Gerede auf: Das ausgegebene Individualwohl, nicht mehr ausschließlich über
Nationalstaatliches, etwa Parteiwesen formiert, wird an jenes globale Ideal
gekoppelt, deren Inhalt sich des Politischen entledigt zeigt, dass
Welt-Marktgesetzlich strukturiert, "nationale" Handlungen regelt.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 19.
Nov. 2005, 21:27 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Abrazo,
vorweg eine Anmerkung: Soviel ich weiß,
haben 1949 im Parlamentarischen Rat die Vertreter der Kommunisten und der
Bayernpartei dem Grundgesetz nicht zugestimmt.
Zu Deinen Einwänden: Ich
halte daran fest, dass eine Norm nur dann „richtig“ (und das heißt: richtig für
alle) sein kann, wenn auch alle dies einsehen können. Dabei darf nicht vergessen
werden, dass die Individuen nicht nur „egoistische“ Interessen haben.
Ich will dies jedoch hier nicht weiter vertiefen, in der Hoffnung, dass das, was
ich meine, im Folgenden noch etwas klarer wird.
In meinem letzten Beitrag
hatte ich den Fall (Schutz der Nachtruhe) erörtert, bei dem die Einhaltung einer
Norm für alle Mitglieder besser ist als ein nicht geregeltes Verhalten. Das
Gemeinwohl entspricht in diesem Fall dem Wohl aller Einzelnen (weil sich alle in
einer annähernd gleichen Lage befinden und alle annähernd gleiche Interessen
haben).
Eine Regelung kann nach meinem Verständnis jedoch auch dann dem
Gemeinwohl entsprechen, wenn diese Regelung nicht für alle Einzelnen mit einer
Steigerung ihres Wohlergehens verbunden ist, sondern für bestimmte Einzelne auch
eine Verringerung ihres Wohlergehens bedeutet.
Es lassen sich hier die
verschiedensten Regelungen denken: Z.B. ist das allgemeine Recht, private PKWs
zu fahren, für Menschen, die kein Auto besitzen, eher nachteilig. Ähnliches gilt
für das allgemeine Recht, Hunde zu halten.
Ich will als Beispiel die
Entscheidung über den Standort einer Mülldeponie nehmen, die für die Anwohner
immer mit Lärm- und Geruchsbelästigung verbunden ist. Dabei nehme ich einmal an,
dass eine zentrale Mülldeponie grundsätzlich für alle besser ist als die
Entsorgung des Mülls durch die einzelnen Haushalte. Aber für diejenigen, in
deren unmittelbarer Nachbarschaft die zentrale Deponie errichtet wird, bedeutet
dies eine Verschlechterung ihres Wohlergehens.
Welcher Standort
entspricht nun am ehesten dem Gemeinwohl? Eine Antwort hierauf könnte lauten:
Derjenige Standort für die Mülldeponie entspricht am ehesten dem Gemeinwohl, bei
dem möglichst wenig Menschen von deren unerwünschten Auswirkungen betroffen
sind.
Ich will hier nicht auf alle denkbaren Komplikationen einer solchen
Entscheidung eingehen. Ich will nur demonstrieren, dass im Sinne des Gemeinwohls
auch eine Abwägung zwischen Vorteilen für bestimmte Individuen und Nachteilen
für andere Individuen erforderlich sein kann.
Über die methodischen
Probleme einer solchen Abwägung (u. a. ist dazu ein interpersonaler
Nutzenvergleich nötig) bin ich mir im Klaren. Trotzdem halte ich eine solche
Anwendung des Gemeinwohlbegriffs für sinnvoll und unverzichtbar.
Es grüßt
Dich und alle Interessierten Eberhard.
p.s.: Hallo Philoschall, da ich
größte Schwierigkeiten habe, Dich und insbesondere Deine Kritik an meinen
Vorstellungen zu verstehen, sehe ich mich auch außerstande, auf Deinen Beitrag
sinnvoll einzugehen. Schade.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 20.
Nov. 2005, 00:03 Uhr
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hallo Philoschall
Salve!
Quote:Dass Interesse einer
gesellschaftlichen Gruppe setzt sich verabsolutierend über jene liberale
Gleichheit, die bereits staatsrechtlich-formal ausgegeben wurde und wird. Jede
dieser Gruppen erhebt den Anspruch, ihr Interesse sei das Richtige, sie vertrete
DIE Wahrheit - wenn dieser Anspruch noch erhoben wird - mit dem Allgemeinwohl
favorisiert wird.
das ist soweit ja noch in Ordnung, solange man
sich, der erlaubten Durchsetzungsmittel bedient. Demokratisches Mehrheitsrecht
ergibt zwangsläufig auch Ablehnung von Minderheitswillen.
Quote:Diese
Verabsolutierung von Einzelinteressen wird jedoch auch dann praktiziert, wenn
deren Träger das von ihnen favorisierte Gemeinwohl nicht als allgemeines, d.h.
als verstaatlichtes Recht durchsetzen können.
genau das ist
undemokratisches Verhalten und genau hier ist die Wurzel der jahrelangen
berechtigten Einwanderungsdebatten. Demokratie muss wehrhaft bleiben und auf
ihrem staatlichen Gewaltmonopol beharren. Das Ideal einer multikulturellen
Toleranz führt zu ihrem Gegenteil, nämlich zur Einschränkung der persönlichen
Freiheit. "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen
Nachbarn nicht gefällt".
Quote:vermag jedoch jene Wandlung ins
niedrig Dämonische vollziehen, mit der nicht mehr liberale Rechtsstaatlichkeit,
sondern Unrecht - welches Unrecht nicht als dieses, da im Gewand der Moral ...
des "Allgemeinwohles" verkörpernd auftretend - ins "Recht" gesetzt wird. Die
Rede vom Gemeinwohl tritt als Schein, als bürgerliche Demokratie zersetzendes
Gerede auf.
Der Spruch: "der Klügere gibt nach" begründet ja
u.U. die Herrschaft der Dummheit, nach der Emanzipation der Doofen erfolgt ja
die Emanzipation der Bösen und man wundert sich schon gelegentlich dass gegen
allgegenwärtige Maffia weniger unternommen wird als gegen den Falschparker.
Du sprichst hier vom gesetzlichen Minderheitsschutz ohne den jede Demokratie
sicher wertlos ist. Rechtstaatlichkeit im Sinne der Gewaltenteilung ist das
einzige was mir hierfür einfällt.
Ich sehe die Integration von Minderheiten
allerdings als bewältigungsbares Problem an, die Geschichte hat es vielfach
gelehrt.
Ich bin fest überzeugt, dass militärische Kriege prinzipiell
überlebt sind und von ökonomischer Macht ganz abgelöst werden.
Gruss
[skater]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 20.
Nov. 2005, 10:17 Uhr
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Hallo allerseits,
ich habe diese Diskussionsrunde bewusst unter der
Rubrik „Politische Philosophie“ angesiedelt und nicht unter der Rubrik „Ethik“.
Es geht mir hier um das Gemeinwesen, das Gemeinwohl, den Gemeinsinn – alles
Worte, die etwas angestaubt klingen, die aber ein höchst zeitgemäßes Problem
ansprechen: das Verhältnis der Einzelnen mit ihren spezifischen Interessen zur
Allgemeinheit und den Institutionen, die diese Allgemeinheit verkörpern.
Dabei könnte der Eindruck entstehen, als sei das Wohl eines Menschen allein von
äußeren Gegebenheiten abhängig, vom Handeln der anderen und von der Verfügung
über Sachen.
Dieser Ansicht bin ich jedoch nicht. Meiner Meinung nach
hängt die Zufriedenheit eines Menschen zum großen Teil von ihm selber, oder
genauer, von seinem Verhältnis zu sich selber ab. Es gibt Menschen, die
praktisch alles haben, was man sich so wünschen kann, und die trotzdem
griesgrämig und ewig unzufrieden durchs Leben gehen. Und es gibt Menschen, die
von schweren Schicksalsschlägen getroffen sind oder denen es nach üblichen
Maßstäben „schlecht geht“, und die trotzdem nicht verlernt haben, sich an den
schönen Dingen unserer Welt zu freuen.
Dabei spielen die grundlegenden
Einstellungen zu sich selber und zu den Mitmenschen eine wichtige Rolle.
Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der sich Ziele setzt (oder
sich von andern setzen lässt), die er niemals erreichen kann, der von sich auf
Gebieten besondere Leistungen erwartet, wo seine Fähigkeiten und Begabungen eng
begrenzt sind, und der sich keine Ziele setzt und keine Projekte verfolgt, die
seinem Leben Sinn geben und ihm eine innere Befriedigung vermitteln können.
Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der mit tief sitzenden Schuld-
und Minderwertigkeitsgefühlen herumläuft, deren frühkindliche Herkunft aus
mangelnder Mutterliebe oder Vaterliebe er nie bewusst aufarbeiten konnte.
Unzufrieden und unglücklich bleibt derjenige, der aufgrund böser Erfahrungen
mit Menschen in einen misstrauischen Egoismus flüchtet.
Solche
Deformationen der eigenen Person tauchen alles in ein freudloses Grau.
Wenn es einem Menschen dann gut geht, wenn sein Leben so ist, wie er es sich
wünscht, so kann dies Wohlergehen nicht nur durch die Befriedigung der
vorhandenen Wünsche verbessern.
Man kann dies Ziel auch dadurch
erreichen, dass man sich mit diesen Wünschen auseinandersetzt, sie auf ihre
Entstehung hin überdenkt, sie daraufhin prüft, ob die damit assoziierten
Befriedigungen tatsächlich eintreten, ob man sich damit nicht neue Probleme
schafft etc. Wer sich so von manchen Eitelkeiten und fixen Ideen frei gemacht
hat, lebt zufriedener und ist weniger abhängig von anderen und von den
Wechselfällen des Lebens.
Auch wenn diese Bedingungen eines zufriedenen
Lebens nicht im Mittelpunkt dieser Diskussionsrunde stehen, sollte man sie im
Hinterkopf behalten.
In der Hoffnung, dass die Sonne das Novembergrau
noch durchbricht, grüßt Euch Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 20.
Nov. 2005, 23:27 Uhr
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Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem
Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?
aber
sag mir bitte auch, was die geantwortet haben
Philoschall, ich bin nicht
interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das
Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 21.
Nov. 2005, 01:14 Uhr
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on 11/20/05 um 23:27:29, Abrazo wrote:Äh - Philoschall, würdest du mal bitte
versuchen, das einem Iraner, einem Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem
Vietnamesen zu erklären?
aber sag mir bitte auch, was die geantwortet
haben
Philoschall, ich bin nicht interessiert an einer politischen
Philosophie, die sich ausschließlich auf das Abendland oder gar auf Deutschland
hin orientiert.
Äh - ich aber, wir leben nun mal hier in
Deutschland.
Philoschall ist der beste!
si tacuisses.......
Salve
[skater]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 21.
Nov. 2005, 22:30 Uhr
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Hi,
es gibt zwei Dinge, die mir in dieser Diskussion nicht gefallen.
A: die Beschränkung auf die deutsche/europäische/abendländische Sicht, die
dann automatisch auf die ganze Menschheit bezogen wird, als könnten wir
voraussetzen, dass unsere Lebens- und Denkart für alle Menschen verbindlich sei.
Das ist m.E. unphilosophisch. Tatsache ist, dass Menschen in unterschiedlichen
Kulturen und Lebensformen leben und dass unsere Kultur und Lebensform nur die
einer Minderheit ist, eine unter vielen, die sich selbstverständlich dem
kritischen Dialog mit anderen Kulturen und Lebensformen zu stellen hat und dabei
auch in Kauf nehmen muss, dass nicht alles so wahnsinnig toll und vorbildlich
ist, wie manche es sehen, dass es durchaus auch berechtigte Kritik geben kann.
Wer dazu nicht bereit ist, verweigert den Diskurs mit dem Ziel, einen
friedlichen Konsens zu erreichen.
B: der extreme Individualismus, der
zwar von vielen Abendländern als großartige Errungenschaft hoch geprisen wird,
den ich aber dennoch durchaus für kritikwürdig halte. Extremer Individualismus
heißt, es wird ignoriert, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das außer
seinem persönlichen Wohlergehen noch jede Menge anderer Wünsche, Ziele und
Interessen hat. Wer dies ignoriert, ignoriert einen wesentlichen Teil
menschlichen Wollens und Strebens.
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Du, Eberhard,
sprichst von der Nachtruhe als Norm. Aber warum soll sie eine Norm sein? Das ist
doch wohl nur dann nötig, wenn unsere Lebensform dies begründet. Wenn wir
tagsüber arbeiten, nachts schlafen und am Wochenende frei haben, dann sind es
letztlich diese Bedingungen, die die Norm sachlich begründen. In Kulturen, in
denen ein Großteil der Aktivitäten bis in die späte Nacht verlegt werden,
müssten die Normen ganz anders aussehen. Und auf Schichtarbeiter wird, da sie
(noch) in der Minderheit sind, auch nicht viel Rücksicht genommen; geht auch gar
nicht, weil man dann nicht mehr die Waschmaschine laufen lassen oder seinen
Rasen mähen könnte.
Daraus folgt: die Voraussetzung für das Abfassen
einer Norm ist der Wille, eine Norm zu errichten. Wie die dann ausgestaltet
wird, folgt eher sachlichen Gründen. Die philosophische Frage - und das ist die
Frage nach dem Gemeinwohl - ist doch die, warum wir überhaupt solche Normen
wollen sollten. Da kommen wir, fürchte ich, mit dem Individualismus letztlich
nicht unendlich weiter. Denn denkbar wäre auch zu sagen, wir brauchen keine
solche Norm, wen der Krach stört, der soll sich doch auf eigene Kosten die
Wohnung schallisolieren. Dann haben wir das sich von sozialen Bindungen und
Verantwortungen isolierende Individuum, das Soziales nur noch als individuelles,
von Fall zu Fall zu befriedigendes Bedürfnis begreift und auf das Gemeinwohl
pfeift - sofern es sich nicht auf übergreifende Verwaltungsaufgaben beschränkt,
wie die Ausgabe von Personalausweisen und die Instandhaltung von Autobahnen. Die
Frage ist, ob wir das wollen.
Die Frage nach der interpersonellen
Nutzenabwägung ist demgegenüber zweitrangig. Nicht, weil sie unwichtig wäre - im
Gegenteil, ich denke, auch damit sollte sich die Philosophie befassen - sondern
weil sie nur dann sinnvoll ist, wenn man sich erst mal für das Vorhandensein von
Gemeinwohldenken und Gemeinwohlzielen entschieden hat.
Das Thema
Zufriedenheit würde ich gerne vertagen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie
tatsächlich so große Bedeutung für das Individuum hat. Hier erinnere ich an
Faust, der eine Ahnung von möglicher Zufriedenheit erst bekam, als er an die
eventuelle Trockenlegung eines Sumpfes dachte, während die Lemuren sein Grab
gruben - und deswegen dem Mephisto doch noch abgeluchst wurde. Ist auch
deutsches Denken, allerdings aus einer anderen Zeit, und das war vielleicht
nicht die schlechteste.
"Ach, sprach er, die größte Freud ist doch die
Zufriedenheit." Das stammt wieder aus einer anderen Zeit, dem Biedermeier, und
Wilhelm Busch ließ es Lehrer Lämpel sagen, kurz bevor - rumms - seine Pfeife los
ging.
Auch das Ziel Zufriedenheit erscheint mir also hinterfragenswert.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 22. Nov. 2005, 00:59 Uhr
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Hallo miteienander!
Nicht Desinteresse, sondern das "wirklich wahre
Leben" hat mich abrupt aus dieser Diskussion gerissen. Mal sehen, ob ich mich
wieder hineinarbeiten kann. Allerdings wird meine Zeit zum Philosophieren in den
nächsten Wochen begrenzt sein, es gibt viel zu tun - u.a. so etwas Kafkaeskes
wie "Umzugsvorbereitungen auf dem Lande"...
:-)
Grüß Euch!
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 23.
Nov. 2005, 09:56 Uhr
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Hallo Abrazo,
zu Deinen Kritikpunkten:
Woran machst Du die
unzulässige Übertragung unserer Denkweise auf die ganze Menschheit fest? Ich
lasse mich gerne von Menschen anderen Kulturen belehren, aber deswegen muss ich
nicht von vornherein meine eigenen begründeten Ansichten aufgeben.
Deiner
Ansicht, „dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das außer seinem persönlichen
Wohlergehen noch jede Menge anderer Wünsche, Ziele und Interessen hat“ kann ich
nur zustimmen und habe ich selber ausgeführt.
Die Diskussion über die
Belastung zukünftiger Generationen durch unsere heutige Lebensweise geht zum
Beispiel über diesen individuellen Egoismus hinaus.
Das Gebot der
Nachtruhe war für mich nur ein für jedermann zugängliches Bespiel, um ein
bestimmtes Verhältnis zwischen Gemeinwohl und individuellem Wohl zu diskutieren.
Dass es Lebensformen geben kann, in denen eine andere Regelung des
Schlafbedürfnisses im Interesse der Menschen liegt, ist unbestritten.
Die
Frage nach dem Gemeinwohl ist Deiner Meinung nach die, warum wir überhaupt
solche Normen wollen sollten.
Wenn die Frage gestellt wird: „Soll die
Nachruhe geschützt werden?“, so ist die Antwort: „Wir brauchen keine solche
Norm! Wen es stört, der soll sich selber vor Lärm schützen“ selber eine Norm,
denn was nicht verboten ist, ist erlaubt. Jeder kann dann um Mitternacht zu
seinem Geburtstag Böller und Raketen anzünden so viel er will.
Warum
sollten wir dies nun verbieten?
Meine Antwort: Die Freude der Wenigen am
Feuerwerk wiegt die Schlafstörungen (trotz Ohrstopfen) der Vielen nicht auf,
insbesondere wenn praktisch jeden Tag jemand aus dem Wohnblock Geburtstag hat.
Die Freigabe ist keine Norm, die dem allgemeinen Wohl entspricht.
Warum
soll man überhaupt nach dem Gemeinwohl fragen und die Regeln des Zusammenlebens
danach gestalten?
Meine Antwort: Weil wir - ob wir es wollen oder nicht
– uns immer gegenseitig in die Quere kommen werden (schon als sexuelle Wesen mit
starken Interessen am andern Geschlecht) und weil es mir besser erscheint, nicht
per Fausthieb oder per Furcht vor dem drohenden Fausthieb zu entscheiden, wer
jeweils bestimmt, wo es lang geht und wer zuerst geht.
Es grüßt Dich und
alle Interessierten Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
24. Nov. 2005, 22:12 Uhr
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"Äh - Philoschall, würdest du mal bitte versuchen, das einem Iraner, einem
Araber, einem Kolumbianer oder z.B. einem Vietnamesen zu erklären?" Abrazo &
Hund
"das" ? Wovon redest du?
"Philoschall, ich bin nicht
interessiert an einer politischen Philosophie, die sich ausschließlich auf das
Abendland oder gar auf Deutschland hin orientiert." Abrazo & Hund
Nein?
Wenn das nicht eine leere Behauptung bleiben soll, bitte jene politische
Philosophie, die nicht "ausschließlich auf das Abendland oder gar auf
Deutschland hin orientiert" ist, darstellen. Vielleicht ist es möglich, diesen
Gedankengang dabei zu berücksichtigen?: "B: der extreme Individualismus, der
zwar von vielen Abendländern als großartige Errungenschaft hoch geprisen wird,
den ich aber dennoch durchaus für kritikwürdig halte." Dass wird sicherlich der
Diskussion "Gemeinwohl und Wohl der Individuen" förderlich sein.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
25. Nov. 2005, 13:59 Uhr
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Hallo zusammen,
" ... ich aber, wir leben nun mal hier in Deutschland."
delfi
Die Verabsolutierung von gesellschaftlichen Einzelinteressen im
Rahmen liberaler Rechtsstaatlichkeit zeigte sich in Deutschland bereits in den
Jahren 1933 -1945 mit dem Nationalsozialismus. In dieser Zeit manifestierte sich
eine Problematik, die auch heute noch gegeben ist und, die u.a. wichtig bei der
Behandlung des Allgemeinwohles ist. Die seit 1918 in Deutschland ausgegebene
Politik gewährte die formal-rechtliche Gleichheit der Staatsbürger. Dass
Interesse der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen entfaltete
sich jedoch nicht im Rahmen der gesellschaftlichen Praktizierung des
formalen-Rechtes der Liberalen Demokratie. 1933 wurde jenes Einzelinteresse ins
"Staatsrecht" gesetzt, dass, auf Antidemokratisches, etwa Rassentheorie,
Einheitspartei ...sich stützend, vermochte als Allgemeininteresse des deutschen
Volkes aufzutreten. Bis 1945 wurde die deutsche Gesellschaft als
"Volksgemeinschaft" ausgebaut, in der jene gesellschaftlichen Interessengruppen
"rechtlich" ausgegliedert wurden, die auf der Ebene des Weimarer
Parlamentarismus versuchten Politik durchzusetzen, die bis 1918, da die
monarchistische Staatsform herrschte, nicht praktiziert werden konnte.
Politische Parteien sind personell und inhaltlich von den jeweiligen Interessen
bestimmt. Pauschal formuliert: Diejenigen, welche die privatwirtschaftliche
Eigentumsordnung, da diese besitzend, verteidigen (lassen). Diejenigen, welche
an den Einrichtungen der Privaten Eigentumsordnung, etwa dem Parlamentarismus,
als Gestaltende mit dem Anspruch teilnehmen, die Ausgestaltung der Gesellschaft
nicht auschließlich den Kräften des Marktes zu überlassen, sondern Gesellschaft
als soziales Gemeinwesen auszubauen. Parteibildungen, deren Programatik nicht
aus dem Haben und der parlamentarischen Teilnahme an diesem Ordnungsgefüge
resultiert, sondern aus dem Begehren daran teilzunehmen bezw. diese Ordnung zu
stürzen und in ihrem Interesse zu formen. Erstere Parteibildung ist die
liberale, zweitere die Sozialdemokratische, in der dritten werden sich jene
finden, die als Opposition auftreten.
Politische Theorie, die mit dem
Anspruch auftritt, nicht nur "auf das Abendland oder gar auf Deutschland hin
orientiert" zu sein, könnte sich beispielsweise von der Frage bewegen lassen, in
welchen Allgemeinformen gesellschaftliche Interessen sich organisieren, deren
Leitbild nicht der bürgerliche Individualismus ist.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von delfi am 25.
Nov. 2005, 20:30 Uhr
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on 11/25/05 um 13:59:22, philoschall wrote:......Diejenigen, welche die
privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, da diese besitzend, verteidigen
(lassen).
(=liberal)......
Diejenigen, welche an den Einrichtungen der
Privaten Eigentumsordnung, etwa dem Parlamentarismus, als Gestaltende mit dem
Anspruch teilnehmen, die Ausgestaltung der Gesellschaft nicht auschließlich den
Kräften des Marktes zu überlassen, sondern Gesellschaft als soziales Gemeinwesen
auszubauen.
(=sozialdemokratisch)
hi, philoschall, ich
vermisse eine Wertung deiner politischen Analyse:
die Einteilung in besitzend
und nicht besitzend ist mir einfach zu klassenkämpferisch, sie wird der Realität
unserer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft nicht gerecht. Diese Arbeitsteilung
ist gleichzeitig auch eine Wissensaufteilung, -aufspaltung (Fachidioten). Keiner
weis mehr alles, was jedoch das Selbstbewusstsein von Politikern in ihrem
Nichtwissen nicht entschuldigt. Die Arbeitsteilung ist andererseits der
deutlichste Ausdruck von Abhängigkeit und kollektivem Charakter des Spezies
Mensch. Für mich ist es schwer nachvollziehbar dass dieser abhängige Teil im
geäusserten Selbstverständnis des westlichen Bürgers (Individualismus) gerade zu
geleugnet, ausgeklammert und verdrängt wird. Im Streben zur Selbstverwirklichung
oder Emanzipation von allem und jedem wird das unabhängige Individuum
verherrlicht, das nicht existiert.
Alle idealen Vorstellungen von extremem
Liberalismus müssen vor dem Hintergrund dieser Begrenztheit individuellen
Wissens und der damit verbundenen realen Abhängigkeiten scheitern.
Ich sehe
ganz pragmatisch die völlig unverzichtbare Notwendigkeit einer staatlichen
Ordnungsmacht (egal ob "rechts- oder links-orientiert") in der Aufstellung und
Überwachung von Regeln, die verhindert, dass das Ende der "Produktionskette"
also der Kunde oder Privatbürger nicht beschädigt wird. Das hört sich vielleicht
etwas "technisch" an, aber der augenblickliche "Fleischskandal" zeigt was ich
meine. Staatliche Ordnungsmacht meint hier weniger aktuelle Politik, die wird in
ihrer Bedeutung m.E. stark überschätzt, sondern der ganze Unterbau mit
sinnvollen Regeln etwa des Nahrungsmittel- Arzneimittel- und
Produkt-Haftungsrechtes. Ein völlig freier Markt würde zu massenhafter
Vergiftung und anderem des "Konsumenten" führen, der ja gar nicht mehr alleine
wissen kann was gut oder schlecht für ihn ist.
Die Sicherheit, die der
anonyme Staat dem einzelnen gewähren muss und auch gewährt, ist wiederum in
seiner notwendig generalisierenden Betrachtung immer lückenhaft und es ist ja
oft wie ein Hase und Igel-Spiel wenn der (schlechte) Gesetzgeber seiner mit
heisser Nadel gestrickten neuen Gesetzte wegen unvorhergesehenen "Nebenwirkung"
ständig nachbessern muss.
Es ist daher die technologisch fortgeschrittene
Industriegesellschaft alleine, die eine sehr kompetente staatliche Ordnungsmacht
erfordert. In weniger entwickelnder Ländern ist diese ins Detail gehende
Regelung zunehmend entbehrlich, weshalb möglicherweise Überlebenshilfe noch
stärker in kleinen Gemeinschaften, insbesondere im Familienverbund zu leisten
ist.
Man könnte aus dieser Sicht beim modernen Industriestaat von einem
Übergang familiärer Gemeinschaftsfunktionen auf den anonymen Staat sprechen. Ich
sehe in dieser soziokulturellen Diskrepanz die Hauptschwierigkeit einer
allumfassenden globalen Verhaltensethik. Mit der Feststellung "wir leben nun mal
hier in Deutschland" meine ich also mehr den strukturellen kulturtechnischen
Differenzierungsgrad als "nationale Charaktereigenschaften", die es sicher noch
zusätzlich gibt.
Ich erinnere mich gerne an die letzte hier in Deutschland
stattfindende Weltausstellung "Expo 2000" in Hannover.
Was mich hier
fasziniert hat, war ausschliesslich der ferne Osten mit einer viel weniger
individualistischen Selbstdarstellung trotz reichlichem Einsatz moderner
Technologie. Sie erschienen mir viel glücklicher. Dies spricht für meine
Bevorzugung für stärkere menschliche Bindungsbereitschaft. Aber ich weiss, dass
ich damit hoffnungslos ausserhalb des "Trends" liege.
Salve
[skater]
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
26. Nov. 2005, 20:15 Uhr
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Hallo delfi und Interessierte,
" ... die Einteilung in besitzend und
nicht besitzend ist mir einfach zu klassenkämpferisch, sie wird der Realität
unserer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft nicht gerecht." delfi
Die von
mir hier vorgetragene Einteilung wird erst dann klassenkämpferisch ausgedeutet,
wenn das Interesse derjenigen politischen Interessengruppe, welche den gegebenen
Zustand revolutionär stürzen will, favorisiert wird. Diese Ausdeutung der
parteipolitischen Sphäre ist lediglich eine von mehreren, die diese Einteilung
ermöglicht. Realität ist, dass die Produktionsmittel privatwirtschaftlich
organisiert sind, dass die vom Lohnabhängigen geleistete Arbeit entsprechend
geregelt wird. Mit den Parteiengefüge vollzieht sich Politik im öffentlichen
Raum der Medien ..., - die Organisation der Wirtschaft dagegen bleibt diesem
Raum entzogen.
"Für mich ist es schwer nachvollziehbar dass dieser
abhängige Teil im geäusserten Selbstverständnis des westlichen Bürgers
(Individualismus) gerade zu geleugnet, ausgeklammert und verdrängt wird. Im
Streben zur Selbstverwirklichung oder Emanzipation von allem und jedem wird das
unabhängige Individuum verherrlicht, das nicht existiert."
Die von Dir
sogennannte "Abhängigkeit" wird nicht "geleugnet, ausgeklammert und verdrängt."
Diese ist vielmehr die materialistische Grundlage der Dynamik der Demokratie,
mit der auch die Anhänger liberaler Demokratie auftreten, denen die von ihnen
ausgegebenen Abhängigkeiten gar keine sind. Dass bürgerlich-verabsolutierte
Individuum ist die theoretische Ausrichtung - der Ausgangs und Endpunkt, der
Dreh- und Angelpunkt der bürgerlichen Emanzipation von der mittelalterlichen
Feudalherrschaft bis heute - mit der die Praxis der Privatwirtschaftsordnung
einhergeht. Mit dieser Ausrichtung werden immer noch Ideen favorisiert, die der
von dieser Privatwirtschaftsordnung geschaffenen Wirklichkeit der Alltagspraxis,
etwa des Staatsbürgers als Konsument des Warenmarktes, entgegenstehen. Die
Annahme, dass jeder Staatsbürger im Sinne des liberal ausgegebenen sich
tatsächlich verwirklichen soll, beruht auf der weitverbreiteten
Fehleinschätzung, deren Ideengehalt im Politischen für bare Münze zunehmen. Die
Einlösung der verabsolutierten Idee des bürgerlichen Individualismus wäre nicht
nur die Besiegelung der Abschaffung der politischen Parteien. Klappern gehört
zum Handwerk.
Der von Dir angeführte freie Markt und deren angedeuteten
Wirkungen auf den Staatsbürger als Konsument lässt sich im Sinne des
Verbrauchers nur regeln, wenn der Staat einen "Unterbau mit sinnvollen Regeln
etwa des Nahrungsmittel- Arzneimittel- und Produkt-Haftungsrechtes."
organisiert. Dass sind Züge jener postmodernen Industriestaatlichkeit, der einer
Politik geblieben ist die vor dem Umbau der Wirtschaft resignierend, den
industriell-vergesellschafteten Staatsbürger als Konsumenten favorisiert -
darauf reduziert? Diese Verbraucher-Staatspolitik ist eine postmoderne Spielart
mit der die parteipolitischen Interessen von Volksparteien und
Oppositionsparteien so bedingt werden, dass diese ausser Gefecht gesetzt werden.
Nicht parteipolitische Einzelinteressen tragen zur Ausgestaltung der
Gesellschaft bei, diese werden von Marktgesetzlichkeit sowie "verschlanker
Staatlichkeit" ausgeblendet.
"Es ist daher die technologisch
fortgeschrittene Industriegesellschaft alleine, die eine sehr kompetente
staatliche Ordnungsmacht erfordert. In weniger entwickelnder Ländern ist diese
ins Detail gehende Regelung zunehmend entbehrlich, weshalb möglicherweise
Überlebenshilfe noch stärker in kleinen Gemeinschaften, insbesondere im
Familienverbund zu leisten ist." delfi
Global auftretende Konzerne lassen
sich die Grundlagen für die Umsetzung ihrer privatwirtschaftlichen Interessen in
den Industriegesellschaften mittels "verschlankter Politik" schaffen. In weniger
industriell entwickelten Gesellschaften wird der im Westen weiterhin ausgebenene
verabsolutierte Individualismus ebenfalls favorisiert. Die praktische Aufgabe,
die diese Idee im Politischen erfüllt ist jene, die im Abendland seit der
bürgerlichen Revolution favorisiert wird: nicht-bürgerliche Lebensweisen im
Namen der Gleichheit ..., getragen von priviligierten Gesellschaftsschichten,
aufzulösen. Abendländische Postmoderne versucht das in aussereuropäischen
Ländern einzuholen, damit die Kolonialisierung überholend, was bereits im
Abendland seit Jahrunderten staatspolitisch praktiziert wird:
nicht-demokratisierte Gesellschaft im Sinne der Privatwirtschaft umzubauen.
"Man könnte aus dieser Sicht beim modernen Industriestaat von einem Übergang
familiärer Gemeinschaftsfunktionen auf den anonymen Staat sprechen. Ich sehe in
dieser soziokulturellen Diskrepanz die Hauptschwierigkeit einer allumfassenden
globalen Verhaltensethik."
Ist aussereuropäisch das umgesetzt, was
bereits mit dem verabsolutierten Individualismus in den Industriegesellschaften
seit Jahrhunderten demokratisch praktiziert wird, würde dort ebenfalls die oben
vorgetragene Einteilung gesellschaftlicher Interessen und deren
parteipolitischer Organisierung greifen. Weder die Wirtschaftsorganisierung in
USA noch Asien weisen jedoch die gesellschaftlichen Muster auf, die etwa mit dem
abendländisch-individualisierten Parteiengefüge aufgetreten. Nicht
auszuschliessen, dass die seit der Neuzeit im Abendland aufgetretene
Wirtschaftsorganisierung den öffentlichen Raum der Industrievergesellschaftung
so ausgestalten lässt, dass der Staat im Rahmen globaler Marktgesetzlichkeit
bereits entindivudalisierte Züge praktizierte. Die ALLTÄGLICHE LEBENSPRAXIS DER
VIELEN - in der der theoretisch verabsolutierte Individualismus eine andere
Funktion erfüllt, als dieser für deren Wenigen Protagonisten erfüllt - wurde in
Deutschland bereits von 1933 bis 1945 entindividualisiert. Die
ENTINDIVIDUALISIERUNG DER VIELEN wird bereits in den Industriegesellschaften
seit längerem mit dem Rückbau der sozialen Marktwirtschaft praktiziert. Mit der
Demontage die dem öffentlichen Gemeinwesen dienenden staatlichen Strukturen,
geht die Entindividualisierung süd- und mitteleuropäischer
Massen-Vergesellschaftung einher. Die süd- und mitteleuropäische Annäherung an
jene aussereuropäischen Vielen und nahosteuropäischen Vielen des
EU-Wirtschaftsraumes deren "Bindungsfähigkeit" nicht aus Parteiengefüge
resultiert, deren individuelle Entfaltung mit der repräsentativen Demokratie
sich nicht manifestiert, ist auf dem Weg gebracht. Die "Bindungsfähigkeit" der
süd- und mitteleuropäischen Vielen wurde bereits nachhaltig umgepolt: diese
resultiert zunehmend aus der von der Sozialstaatlichkeit entkernten
Wirtschaftsorganisierung, die den Gewendeten nun als Glied der von dieser
Wirtschaftsordnung bedingten Schicksalsgemeinschaft erscheinen lässt.
Öffentliche Normen sozialen Gemeinwesens, in der weite Gesellschaftsschichten
sich wiederfanden, werden im Sinne der Privatisierung demontiert; industrielle
Gesellschaften werden entindividualisiert, wenn deren öffentliche
Strukturierungen privatisiert werden, wenn staatliche Regelung auf den
"Nachtwächterstaat" reduziert wird, der im Inneren die Ruhe und Ordnung
organisierend, auftritt. Wäre die "Hauptschwierigkeit einer allumfassenden
globalen Verhaltensethik" - jedenfalls von der Seite des EU-Wirtschaftsraumes! -
überwunden, wenn der Industriestaatlichkeit gelungen, die süd-, mittel- und
mitteleuropäischen Vielen so mitzunehmen, dass diese Mitträger des
"verschlankten Staates" geworden? Mit diesem praktischen
Entindividualisierungsprozess Süd- und Mitteleuropas geht der Liberalismus
bereits jenen Weg der Annäherung, der für die Vielen des EU-Wirtschaftsraumes
die Ankoppelung an den nicht erst zu entindividualierenden Gesellschaftsraum
aussereuropäischer Wirtschaftsstandorte, etwa jenes Chinas, bedingt.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27.
Nov. 2005, 00:14 Uhr
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Hi, Eberhard,
also, ich hab doch extra für dich einen dicken Strich
zwischen meine allgemeinen Bemerkungen und meine Bemerkungen auf dein Posting
gemacht! :-)
Irgendwie scheinen wir an einem toten Punkt angekommen zu
sein. Ich kann sagen, wir leben in einer bestimmten Lebensform, die, damit sie
funktioniert, bestimmte Sachzwänge zur Folge hat, wie die ungestörte Nachtruhe.
Das kann jeder vernünftige Mensch einsehen - nur, ist das ein Thema der
Philosophie?
Die Sache lässt mich unbefriedigt zurück. Vielleicht
verstehe ich auch nicht richtig, was du willst.
Aber vielleicht führt das
Stichwort Sachzwang weiter. Lassen wir uns vielleicht von Sachen zwingen, die
wir selbst geschaffen haben und die uns eigentlich gar nicht zwingen können?
Könnte es eventuell sein, dass der Sachzwang das Gemeinwohl ersetzt, so dass es
deswegen - scheinbar - unmodern geworden ist?
Sachzwang ist eine Frage
der Notwendigkeit. Gemeinwohl eine Frage des Willens. Wenn ich mich Sachzwängen
unterworfen sehe, ist mein Willen belanglos.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von karobra am 27.
Nov. 2005, 12:59 Uhr
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[quote author=Abrazo
Sachzwang ist eine Frage der Notwendigkeit. Gemeinwohl
eine Frage des Willens. Wenn ich mich Sachzwängen unterworfen sehe, ist mein
Willen belanglos.
Gruß[/quote]
Hallo Abrazo!
Könnte es nicht
auch genau umgekehrt sein? Denn: Sachen haben keinen Willen, wohl aber Personen.
Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von Personen -
durchweg bewusst und willentlich - hergestellt. Wenn solche Sachzwänge viele
oder alle betreffen, muss über sie in einem demokratischen Rechtsstaat Konsens
vorhanden sein. Unrechtmäßiger Zwang ist nicht akzeptabel.
Daher gibt es
"Sachzwänge", denen man sich widersetzen kann und muss, z.B. durch Wahrnehmung
des Petitionsrechts. Fazit: Sachzwang ist keineswegs immer eine "Frage der
Notwendigkeit".
Und Gemeinwohl ist nicht nur eine "Frage des Willens". Wenn
alle nur noch auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, geht das Gemeinwohl zum Teufel,
wird wieder der Mensch zum Wolf des Menschen ("homo homini lupus"), gibt es gar
keinen
Rechtszustand mehr.
Folglich ist es eine zwingende Notwendigkeit,
sich nicht nur um das eigene Wohl, sondern auch um das der Gemeinschaft (auch
z.B. der Gemeinschaft der Völker) zu kümmern. Dabei ist der Wille des Einzelnen
nicht immer unbedingt förderlich. Denn der Mensch ist nun mal ein egoistisches
Wesen, das allerdings nicht umhin kann, irgend eine Balance von Egoismus und
Altruismus (und sei es aus egoistischen Gründen!) herzustellen bzw. zu
akzeptieren. Welche Probleme damit verbunden sein können, habe ich dargestellt
in:
www.information-philosophie.de/philosophie/robraethik.html
MfG
k.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27.
Nov. 2005, 13:49 Uhr
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Hi karoba,
Sachzwänge entstehen also nicht von selbst, sondern werden von
Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt.
Das kann man
generell nicht sagen (Flüssigkeit aufnehmen zu müssen ist ein Sachzwang, der
aber weder bewusst noch willentlich hergestellt wurde), aber sehr oft. Das
Problem, auf das ich abziele ist, den natürlicherweise bestehenden Sachzwang vom
hergestellten zu unterscheiden.
Wenn ich sage, in unserer Lebensform wird
tagsüber gearbeitet, dann ist die Einhaltung der Nachtruhe ein Sachzwang. Dass
sie das ist hängt aber ab von der Lebensform. Andere Lebensformen ziehen andere
Sachzwänge nach sich; im Verhältnis zur Lebensform ist der Sachzwang hier also
eine abhängige Variable.
Problematisch wird die Sache dann, wenn eine
Gesellschaft abhängige und unabhängige Variable verwechselt. Dies ist imho bei
Wirtschaftsfragen der Fall. Die Wirtschaft wird oft als quasi vom Menschen
unabhängige Wesenheit begriffen, deren Sachzwängen der Mensch unterworfen ist
wie dem Wetter.
Ich halte nicht viel davon sich zu überlegen, wie es
denn sein sollte, ohne erst mal zu prüfen, wie es denn ist. Was ist, sind
vielfach Denkfehler. Dinge, die für selbstverständlich gehalten werden (wir
müssen uns wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen), die gar nicht
selbstverständlich sind, sondern von bewussten oder unbewussten (tradierten)
Willensentscheidungen abhängig sind, die man erst mal ans Tageslicht befördern
muss. Tut man das nicht, muss man nämlich mit der Reaktion rechnen, is ja ganz
nett, was du da sagst, bloß, die Verhältnisse, die sind nicht so.
In
diesem Zusammenhang ist imho auch der extreme Individualismus zu sehen; da sehe
ich mich gar nicht so weit entfernt von Philoschall. Humankapital besteht aus
einer Menge von Individuen, die mehr oder minder beliebig zwecks Produktivität
einsetzbar sind. Tatsächlich sind sie das nicht, weil sie in einen sozialen
Kontext eingebunden sind. Hier dem wirtschaftlichen Sachzwang Priorität
einzuräumen führt zu nicht-artgerechter Menschenhaltung.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von karobra am 27.
Nov. 2005, 22:44 Uhr
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[quote author=Abrazo link=board=politik;num=1131198516;start=75#86 date=11/27/05
um 13:49:44]Hi karoba,
Sachzwänge entstehen also nicht von selbst,
sondern werden von Personen - durchweg bewusst und willentlich - hergestellt.
Das kann man generell nicht sagen (Flüssigkeit aufnehmen zu müssen ist ein
Sachzwang, der aber weder bewusst noch willentlich hergestellt wurde), aber sehr
oft. Das Problem, auf das ich abziele ist, den natürlicherweise bestehenden
Sachzwang vom hergestellten zu unterscheiden. ... <
Einverstanden! Aber:
Was sind denn nun die "natürlicherweise bestehenden Sachzwänge"? Die
Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme halte ich nicht für einen "Sachzwang",
sondern für einen Trieb, der einem elementaren körperlichen Bedürfnis des
Menschen entspricht. Ein Trieb ist nicht einfach eine "Sache". Ob die Natur
überhaupt "Zwang" ausübt, wage ich zu bezweifeln. Die Natur ist, wie sie ist,
d.h. wie sie sich in Jahrmilliarden der Evolution entwickelt hat. Hier den eher
bürokratischen Terminus "Sachzwang" zu verwenden, halte ich nicht für adäquat,
auch wenn gelegentlich z.B. statt vom 'Harndrang' vom 'Harnzwang' die Rede
ist... [grin]
Im Übrigen, wie gesagt, durchweg (d.h.: größtenteils)
einverstanden!
MfG
k.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 27.
Nov. 2005, 23:17 Uhr
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Hallo Abrazo,
Ist die Nachtruhe ein philosophisches Thema? Wohl kaum,
aber es ist ein philosophisches Thema, wenn es um die Frage geht, wie man für
oder gegen eine bestimmte Regelung oder auch Nicht-Regelung zum Schutz der
Nachtruhe argumentieren kann.
Ich habe ja Dein Beispiel aufgegriffen. Du
hattest jahrelang unter dem fröhlichen Treiben in der Mensa nebenan zu leiden.
Die Studenten hatten Spaß an ihren Feten und Du wolltest schlafen.
Es gab
einen Widerspruch zwischen dem, was für die Studenten gut war, und dem, was für
Dich gut war. Die philosophische Frage ist: Wie können Menschen mit dem (guten)
Willen zur Einigung in einem solchen Fall argumentieren?
Was ist
angesichts der miteinander nicht zu vereinbarenden Willensinhalte das gemeinsame
Interesse? Welche Lösung des Konflikts entspricht einem Gemeinwohl, das auch
allgemein akzeptabel, also konsensfähig sein sollte?
Es grüßt Dich und
die ganze Runde Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 27.
Nov. 2005, 23:47 Uhr
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Hi, Eberhard,
Die philosophische Frage ist: Wie können Menschen mit dem
(guten) Willen zur Einigung in einem solchen Fall argumentieren?
Vielleicht müssten wir noch mal auf den guten Willen zurück gehen. Wenn einer
sagt, ich bin für Liberalität, jeder hat die Freiheit, seine Behausung
schalldicht zu machen und jeder hat das Recht, zu lärmen wie er will: können wir
dann tatsächlich von mangelndem guten Willen zur Einigung sprechen? Wenn einer
sagt: will ich nicht, mag ich nicht, gefällt mir nicht, ok. Aber wenn einer
sagt, ich vertrete andere Grundprinzipien?
Was ist angesichts der
miteinander nicht zu vereinbarenden Willensinhalte das gemeinsame Interesse?
Unter welchen Voraussetzungen können wir überhaupt davon ausgehen, dass es bei
nicht zu vereinbarenden Willensinhalten ein gemeinsames Interesse gibt?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 28.
Nov. 2005, 00:40 Uhr
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Hi, karoba,
Die Notwendigkeit der Flüssigkeitsaufnahme halte ich nicht
für einen "Sachzwang", sondern für einen Trieb, der einem elementaren
körperlichen Bedürfnis des Menschen entspricht.
Ist m.E. eine Frage der
Perspektive. Für das dürstende Individuum ist Durst ein Gefühl, der Drang zu
trinken Trieb oder was auch immer.
Für das Wasserwerk ist die Beschaffung von
Trinkwasser ein Sachzwang, der z.B. dazu führt, dass der Betrieb nicht ohne Not
und Ersatz liquidiert werden kann.
Ebenso ist die Beschaffung von Wasser für
einen Staat ein Sachzwang, dem er sich nicht entziehen kann.
Die Natur
zwingt nicht? Insofern nicht, als dass sie keine selbständig agierende Wesenheit
ist. Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten,
die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der
Tod. Und ich halte es für ausgesprochen nützlich, wenn man alle anderen
tatsächlichen oder scheinbaren Zwänge an diesen natürlichen Zwängen misst; das
relativiert nämlich.
Auf Literatur und Poesie nehme ich in der
Philosophie keine Rücksicht. Wir nennen etwas so und ich gucke mir an, was das
ist, das wir so nennen. Wenn ich dabei feststelle, etwas ist gleich, dann weise
ich auch mit dem gleichen Namen auf die Gleichheit hin.
Woraus sich dann
die nicht uninteressante Frage ergibt, wieso wird die 'Freisetzung' von
Arbeitskräften ebenso zwingend genannt wie die Beschaffung von Zelten für
Pakistan?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 28.
Nov. 2005, 11:24 Uhr
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Hallo Abrazo,
wenn jemand eine Position vertritt hinsichtlich der Frage,
wie ein bestimmter Konflikt zu regeln ist, und
wenn er diese Position
gegenüber beliebigen anderen –also allgemein – vertritt, und
wenn er
diese Position nicht nur behauptet sondern sich dem Anspruch stellt, diese
Behauptung durch intersubjektiv nachvollziehbare und übernehmbare Argumente
einzulösen (was bedeutet, dass er für die von ihm behauptete Position Gründe
hat, die er den andern mitteilen kann und die für die andern ebenfalls Gründe
sind),
dann kann man ihm den „guten Willen“, den Willen zur zwangfreien
Einigung, zum argumentativen Konsens nicht absprechen.
Aus diesem Willen
zur Einigung, zur Orientierung auf den Konsens lassen sich nun Kriterien für die
Güte der Argumente gewinnen, indem man jeweils fragt: Kann dies Argument dazu
beitragen, den Konsens zu erreichen oder bekräftigt es nur den Konflikt?
Beispiele für konsensuntaugliche Argumente der Feten-Befürworter wären z.
B.:
“Der alte Griesgram gönnt uns ja nur nicht unseren Spaß“
(Motivunterstellungen gehen auf die Argumente des andern nicht ein, sondern
„unterlaufen“ sie),
“Uns bringt die Fete Spaß – und das ist für uns das
Entscheidende“ (Egozentrische Prinzipien verhindern einen Konsens),
Beispiele für konsensorientierte und deshalb geeignete Argumente der
Feten-Befürworter wären:
“Solche Feste bedeuten uns sehr viel. Hier kann
man sich kennen lernen und es sind zugleich die festlichen Höhepunkte des
Uni-Lebens. Zum Beginn und zum Abschluss eines Semesters, also vier Mal im Laufe
eines Jahres müsste das deshalb für die Anwohner zumutbar sein.“
“Denken
Sie doch mal zurück, wie das war, als sie selber jung waren! Dann verstehen sie
uns vielleicht etwas besser. Wir machen das doch nicht, um zu provozieren oder
um Sie zu ärgern. Wenn man tanzen will, dann muss die Musik schon eine gewisse
Lautstärke haben.“
Während sich diese Argumente auf der Ebene der
inhaltlichen Richtigkeit bewegen, gibt es andere Argumente, die sich auf diesen
inhaltlichen Streit nicht einlassen, sondern die auf der Ebene der
Verbindlichkeit von Normen argumentieren, die von anerkannten Institutionen
gesetzt sind.
Ein Beispiel für diese Art der Argumentation wäre:
„ Sie
wissen doch, dass gemäß geltender Lärmschutzverordnung nach 22:00 Uhr Uhr
ruhestörender Lärm zu unterlassen ist.“
Ein solches Argument setzt die
Anerkennung der bestehenden Verfahren der Normsetzung voraus.
Gegen ein
solches Argument, das sich auf der Ebene verbindlich gesetzte Normen bewegt, ist
es deshalb auch unzulässig, rein inhaltlich von den Interessen der Beteiligten
her zu argumentieren und zu fragen, ob es in diesem speziellen Fall richtig ist,
die Fortsetzung der Fete zu gestatten oder nicht.
Normsetzende Verfahren
sind gerade deswegen notwendig, weil der inhaltliche Konsens häufig nicht – oder
zumindest nicht rechtzeitig – erreicht wird.
Deshalb kann man die
Verletzung einer verbindlich gesetzten Norm auch nicht mit dem Argument
rechtfertigen, dass man diese Norm für inhaltlich (sachlich) falsch halte.
Allerdings kann man die Verfahren der Normsetzung, also die Verfassung der
Gesellschaft, ebenfalls in Frage stellen. Dabei muss man sich jedoch darüber
klar sein, dass eine solche Haltung erheblich Konsequenzen hat, die letztlich
bis zum offenen Bürgerkrieg gehen können.
Mit Grüßen an die Runde
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
28. Nov. 2005, 11:50 Uhr
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Hallo Abrazo und Interessierte,
"Ich halte nicht viel davon sich zu
überlegen, wie es denn sein sollte, ohne erst mal zu prüfen, wie es denn ist.
... In diesem Zusammenhang ist imho auch der extreme Individualismus zu sehen;
da sehe ich mich gar nicht so weit entfernt von Philoschall. Humankapital
besteht aus einer Menge von Individuen, die mehr oder minder beliebig zwecks
Produktivität einsetzbar sind. Tatsächlich sind sie das nicht, weil sie in einen
sozialen Kontext eingebunden sind. Hier dem wirtschaftlichen Sachzwang Priorität
einzuräumen führt zu nicht-artgerechter Menschenhaltung." Abrazo
Das
wirtschaftliche Interesse ist das Auschlaggebende; dieses Interesse gibt seit
der bürgerlichen Revolution die, u.a. politisch-theoretischen Vorgaben für die
gesellschaftlichen Felder ab, auf dem auch die Frage nach Sachzwang sowie
menschlichen Willen - solange nicht, etwa in philosophisch-theoretischen
Diskursen der Willensfreiheit verblieben wird - zum Austrag kommt. Mit der
Entfaltung abendländischer Naturwissenschaft, der damit verbundenen
Technisierung auch der Arbeitswelt wird die industriale Ausgestaltung der
betreffenden Gesellschaften praktiziert, deren (soziologische) Ausgestaltung
beispielsweise mit der Anwendung oben angeführter Einteilung greif- somit
begreifbar wird.
Wirtschaftliches Interesse ist nicht daran orientiert,
soziale Kontexte in ihrem jeweiligen Dasein zu belassen und zu akzpetieren - das
ist aufgrund der bürgerlich-technischen Expansion und des
abendländisch-politisch-theoretischen Ideengehaltes, des in mannigfaltigen
Formen auftretetenden verabsultierten Individualismus, ausgeschlossen. Ausser-
sowie Innereuropäische Lebensweisen, die nicht der bürgerlichen Existenz
entsprechen, werden, u.a. mit politisch-theoretischen Vorgaben - deren Ideen
stets um den verabsolutierten Individualismus kreisen - so geformt, dass diese,
da in dem Sog des wirtschaftlichen Interesses gezogen, verwertbar werden.
Liberale Demokratie ist die politische Ausgabe derjenigen wirtschaftlichen
Interessengruppe, die, auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen
auftretend, jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert, die
mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen.
Der von
Abrazo angeführte Begriff des Sachzwanges trifft die Sache - wie ich meine -
nicht genau genug. Den wirtschaftlichen Interessengruppen ist das, dass anderen
gesellschaftlichen Interessengruppen als Sachzwang (Ohnmacht) erscheinen vermag,
alles andere als Notwendigkeit: die Verfügbarkeit über die Produktionsmittel,
der damit gegebene Gestaltungsspielraum (Macht), lässt den menschlichen Willen -
jedenfalls in der ökonomisch-soziologischen Sphäre - als Relativen auftreten.
Bürgerliche Gesellschaft wäre nicht, wenn Menschen - um Abrazos Begriff
aufzunehmen - artgerecht vermögen zu leben.
"Aber die lebensnotwendigen
Bedürfnisse sind Zwänge, und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt
gibt - denn wenn man ihnen nicht folgt, folgt der Tod. Und ich halte es für
ausgesprochen nützlich, wenn man alle anderen tatsächlichen oder scheinbaren
Zwänge an diesen natürlichen Zwängen misst; das relativiert nämlich." Abrazo
Ja! Jedoch, diese Nützlichkeit ausgeben, bleibt ohne Einsicht in die
Lebensnotwendigkeit somit auch ohne Erkenntnis und Wissen, etwa von
Selbstverständlichkeiten wie den westlichen Verabsolutierungen des Denkens sowie
des Handelns als menschlich-grandiose Irrtümer, lediglich Schall und Rauch. Aber
immerhin, die Richtung stimmt - philosophische Rodungsarbeiten sind hier zu
favorisieren.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Urs_meinte_Euch
am 28. Nov. 2005, 16:04 Uhr
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Hallo Abrazo!
Kurze, aber elementare Überlegung zum Begriff des „Zwangs“.
Du schreibst:
Quote:Aber die lebensnotwendigen Bedürfnisse sind Zwänge,
und zwar die stärksten, die es für Menschen überhaupt gibt - denn wenn man ihnen
nicht folgt, folgt der Tod.
Das leuchtet mir nur bedingt ein. Denn nur
in extremen Lagen wird die Befriedigung elementarer Bedürfnisse zum„Zwang“. So
z.B. die Nahrungszufuhr während einer Hungersnot oder für einen Menschen im
Hungerstreik oder einen Magersüchtigen. Normalerweise aber ist das Essen kein
Zwang, sondern eine Lust. Selbst eine Sucht kann, wenn sie sich in einem
kontrollierbaren Rahmen hält, als Lust erfahren werden. Siehe den Werbespruch
„Ich rauche gern“ - den ich übrigens voll unterschreiben könnte, obwohl ich mir
keine Illusionen über meine Nikotinabhängigkeit mache.
Aber ich bin ja
auch „nahrungssüchtig“ und – seit der Entfernung meiner Schilddrüse vor vielen
Jahren – „süchtig“ nach einer täglichen Dosis von 125 Mikrogramm Thyroxin.
Außerdem bin ich ein totaler „Junkie“, was grünen Tee angeht; schon oft hab ich
morgens, mit der ersten dampfenden Tasse „Temple of Heaven“ in der Hand,
gebrummelt: „Ohne Tee ist das ganze Leben ein Dreck!“
:-)
Ist das
Wachstum für eine dem Sonnenlicht entgegenwachsende Pflanze ein Zwang? Ist es
für heranwachsende Kinder ein Zwang, „groß“ zu werden? Nein, es ist ihr eigener,
sehr starker Wunsch und Antrieb.
Ist es für den Radfahrer ein Zwang, das
Gleichgewicht zu halten? Nur für den Anfänger, der es noch nicht richtig kann.
Sind Grammatikregeln Zwänge? Nur für den, der sie nicht beherrscht. Ist das
Verbot des Diebstahls ein Zwang? Nur für den, der nie gelernt hat, das Eigentum
anderer Menschen zu achten. Ist es für den Autofahrer ein Zwang, auf der rechten
Fahrbahn zu fahren, um den Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr zu vermeiden? Wohl
nur für einen schwachsinnigen oder betrunkenen Fahrer...
Und so weiter.
Es hängt also offenbar vom Standpunkt bzw. vom Bezugssystem ab, ob die
Einwirkung einer Kraft, ob ein Bedürfnis oder eine Regel als „Zwang“ bestimmt
werden kann oder nicht. D.h. es gibt hier eine wichtige Pluralität von möglichen
Standpunkten.
Welchen von den verschiedenen möglichen Standpunkten nimmst
nun Du ein, wenn Du lebensnotwendige Bedürfnisse grundsätzlich als Zwänge
einordnest?
Es grüßt Dich
Urs
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29.
Nov. 2005, 22:28 Uhr
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Hi zusammen,
soweit so gut, Eberhard, aber:
Kann dies Argument
dazu beitragen, den Konsens zu erreichen oder bekräftigt es nur den Konflikt?
Setzt dies nicht etwas voraus, nämlich einen wie immer gearteten
gemeinsamen Hintergrund? Ein gemeinsames Weltbild?
Nimm ein anderes Beispiel.
Nimm den Karfreitag. Der ist bei uns im heiligen Köln ein stiller Feiertag, das
heißt, es gibt keine Kneipe, keine Disco und kaum was anderes als Parzival in
der Oper. Sind viele natürlich nicht mit einverstanden. Wie willst du da
argumentieren? Als Gegenargument kommt letztlich immer nur heilig, heilig, das
heißt, das ist Glaubenssache. Kann man einem Gläubigen wirklich
Konsensunwilligkeit unterstellen? Er sieht die Sache eben so. Und meint, seine
Sicht sei wahr und alles andere falsch.
intersubjektiv nachvollziehbare
und übernehmbare Argumente
Da sagt dir der Evangelikale, du musst dein Herz
für Jesus öffnen, dann erkennst du die Wahrheit genau so wie ich und meine
Glaubensbrüder.
In Sachen Notwendigkeit von Normen stimme ich dir zu.
Allerdings:
Deshalb kann man die Verletzung einer verbindlich gesetzten Norm
auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass man diese Norm für inhaltlich
(sachlich) falsch halte.
Das stimmt nun nicht so ganz. Wenn es so wäre,
gäbe es heute immer noch den Schwulenparagrafen. Man kann gegen Normen genau so
mit vernünftigen Argumenten angehen wie gegen jede andere Behauptung auch (fragt
sich natürlich, je nach Gesellschaftsform, wie einem das bekommt).
Und
auch Verfassungen und Staatsformen sind im Laufe der Geschichte veränderlich. Es
gibt da nichts stabiles. Auch deswegen sage ich ja, vor einer Diskussion über
spezielle Normen müsste eruiert werden, ob es nicht kultur- und
geschichtsunabhängige allgemeine Normen der Humanität gibt.
Was alles die
Notwendigkeit von Normen nicht in Frage stellt.
Mir ist nur die Basis
nicht tragfähig genug. Wenn wir für unsere Gesellschaft Normen entwickeln
wollen, auf der Basis von dem, was uns selbstverständlich und richtig erscheint,
dann geht das natürlich. Aber diese Normen gelten dann eben nur für unsere
Gesellschaft. Sie sind also beliebige, keine absoluten Normen. Die praktische
Gefahr, die ich sehe ist, dass wir dazu neigen, solche im
innergesellschaftlichen Diskurs gefundenen Normen absolut zu setzen - und das
gibt erst recht Konflikte.
Deswegen sage ich auch, auf der Basis unserer
Verfassung wollen wir das so. Mag sein, dass andere Gesellschaften das anders
wollen, ist ihr gutes Recht, aber wir wollen das nun mal so.
Das ist zwar
praktikabel, aber unbefriedigend. Nimm die Todesstrafe. Sagen wir, bei uns ist
die abgeschafft, die USA sehen das anders, ist ihr gutes Recht, kann man
ebensogut auch so machen?
Oder würde eine islamische Gesellschaft sagen,
in Deutschland ist die Prostitution als Beruf legalisiert worden, wir in unserer
Gesellschaft wollen das nicht, aber man kann das ebenso gut auch anders machen?
Und damit zurück zum Liberalismus. Würden wir sagen: heute noch verbieten
wir das nächtliche Lärmen, aber man kann das ebensogut auch anders machen und
jeden seinen eigenen Lärmschutz zahlen lassen, wenn wir mal mehrheitlich liberal
werden?
Ich denke, da steckt noch ein Konfliktpotential drin, das man
erst mal klären müsste.
Denn der Weg der Normenfindung im Diskurs selbst,
da kann ich im Moment keine Probleme erkennen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29.
Nov. 2005, 22:56 Uhr
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Hi Philoschall,
gegen deine Analyse habe ich kaum etwas einzuwenden.
Allerdings mahne ich, auf die innewohnende Gefahr zu achten:
Marx war
kein Ethiker. In dem Sinne, dass er sich mit Ethik nicht befasste; er setzte
eine bestehende allgemeine humane Ethik voraus. Was seine missratenen Epigonen
dazu brachte, sich ebenfalls nicht mit Ethik zu befassen und dabei den gleichen
Weg gingen, wie alle Orthodoxen und Esoteriker: die Theorie verselbständigt sich
zu einer inhumanen Ideologie. Sein muss das nicht.
Setzt man allerdings,
wie er, die humane Ethik voraus und kritisiert von dieser Basis aus die
bürgerlichen Ideologien, so ist dies m.E. eine sehr wertvolle und klärende
Sicht.
Den wirtschaftlichen Interessengruppen ist das, dass anderen
gesellschaftlichen Interessengruppen als Sachzwang (Ohnmacht) erscheinen vermag,
alles andere als Notwendigkeit
Das sehe ich nicht so. Unternehmer, die ihre
Mitarbeiter entlassen, tun das nicht selten mit sehr ungutem Gefühl, sehen sich
aber von der wirtschaftlichen Lage gezwungen. Der Wesenheit Wirtschaft (die ja
tatsächlich keine Wesenheit, sondern menschliches Handeln ist) fühlen sie sich
genau so unterworfen wie ihre entlassenen Opfer. Es ist m.E. ein Fehler zu
denken, Ideologien würden gemacht, produziert. Das kann in Grenzen manchmal
sein, aber im Kern werden sie nicht gemacht, sondern entstehen - als
Fortentwicklung angenommener Selbstverständlichkeiten. Nicht: der Mensch soll
ein unabhängiges, mobiles Individuum werden, sondern der Mensch wird ein
unabhängiges mobiles Individuum. Das ist der evolutionäre Lauf der Dinge. Ist
natürlich Ideologie - wird aber als Wissenschaft gesehen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 29.
Nov. 2005, 23:15 Uhr
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Hi, Urs,
Denn nur in extremen Lagen wird die Befriedigung elementarer
Bedürfnisse zum"Zwang".
Dass es uns hier in Deutschland (zumeist) gut genug
geht, dass wir diesen Zwang nicht spüren, heißt nicht, dass er nicht besteht. Er
kann jederzeit wieder auftreten - teilweise ist er das beim Schneefall und
Stromausfall im Bergischen. Da wird die Notwendigkeit von Wärme für das
Überleben durchaus schon wieder als Zwang erlebt.
Ist es für
heranwachsende Kinder ein Zwang, „groß“ zu werden? Nein, es ist ihr eigener,
sehr starker Wunsch und Antrieb.
Da sind wir schon fast beim Problem
Willensfreiheit. Werden sie groß, weil es ihr Wille ist, oder haben sie den
Willen, weil sie darauf programmiert sind, groß zu werden?
Es hängt also
offenbar vom Standpunkt bzw. vom Bezugssystem ab, ob die Einwirkung einer Kraft,
ob ein Bedürfnis oder eine Regel als „Zwang“ bestimmt werden kann oder nicht.
D.h. es gibt hier eine wichtige Pluralität von möglichen Standpunkten.
Ist es nicht so, dass ich (mal vom Fahrradbeispiel abgesehen, da würde ich doch
lieber von Lernen sprechen) etwas nur dann als Zwang empfinde, wenn es meinem
Willen entgegen steht? Aufs Klo zu müssen empfinde ich nur dann als Zwang, wenn
ich von der Veranstaltung nichts verpassen will. Arbeiten um Geld zu verdienen
ist dann ein Zwang, wenn ich lieber etwas anderes machen möchte. Und atmen
betrachte ich dann als Zwang, wenn ich lieber tauchen möchte.
Ebenso
verhält es sich mit gesellschaftlichen Zwängen. Kopftuchtragen betrachten wir
als Zwang - etliche Musliminnen machen das aber gewollt und freiwillig.
Ich bin dafür, Zwang oder nicht Zwang lieber von objektiven Gründen abhängig zu
machen als vom subjektiven Empfinden.
Womit ich nicht sage, dass es nicht
eine hoch interessante Frage ist, was man unter welchen Bedingungen als Zwang
empfindet und was nicht - interessant auch für unsere Fragestellung nach Normen
im Zusammenhang mit dem Gemeinwohl.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 30.
Nov. 2005, 11:02 Uhr
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ich komme wohl nicht umhin, mich mit Deiner Art zu formulieren etwas genauer
auseinanderzusetzen, denn ich finde es reichlich anstrengend, immer wieder - und
oft vergeblich, nach dem genauen Sinn Deiner zum Teil sehr umfangreichen
Beiträge zu suchen.
Ich nehme mal eine zentrale Passage aus Deinem
letzten Beitrag.
Dort schreibst Du:
“Liberale Demokratie ist die
politische Ausgabe derjenigen wirtschaftlichen Interessengruppe, die, auch mit
vom Geist in Politik herabgezogenen Ideen auftretend, jene gesellschaftlichen
Veränderungen verschleiert-kultiviert, die mit den technischen Anwendungen
industrial sich verzeitigen.“
Ich kann mit diesen kunstvoll verschrobenen
Sätzen leider wenig anfangen und ich frage mich, wie es anderen dabei geht. Ich
habe von der zitierten Passage zwar den atmosphärischen Eindruck, dass darin
irgendeine Kritik an der liberalen Demokratie steckt, aber was genau mit diesen
Sätzen gesagt wird, bleibt mir unklar.
Fangen wir mit der „liberalen
Demokratie“ an. Was verstehst Du darunter? Was versteht man darunter? Meine
Frage an Dich: Bedeutet „liberale Demokratie“ für Dich ein politisches System,
in dem es ein allgemeines gleiches Wahlrecht gibt? Ich vermute, dass dem so ist.
Dem steht aber entgegen, dass das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht auf dem
Programm der Liberalen gestanden hat, sondern vor allem von den Sozialdemokraten
(für die Arbeiter) und den Frauenrechtlerinnen (für die Frauen) erkämpft wurde
und deshalb in Deutschland erst 1918 und gerade nicht von einer liberalen Partei
eingeführt wurde.
Die liberale Demokratie ist nun bei Dir „die Ausgabe
einer wirtschaftlichen Interessengruppe“. Was das heißen soll, ist mir unklar.
Ich kenne zwar die Ausgabe einer Zeitung („ .. in der gestrigen Ausgabe der
Süddeutschen Zeitung konnten man lesen …“), aber dass politische Programme wie
die liberale Demokratie „ausgegeben“ werden, erscheint mir sprachlich etwas
eigenwillig und nicht sehr geglückt.
Mit der „wirtschaftlichen
Interessengruppe“ meinst Du wohl die „Kapitaleigner“ und „Unternehmer“, also
diejenigen, die Marx als „Bourgeoisie“ oder „Kapitalistenklasse“ bezeichnet und
die umgangssprachlich als „Fabrikbesitzer“ bezeichnet werden.
Diese
Begriffe sind für mich wesentlich aussagekräftiger, denn eine „wirtschaftliche
Interessengruppe“ sind auch die Gewerkschaften oder die Bauernverbände, aber die
meinst Du offenbar nicht.
Entsprechendes gilt für Deinen Begriff des
„wirtschaftlichen Interesses“, womit du offenbar auch nur das Interesse der
Kapitalisten/Unternehmer meinst, obwohl die Beschäftigten bzw. die Lohnarbeiter
natürlich ebenfalls wirtschaftliche Interessen haben.
Du nennst die
Interessengruppe nicht direkt, sondern bezeichnest sie als diejenige Gruppe,
„die jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert.“
Mit
„jenen Veränderungen“ ist offenbar die weiter oben angesprochene „Technisierung
der Arbeitswelt“ und die „industriale Ausgestaltung der betreffenden
Gesellschaften“ gemeint,
Aber „verschleiern“ die Fabrikbesitzer die
Technisierung? Eher zeigen sie doch voll Stolz ihre Maschinen, mit denen so viel
schneller und billiger produziert werden kann.
Haben die Fabrikbesitzer
die Technisierung der Arbeitswelt und die industrielle Ausgestaltung der
Gesellschaft „kultiviert“?
Die Fabrikbesitzer können eigentlich auch
nicht gemeint sein, denn denen geht es vorrangig nicht um die Kultivierung der
Maschinerie sondern um deren Rentabilität.
Außerdem soll die
wirtschaftliche Interessengruppe „auch mit vom Geist in Politik herabgezogenen
Ideen auftreten“. Was kann damit gemeint sein? Welche Ideen werden da in die
Politik herabgezogen? Handelt es sich bei dem Geist oberhalb der Politik um die
Philosophie?
Schließlich sprichst du davon, dass die gesellschaftlichen
Veränderungen "mit den technischen Anwendungen industrial sich verzeitigen“.
Dabei meinst Du mit „industrial“ offenbar „industriell“ und mit „verzeitigen“
vielleicht „verwirklichen“ oder „verbreiten“, vielleicht aber auch etwas
anderes.
Da all diese Fragen nach der genauen Bedeutung offen bleiben,
kann ich mich nur unter Schwierigkeiten mit Deinen Beiträgen auseinandersetzen.
Sie zeigen zwar eine deutliche politische Richtung, aber es mangelt nach meinem
Eindruck bei allem stilistischen Anspruch an begrifflicher Klarheit und
logischer Stringenz der Argumente. Und das ist schade
meint Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 30.
Nov. 2005, 12:18 Uhr
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Hallo Abrazo,
vorweg: Ich finde es immer schade, wenn Philosophen an der
Wirksamkeit vernünftiger Argumente zweifeln oder darauf verzichten, an deren
besserer Wirksamkeit zu arbeiten. Wer sonst als die Philosophen wäre eher für
diese Aufgabe zuständig?
Auf meine Aufforderung, nach intersubjektiv
nachvollziehbaren und übernehmbaren Argumenten zu suchen, entgegnest du: „Da
sagt dir der Evangelikale, du musst dein Herz für Jesus öffnen, dann erkennst du
die Wahrheit genau so wie ich und meine Glaubensbrüder.“
Willst Du diese
Pseudoargumentation auf eine Stufe stellen zum Beispiel mit den
Intersubjektivitätskriterien der Erfahrungswissenschaften, wo genau angegeben
wird, welche Wahrnehmungen man macht, wenn man eine bestimmte Versuchsanordnung
durchführt oder wenn man sich an einen zeiträumlich bestimmten Ort begibt?
Als rational denkender Mensch muss ich den Evangelikalen doch zurückfragen:
„Was meinst Du denn mit der Bildersprache ,das Herz für Jesus öffnen’?“
Wenn er den Anspruch auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Begründung erhebt,
dann muss der Evangelikale Handlungen angeben, deren Ausführung jedem möglich
ist und deren Ausführung sich unabhängig vom behaupteten Resultat (dass der
Betreffende die christliche Wahrheit erkennt) intersubjektiv übereinstimmend
feststellen lässt.
Andernfalls handelt es sich um ein Pseudoargument.
Denn wenn man zum Ergebnis kommt: „Ich kann die christliche Wahrheit
nicht erkennen“, dann sagt der Schlaumeier: „Dann hast Du eben Dein Herz noch
nicht genügend weit für Jesus geöffnet.“
Nach diesem Muster lassen sich
beliebig abstruse und einander widersprechende Theorien „begründen“, was zur
Konsequenz hat, dass es sich eben um keine Begründung von Erkenntnis handeln
kann. Denn beliebige Antworten sind gar keine Antwort.
Außerdem darf der
Evangelikale dabei selbstverständlich nicht dasjenige bereits zur Voraussetzung
machen, was gerade strittig ist (die Überzeugung von der Wahrheit der
christlichen Lehre).
(Fortsetzung folgt.)
Erstmal tschüs sagt
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 30.
Nov. 2005, 21:46 Uhr
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Hi, Eberhard,
Ich finde es immer schade, wenn Philosophen an der
Wirksamkeit vernünftiger Argumente zweifeln
Ich zweifle aber daran. Ich bin
gezwungen, daran zu zweifeln, weil mich das die Lebenspraxis gelehrt hat.
oder darauf verzichten, an deren besserer Wirksamkeit zu arbeiten.
Das
folgt nicht. Aber daran arbeiten heißt erst mal zu erkennen, dass ich da mit
meinen üblichen rationalen Argumenten nicht durch komme. Und dann muss ich
überlegen, welche anderen Wege vielleicht möglich wären. Ich neige dazu zu
sagen, sie interpretieren meine Worte nach ihrem Weltbild. Wenn ich verstanden
werden will, muss ich ihr Weltbild ändern. Ein Weltbild kann ich aber nicht im
Diskurs ändern, das kann ich nur dann ändern, wenn ich auf Widersprüche zeige,
auf Widersprüche in den Daten, wo etwas anders geglaubt wird, als es tatsächlich
und nicht ignorierbar ist - wenn man darauf hingewiesen wird. Ich kann ihm den
Widerspruch nicht erklären, das nützt nichts. Er muss sich ihm zeigen. Das geht
nicht von jetzt auf gleich.
Argumente im Diskurs haben dann keinen Sinn,
wenn sie auf Daten basieren, die der andere nicht oder so nicht hat. Das ist für
mich das Hauptproblem, auf das ich in dieser oder jener Form immer wieder
zurückkommen muss.
Als rational denkender Mensch muss ich den
Evangelikalen doch zurückfragen: „Was meinst Du denn mit der Bildersprache ,das
Herz für Jesus öffnen’?“
Dat darfste nich machen. Dann kriegste ne
endlose Predigt, in die er sich bis zur totalen Kommunikationsunfähigkeit hinein
steigert.
Andernfalls handelt es sich um ein Pseudoargument.
Und?
Eberhard? Auf wievielen Pseudoargumenten basierten kollektiver Mord und
Totschlag?
Ich habe nicht das geringste gegen vernünftige Argumente
einzuwenden. Auch nicht das geringste gegen deine Methoden, deren Klarheit ich
schätze. Aber ich sage, schau dir die Lebenspraxis an: das reicht nicht. Es
reicht mir und es reicht dir und allen vernünftigen Leuten, mit denen man so zu
tun hat.
Aber das ist im Zweifelsfalle nicht die Mehrheit.
Zu meinen
Lieblingsmetaphern gehört der den Vögeln predigende Franz von Assisi. Das war ja
nicht Tierliebe. Das war eine Demonstration dafür, dass er genau so gut den
Vögeln predigen könne wie seinen Landsleuten; die seien genau so wenig in der
Lage, zuzuhören und zu verstehen.
Was nützt es, wenn alles, was du
sagst, vollkommen richtig ist, aber niemand versteht es? Nicht von den Worten
und Verknüpfungen, sondern von der Bedeutung, vom Sinn her?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
30. Nov. 2005, 22:38 Uhr
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Hallo Eberhard,
"Meine Frage an Dich: Bedeutet „liberale Demokratie“ für
Dich ..." Eberhard
Auch noch den Letzten auf dem Planeten Erde zum Wählen
mobilisieren, damit dieser demokratisiertes Glied privatwirtschaftlicher
Grossunternehmung wird.
"Dem steht aber entgegen, dass das allgemeine
gleiche Wahlrecht nicht auf dem Programm der Liberalen gestanden hat, sondern
vor allem von den Sozialdemokraten (für die Arbeiter) und den
Frauenrechtlerinnen (für die Frauen) erkämpft wurde und deshalb in Deutschland
erst 1918 und gerade nicht von einer liberalen Partei eingeführt wurde."
Eberhard
Bis 1914 waren in Deutschland Träger dieser Forderungen nicht,
oder nur unwesentlich an der Regierungsbildung, an der politischen Ausgestaltung
der deutschen Gesellschaft beteiligt. Die grossbürgerlichen und die junkerlichen
Kräfte in Deutschland verhinderten dieses bis 1918, als auch in Deutschland
demokratischer Liberalismus eingeführt wurde. Die u.a. während des Bestehens des
Preussenstaates geformte Parteiprogramatik der Sozialdemokratie Deutschlands
sowie Ideen des bereits ausserhalb Deutschlands praktizierten Liberalismus
schliessen sich nicht aus.
"Die liberale Demokratie ist nun bei Dir „die
Ausgabe einer wirtschaftlichen Interessengruppe“." Eberhard
Wie die
Sozialdemokratie im Rahmen bürgerlicher Expansion auftauchende Ideen -manchmal,
wie in Deutschland von 1871-1918 auf Umwegen- auf ihre Fahne geschrieben, so
weisen andere politische Parteien ebenfalls typische Merkmale auf, mit denen
parteipolitische Unterschiede gegeben sind. Parteibildungen in Europa sind
(noch) der Ausdruck dafür, dass deren aktiven Träger im Namen gesellschaftlicher
Einzelinteressen auftreten, die im Sinne ihrer jeweiligen Parteiprogramatik auf
der Ebene der Parlamente versuchen Gesellschaft auszugestalten. Wie das Beispiel
von 1918 zeigt, gab erst die liberalistische Favorisierung den politischen Boden
in Deutschland ab, auf dem deutsche Bürger vermochten
demokratisch-parteipolitisch-parlamentarisch aufzutreten. Nicht nur das
antipluralistische deutsche Bürgertum musste sich jedoch von jenen
antidemokratisch-junkerlichen Kräften lösen, die mit Beendigung des ersten
Weltkrieges kapitulierten, mit denen dasselbe Bürgertum zuvor Deutschland als
innere Schicksalsgemeinschaft formierte dessen Wohl von einer imperalistischen
Aussenpolitik der militärischen Eroberung von geographischen Gebieten abhängig
sei, die westliche Wirtschaftsinteressengruppen bereits kolonialistisch
eroberten. Der Auflösung der zum imperialistischen Militarismus
heruntergewirtschaften deutschen Monarchie (unter Kaiser Wilhem II) folgte
jedoch beispielsweise nicht, dass das deutsche Volk zusammen mit der deutschen
Sozialdemokratie sich seine politischen Formen gab. Jenes politische System,
d.h. die liberale Demokratie wurde in Deutschland eingeführt, mit der
amerikanische sowie französische und englische Wirtschaftsinteressen bereits
ihre Globalunternehmungen beispielsweise auf europäischen Boden, nach innen,
d.h. innenpolitisch europäisch-nationalistisch sowie aussereuropäisch, d.h.
aussenpolitisch-kolonialistisch praktizierten. Deutsches Großbürgertum, von 1871
bis 1918 mit den antidemokratischen Junkern im Verbund, deutsches Großbürgertum
1918 mit der Einführung der westlich liberalen Demokratie in Deutschland nicht
nur von der Einflußnahme des Wirtschaftsinteresses Westeuropas und den USA
unmittelbar, sondern auch von der nun auf der Ebene des Weimarer
Parlamentarismus auftretenden in der deutschen Sozialdemokratie organisierten
Arbeiterschaft konfrontiert, ließ die deutsche Gesellschaft seit 1918 abermals
zu einer, nun antibolschewistischen Schicksalsgemeinschaft formieren, die ab
1933 politisch von der NSDAP geführt wurde .............
"Du nennst die
Interessengruppe nicht direkt, sondern bezeichnest sie als diejenige Gruppe,
„die jene gesellschaftlichen Veränderungen verschleiert-kultiviert.“ ... Aber
„verschleiern“ die Fabrikbesitzer die Technisierung? ... Haben die
Fabrikbesitzer die Technisierung der Arbeitswelt und die industrielle
Ausgestaltung der Gesellschaft „kultiviert“? ... Die Fabrikbesitzer können
eigentlich auch nicht gemeint sein, denn denen geht es vorrangig nicht um die
Kultivierung der Maschinerie sondern um deren Rentabilität." Eberhard
Mit
der Anwendung neuzeitlicher Technik, mit der seit der bürgerlichen Revolution
sich vollziehenden privatwirtschaftlichen Aneignung der Produktionsmittel
vollzog sich jener Umbau westlicher Gesellschaften, der sich auch dadurch
kennzeichnen lässt, dass die Arbeitskraft des abendländischen Menschen aus dem
feudalherrschaftlichen Ordnungsgefüge des religiös ausgerichteten Mittelalter
genommen wurde: um Arbeitskraft industriell ... zu verwerten. Mit diesem
Produktionsumbau verändern sich nicht nur die Arbeitsverhältnisse; die
Staatspraxis passt sich ebenfalls dem mit der Expansion der Grossbürgerlichen
Unternehmung gegebenen gesellschaftlichen Umbau an. Staatlichkeit wird zum
Ordnungsgefüge jener bürgerlichen Kräfte, die bis heute im Besitz der
Produktionsmittel sind, welche bürgerliche Staatlichkeit den Parlamentarismus
abgibt, auf deren Bühne diejenigen auftreten, die den Besitzstand
parteipolitisch verteidigen (Liberale), die, mit Gesellschaftsreformen
auftretend, diesen Besitzstand unangetastet lassen (Volksparteien, demokratische
Oppositionparteien). Der bürgerliche Staat, politische Parteien treten mit Ideen
auf, mit denen die jeweiligen Wählerschaften umworben werden. Diese Ideen, mit
der bürgerlichen Expansion Westeuropas industriell ... seit 1918 auch in
Deutschland zur Wirkung kommend, können nationalistisch und/oder
internationalistisch ausgerichtet sein; diese Ideen werden favorisiert um die
Nicht-Besitzenden Bürger mit ihren jeweilig zugestandenen wirtschaftlichen
Interessen auf dem kapitalistischen Kurs "mitzunehmen". Mit in der
parteipolitischen Sphäre auftretenden Ideen wird Kultivierung jener
Gesellschaften betrieben, die vom privatwirtschaftlichen Einsatz der Technik
bedingt sind. Menschliche Handlungen vollziehen sich in der
bürgerlich-politischen Sphäre als zivilisierte; jene Bürger dürfen nun medial
glänzen, die verstehen, Einzelinteresse, etwa derjenigen die nicht über
Produktionsmittel verfügen, als Allgemeininteresse erscheinen zu lassen.
"Außerdem soll die wirtschaftliche Interessengruppe „auch mit vom Geist in
Politik herabgezogenen Ideen auftreten“. Was kann damit gemeint sein? Welche
Ideen werden da in die Politik herabgezogen? Handelt es sich bei dem Geist
oberhalb der Politik um die Philosophie?" Eberhard
Bürgerliche
Staatlichkeit tritt mit Verfassungen auf, in der Geistiges, etwa das vom
abstrahierenden Denken entworfene Ideal der praktischen Gleichheit der Menschen
vor dem Gesetz, verankert ist. In der Sphäre der praktischen Politik, und hier
besonders vollzieht sich menschliches Handeln jedoch so, dass dieses vom
abstrahierenden Denken selten bewegt wird. Dass Einzelinteresse, in dessen
Vermögen steht, als Allgemeininteresse zu erscheinen, bleibt, wenn
unterschiedliche politische Parteien vermögen aufzutreten, demokratischer
Faktor. Wird die praktisch-demokratische Ausrichtung zurückgenommen fällt das
parteipolitische Kräftespiel. Der Liberalismus verliert seine demokratische
Favorisierung die mit den unterschiedlichen sowie entgegengesetzten
Parteibildungen gegeben ist. Globalisierendes Besitzstandsinteresse setzt sich
ins Vermögen antidemokratisch aufzutreten; Staat als "Nachtwächterstaat", d.h.
im Inneren als Garanten der bürgerlichen Ruhe und Ordnung, aussenpolitisch als
Sicherung ihrer wirtschaftlichen Interessen auftreten zu lassen. Die auf dem
Papier vom geistiges Ideal inspirierte politische Verfassung, die
bürgerlich-formale Staatsrechtlichkeit als geistiger Hintergrund des
gesellschaftlichen Nicht-Zustandes, die bürgerliche Idee der politisch zu
verwirklichenden Gleichheit der unterschiedlichen Menschen vor dem Staatsgesetz
ist -wird menschliche Ungleichheit von jenem Globalverwertungsinteresse bedingt,
dessen Macht nicht aus demokratisch-parteipolitischen Kräftespiel resultiert-
ausser Kraft gesetzt. Dass vom philosophisch-abstrahierende Denken inspirierte
politische Sein vermag dem verabsolutierten kapitalistischen
Verwertungsinteresse der Postmoderne ebensowenig etwas entgegensetzen, wie
Denken dem verabsolutierten religiösen Wahn des europäischen Mittelalters
vermochte etwas entgegenzusetzen. Philosophie bleibt. Wandel wird sich in jener
praktischen Sphäre wieder vollziehen, in der geistige Grundlagen des
menschlichen Strebens stets vermischt mit verabsolutierten Intesssen auftreten.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen IIEs ist m.
Beitrag von
philoschall am 01. Dez. 2005, 11:06 Uhr
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Hallo Abrazo,
ich teile den von Dir vorgetragenen Gedanken, dass statt
Ethik, wird Theorie des gesellschaftlichen Einzelinteresses absolut gesetzt
-etwa derjenigen welche den Begriff der Arbeiterklasse oder derjenigen welche
die privatwirtschaftlich angeeigneten Produktionsmittel verabsolutieren, gewinnt
dieses verabsolutierende Theoretisieren, gewinnt dieses Technik-Fetischisierte
Handeln Macht im Staatsbereich, verselbstständigt sich somit das gestalterische
Handlungsvermögen über Gesellschaft- alles andere favorisiert wird. Allerdings
gibts nicht nur Theorie-Fetischisten mit staatspolitischen Machtanspruch auf der
Linken, diese finden sich ebenso auf der politischen Rechten (Stichwort:
Konservative Revolutionäre, erstmals in der Weimarer Republik aufgetreten).
Gegenwärtige Politik tritt unter Rahmenbedingungen auf, die der späten Phase der
ersten Einführung liberaler Demokratie in Deutschland ähnlich sind: Verordnung
eines rigiden Sparkurses der öffentlichen Haushalte, Privatisierung zuvor
Staatlich Verwalteten, hohe Arbeitslosigkeit ... - in der davon geprägten
staatspolitischen Sphäre gewannen sogenannte konservative Revolutionäre Einfluss
auf die deutsche Gesellschaft, welcher Einfluss 1933 zur parlamentarischen
Demontage ihren Beitrag leistete.
"Es ist m.E. ein Fehler zu denken,
Ideologien würden gemacht, produziert. Das kann in Grenzen manchmal sein, aber
im Kern werden sie nicht gemacht, sondern entstehen - als Fortentwicklung
angenommener Selbstverständlichkeiten. Nicht: der Mensch soll ein unabhängiges,
mobiles Individuum werden, sondern der Mensch wird ein unabhängiges mobiles
Individuum. Das ist der evolutionäre Lauf der Dinge." Abrazo
Siehe hierzu
meine Ausführungen an Eberhard (Beitrag 100) Danke.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 01.
Dez. 2005, 20:17 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Abrazo,
die zentrale Frage ist: Kann es eine
konsensfähige, am Allgemeinwohl orientierte Politik und Gesetzgebung geben
angesichts von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Weltbildern,
Wertordnungen und Interessen?
Kann es eine gemeinsame, konsensfähige
Politik geben für Gesellschaften, die aus Katholiken und Protestanten, Christen
und Muslimen, Gottgläubigen und Atheisten, Iren und Schotten, Flamen und
Wallonen, Kapitaleignern und Lohnempfängern, aus Deutschstämmigen und
Türkischstämmigen, aus Weißen und Farbigen, aus Frauen und Männern, aus Jungen
und Alten besteht?
Wie weit reicht angesichts derartiger Unterschiede
oder Gegensätze eine „vernünftige“ Argumentation, die allgemein akzeptabel ist?
Nehmen wir das konkrete Beispiel von Abrazo: Wie können Christen und
Nichtchristen, die um einen Konsens im Sinne des Allgemeinwohls bemüht sind,
argumentieren, wenn es um die Öffnung von Diskotheken am Karfreitag geht, also
dem Tag, an dem die Christen der Hinrichtung Jesu gedenken und der als der
höchste Feiertag der Christenheit gilt.
Wie müssten Karl Fromm und Heinz
Gottlos argumentieren?
F: Diskotheken und ähnliches dürfen am Karfreitag
nicht öffnen, denn Tanzvergnügungen sind mit der Trauer um die Kreuzigung Jesu
nicht vereinbar, der als Gottes Sohn mit diesem Opfergang die Sünden der
Menschen auf sich genommen hat.
G: Das sind doch religiöse Phantasien,
die ich als nüchtern denkender Mensch nicht akzeptieren kann. Diese
Argumentation kann doch nur ein gläubiger Christ akzeptieren. Da wir hier aber
um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen bemüht sind, sind
Argumente, die ein religiöses Glaubensbekenntnis zur Prämisse haben, ungeeignet.
F: Wollen Sie so tun, als gäbe es keine christliche Religion? Wollen Sie
alles ignorieren, was wir vom christlichen Glauben aus zu sagen haben? Das wäre
ja das Ende der freien Religionsausübung.
G: Das habe ich nicht gesagt.
Ich habe nur gesagt, dass Ihre Argumentation für Nicht-Christen nicht
nachvollziehbar ist und deshalb ungeeignet ist für die Bestimmung einer Politik,
die dem allgemeinen Wohl entspricht.
F: Sie vergessen, dass wir ein Land
mit abendländisch christlicher Kultur und Tradition sind, woraus folgt, dass die
christlichen Feiertage zu respektieren sind.
G: Es mag ja sein, dass in
der Vergangenheit das Christentum unsere Kultur geprägt hat und dass die
Christen auch heute noch die Mehrheit der Bevölkerung darstellen. Aber Sie
müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es einen erheblichen Prozentsatz von
Nicht-Christen gibt, wie mich. Aber davon ganz abgesehen: die Frage, wie viele
Menschen einer bestimmten Weltanschauung anhängen, ist für die Lösung unseres
Problems nicht von entscheidender Bedeutung. Dadurch, dass sich die Christen in
der Mehrheit befinden, wird ihr Weltbild nicht richtiger. In anderen
Gesellschaften befinden sich die Christen z.B. in der Minderheit.
F: Soll
das heißen, dass der Charakter des Karfreitags, in dem die zahlreichen Christen
in diesem Land um das Leiden des Mensch gewordenen Gottessohns trauern, einfach
ignoriert werden kann, weil es keine wissenschaftliche Begründung des
christlichen Glaubens gibt?
G: Das folgt aus dem, was ich gesagt habe,
noch nicht. Ich sage nur, dass die Schließung der Diskotheken nicht für mich und
auch nicht für die Allgemeinheit auf diese Weise nachvollziehbar begründet
werden kann,
Ich bin mir wohl bewusst, dass es in diesem Land viele
Menschen gibt, die christlichen Glaubens sind. Aber es gibt eben auch
Nicht-Christen und für diese ist ihre Begründung nicht akzeptabel.
F: Sie
fordern also, dass die christlichen Gemeinden in ihrer Trauer und ihren
Gottesdiensten mit dem lautstarken Rummel von Rockkonzerten, Bundesligaspielen,
Straßenfesten, Flohmärkten oder Tanzveranstaltungen gestört und belästigt werden
dürfen? Von Respekt vor dem, was heilig ist, haben Sie wohl noch nie etwas
gehört!
G: Was Ihnen heilig ist, ist anderen vielleicht nicht heilig.
Aber ich teile Ihre Forderung, dass die Trauer und die Gefühle von Menschen
respektiert und nicht durch lärmende Fröhlichkeit gestört werden sollten. Und
dies gilt für religiöse Gefühle genauso wie für andere Gefühle. Dass derartige
Verletzungen von Gefühlen etwas Unerwünschtes sind, kann wohl von jedermann
nachvollzogen werden.
F: Na also, sie scheinen langsam zu begreifen!
G: Nicht zu voreilig. Für mich folgt daraus nur, dass den Christen eine
ungestörte Feier des Karfreitags zu gewähren ist. Das heißt aber zugleich, dass
Aktivitäten und Veranstaltungen, die niemanden stören, der dies nicht will,
zugelassen werden müssen, sei es ein Radiosender mit Tanzmusik, ein
Fernsehsender mit einer Komödie, sei es eine Diskothek fernab von der Stadt oder
ähnliches.
Mit diesem kleinen Beispiel konsensorientierter Argumentation
grüßt Euch Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 01.
Dez. 2005, 23:29 Uhr
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Hi, Philoschall,
konstruiere mir doch mal bitte diesen Satz nach den
üblichen grammatikalischen Regeln, denn ich bin dazu leider nicht in der Lage:
ich teile den von Dir vorgetragenen Gedanken, dass statt Ethik, wird Theorie
des gesellschaftlichen Einzelinteresses absolut gesetzt -etwa derjenigen welche
den Begriff der Arbeiterklasse oder derjenigen welche die privatwirtschaftlich
angeeigneten Produktionsmittel verabsolutieren, gewinnt dieses verabsolutierende
Theoretisieren, gewinnt dieses Technik-Fetischisierte Handeln Macht im
Staatsbereich, verselbstständigt sich somit das gestalterische Handlungsvermögen
über Gesellschaft- alles andere favorisiert wird.
Zum anderen
vermisse ich bei dir leider klare Aussagen über das Subjekt. Du beschreibst -
aus deiner Sicht - Vorgänge, oft mit Analogieschlüssen, die ich nicht akzeptiere
(wenn eine Katze mit dem Schwanz wedelt, ist sie kein Hund), machst aber keine
zumindest für mich erkennbaren Angaben darüber, wer der Urheber oder was die
Ursache dieser Vorgänge sein soll. Dadurch fehlt mir die Stringenz in deiner
Argumentation, sie erscheint mir wie zusammenhangloses Stückwerk. Und mit
irgendwelchen obskuren Mächten kann ich nichts anfangen. Also nenne doch bitte
Ross und Reiter: wen oder was meinst du mit den Mächten?
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 01.
Dez. 2005, 23:56 Uhr
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Hi Eberhard,
Da wir hier aber um einen Konsens zwischen Christen und
Nichtchristen bemüht sind, sind Argumente, die ein religiöses Glaubensbekenntnis
zur Prämisse haben, ungeeignet.
Darauf würde Herr Fromm antworten:
Selbstverständlich sind wir um einen Konsens zwischen Christen und Nichtchristen
bemüht. Wir sind immer diejenigen, die auf die Nichtchristen zugehen und mit
ihnen ins Gespräch zu kommen trachten. Wir wissen, dass Nichtchristen die
Bedeutung des Karfreitags nicht verstehen und bemühen uns darum und beten und
hoffen, dass sie das einmal begreifen. Aber Sie können von uns doch nicht
verlangen, dass wir tatenlos zusehen, wenn egoistische, einzig ihrem
persönlichen Vergnügen folgende Menschen die Mahnung und die Erinnerung an die
göttliche Wahrheit öffentlich in Vergessenheit zu bringen trachten!
Du
setzt einen Konsens zwischen unterschiedlichen Interessen von Individuen voraus.
Genau darum geht es solchen Leuten aber nicht. Es geht ihnen nicht darum, ihren
Glauben ungestört privat zu leben, sondern es geht ihnen darum, eine ihrer
Ansicht nach allgemeingültige Wahrheit zu achten und möglichst zu verbreiten,
die weit über individuellen Interessen steht, für die individuelle Interessen
überhaupt nicht relevant sind.
Wobei in politischen Strömungen oft genug
die gleichen Absichten zu finden sind.
Im Grunde handelt es sich hier um
eine Interpretation des Gemeinwohls, wonach das Gemeinwohl Vorrang hat vor den
jeweiligen individuellen Interessen, weil diese nur momentan, lustbetont und
ohne Blick auf Zukunft und Ziel des Ganzen wahrgenommen werden. Insofern sie
dies nicht sehen, sehen sie damit auch nicht ihre eigenen tatsächlichen
Interessen. Vulgo: das Individuum ist im Zweifelsfalle ein ahnungsloser, hin-
und hergeworfener Dummkopf, über dessen Aussagen man mit gütigem,
verständnisvollem Lächeln hinweg geht.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 02.
Dez. 2005, 09:02 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Abrazo,
als Heinz Gottlos las, was Karl Fromm Dir
zum Karfreitag gesagt hat, schrieb er an Karl Fromm:
Sehr geehrter Herr
Fromm,
ich freue mich, dass Sie mit mir das Ziel teilen, einen Konsens
zwischen Christen und Nichtchristen in Bezug auf die Gestaltung des Karfreitags
zu erreichen.
Wenn man aber diese Einigung wirklich will, dann kann man
nicht für eine bestimmte Position allgemeine Geltung verlangen, ohne diese
allgemeine Geltung auch mit allgemein nachvollziehbaren Argumenten einsichtig
begründen zu können. Eine solche Argumentation ermöglicht keinen Konsens,
sondern verhindert ihn.
Wenn Sie folglich auf der allgemeinen Geltung
Ihrer christlichen Position bestehen, wenn diese Position auch für mich gelten
soll, obwohl es für diese Position keine allgemein nachvollziehbare und
überprüfbare Begründung gibt, dann war ihr anfängliches Bekenntnis zur
vernünftigen Einigung nur Augenwischerei, ein Lippenbekenntnis, das Sie nicht
ernsthaft gemeint haben.
Zum Vorschein kommt bei Ihnen ein nicht zu
begründendes autoritär gesetztes Dogma, dem sich alle unterzuordnen haben.
Eine Wahrheit, die nicht einsichtig ist, ist von der Unwahrheit nicht zu
unterscheiden.
Eine selbsternannte Rechtgläubigkeit schafft keinen
Konsens.
Solche Orthodoxie ist gegenüber den anders Denkenden nicht mehr
als eine Aufforderung zu gehorchen.
Wenn Sie das nicht wollen sondern
einen vernünftigen, auf nachvollziehbaren Argumenten aufgebauten Konsens, dann
überdenken Sie bitte Ihre Position in dieser Frage noch einmal.“
Hat
Heinz Gottlos damit Recht?
fragt Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
02. Dez. 2005, 12:47 Uhr
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Hallo zusammen,
Abrazo an Eberhard: "Was nützt es, wenn alles, was du
sagst, vollkommen richtig ist, aber niemand versteht es?"
Eberhard
an philoschall: "Du vermisst bei der Fragestellung den historischen Kontext und
Du befürchtest, dass ohne diesen Kontext die zentralen Begriffe im Dunkeln
bleiben müssen.
Diese Befürchtung teile ich nicht, denn Begriffe wie
Gemeinwohl, Wohl der Individuen, Gesamtinteresse oder Einzelinteresse haben
bereits umgangssprachlich eine mehr oder weniger bestimmte Bedeutung, und es
hindert uns niemand daran, diese Begriffe - falls nötig - noch schärfer zu
definieren." Eberhard (Teil 1, Antwort 2)
Dass erinnert mich an David
Hume: Es gab und wird keinen Staat geben der durch einen ursprünglichen Vertrag
des Volkes entstanden ist, bezw. entstehen wird. Nach Hume entsteht Staat - im
Zusammenhang mit dem Staat sind nicht nur Begriffe wie Gemeinwohl,
Einzelinteresse ... zu behandeln - durch physische Gewalt: diese zwinge das Volk
erst zur nachträglichen Anerkennung der Herrschaft. Diese nachträgliche
Anerkennung durch die (Volks)Menge nennt Hume "stillschweigende Zustimmung", die
er vom historisch verstandenen Vertrag (ich glaube Hume argumentiert gegen
Locke) unterscheidet. Nicht um die Legitimierung irgend eines Staates geht es
Hume, sondern um Favorisierung der Loyalität der Bürger, mit der die physische
Gewaltanwendung stabilisiert wird: Allgemeine Interessen und Bedürfnisse des
Volkes müssen berücksichtigt werden, und zwar hinsichtlich Reformen der
Verfassung des Staates. Vertragstheorie ist nicht historisch orientiert, die
Entstehungsgeschichte eines Staates sowie historisch orientierte Kritik wird
nicht favorisiert. Entscheidend ist hier (wie auch bei Kant) anderes: die
ideelle bezw. normative Komponente, mit der die Legitimität einer Rechts- und
Staatsauffassung öffentlich bestätigt werden soll. Diese ideelle Vertragstheorie
setzt den universalen Anspruch vorraus, dass jeder der Vertragsteilnehmer sein
Naturrecht aufgibt, dass er bei seiner Verfolgung des Zieles, seiner
Selbsterhaltung, die Rationalisierung seiner Interessen im Rahmen der
Staatsgesetze, der Insititutionen, praktiziert.
Diese normative
Vertragstheorie - ich geh hier mal davon aus, Eberhard ist ein Vertreter dieser
Theorie - arbeitet also mit einem Menschenbild, dass die Bürger nur dann
Vernünftige sind, wenn diese den Naturzustand aufgeben, damit diese ihren
Strebenszustand, den juridisch-politischen Zusammenhang rational erfassen. Wenn
das, was hier von Eberhard immer wieder vorgetragen wird, alles richtig sein
soll, dieses aber niemand versteht -ausser denen die dieses Menschenbild denken
und dieses favorisieren- kann hier wohl etwas nicht richtig sein. Ich meine,
dass dieser Rationalität ihre Grenzen von der Lebenspraxis aufgezeigt werden.
Nicht unwichtig wird sein, in welchem Verhältnis die Rationalität der normativen
Vertragstheorie sich zu Religion positioniert. Politische Theorie könnte bei der
Berücksichtigung der Lebenspraxis, dass Selbsterhaltung selten die vernünftige
Rationalisierung der Interessen aufweisst, davon ausgehen, die anthropologischen
Grundlagen der hier favorisierten Rationalität zu reflektieren. Angenommen, dass
Naturrecht ist identisch mit dem Gesetz der Natur. Naturrecht, nicht
Naturzustand!, d.h., nicht, beispielsweise "ein VORPOLITISCHER Kriegszustand
(Hobbes, p.), der mit der (Be-) Gründung eines juridisch-politischen Zustandes
aufgehoben wird." Dann gibt es "keine Spannung zwischen naturrechtlicher und
naturgesetzlicher Norm, freilich auch keine aufhebende Synthese beider. Eine
normative Dynamik, die jedes Individiuum zur spontanen Übertragung des
Naturrechtes verpflichten würde, ist also nicht zu finden."
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03.
Dez. 2005, 00:05 Uhr
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Hi Eberhard,
da meine Antwort der Server gefressen hat, beschränke ich
mich auf das Zitat von Augustinus (Bekenntnisse):
Wie kannst du nur,
verführte Seele, deinem Fleische folgen? Kehre um, so wird es dir folgen. Was du
fleischlich wahrnimmst, ist Stückwerk. Das Ganze bleibt dir verborgen, an dessen
Teilen, die du allein vor Augen hast, du dich gleichwohl erfreust. Aber auch
wenn deines Fleisches Sinn imstande wäre, das Ganze zu fassen, wenn er nicht
selbst dir zur Strafe in einem Teil des Universums die ihm zukommende
beschränkte Rolle spielen müsste, würdest du wollen, dass das heute Gegenwärtige
vorüberginge und du am All um so größere Freude habest. Auch die Worte, die man
spricht, vernimmst du ja mit demselben Fleischessinn und willst nicht, dass die
Silben stehen bleiben, sondern dahin eilen und anderen Platz machen, damit du
das Ganze vernehmest. So ist's immer mit allen Teilen, daraus ein Ganzes
besteht. Die Teile, aus denen es besteht, können nicht alle zugleich sein. Alle
zusammen, wenn man sie in ihrer Gesamtheit wahrnehmen kann, erfreuen mehr als
die einzelnen. Aber hoch über ihnen steht, der sie alle gemacht hat, er selbst,
unser Gott, der nicht entweicht, weil nichts an seine Stelle treten kann.
Mit anderen Worten: Herr Fromm könnte damit argumentieren, dass du als
beschränkter Mensch gar nicht in der Lage bist zu erkennen und zu entscheiden,
was richtig, wahr und gut ist.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 03.
Dez. 2005, 11:31 Uhr
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Hallo Abrazo,
Herr Fromm ist sehr gebildet, wie ich sehe. Er zitiert
sogar die Kirchenväter, um die Position des Herrn Gottlos anzugreifen. Der alles
zermalmende geistige Hammerschlag ist die Feststellung, dass Heinz Gottlos „als
beschränkter Mensch gar nicht in der Lage ist zu erkennen und zu entscheiden,
was richtig, wahr und gut ist“.
Kleiner Mann was nun?
Aber Heinz
Gottlos gibt sich noch keineswegs geschlagen, sondern sendet an die Adresse von
Karl Fromm folgende E-Mail:
“Sehr geehrter Herr Fromm,
dass Sie
meine Argumente mit dem Hinweis auf meine Beschränktheit entkräften wollen, habe
ich nicht ohne eine gewisse Betroffenheit zur Kenntnis genommen.
Ihnen
muss dabei doch klar sein, dass eine solche pauschale Unmündigkeitserklärung
kein Argument innerhalb einer konsensorientierten Diskussion sein kann, weil sie
gleichzeitig einer derartigen Diskussion die Grundlage entzieht.
Das
erklärte Ziel eines Konsenses ist damit aufgekündigt, denn jedes von mir
vorgebrachte Argument kann von Ihnen jetzt mit dem Hinweis entkräftet werden,
dass ich in meiner Beschränktheit nicht in der Lage sei, zu erkennen was wahr
und gut ist. Das ist natürlich das Ende jeder vernünftigen,
erkenntnisorientierten Diskussion.
Sie müssen sich also entscheiden:
Entweder Sie bleiben bei unserm gemeinsamen Ziel eines allein durch Argumente zu
erreichenden Konsenses oder Sie geben offen zu, dass es Ihnen nur um die
Durchsetzung Ihrer religiösen Vorschriften geht.
In diesem Fall
verlassen Sie die Ebene der argumentativen Auseinandersetzung und begeben sich
auf die Ebene der machtbezogenen Auseinandersetzung, wo nicht Argumente sondern
Druckmittel und Sanktionsmöglichkeiten zählen.
Ich hoffe, dass Sie, Herr
Fromm, unter diesem Gesichtspunkt Ihre Diskussionsstrategie noch einmal
überdenken und zu einer nachvollziehbaren Argumentation zurückkehren. Ansonsten
muss ich Ihre Berufung auf die allgemeingültige Wahrheit und Ihr Bekenntnis zum
Ziel eines Konsenses bezeichnen als das, was es ist: ein leeres Wortgeklingel,
dass die nackte Forderung auf Unterwerfung unter ein Dogma nur unvollkommen
verbergen kann.
Mit freundlichen Grüßen Ihr Heinz Gottlos.“
Soweit
die E-Mail an Herrn Fromm. Wie mir Herr Gottlos erzählte, ist ihm die Strategie
der pauschalen Unmündigkeitserklärung nicht nur von religiöser Seite bekannt.
Auch andere Weltanschauungen „argumentieren“ damit.
Ein Beispiel ist der
Marxismus („Als Teil der Bourgeoisie bist Du in Deinem Denken der Ideologie
Deiner Klasse verhaftet, denn das gesellschaftliche Sein bestimmt das
Bewusstsein. Dir muss das Verständnis für die Wahrheit des wissenschaftlichen
Sozialismus verschlossen bleiben!“. Auch die Psychoanalyse eignet sich für diese
Diskussionsstrategie. („Sie können mir über Ihre Motive erzählen, was sie
wollen. Entscheidend für ihr Handeln bleiben die in ihr Unterbewusstsein
verdrängten Triebmotive“.)
Mit Grüßen an alle Interessierten schließt
Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03.
Dez. 2005, 14:30 Uhr
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Hi Eberhard,
In diesem Fall verlassen Sie die Ebene der argumentativen
Auseinandersetzung und begeben sich auf die Ebene der machtbezogenen
Auseinandersetzung, wo nicht Argumente sondern Druckmittel und
Sanktionsmöglichkeiten zählen.
Genau das wird Herr Fromm tun. So,
wie es seine Vorfahren getan haben und so, wie seine Verwandtschaft in aller
Welt, ob religiös oder nicht, auch da stimme ich dir zu, es heute noch tut.
Bekanntermaßen sind Argumente, die auf der Vernunft beruhen und den friedlichen
Konsens zum Ziel haben, dagegen wirkungslos. Vernünftige Argumente deswegen,
weil ja die Zuverlässigkeit der menschlichen Vernunft generell abgestritten
wird. Vgl. Paulus: und der Friede Gottes, welcher höher ist denn jede Vernunft
... der Friede ist das Ziel. Doch der Weg dorthin rechtfertigt das Gemetzel.
Ich war noch ein Kind, da faszinierte mich eine große Briefmarke aus der DDR
(damals noch Sowjetzone genannt), darauf ein tapferer Streiter mit dem üblichen
Blick in die weite Ferne; darunter: kämpft für den Frieden in der Welt. Ich
betrachtete das als Widerspruch: für den Frieden kann man nicht mit Streitzeug
in der Hand kämpfen.
Dieser Widerspruch zieht sich durch all diese
Ideologien. Vor dem hehren Ziel in ferner Zukunft wird das Leben in der
Gegenwart belanglos. Doch Leben findet in der Gegenwart statt. Das kann man
nicht nachholen. Vertrösten is nich. Tatsache.
Wir haben hier also
zunächst mal ein Zeitproblem.
Nehmen wir mal das psychologische Phänomen
der Rechthaberei an. Ich kann dir zwar nicht beweisen, dass ich Recht habe, aber
die Zukunft wird diese Beweise liefern, dessen bin ich gewiss - und für diese
Zukunft kömpfe ich. Die Gewissheit entstammt aber nicht der Zukunft. Sie
entstammt Vergangenheit und Gegenwart. Die Frage ist, welcher Vergangenheit und
welcher Gegenwart? Also: wie konstruiert sich so ein Weltbild?
Ich denke,
Marx liefert hier durchaus brauchbare Ansätze - vorausgesetzt, man entkleidet
ihn seiner missratenen Epigonen. Marx war Antiidealist und Antiideologe. Den
Arbeiter sah er deswegen als Motor des Fortschrittes an, weil gerade der keine
Ideologie habe und den wissenschaftlichen Materialismus betrachtete er als
ideologieunabhängige Alternative. "Das Sein bestimmt das Bewußtsein", dieser
Kernsatz zielt auf die Daten ab, die logisch zu einem zusammenhängenden Weltbild
konstruiert werden. Diese Weltbilder sind, je nach den von der jeweiligen
Lebensform bestimmten Daten, selbstverständlich verschieden. Und führen zu
verschiedenen Interpretationen neuer Daten und zu verschiedenen Entscheidungen.
Auch wenn Marx ein sehr früher Vogel war, der viel gemistet hat, die
Flugrichtung stimmt imho.
Wer ungefähr das gleiche Weltbild hat, wird
eine Konsensmöglichkeit finden. Bei stark unterschiedlichen Weltbildern aber
wird ein solcher Konsens schwierig bis unmöglich. Ein Problem, das nach einer
Lösung verlangt.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 03.
Dez. 2005, 21:54 Uhr
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Hallo Abrazo,
offenbar sind Herrn Fromm die Argumente ausgegangen und
Herr Gottlos hat überzeugend demonstriert, dass die Position des Herrn Fromm
nicht allgemein einsichtig begründbar ist. Wenn Herr Fromm trotzdem für seine
Position allgemeine Geltung verlangt (und am Karfreitag kein Fernsehsender eine
Komödie bringen darf), dann fordert er Gehorsam, dann appelliert er nicht an
Einsicht.
Dies Ergebnis ist schon etwas wert, denn diejenigen, die sich
in einer Machtstellung befinden und ihre Normen den andern aufzwingen, hängen
sich dabei gerne ein Mäntelchen der Rechtfertigung um und stehen nicht gerne
nackt da (weshalb diese Machthaber besonders empfindlich gegen Kritikfreiheit
und Meinungsfreiheit sind). Keine Gewaltherrschaft mag gern als das erscheinen,
was sie ist.
Wenn Du schreibst, dass ein vernünftiger, auf Argumenten
beruhender Konsens umso leichter herzustellen ist, je ähnlicher die Weltbilder
sind, dann widerspreche ich Dir nicht. In einer Gruppe wird man umso leichter zu
einer gemeinsamen, von allen getragenen Entscheidung zum Wohle der Gruppe
kommen, je einiger sich die Gruppenmitglieder zumindest über die tatsächliche
Lage, in der sie sich befinden.
Worauf es mir ankommt ist die
Aussonderung von Scheinargumenten, die nur vortäuschen, dass es ihnen um das
geht, was allgemein gültig ist und deshalb auch allgemein einsichtig sein
sollte. Es kommt darauf an, diejenigen Argumente herauszuarbeiten, die uns dem
Konsens über das, was zum Wohle der Allgemeinheit ist, näher bringen.
Mit
einem Gruß zum 2. Advent schließt Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 03.
Dez. 2005, 23:37 Uhr
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Hi Eberhard,
Herr Fromm gibt auf?
Schau dir den Irak-Krieg mit
allem drum und dran an. Herr Fromm gibt mitnichten auf. Herr Fromm lässt dich am
ausgestreckten Arm verhungern.
Was nützt es dir, Herrn Fromm
nachzuweisen, dass seine Argumente aus deiner Sicht (!) Scheinargumente sind?
Das interessiert ihn nicht, weil er deine Sicht für falsch hält.
Keine
Gewaltherrschaft mag gern als das erscheinen, was sie ist.
Nun, sie will
sich als das darstellen, wofür sie sich hält: als Kampftruppe zur Durchsetzung
des Ideals des Guten in der Zukunft.
Es gibt ein rudimentäres gemeinsames
Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich
verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur
auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein - und nur auf dieser Basis
wird es möglich sein, Scheinargumente auch als Scheinargumente einleuchtend
nachzuweisen.
Der ach so unmoderne Herr Descartes kann uns da weiter
helfen: und wenn ich nicht fähig wäre, auch nur einen Fitzel Wahrheit über die
Welt und ihre Zusammenhänge zu erkennen, wenn ich mich in allem täuschen, über
alles irren würde, so könnte ich mich darin nicht irren, dass ich bin. Und zwar
hier und jetzt. Gleich, welche Ideologie er anbetet, ich glaube nicht, dass hier
irgend einer dem Konsens widersprechen würde.
Ich werde morgen früh beim
Kerzenscheine einen zweiten Lebkuchen für dich mit verputzen! ;-)
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am 04.
Dez. 2005, 11:03 Uhr
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Halllo Abrazo,
ich hoffe, die Lebkuchen haben gut geschmeckt.
Dass
Herr Fromm seine Absicht aufgibt, die eigene Position durchzusetzen, habe ich
auch nicht erwartet. Aber er hat offensichtlich aufgehört zu argumentieren, weil
er gemerkt hat (und andere haben es auch bemerkt), dass er seine Position
gegenüber Herrn Gottlos nicht begründen kann.
Du entgegnest:
“Was
nützt es dir, Herrn Fromm nachzuweisen, dass seine Argumente aus deiner Sicht
(!) Scheinargumente sind? Das interessiert ihn nicht, weil er deine Sicht für
falsch hält.“
Das erinnert mich an eine Situationen, die ich schon
häufiger erlebt habe. Nachdem ich ausführlich mit jemandem diskutiert habe und
nachdem sich dessen Position als völlig unhaltbar gezeigt hat, kommt als letztes
„Argument“ gegen meine Position schließlich der Satz: „Das ist DEINE Meinung!“,
so als hätte es die vorangegangene Diskussion überhaupt nicht gegeben.
Der Andere hat zwar recht damit, dass es sich um dabei um meine subjektive
Meinung handelt, aber es ist NICHT NUR meine Meinung, die ich vertrete, sondern
nach der abgelaufenen Diskussion habe ich auch gute Gründe, diese Meinung für
richtig zu halten und ich kann den Anspruch auf deren allgemeine Geltung
rechtfertigen. Darin besteht nach erfolgter Diskussion der entscheidende
Unterschied zwischen meiner und seiner Meinung. Mit dem Satz: „Das ist DEINE
Meinung“ versucht der Andere nun, diesen Unterschied wieder zu verwischen.
Die Situation stellt sich so dar. Jede Meinung ist die Meinung eines
Subjektes und insofern subjektiv. Jede Meinung enthält aber allein dadurch, dass
sie vom Betreffenden für richtig gehalten wird, den Anspruch auf allgemeine
Geltung. Das entscheidende Problem ist festzustellen, welche der verschiedenen
Meinungen diesen Anspruch zu recht enthält, welche Ansicht „allgemeingültig“
ist.
Die soziale Institution, auf der allgemeine Geltungsansprüche in
Bezug auf bestimmte Behauptungen geprüft werden, ist die Diskussion (Diskurs,
Streitgespräch, Disput, Erörterung etc.).
In einer Diskussion werden die
verfügbaren Argumente für und wider eine strittige Behauptung zusammengetragen
und auf ihre eigene Richtigkeit geprüft. Außerdem wird geprüft, inwiefern diese
Argumente den Anspruch auf allgemeine Geltung der strittigen Behauptung stützen
oder untergraben.
Zu den Grundregeln der Diskussion gehört, dass nur
solche Diskussionsbeiträge Argumente sein können, die auch für die andern
Diskussionsteilnehmer nachvollziehbar (teilbar, übernehmbar) sind.
Diese
Regeln der Argumentation, die man nicht bestreiten kann, ohne dass man sie dabei
bereits selber in Anspruch nimmt, stellen meiner Meinung nach einen allgemein
tragfähigen Ausgangspunkt unseres Denkens dar.
Aber ich schließe nicht
aus, dass man auf dem von Dir skizzierten Weg ebenfalls zu brauchbaren
Ergebnissen kommt.
Noch ein Letztes. Wenn Herr Fromm die Ebene der
Diskussion völlig verlässt und sich auf etwas beruft, das „höher ist denn alle
Vernunft“, dann argumentiert er nicht mehr, dann geht es ihm nicht mehr um
“allgemeingültig oder nicht“, sondern dann geht es nur noch um wirkungsvolle
„Menschenfischerei“. (In den Philtalk-Foren bewegen sich ja immer etliche dieser
Spezies, die etwas Höheres als Vernunft anzubieten haben und deren „Argumente“
dann auch entsprechend kläglich ausfallen.) Wenn diese Gurus und Apostel nach
ihrer Absage an die Vernunft dann noch von Wahrheit, Erkenntnis oder Wissen
reden, dann fällt das unter die Rubrik „Etikettenschwindel“.
Mit diesen
unchristlichen Gedanken verabschiedet sich Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
04. Dez. 2005, 12:04 Uhr
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Hallo zusammen,
"Es gibt ein rudimentäres gemeinsames Weltbild. Begründet
dadurch, dass wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und
alle in der gleichen Welt leben. Dahin müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis
wird ein Grundkonsens möglich sein - und nur auf dieser Basis wird es möglich
sein, Scheinargumente auch als Scheinargumente einleuchtend nachzuweisen."
Abrazo
Alle Menschen werden aufbegehren, wenn sie zu einem Verhalten
gezwungen werden, dass mit dem Streben der Selbsterhaltung unverträglich ist.
Selbsterhaltung ist ein Prinzip, dass jedem Individuum seine Verhaltensweise
vorgibt. Da jedes Individuum in seinem Zustand strebt zu verharren, da sich die
Macht dieser Selbsterhaltung vollzieht BEVOR bestimmte individuelle Handlungen,
BEVOR bestimmte politische Maßnahmen gerechtfertigt werden, stellt dieses
Streben nur den "prinzipiellen Ansatz" dar - der jedoch missachtet wird, wenn
die im juridisch-politischen Zusammenhang praktizierte Vernunft sich zur
Unvernunft verkehrend vollzieht.
Was kann von einem Individuum verlangt
werden, ohne dass dieses Prinzip verletzt wird? Bezüglich jenen Vielen, denen
die konsequente Rationalisierung der Interessen hinsichtlich des Gemeinwohls
nicht gegeben ist, deren Strebenszustand nicht von der Vernunft, vielmehr von
ihrer Motivation, etwa Religion über den Staat zu stellen, geleitet ist. Diese
Vielen verharren ebenso im Strebenszustand wie die Wenigen, die absolutgesetzte,
etwa religiöse Ansprüche hinsichtlich des Staates, im Rahmen einer staatlichen
Rechtsordnung abweisen (lassen).
Heute wenig Zeit, bis später.
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am 04.
Dez. 2005, 14:56 Uhr
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on 12/03/05 um 23:37:03, Abrazo wrote:...
Es gibt ein rudimentäres
gemeinsames Weltbild. Begründet dadurch, dass wir als Menschen alle
konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der gleichen Welt leben. Dahin
müssen wir zurück. Nur auf dieser Basis wird ein Grundkonsens möglich sein ...
:-) Hallo allseits,
Das ist noch nicht die ganze
Aufgabenstelleung. (Wie bei Differentialgleichungssystemen braucht es noch
Randbedingungen, sonst gibt es unendlich viele Lösungen). Welche Randbedingungen
muss die Lösung/Antwort erfüllen?
Danke & Gruss --- Euer sphärischer
Alltag
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am 04.
Dez. 2005, 22:48 Uhr
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Hi zusammen,
klar haben die Lebkuchen geschmeckt. Aber auch nur, weil ich
aufgrund zunehmener räuberischer Überfälle inzwischen ein Blech pro Woche
kalkuliere - damit ich auch was abkriege [indifferent]
Zu den Grundregeln
der Diskussion gehört, dass nur solche Diskussionsbeiträge Argumente sein
können, die auch für die andern Diskussionsteilnehmer nachvollziehbar (teilbar,
übernehmbar) sind.
Frage: wann sind sie das?
Hier kommt das
rudimentäre gemeinsame Weltbild ins Spiel. Was aufgrund gleicher Konstitution
gleich erkennbar ist, ist auch gleich nachvollziehbar.
Gleich ist bei uns
allen die Fähigkeit der Wahrnehmung. Egal, was wir wie und mit welchem Sinn
wahrnehmen, wir nehmen nur das wahr, was sich von seinem Hintergrund
unterscheidet. Das wahrgenommene Objekt ist also ungleich seinem Hintergrund.
Ergebnis dieser Überlegung: die Logik.
Wer ihr widerspricht, spielt wie
mit Murmeln mit bedeutungslosen Sätzen herum, die deswegen eben nicht mehr
nachvollziehbar sind, steigt aus dem Dialog aus und monologisiert. Typisch
übrigens für unsere Esoteriker. Weswegen sie sich auch so relativ ungerne in
Esoterikforen aufhalten: wird auf Dauer irgendwie langweilig, wenn jeder für
sich so vor sich hin monologisiert; geht man lieber Philosophen nerven.
Das ist die Ebene der Verknüpfungen; gleich ist aber ebenfalls die Ebene der
Wahrnehmungsdaten.
Wenn ich sage, guck mal da, ein Baum, und du sagst,
ja, dann sind wir uns darüber einig, dass da ein Baum ist.
Wenn ich
frage: hast du den Baum vor dem Rathaus gesehen? Und du sagst: ja, dann sind wir
uns darüber einig, dass vor dem Rathaus ein Baum zumindest stand.
Wenn
ich aber sage, guck mal den Keim, da wächst ne Eiche und du sagst, ne, das wird
ein Walnussbaum, dann sind wir uns darüber nicht einig. Und wenn wir nicht in
der Lage sind, anhand wahrnehmbarer Tatsachen festzustellen, ob das nun ne Eiche
oder ein Walnussbaum wird, dann werden wir uns darüber auch nicht einigen.
So, wie wir uns nicht über Wiedergeburt und Jenseitsglaube einigen können.
Daten, über die wir uns einigen können, sind immer nur gegenwärtige oder - mit
Einschränkungen - vergangene, niemals aber zukünftige. Ereignisse in der Zukunft
können wir kalkulieren, anhand gegenwärtiger oder vergangener Daten und ihrer
logischen Verknüpfungen. Aber es bleiben immer erdachte und damit möglicherweise
irrige Prognosen, es sind keine Daten. Sie mit Daten gleich zu setzen, ist
unredlich. Hier ist ein Konsens im Zweifelsfalle nicht möglich.
Philoschall sagt:
Alle Menschen werden aufbegehren, wenn sie zu einem
Verhalten gezwungen werden, dass mit dem Streben der Selbsterhaltung
unverträglich ist. Selbsterhaltung ist ein Prinzip, dass jedem Individuum seine
Verhaltensweise vorgibt.
'werden aufbegehren' ist eine Prognose. Er
begründet sie mit dem Prinzip der Selbsterhaltung. Nun bin ich bereit, von
Sokrates über Pater Maximilian Kolbe über Selbstmordattentäter bis hin zum ganz
normalen Selbstmörder jede Menge Beispiele anzuführen, die nicht diesem Prinzip
folgen. Damit ist imho die Prognose nicht konsensfähig (nebenbei bemerkt: den
Ausdruck 'strebt zu verharren' verstehe ich als logischen Widerspruch).
Daraus folgt: wer den Konsens will, muss willens und bereit sein, seine
Kalkulation auf Wahrnehmbares logisch zurückzuführen. Klingt harmloser als es
ist - wenn wir an den Konstruktivismus denken.
Wenn wir Vernunft als
logische Folge und logisches Folgen dem biologisch programmierten Ziel Überleben
verstehen, dann gibt es etwas, was höher ist als die Vernunft: nämlich die
humane Ethik. Denn der ethische Wille bietet eine alternative
Enscheidungsmöglichkeit zur biologisch programmierten Entscheidung, und die ist
vernünftig. Allerdings ist der ethische Wille subjektiv wahrnehmbar. Und da es
im Laufe der Geschichte sehr viele Menschen gab, die diesen Willen offenbarten,
ist er intersubjektiv wahrnehmbar; nicht für alle, doch für mehr als einen. Da
er wahrnehmbar ist, ist er ein Datum, mit dem man wiederum logisch kalkulieren
kann. So stellt sich mir die Frage, was ist mit dem 'höher als jede Vernunft'
gemeint, wenn das von mir eben gesagte nicht gemeint ist, wie es ja offenbar der
Fall ist, wenn gesagt wird, der Mensch könne nichts Wahres erkennen. Denn
Wahrnehmungen sind immer wahr. Selbst der Schizophrene kann sich nicht darin
irren, dass er die Stimmen, die er hört, hört; irrig ist nur die von ihm
erdachte Zuordnung.
Damit erst mal Schluss.
Das imho nun folgende
Problem bezüglich der Normendiskussion wäre die Frage, inwieweit wir auf dieser
Basis zu einem Willenskonsens kommen könnten.
Gruß
P.S. @ Alltag:
was sind die Randbedingungen von Peanos Axiomen?
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
Vorgestern, 13:06 Uhr
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Hallo zusammen,
Abrazo schreibt: "Nun bin ich bereit, von Sokrates über
Pater Maximilian Kolbe über Selbstmordattentäter bis hin zum ganz normalen
Selbstmörder jede Menge Beispiele anzuführen, die nicht diesem Prinzip folgen.
Damit ist imho die Prognose nicht konsensfähig."
Ein Beispiel steht hier
bereits für Viele. Die individuelle Handlung, etwa des Sokrates den
Schierlingsbecher zu trinken, verletzt dieses "Prinzip" nicht. Sokrates, seine
individuelle Handlung der Selbsttötung ist lediglich (ohnmächtiger)
Teil-Ausdruck des individuellen sowie gemeinsamen Selbsterhaltungsstrebens der
menschlichen Gattung. Die individuelle Handlung der Selbsttötung ist im
Zusammenhang der Biographie, des Umfeldes der Selbsttötung zu betrachten.
Sokrates beispielsweise besuchte Mitbürger unter freien Himmel, um mit ihnen auf
seine Art über die Dinge zu diskutieren, die ihm wichtig waren. Auch wenn ihm
zur Last gelegt wurde, dass er, da er seine Mitbürger verunsichere, dass er mit
öffentlichen Diskussionen gegen bestehende Staatsgesetze handelt, wird er davon
ausgegangen sein, im Sinne des griechischen Allgemeinwohls zu handeln. Wird das
eigene, als gerecht beurteilte Handeln von anderen vergesellschaften Individuuen
jedoch derart bestimmt, dass dieses in Selbsttötung umschlägt, bewirkt diese
individuelle Handlung nicht die Beendigung des Naturrechts: dass "Prinzip" des
menschlichen Selbsterhaltungsstreben bleibt unangetastet. Zugestanden, mehrere
Individuuen beschliessen ihre kollektive Selbsttötung, wie etwa von Sekten
vollzogen, deren Mitglieder in ihrer Handlung von inadäquaten Ideen bewegt,
beispielsweise den Zeitpunkt des Weltunterganges zu kennen - auch mit dieser
vergesellschafteten Handlung der Selbsttötung bleibt das Naturrecht der
menschlichen Gattung bestehen. Verhielte sich dieses anders, dass mit der
individuellen oder fanatisch-gemeinsamen Handlung der Selbsttötung dass
menschliches Selbsterhaltungsstreben ausser Kraft gesetzt wird, könnten wir
beispielsweise hier nicht schreiben.
Wie abwegig und absurd dein Hinweis
ist, zeigt sich schlagend, wenn er im juridisch-politischen Kontext, bei der
Behandlung der Frage nach Allgemeinwohl, betrachtet wird. Bei der (Be) Gründung
von Gemeinwohl vom Interesse der Selbsttötung ausgehen, steht derart der
Vernunft entgegen, dass die öffentliche Favorisierung dieses individuellen und
dieses fanatisch-gemeinsamen Handelns das Aufbegehren der nicht-fanatisierten
Menschen, d.h. denen die nicht völlig der Logik ledig, folgen wird. Wer diese
Logik nicht teilt, erweisst sich bei der (Be) Gründung der Frage nach Gemeinwohl
als nicht konsesfähig, da von ihm der Lebenspraxis Verkehrendes favorisiert
wird. Keine Regel ohne Ausnahme. Mit diesen ohnmächtig-individuellen und
ohnmächtig-fanatischen Gruppenverhalten zeigt sich lediglich die
vergesellschaftete Verkehrung des Selbsterhaltungstrebens der menschlichen
Gattung, deren Individualisierung, als vernünftige und/oder unvernünftige sich
vollziehend, vom empirischen Ausnahmefall der Selbsttötung nicht angetastet.
"Was aufgrund gleicher Konstitution gleich erkennbar ist, ist auch
gleich nachvollziehbar. Gleich ist bei uns allen die Fähigkeit der Wahrnehmung."
Abrazo
Zustimmung. Die Fähigkeit der Wahrnehmung ist Kennzeichen (nicht
nur) des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens. Dass Denken des V o r g e s t e
l l t e n der Dinge, z.B. die Aussage, dass Haus A von Haus B 500 Meter entfernt
ist, entspricht nicht notwendigerweise dem Wissen von dieser Entfernung das mit
mathematischen Ordnungssystem gegeben ist, sondern (zunächst) der körperlichen,
d.h. des Menschen sinnlicher Auffassung der Objekte A und B und der damit
gegebenen sinnlichen Auffassung der Entfernung. Mit der in der Sinnenerfahrung
verbleibenden Urteilskraft ist jedoch nicht grundsätzlich das Urteil der
Falschheit gegeben. Irrtümer der Sinnenerfahrung beruhen beispielsweise darauf,
dass die Entfernung zwischen A und B nicht in ihrer, von den mannigfaltigen
Vorstellungen sich distanzierenden, etwa mathematischen Ordnungsgesetzlichkeit
erfasst werden. Irrtum ist der Mangel des adäquaten Denken wahrgenommener
Ausdehnung, d.h. Dinge. Die in der Sinnenwahrnehmung verbleibende Urteilskraft
kann von der Entfernung zwischen Objekt A und Objekt B, da Wahrgenommenes nicht
in das adäquat Gesetzliche Denken gekommen, keine vom inadäquaten Wissen völlig
bereinigte Aussage leisten.
Entscheidend ist jedoch nicht die von dir
angeführte Gleichheit. Entscheidend ist hier das Ordnungssystem, mit dem die mit
dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben gefundenen und ins Denken erhobenen
Sinnesdaten zwecks Lebenspraxis geordnet wurden und werden. Und hier gibt es
gravierende (graduelle!) Unterschiede des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens,
mit dem das innerhalb der westlichen Kultur zur Entfaltung gekommene
mathematisch-technische Ordnungssystem lediglich als eines von unterschiedlichen
sowie entgegengesetzten Ordnungssystemen aufgetreten. Bevor das mit dem
Globalanspruch aufgetretende us-amerikanische und westeuropäische Denken und
Handeln tiefgreifend Kulturen vermochte zu beeinflussen, leisteten bereits
Bezugssysteme Ordnung der mit dem menschlichen Körper gegebenen Sinnenerfahrung
zwecks Lebenspraxis, die mit, etwa theoretischer Auseinandersetzung von
Erkenntnistheorie gewonnenen Resultaten oder den industriell-vergesellschafteten
Resultaten von Naturwissenschaft nicht vergleichbar sind. Wird hier nicht
Bescheidenheit, die Verrelativierung des Verabsolutierten us-amerikanischer
sowie westeuropäischer Selbstverständlichkeiten geübt (was mit den Begriffen
Humane Ethik bezeichnet werden könnte), verkommt dann nicht die Rede,
beziehungsweise die Auseinandersetzung mit der mit dem menschlichen Körper
gegebenen Gleichheit als Voraussetzung der Behandlung von Gemeinwohl zum Gerede?
Gruß
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Alltag am
Vorgestern, 21:54 Uhr
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on 12/04/05 um 22:48:44, Abrazo wrote:....was sind die Randbedingungen von
Peanos Axiomen?
:-) Hi Abrazo,
Zählen lernt man seit eh und jeh und
wo auch immer durch die widerholte und regelmässige Bewegung der Finger. Diese
Lebenspraxis ist die Randbedingung der Peanos Axiome, die in der Sprache der
Logik nichts anderes beschreiben als "zählen". Beim Lesen der Peanos Axiome -
ich habe sie im Duden Lexikon gefunden - lernt man nicht "zählen" sondern die
Sprache der Logik.
Die Logik fusst auf ein derartig rudimentäre
gemeinsame Lebenspraxis (Weltbild) und erfreut sich grosser beliebtheit, weil
wir als Menschen alle konstitutionell gleich verfasst sind und alle in der
gleichen Welt leben.
Führt uns die Logik deshalb zum Gemeinwohl und
Individualwohl? Ich denke, nein, denn es fehlt noch etwas: Die Vorstellung, dass
es eine Lösung geben muss, die transparent, nachvollziehbar, konsistent, komplet
und daher korrekt ist.
Du sagst "Dahin müssen wir zurück." Ja! Zurück zu
der Quelle aus der diese Vorstellung sprudelt. Wenn wir diesen Quellort kennen,
können wir vermutlich auch verstehen, dass die Bedingung der Möglichkeit von
Gemeinwohl (trotz Individualwohl) gegeben ist. Alsdann können wir vermutlich die
eigene Ideologie loslassen und uns auf die Basis des Grundkonsens einlassen.
Können wir uns vorstellen, dass dieser Quellort phänomenologischer Natur ist
und beispielsweise durch (logisches) denken ortbar ist? Und zwar für Jederman,
in jedem Alter, allerorts und seit eh und jeh, /1/! --- Danke & Gruss --- Euer
randbedingte Alltag
/1/ Dieser Satzinhalt ist die Randbedingung!
Post script: Die Wellengleichung ist unter den komplizierten
Differentialgleichung eine der bekannten und anschaulichen. Ihre Lösungen sind
Wellen. Ob Pfeiffton oder Geigenklang, Wasserwellen oder Tsunami, Paukenschlag
oder Erdbeben, wird einzig und allein durch die mathematisch zu formulierenden
Randbedingungen (inklusive Materialeigenschaften) bestimmt. --- Übertragen auf
die Philosophie (nicht die Esotherik) entsprechen die Randbedingungen der
Lebenspraxis (ohne sie ist Alpraum, Wahn usw. statt Philosophie)
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am
Vorgestern, 23:12 Uhr
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Hi zusammen,
Philoschall, du sollst Abrazo nicht interpretieren.
1.
Unbestritten ist Selbsterhalt eines der zentralen Prinzipien biologischer
Programmierung. Mensch hat aber die Möglichkeit, selbst dazu alternativ zu
entscheiden. Damit verbinde ich keine Bewertung, ich stelle nur fest, dass es so
ist.
Wer nun Selbsterhaltung als oberstes Prinzip für den Menschen
zementieren will, zementiert damit kein humanes, sondern ein biologisches
Prinzip. Das halte ich grundsätzlich für gefährlich.
2.
Wahrnehmen ist
nicht denken. Zwischen Wahrnehmen und Entfernungen feststellen liegen etliche
Schritte, angefangen damit, dass man erst einmal darüber nachdenken muss, was
eine Entfernung eigentlich ist und dass man sie mit anderen Entfernungen
vergleichen kann.
3.
'Ordnungssystem' ist mir ein zu schwammiger
Begriff. Wer ordnet was wonach?
Was die Kulturen betrifft, so mache ich
darauf aufmerksam, dass ihre Bedeutung verschieden ist.
Nach dem Niedergang
des Römischen Reiches kam in der alten Welt ne Zeit lang gar nichts, denn Europa
versank in mittelalterlicher christlicher wissensfeindlicher Dogmatik. Ab dem 7.
Jahrhundert kamen die Araber und die von ihnen eroberten und geprägten Regionen
zur Blüte und pflegten und entwickelten die Wissenschaften. Europa begann erst
im 13. und 14. Jahrhundert wieder zu erwachen, entscheidend dazu beigetragen hat
der Einfluss islamischer Kultur und Wissenschaft. Während die islamische Welt
langsam wieder einschlief, nicht zuletzt unter der religiösen Orthodoxie, die
sich verbreitete, begann Europa eben diese religiöse Orthodoxie abzuwerfen und
neu zu denken. Wie's weiter geht, weiß ich nicht - auf jeden Fall sind Momente
der Dekadenz wie weiland zu römischen Zeiten in der westlichen Welt (in diesem
Sinne ist Nordamerika ein Ableger Europas) schon lange zu beobachten. Auch aus
historischen Gründen halte ich den Eurozentrismus für fehlerhaft.
Und der
Begriff Gemeinwohl ist in anderen Kulturen noch sehr lebendig.
@ Alltag:
Zählen lernt man seit eh und jeh und wo auch immer durch die widerholte und
regelmässige Bewegung der Finger. Diese Lebenspraxis ist die Randbedingung der
Peanos Axiome, die in der Sprache der Logik nichts anderes beschreiben als
"zählen".
Ich fürchte, da wirst du eine Menge Mathematiker und Logiker gegen
dich haben. So einfach ist das nicht.
Die Logik fusst auf ein derartig
rudimentäre gemeinsame Lebenspraxis (Weltbild)
Umgekehrt wird ein Schuh
draus: unsere Weltbilder fußen auf der Logik. Denn die Logik ist keine
Erfindung, sondern eine Entdeckung.
Ohnehin bin ich der Ansicht, dass wir
nicht das, was entwickelt wurde (Differentialgleichung z.B.) auf das anwenden
können, woraus es sich entwickelt hat. Das Vorher-Nachher sollte man imho schon
unterscheiden.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von philoschall am
Gestern, 13:12 Uhr
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Hallo zusammen,
"1.
Unbestritten ist Selbsterhalt eines der zentralen
Prinzipien biologischer Programmierung. Mensch hat aber die Möglichkeit, selbst
dazu alternativ zu entscheiden. Damit verbinde ich keine Bewertung, ich stelle
nur fest, dass es so ist.
Wer nun Selbsterhaltung als oberstes Prinzip
für den Menschen zementieren will, zementiert damit kein humanes, sondern ein
biologisches Prinzip. Das halte ich grundsätzlich für gefährlich." Abrazo
Eberhard begrüsst hier öfters alle an Politischer Theorie Interessierten.
Ich grüsse heute mit folgenden Ausführungen zurück. Hume gelingt mit seiner
Kritik an historisch begründeter Vertragstheorie -es gibt keinen und wird keinen
Staat geben, der durch einen sogenannten ursprünglichen Vertrag des Volkes
entstanden und entstehen wird- den empirisch begründeten Nachweis, dass Staat
als Ausdruck physischer Gewalt vom Volk bereits vorgefunden wird, dass es darum
geht, dass Bürger, soll Staat nicht als pure Gewaltherrschaft auftreten, Staat
nachträglich, mit stillschweigender Zustimmung, anerkennen. Nicht die bereits
vorgefundene physische Gewalt, nicht bereits vorgefundener Staat soll
legitimiert werden, nicht diese mit physischer Gewalt gegebene Einrichtung soll
aufgrund von Moral, mit einem "neuen", gewaltfrei abzuschließenden
Gesellschaftsvertrag, aufgelöst werden. Die allgemeinen Interessen und
Bedürfnisse des Volkes sollen ausreichend berücksichtigt werden; dass Recht ist
weder auf die absolute Legitimierung des bestehenden Staates und seiner
Verfassung noch auf Revolution angewiesen. Hume favorisiert die ausreichende
Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse des Volkes hinsichtlich R e f o
r m e n d e r V e r f a s s u n g. Auch Kant setzt auf d i e s e
Berücksichtigung: er favorisiert den Vertrag als normative I d e e. Die
jeweilige juridisch-politische Verfassung soll vermittels dieser I d e e ständig
zu Gunsten der Bürger verpflichtet werden; soziale Dynamik zur ständigen
Verbesserung des politischen Systems ohne Anspruch auf Revolutionen wird
favorisiert. Dass jeder Vertragsteilnehmer auf sein eigenes Naturrecht völlig
bezw. teilweise verzichtet, ist universale Vorraussetzung auch deutscher
ideeller Vertragstheorie. Hinsichtlich angelsächsischer Philosophie,
beispielsweise Hobbes: Im Naturzustand besitzt jeder Mensch Naturrecht, welches
bei ihm eine vorstaatlich-provisorische Rechtfertigung der Freiheit des Menschen
ist, zu seiner Selbsterhaltung alles zu tun, was dazu tauglich zu sein scheint.
Im Naturzustand entstehen aus dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben nach
Hobbes jene Konflikte, die gelöst werden müssen: Die Lösung erfolgt dadurch,
dass die Menschen ihr Naturrecht suspendieren, dieses einer allen gemeinsamen
Autorität übertragen, mit der die Verhältnisse der Individuen zueinander
geregelt werden. Dass Ziel des menschlichen Selbsterhaltungsstreben ist nach
Hobbes die normative Bindung des Menschen, die dann gelungen ist, wenn er
konsequent Rational sich erhalten will. Dass Naturrecht des Menschen wird hier
gewissermaßen aufgehoben, wenn menschlichen Selbsterhaltungsstreben gelungen
Rational die Interessen zu verfolgen, wenn damit eine höherrangige Norm sich
herausgebildet.
Wenn die Selbsttötung, beispielsweise des Sokrates
ebensowenig Unrecht ist, wie die staatsrechtliche Auslegung seiner Ankläger
Recht ist - wenn also sowohl die individuelle Handlung, etwa die des Sokrates
wie auch das im Namen des Staatsrechtes begründete Urteil der Ankläger als
Ausdruck des Naturrechtes genommen werden - : wie kann dann, wenn also jeder
vergesellschaftete Mensch wie im Naturzustand soviel Recht besitzt wie er Macht
bezw. Ohnmacht besitzt, jene mit der ideellen Vertragstheorie favorisierte wie
auch mit der Hobbeschen Aufhebung favorisierte Vertragsgesetzlichkeit überhaupt
wird auftreten können, deren Rechtsbegriffe für sich beanspruchen im Gegensatz
zu dem Machtbegriff zu stehen? Doch wohl unter der Voraussetzung, dass Bürger,
bezüglich Hobbes, die konsequente Verfolgung der Rationalisierung der Interessen
praktizieren, dass Bürger, bezüglich Kant, die Interessen geleitet von
normativer Idee (Moral) praktizieren.
Und die alltägliche Lebenspraxis?
Was lehrt diese, berücksichtigend ideelle Vertragstheorie sowie Hobbescher
Aufhebung und Rationalität? Verfolgen die Bürger die Interessen denn wenigstens
Rational, d.h. plangemäß und konsequent oder, hinsichtlich ideeller
Vertragstheorie sogar mit normative Idee (Moral), mit der Höherrangige (!), die,
vom angenommenen Naturrecht des Menschen sich im Diesseits (er!)lösende
(Welt!)Gesellschaft sich manifestieren soll? Muss der Politischen Theorie
Westeuropas -hier Frankreich ausser Acht lassend- angesichts des alltäglichen
Strebenszustandes des sogenannten Volkes (in demokratisierten Gesellschaften
immerhin Souverän) ihre Unternehmung nicht selber als Seifenblase, als
Luftnummer, erscheinen? Wem nützen gebetsmühlenartig vorgetragene gut gemeinte
Appelle an jene die schlagend beweisen, dass Interessen nicht konsequent
Rational verfolgt werden. Diese Litanei wird sich auch nicht ändern, bevor die
alltägliche Praxis des Selbsterhaltungsstreben der politischen Theorie nicht als
jenes Streben begrifflich aufgegangen, dass vorallem anderen dem verhaftet
bleibt, dass von angeführter Politischer Theorie v ö l l i g unzureichend
berücksichtigt wurde und wird: dass mit dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben
stets gegebene (Spannungs)Verhältnis Vernunft und Affektivität. Politische
Theorie, die s o z i a l e Dynamik der Affekte des menschlichen
Selbsterhaltungsstrebens im juridisch-politischen Zusammenhang hervorhebend,
vermag einen anderen Zugang zum Verständnis des vergesellschafteten Menschen
leisten. Dazu gehört jedoch (abermals) nicht nur theoretisch
Selbstverständlichstes, d.h. politischer Theorie wie auch Philosophie
betreffend, als nicht nur Unzureichendes, sondern als die Lebenspraxis
Verkehrendes zu begreifen.
philoschall
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am
Gestern, 18:50 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Abrazo,
wann sind Argumente für andere (also
intersubjektiv) nachvollziehbar?
Behauptungen darüber, wie die Welt
beschaffen ist, können durch intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmungen der
Individuen – in Verbindung mit logischen Schlussfolgerungen - bestätigt werden.
Deshalb sind Sätze wie; „Ich sehe das Leuchten des Stoffes nicht nicht, das die
Theorie T voraussagt“ geeignete Argumente. Hier gilt Deine Feststellung: Wer den
Konsens will, muss willens und bereit sein, seine Kalkulation auf Wahrnehmbares
logisch zurückzuführen.
Für normative Behauptungen darüber, wie
Amtsinhaber handeln sollten, wenn sie dem Gemeinwohl verpflichtet sind, reicht
jedoch das Kriterium der logischen Widerspruchsfreiheit und der
übereinstimmenden Wahrnehmungen nicht aus.
Dazu müssen Willensinhalte
bzw. Interessen der Beteiligten, Urteile über die relative Größe der Vor- und
Nachteile für die verschiedenen Interessengruppen herangezogen werden, und die
sind nicht direkt beobachtbar oder empirisch messbar.
Hinzu kommt das
Prinzip der unparteiischen Berücksichtigung aller Betroffenen, ohne das kein
Konsens erreichbar ist.
Ich sehe eine Möglichkeit zur Einschätzung der
Interessenlage eines andern grundsätzlich dadurch gegeben, dass ich mich – wenn
es geht real, und wenn das nicht geht, zumindest vorstellungsmäßig - in die Lage
des andern hineinversetze und versuche, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu
beurteilen.
Menschen haben diese Fähigkeit zum Nachempfinden, zur
Empathie, zur Identifkation mit anderen. Wäre dem nicht so, dann gäbe es keine
Belletristik und keine Schauspielkunst. Und die meistgestellte Frage in unserer
Gesellschaft (Wie geht es Dir?) wäre sinnlos.
Es grüßt Dich und alle
Interessierte Eberhard.
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Abrazo am
Gestern, 23:34 Uhr
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Hi Eberhard,
on 12/06/05 um 18:50:17, Eberhard wrote:Ich sehe eine
Möglichkeit zur Einschätzung der Interessenlage eines andern grundsätzlich
dadurch gegeben, dass ich mich – wenn es geht real, und wenn das nicht geht,
zumindest vorstellungsmäßig - in die Lage des andern hineinversetze und
versuche, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu beurteilen.
Menschen
haben diese Fähigkeit zum Nachempfinden, zur Empathie, zur Identifkation mit
anderen. Wäre dem nicht so, dann gäbe es keine Belletristik und keine
Schauspielkunst. Und die meistgestellte Frage in unserer Gesellschaft (Wie geht
es Dir?) wäre sinnlos.
Das funktioniert nicht. Vergiss es.
Um dir etwas vorstellen zu können, musst du es erlebt haben. Was du nie
erlebt hast, kannst du dir auch nicht vorstellen. So wie ein Blinder sich nicht
die Farbe vorstellen kann.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich ein
Junkie ohne Stoff fühlt, nicht, wie sich einer fühlt, der gerade verhaftet wird,
nicht, wie eine Prostituierte sich bei der Arbeit fühlt. Und da dieses für ihr
Leben wesentlich ist, kann ich mir nicht vorstellen, wie ihr Leben ist.
Ich kann mich auch nicht in körperlich und geistig Behinderte hinein fühlen,
nicht in Hungernde, nicht in Erdbeben- und Tsunami-Opfer, nicht in Iraker und
Palästinenser, die mit Krieg leben müssen.
Ich denke es ist wichtiger zu
wissen, dass man genau das nicht kann: sich ein Leben vorstellen, von dem man
nichts kennt. Dann versucht man es nämlich gar nicht erst - und trifft dann auch
keine falschen Entscheidungen.
Auch viele Amerikaner haben sich
vorgestellt, wie sich die Iraker über ihren siegreichen Einmarsch freuen.
Wenn wir wissen wollen, wie andere Leute leben und was sie am dringendsten
brauchen, müssen wir sie fragen.
Und ansonsten bleibt das Übliche:
wahrnehmbare Tatsachen feststellen und logisch kombinieren.
Ich kann mir
nicht vorstellen, wie eine Familie im pakistanischen Erdbebengebiet lebt. Ich
weiß aber anhand der Tatsachen, dass sie schneegeschützte Unterkünfte brauchen.
Und wenn sie nicht in die Täler hinab, sondern in ihren Bergen bleiben wollen,
dann weiß ich, dass es sich als Menschen um vernunftbegabte Wesen handelt und
dass sie dafür möglicherweise vernünftige Gründe haben; welche, das muss ich
erfragen.
Gruß
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Titel: Re: Gemeinwohl und Wohl der Individuen II
Beitrag von Eberhard am
Heute, 17:13 Uhr
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Hallo Abrazo,
Deine rigorose Verneinung der Möglichkeit, sich in einen
andern Menschen vorstellungsmäßig hineinzuversetzen und so seine Interessenlage
nachzuvollziehen, erscheint mir etwas überzogen.
Wenn ich nicht nur auf
mein individuelles Wohl bedacht bin, sondern auch das Wohl der anderen mit
berücksichtigen will, so muss ich wissen, was dem andern wohl- oder wehtut, was
ihm größere Freude und was ihm geringere Freude macht, was ihm größere Schmerzen
und was ihm geringere Schmerzen bereitet.
Zum einen kann ich an seinen
Wahlhandlungen, seinen Präferenzen, ablesen, was ihm lieber ist: Ich sehe z. B.,
dass er sich lieber dort aufhält, wo es warm und trocken ist, als dort, wo es
kalt und nass ist. Natürlich kann ich ihn auch fragen, was ihm lieber ist,
welche Probleme ihn am meisten belasten oder die Erfüllung welcher Wünsche ihm
am wichtigsten ist.
Ich denke, dass keine unüberwindlichen Hindernisse
bestehen, über solche Feststellungen zum Wohlergehen eines Menschen zu einem
Konsens zu kommen.
Man kann auch Vergleichen zwischen dem Wohlergehen
eines Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten anstellen indem man fragt: Wird
Person A durch eine bestimmte Veränderungen besser oder schlechter gestellt?
Durch die Beschreibung der jeweiligen Lebensbedingungen und anhand von
Äußerungen des Betreffenden über seine Lage gelangt man so zu intertemporalen
Vergleichen des Wohlergehens und Urteilen wie: Früher ist es mir einmal besser
ergangen als heute.
Schwieriger ist es schon, das Niveau des Wohlergehens
verschiedener Menschen oder Gruppen miteinander zu vergleichen, etwa wenn man
sagt: So gut wie du möchte ich es auch einmal haben! Oder: Den Beamten des
Öffentlichen Dienstes geht es wesentlich besser als den Beschäftigten in der
Privatwirtschaft.
Bei solchen interpersonalen Vergleichen zwischen dem
Wohlergehen verschiedener Individuen und Gruppen muss man abwägen zwischen
verschiedenen Gütern und deren Bedeutung für die betreffenden Menschen, wie etwa
Sicherheit des Arbeitsplatzes und Höhe des Arbeitseinkommens.
Aber muss
man selber schon einmal arbeitslos geworden sein, um einschätzen zu können, was
die Sicherheit des Arbeitsplatzes für einen Menschen bedeutet? Haben wir nur für
etwas Verständnis, wenn wir es selber einmal erlebt haben? Kann uns der Andere
nicht auch durch seine Schilderungen eine Vorstellung vermitteln von seiner Lage
und den daraus resultierenden Interessen (Zielen, Wünschen, Nöten, Problemen)?
Sehen wir es einem Menschen nicht an, ob er sich glücklich oder hundeelend
fühlt?
Gehört es nicht zu den wesentlichen Elementen der sozialen
Intelligenz, dass man abschätzen kann, wie einem andern zu Mute ist, wenn diesem
bestimmte Dinge widerfahren oder wenn man ihm bestimmte Dinge zumutet? Kann ich
Mitleid nur mit demjenigen haben, in dessen Lage ich mich selber schon einmal
befunden habe?
Dass man sich vor voreiligen Schlüssen von sich auf andere
hüten muss – insbesondere wenn es sich bei den andern um Angehörige eines andern
Kulturkreises handelt – ist davon unbenommen.
Es grüßt Dich und alle
Zaungäste dieser Runde Eberhard.
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