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Schulfach Ethik

Eingriff in die Religionsfreiheit?

(Diskussion bei PhilTalk)

 


PhilTalk Philosophieforen  Praktische Philosophie >> Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsphilosophie >> Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
(Thema begonnen von: Eberhard am 22. Apr. 2006, 14:37 Uhr)



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Titel: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Eberhard am 22. Apr. 2006, 14:37 Uhr
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Hallo allerseits,

Im Land Berlin hat das Parlament die Einführung eines für alle Schüler verpflichtenden Fachs „Ethik“ beschlossen.

Dagegen haben jetzt einige betroffene Schüler das Bundesverfassungsgericht angerufen. Sie fühlen sich durch einen nicht christlich gebundenen Ethikunterricht in ihrer Religionsfreiheit beeinträchtigt.

Offenbar darf nach Auffassung der Kläger Ethik nur von den jeweiligen Religionsgemeinschaften für die jeweiligen Mitglieder dieser Religionsgemeinschaften erteilt werden.

Ich halte eine solche Position aus folgenden Gründen für falsch.

1. Für jede Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung, welche ethischen Normen gelehrt und sanktioniert werden, denn in ihnen wird deutlich, wie die Menschen miteinander umgehen.

2. In einer demokratischen Gesellschaft werden die Gesetze durch ein aus allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangenes Parlament beschlossen, wobei die Verfassung bestimmte Grundrechte aller Bürger garantiert.

3. Der demokratische Gesetzgeber hat die Aufgabe, sich der bestehenden Probleme anzunehmen, wie sie in den Meinungen der Wähler zum Ausdruck kommen.

4. Ein wichtiges Problem ist die zunehmende moralische Orientierungslosigkeit vieler Jugendlicher mit den Folgen zunehmender Jugendkriminalität und wachsender Probleme bei der Durchführung eines geordneten und lehrreichen Schulunterrichts.

5. In dieser Situation ist die Einführung eines von allen Schülern zu besuchenden Unterrichtsfachs Ethik, in dem die Begründungen für die Einhaltung bestimmter Verhaltensnormen vermittelt und erörtert werden, grundsätzlich eine sinnvolle Maßnahme.

6. Das Argument, dass dies den Religionsgemeinschaften vorbehalten bleiben müsse und der Staat andernfalls in die Freiheit der Religionsausübung eingreife, ist nicht begründet, denn durch den allgemeinen Ethik-Unterricht wird ja niemand gehindert, seine eigene religiös begründete Auffassung von Ethik zu verbreiten und seine besonderen religiösen Gebräuche zu pflegen.

Oder?

fragt Eberhard.


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Soulflyer777 am 22. Apr. 2006, 14:44 Uhr
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Moin Ebi,
Das fand ich auch hammerhart!
Mein erster Gedanke zu dem Thema war"Na,welcher Kirchenverband sponsert diese Schüler wohl..."
Unglaublich...
Wie im Mittelalter...

Gruß,S.F

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am 22. Apr. 2006, 14:57 Uhr
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Ja, Leute, das liegt im Trend. Deutschland hat leider nie eine strikte Trennung von Kirche und Staat vollzogen, wie das etwa in Frankreich der Fall ist. Und seit wir Papst sind, haben die Religiösen wieder Oberwasser.

Die Behauptung, ein Ethikunterricht beeinträchtige die Religionsfreiheit, halte ich übrigens für völlig abwegig - was allerdings nicht heißt, dass die Budesverfassungsrichter das auch so sehen. Schließlich verbietet der Ethik-Unterricht ja nicht die Ausübung einer Religion.

Eine mögliche Alternative wäre, den Religions/Ethik-Unterricht ganz zu streichen und in den jeweiligen Fächern an gegebener Stelle direkt auf ethische Fragen einzugehen. Also etwa die Frage der Abtreibung im Biologieunterricht, die Frage von Recht und Gerechtigkeit im Sozialkundeunterricht usw. zu behandeln.

Gruß HP

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Rothko am 22. Apr. 2006, 17:24 Uhr
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Wenn ich was zusagen hätte, würde ich den Religionsuntericht sofort durch Ethikuntericht ersetzen. Es müßten alle großen Religionen besprochen werden - insbesondere die Wertvorstellungen im Vergleich.
Eine aktuelle Frage bei uns in Deutschland ist doch:Kann ich mit Menschen grundsätzlich anderer Wertvorstellung Tür an Tür leben? Beispiel:Steht Familienehre über dem Recht zu Leben? Die Frage ist natürlich ob sich der fremde Nachbar dieses Recht selbst geschaffen hat oder seine Religion ihm das vorschreibt.Wann sind Unterschiede tolerierbar? Dazu müßte man Bescheid wissen. Ich hatte nur "Religion".

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von doc_rudi am 22. Apr. 2006, 21:15 Uhr
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Religionen sind Mord-Ideologien, sie lehren, wie man mit gutem Gewissen Andersgläubige umbringt. Es ist längst Zeit, derartige Ideologien aus der Schule zu verbannen.
Gruß
rudi

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am 22. Apr. 2006, 21:53 Uhr
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Richtig, Rudi.

Nur sind Ideologien, die nicht auch das Töten Andersdenkender zulassen, ausgesprochen rar. Im Kalten Krieg hat man uns die "Vorwärtsverteidigung" beigebracht und wie man mit "Nichtdemokraten" verfährt, kannst du ja bei Dschordsch Dabblju lernen.

Gruß HP

P.S. Mit dem Buddhismus ist, soweit ich ihn überblicke, das Töten Andersdenkender nur schwer zu begründen.


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Joy am 23. Apr. 2006, 06:04 Uhr
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on 04/22/06 um 21:53:04, Hanspeter wrote:Mit dem Buddhismus ist, soweit ich ihn überblicke, das Töten Andersdenkender nur schwer zu begründen.




Selbst sogenannte Buddhisten töten... Wer niemals tötet, das ist die LIEBE. LIEBE -im Sinne von Agape- ist allumfassende Akzeptanz und reicht Dir die linke Wange, wenn Du ihr auf die rechte schlägst. LIEBE bekämpft nichts und verteidigt nichts, sie ist reinstes Sein selbst - das, was Du in Deinem "Wesenskern" selbst ewiglich bist. Du brauchst Dich nur zu erinnern, denn Du bist sie selbst. Leid ist immer nur dort, wo die Liebe abwesend ist und durch irgendwelchen "Stumpfsinn" kompensiert wird...


Gruß
Joy


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am 23. Apr. 2006, 07:03 Uhr
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Auch sogenannte Christen töte(te)n, und nicht gerade knapp. Wo doch das Christentum die Religion der Liebe ist, wie uns der Papst soeben per Enzyklika mitteilte.
Und wie sprach schon der Begründer der Liebe - Jesus?
"Und diejenigen, die nicht wollen, dass ich König über sie sei, bringet sie zu mir und erwürget sie vor meinen Augen." (Lk 19,27). Selbstverständlich in Liebe.

Nebenbei - kein Scherz - die Hexenverbrennungen wurden als Liebesdienst theologisch begründet: Man wollte die gefallenen Seelen durch das Feuer reinigen, um ihnen die Höllenqualen zu ersparen.

Die Ideologie der Liebe - nein danke :-).

Übrigens, wenn Buddhisten töten, heißt das noch lange nicht, dass man diese Tat durch die Lehren Buddhas begründen kann. Aggressives Missionieren ist eigentlich nicht Sache des Buddhismus.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von der-micha am 23. Apr. 2006, 07:14 Uhr
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ich finde religionsunterricht kann ganz abgeschafft werden, allerdings nicht mit der alternation fach ethik, sondern mit einem fach zur berufsvorbereitung.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Joy am 23. Apr. 2006, 07:48 Uhr
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on 04/23/06 um 07:03:04, Hanspeter wrote:Auch sogenannte Christen töte(te)n, und nicht gerade knapp. Wo doch das Christentum die Religion der Liebe ist, wie uns der Papst soeben per Enzyklika mitteilte.
Und wie sprach schon der Begründer der Liebe - Jesus?
"Und diejenigen, die nicht wollen, dass ich König über sie sei, bringet sie zu mir und erwürget sie vor meinen Augen." (Lk 19,27). Selbstverständlich in Liebe.

Nebenbei - kein Scherz - die Hexenverbrennungen wurden als Liebesdienst theologisch begründet: Man wollte die gefallenen Seelen durch das Feuer reinigen, um ihnen die Höllenqualen zu ersparen.

Die Ideologie der Liebe - nein danke :-).

Übrigens, wenn Buddhisten töten, heißt das noch lange nicht, dass man diese Tat durch die Lehren Buddhas begründen kann. Aggressives Missionieren ist eigentlich nicht Sache des Buddhismus.




Verstehen, lieber HP, wirst Du die Christusworte erst dann, wenn Du die "Ebene" in Dir selbst erkennst, aus der heraus sie gesprochen wurden. Und das "institutionalisierte Christentum" hat mit LIEBE überhaupt nichts, gar nichts zu tun. Nicht Jesus Christus hat eine Kirche oder das "Christentum" gegründet.

Wenn Du einmal selbst erkennst, dass Du als "HP" selbst die (objektivierte) Ebene bist, die "Jesus" ist und dieser Verschiedenheit von "HP" und "Jesus" der eine "Christusgeist" sozusagen zugrunde liegt, dann wirst auch Du verstehen, was die Worte des Christus heissen: "Und diejenigen, die nicht wollen, dass ich König über sie sei, bringet sie zu mir und erwürget sie vor meinen Augen." Hier werden Illusionen erwürgt, hier sterben gedanklich objektivierte "Ich's" (= Ego's), mentale Vorstellungen, die niemals wirklich gelebt haben: Lasst die Toten ihre Toten begraben... Eben deswegen heisst es auch im Buddhismus, dass wenn Du Buddha triffst, Du ihn totschlagen sollst. Du musst tiefer "in Dich selbst" hineingehen, Dich selbst mit aller Konsequenz hinterfragen, um diese verbalen Aussagen in ihrem wirklichen Kontext zu verstehen, musst quasi "zwischen den Zeilen" lesen, um zu verstehen und nicht nur "auf den Zeilen". Du musst erkennen, worauf diese Worte "in Dir" selbst verweisen, denn nur um Dich allein geht es dort. DU, das was Du wirklich bist, das ist dieser "Christus- bzw. Buddhageist", nach dem Du als HP in der Welt suchst - ER ist das lebendige Erkennen, das totale Verstehen selbst, ist reine LIEBE.

Und ich schreibe das hier deswegen, weil es ein Philosophie-Forum ist (Philosophie = LIEBE + Weisheit, nicht aber logisches Denken + Wissen).


Gruß
Joy


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von ludovico am 23. Apr. 2006, 11:22 Uhr
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Liebe als Ideologie? Auf was für einen Mangel will uns diese Aussage wohl hinweisen?

L.


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 23. Apr. 2006, 19:58 Uhr
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@ Joy:

1. wollen wir hier über das Problem Ethik ./. Religionsunterricht reden,

2.

Und ich schreibe das hier deswegen, weil es ein Philosophie-Forum ist (Philosophie = LIEBE + Weisheit, nicht aber logisches Denken + Wissen).


Um das Forschungsgebiet einer 2.500 Jahre alten Wissenschaft umzudefinieren bist Du zu klein.

So. @ all:

Ich schlage vor, wir schauen uns erst einmal die Tatsachen an.

Schulsenator Böger hatte ursprünglich den Plan, das Fach Ethik/Philosphie/Religionskunde einzuführen, und zwar alternativ zum Religionsunterricht, so dass Schüler die Wahl gehabt hätten, entweder zum Religionsunterricht oder zum Ethikunterricht zu gehen - im Gegensatz zur jahrzehntealten Möglichkeit, sich mit 14 aus dem Religionsunterricht abzumelden und die Freistunde zu genießen.

Die Mehrheit der Berliner Stadtbezirke sprach sich gegen die Wahlmöglichkeit aus: Ethikunterricht solle ungeachtet der Religionszugehörigkeit für alle verbindlich sein.

Die Verfassungsklage dürfte mit dem bereits in Diskussionen genannten Argument kommen, ein alleiniges staatliches Pflichtfach, ohne die Möglichkeit als Alternative Religionsunterricht zu wählen, verstoße gegen die im Grundgesetz garantierte positive Religionsfreiheit.

Es geht dabei um Artikel 4 GG:


(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.


Ich würde mal sagen, die Kläger werden behaupten, niemand dürfe gegen sein Gewissen zur Teilnahme am nicht-religiösen Ethik-Unterricht gezwungen werden.

Ich prognostiziere mal, dass die Kläger damit durchkommen. Nicht, weil ich das für richtig halte, sondern weil das so in unserer Verfassung steht.

Nun stimme ich Dir, Eberhard, darin zu, dass die Werte der Verfassung für alle verbindlich sind (obwohl sie nach juristischer Ansicht hauptsächlich für den Staat verbindlich sind, ihn binden sie). Auf jeden Fall sind sie verbindlich für Religionslehrer, denn, auch das steht im Grundgesetz, die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Und da der Staat das Recht hat, das zu kontrollieren, sehe ich in dieser Hinsicht keine Gefahr.

Das Problem, das ich dabei sehe, und das wird wohl auch der Hintergrund sein, warum die Kirchen sich gegen einen für alle Schüler verbindlichen Ethikunterricht wehren, ist die Begründung der Ethik. Und das ist in der Tat m.E. eine Schwachstelle. Denn die populäre Begründung lautet, die ethischen Werte gelten weil, dat hammer so vereinbart. Reflektieren also letztlich auf einen fiktiven Gesellschaftsvertrag. Dem kann man entgegen halten: na jut, vereinbaren wir dat eben anders. Eigentum ist Diebstahl, wer auf Hartz IV ist, bediene sich kostenlos aus dem Supermarkt. Dem steht zwar die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes entgegen, aber, wie gesagt, wenn das so vereinbart ist, dann kann man das auch anders vereinbaren.

Die Kirchen halten dagegen: das gilt wegen der 10 Gebote: du sollst nicht stehlen. Das hat Gott so befohlen, also ist das auf ewig unabänderlich. Und behaupten, Ethikunterricht sei im Grunde Quatsch, stabile Werte könne es nur mit der Religion geben, vulgo, Gottesfurcht. Wer gegen die göttlichen Gebote verstößt, wandert eben in die Hölle. Hätt sich dä Fall.
(Na ja, nich ganz. Man muss das halt reuevoll je nach Bekenntnis Gott oder dem Priester beichten, dann wäscht Jesu Blut die Sünde wieder ab. Was sich in den letzten paar hundert Jahren als recht praktische Einrichtung erwiesen hat.)

Für die Kirchen dürfte die Begründung der Werte eine der letzten Bastionen für die Behauptung der menschlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten der Religion sein. Sie aufzugeben geht natürlich an die Substanz.

Und die Ethiklehrer müssen sich auf die Frage vorbereiten: und wenn ich anderer Ansicht bin, was dann? Was, wenn ich der Ansicht bin, es sei eine gute Tat, die Rasse natürlich rein zu halten und Türken und Schwarze aus meinem Revier zu prügeln? Wenn ich damit missionieren gehe? Jut, is verboten. Aber wer mit dieser Begründung kommt, sollte besser Verfassung und Rechtskunde unterrichten. Was ich übrigens bevorzugen würde. Auch da kann man Werte vermitteln - dann allerdings wirklich neutral.

Bei uns in Köln läuft Ethik- und Religionsunterricht schon seit als Wahlpflichtfach Jahren parallel. Wieso diese Lösung etlichen berliner Stadtbezirken nicht gepasst hat, ist mir, ehrlich gesagt, nicht so ganz klar.

Grüße

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Alltag am 23. Apr. 2006, 20:25 Uhr
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:-) Hallo Allseits,

Das hat uns gerade noch gefehlt! Jetzt geht's noch fünf Minuten bis in Mitteleuropa der x-te Religionskrieg ausbricht!

Gegebenenfalls bleibt nur noch zu hoffen, dass keiner hin geht.

Danke & Gruss --- Euer gottgefällige Alltag

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 23. Apr. 2006, 21:06 Uhr
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Nicht bei uns im heiligen Köln.
:-)
Da hatte man allerdings einen etwas profaneren Grund: warum sollen Schüler, die nicht am katholischen oder evangelischen Religionsunterricht teilnehmen wollen, das Recht haben, statt dessen im Kaufhof daddeln zu gehen? Nix da, die kriegen Ethikunterricht.

Und da der für die entschiedenen Nichtevangelen oder - katholen war, war der tatsächlich neutral. Meine Tochter hat dran teilgenommen - war nichts dran auszusetzen.

In Berlin, fürchte ich, wird man sich da eher um preussisch-staatserhaltende Indoktrination bemühen. Das wäre erst recht nicht nach meinem Geschmack.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am 23. Apr. 2006, 22:05 Uhr
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Schule ist nun einmal Ländersache und ich sehe keinen Grund, den Ländern zu verbieten, den Religionsunterricht aus der Schule zu verbannen. Sogar in den USA ist das so.

Ich sehe auch keinen Widerspruch zum §4 des Grundgesetzes. Weder wird dadurch die Religionsausübung behindert - außerhalb der Schule können sie ja machen was sie wollen - noch entnehme ich diesem Paragraphen eine Pflicht des Staates, Religionslehrer zu bezahlen und auf die Kinder loszulassen.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 24. Apr. 2006, 00:03 Uhr
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Dann richte Deine Augen doch mal bitte auf den Ethik-Unterricht. Was soll er vermitteln? Welche Inhalte soll er haben? Wie soll das, was vermittelt wird, begründet sein?

Hier, nimm Artikel 2 GG:

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Nu begründe mal besonders die unterstrichene Passage. In einer Schulklasse, in der ein Teil es vollkommen in Ordnung findet, die ungehorsame Schwester um die Ecke zu bringen, der andere Teil in der Freizeit Ausländer klatschen möchte und wieder ein anderer Teil überlegt, wer sich am besten als Opfer eignet, um das nächste Gewaltvideo fürs Handy zu drehen. Wobei du wg Art. 4 GG Rücksicht auf die Kinder nehmen musst die sagen, "ne, das hat doch der liebe Gott verboten."

Mach mal Vorschlag.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Joy am 24. Apr. 2006, 01:56 Uhr
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on 04/24/06 um 00:03:36, Abrazo wrote:Wobei du wg Art. 4 GG Rücksicht auf die Kinder nehmen musst die sagen, "ne, das hat doch der liebe Gott verboten."




Der "liebe Gott" hat gar nichts verboten! Er hat nur "geboten", sich soundso zu verhalten. Es sind "Gebote", keine "Verbote". LIEBE kennt keine Verbote - der "Staat" hingegen ist nur eine intellektuelle Machtkonstruktion und definiert sich wiederum nur aus "Verboten", welche er mit Gewalt gegen jene durchsetzt, die der "Staat" letztlich selbst sind, denn einen "Staat" ohne Menschen gibt es nicht. "Staat" ist das Prinzip "divide et impera", die Abwendung, die Abwesenheit von "Gott", was nur ein anderer Begriff für "LIEBE" ist. Der "Staat" definiert "Feindbilder", alles das, was es zu bekämpfen gilt.

Die LIEBE sagt hingegen: Liebe deine Feinde, Deine Feindbilder. Einem intellektuellen berechnenden noch blinden Geist erschliesst sich diese Weisheit des Herzens (Herz = Geist) freilich nicht, denn ein intellektueller Geist ist noch immer tief im Stadium der geistigen Pubertät befindlich, also weitestgehend völlig unbewusst, denn für ihn ist das unterscheidende begriffliche Denken die alleinige Wirklichkeit - er glaubt sogar, dass seine intellektuellen Konzepte was mit Philosophie zu tun hätten...


Gruß
Joy


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am 24. Apr. 2006, 08:34 Uhr
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@Abrazo:
Dein Verweis auf das Grundgesetz zieht nicht. Kinder müssen erzogen werden - man kann nicht Kinder einfach sich selbst überlassen und auf das Grundgesetz verweisen. Ihre Persönlichkeit muss erst geformt werden - durch die Eltern und eben auch durch die Schule = Gesellschaft. Oder willst du die Erziehung lieber den Medien überlassen?

Im Ethik-Unterricht kann man:
a: Einen Überblick über die vorhandenen Religionen und sonstigen Ideologien inkl. ihrer Moralvorstellungen vermitteln.
b: Real existierende Probleme (zB. Erkenntnistheorie, soziale Fragen, Drogen, Abtreibung etc.) diskutieren und die Ansichten der verschiedenen Moralen gegenüberstellen und vergleichen.

@Joy: Wenn du dich schon auf den Gott der Bibel berufst, solltest du dir auch einmal die Mühe machen, diese Bibel zu lesen.
Es ist dort zwar von den 10 Geboten die Rede, aber in den unmittelbar anschließenden Ausführungsbestimmungen heißt es ganz klar: Wer sich nicht an das Sabbatgebot hält, soll gesteinigt werden. Und in der Bergpredigt lesen wir, wer seinem Bruder zürnt, soll dem höllischen Feuer verfallen sein.
Ein göttliches Gebot ist also de facto das Verbot des umgekehrten Vorgangs. Bei Zuwiderhandlungen meistens Todesstrafe.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Soulflyer777 am 24. Apr. 2006, 08:34 Uhr
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Moin Abrazo,

Genau darum geht es.
Substanzverlust.
Die Kirche hat viele Lehrer,
und keine Schüler.
Die Schule hat viele Schüler,
und keine Lehrer.

Welche Möglichkeiten hat die Kirche eigentlich noch,um ihr Gesicht nicht völlig zu verlieren,frag ich mich grade...
Was würde diese Institution für einen jungen Menschen wieder interessant machen?
Oder ist der Zug ein für alle mal abgefahren?
Mit der Aktion die sie da grade gestartet hat,erreicht sie jedenfalls genau das Gegenteil von dem,was sie eigentlich erreichen will.

Gruß,S.F

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 24. Apr. 2006, 08:36 Uhr
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@ Joy:

Du bist hier im Forum politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Wirtschaftsphilosophie und das Thema lautet 'ist Ethik-Unterricht ein Eingriff in die Religionsfreiheit'.

Das Thema lautet nicht, wie bringe ich Kindern eine andere Religion bei. Allein schon aus dem Grund, weil es verfassungswidrig ist, Kinder und Jugendliche im Ethikunterricht mit solchen Sermonen zu traktieren: Eingriff in die Religionsfreiheit.

Bevor Du anderen was von Liebe erzählen willst, übe sie bitte erst einmal praktisch, z.B. dadurch, dass Du Philosophieinteressierte nicht mit Glaubenssätzen traktierst und ihren Thread nicht mit Labereien zumüllst, die nichts mit dem Thema zu tun haben. Das ist eine Frage von Rücksichtnahme, und wer dazu nicht in der Lage ist, braucht das Wort Liebe gar nicht erst in den Mund zu nehmen, weil er durch seine Handlungen seine Sätze selbst als leeres Gerede widerlegt.

Also trag was zum Thema bei oder halt die Klappe.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 24. Apr. 2006, 09:18 Uhr
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Kinder müssen erzogen werden

Ich bin bekennende Antipädagogin. Seit meiner Schulzeit, in der ein Pädagogikbuch den Unterschied zwischen Bildung und Erziehung mit dem Bild zu verdeutlichen suchte vom Sokrates im Kreise seiner Schüler und von Pestalozzi 'mit dem Kinde auf dem Arm'. Ich fand, wo ein Sokrates sitzt, wird ein Pestalozzi nicht gebraucht. Mit dieser Ansicht bin ich bisher hervorragend gefahren, nicht nur bei meiner eigenen Tochter, sondern auch bei durchaus sozial problematischen Kindern und Jugendlichen, und wenn mich ein Erziehungsfan gefragt hat, wie ich es denn angestellt hätte, meine Tochter so gut zu erziehen, gab ich mit Hochgenuss die Antwort: ich hab sie gar nicht erzogen.

Ich unterschreibe lieber den letzten Satz von Saint-Ex im Buch 'Wind, Sand und Sterne': Nur der Geist, wenn er den Lehm behaucht, kann den MENSCHEN erschaffen. Wenn ich in die Geschichte schaue, stelle ich fest, das Ergebnis einer Erziehung ohne Geist war mindestens so übel wie heute die Nichterziehung ohne Geist. An der Frage Erziehung oder Nichterziehung liegts imho nicht.

Im Ethik-Unterricht kann man:
a: Einen Überblick über die vorhandenen Religionen und sonstigen Ideologien inkl. ihrer Moralvorstellungen vermitteln.


Warum soll man das?

1. ist für alle mir bekannten Religionen Gott der oberste Gesetzgeber und die theoretischen Moralauffassung sind nicht gar so unterschiedlich;
2. garantiere ich Dir fast, dass unter den älteren Schülern paar aufstehen und behaupten, so sei ihre Religion gar nicht, das sei alles verfälscht (und dass fundamentalistische Christen es mal wieder, wie in Paderborn, mit Schulboykott probieren).
3. und wo bleibt der Unterricht für Atheisten? Denn der kann sich ja wohl nicht darin erschöpfen, einen religiösen Wühltisch zum Aussuchen anzubieten. Oder willst Du
4. zusätzlich Sowjetkommunismus, Nationalsozialismus, Manchesterkapitalismus usw. in den Wühltisch geben?

Will sagen:

Real existierende Probleme (zB. Erkenntnistheorie, soziale Fragen, Drogen, Abtreibung etc.) diskutieren und die Ansichten der verschiedenen Moralen gegenüberstellen und vergleichen.

Ist der Wühltisch, die Beliebigkeit das Ziel oder besteht die Möglichkeit, sich auf irgend etwas als gemeinsam zu einigen?

P.S.: Schon mal mit Leuten diskutiert, die Cannabis für ein 'Heiliges Kraut' halten und verlangen, der Konsum solle gleichberechtigt mit der Drogenproblematik besprochen werden?

Hypothese:
Unter den unterschiedlichen Religionen, Ideologien, Weltanschauungen und Auffassungen ist ein neutraler Konsens nicht möglich. Dieses Unmögliche zu versuchen führt notwendigerweise in die Beliebigkeit. Ist Ethik beliebig?

Was würde diese Institution für einen jungen Menschen wieder interessant machen?

Nicht bös sein, aber das ist mir ehrlich gesagt egal. Sch-meine, ich achte Religionen, aber so was ist doch nun theologisches Thema und kein philosophisches, oder? (höchstens inne Religionsphilosophie).

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Soulflyer777 am 24. Apr. 2006, 09:30 Uhr
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Manchmal hab ich so den Eindruck das das Schlimmste was einem eingefleischtem Philosophen passieren kann eine Lösung zu finden ist.

Auch nicht bös gemeint,

S.F

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 24. Apr. 2006, 11:05 Uhr
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Längst nicht überall, wo Philosophie drauf steht, ist auch Philosophie drin.

Es ist z.B. da keine Philosophie drin, wo einer sagt, Meinungsfreiheit, mach doch, was du willst. Denn da geht es um das, was einem aus subjektiven Gründen schmeckt und nicht um das, was Sache ist, vor allem dann, wenn man das ganze Problemfeld betrachtet und nicht nur den Quadratmeter Rüben, den man gerade vor Augen hat und von dem sich wegzubewegen manchem viel zu mühsam erscheint.

Das Ergebnis ist das, was wir heute haben: eine zerfallende Gesellschaft, die der Beliebigkeit huldigt - und der Auswahl qua Werbung.

Und alle möglichen unappetitlichen Grüppchen und Sektierer, für die die Abkehr von der Religion (der jeweils eigenen natürlich) die Ursache allen Übels ist, welches es durch Missionierung bis hin zum Krieg gegen das Reich des Satans zu beseitigen gilt.

Auch ne Lösung, aber keine philosophische - und ziemlich gesundheitsschädlich.

Lösungen fallen auch in der Philosophie nicht vom Himmel. Die muss man sich erarbeiten, und das ist hart und kann dauern.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Prometheus am 24. Apr. 2006, 15:34 Uhr
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Bitte???

Ethik soll ein Eingriff in die Religionsfreiheit sein?

Und Religion als Fach der Kirche nicht???

In einem säkulären Staat???

Da gibt man der Kirche eine Plattform, Mitglieder zu missionieren und ein neutraler Unterricht wie Ethik/Philosophie ist ein Eingriff???

Vollkommen wahnsinnig???


(Haben nicht 2 Mädchen dagegegen geklagt? Sollte ich mal mit dem Fach Religion versuchen...)

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 24. Apr. 2006, 16:57 Uhr
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Die Frage, ob in Schulen Religionsunterricht erteilt wird, ist in der Verfassung geklärt:

Art 7

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.

(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.

(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.


Die bekenntnisfreie Schule ist bisher nicht die Regelschule. Fraglich ist, ob das Grundgesetz die Einführung der bekenntnisfreien Schule als Regelschule gestattet, denn die bekenntnisfreie Schule hat offenbar den gleichen Status wie eine Bekenntnisschule (also evangelische oder katholische).

Bekenntnisfrei ist nicht bekenntnisneutral. Insofern ist auch die bekenntnisfreie Schule weltanschaulich geprägt und damit nicht neutral. In einer bekenntnisfreien Schule gibt es ebensowenig Wahlmöglichkeit wie in einer Bekenntnisschule - und genau um diese Wahlmöglichkeit geht es.

Und da in diesem Unterricht nicht Wissen, sondern Werte vermittelt sollen, stellen die Eltern wohl die Frage, ob es verfassungsgemäß ist, wenn ihren Kindern mangels Alternative gezwungenermaßen nichtreligiöse Werte vermittelt werden sollen.

Womit ich wieder bei der Frage wäre, womit sollen denn die Werte begründet werden, die den Schülern vermittelt werden sollen?

Die alte DDR-Schule hatte damit kein Problem: die vermittelte die Werte des Marxismus-Leninismus. Aber wie sieht die Sache bei uns aus?

Die Werte des Grundgesetzes? Wäre ich sehr einverstanden mit. Nur wäre das dann kein Unterricht in Ethik, Philosophie, Religionskunde, sondern Recht und Staatsbürgerkunde.

Wobei ich mich frage, wieso werden denn diese offenbar als untauglich angesehen, um Werte zu vermitteln?


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Eberhard am 24. Apr. 2006, 19:08 Uhr
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Hallo allerseits,

nachdem es zuerst den Anschein hatte, dass es nicht viel zu diskutieren gibt, wurde nun doch eine Gegenposition bezogen. Nach schöpferischer Pause kehrt Abrazo zurück, um bei Philtalk die philosophischen Rodungsarbeiten wieder aufzunehmen.

Aber da es allerdings im Garten der Philosophie nicht nur zu roden sondern auch zu pflegen gibt, liegt mir viel daran, die einzelnen Streitpunkte und Argumente möglichst klar zu ordnen.

Mein Eröffnungsbeitrag bezieht sich allein auf die Frage, ob ein Ethikunterricht für alle Schüler verfassungswidrig ist, weil der gegen das Grundrecht der freien Religionsausübung verstößt.

Es geht also nicht um die Frage, ob ein Wahlpflichtfach Religion bzw. Ethik besser wäre als ein Pflichtfach Ethik mit freiwilligem Religionsunterricht.

Es geht auch nicht um die Frage, ob es den Kirchen gefällt, wenn sich jetzt auch die öffentlichen Schulen mit der Vermittlung moralischer Normen und Werte befassen, was Jahrhunderte lang ihre ureigenste Domäne war.

Es geht auch nicht darum, wie dieser Ethikunterricht inhaltlich zu gestalten ist, es sei denn, man ist der extremen Meinung, dass es überhaupt keine Theorien gibt, die bestimmte ethische Prinzipien und Normen formulieren und dies argumentativ zu begründen versuchen.

Wir sollten also immer im Auge behalten, dass es – zumindest vorerst – nur um die Frage geht: Ist ein Schulfach Ethik für alle Schüler mit dem Grundgesetz zu vereinbaren?

Das Argument von Abrazo hierzu stützt sich auf eine Analogie zwischen dem Ethikunterricht und der Wehrpflicht: So wie niemand zum Dienst an der Waffe gezwungen werden dürfe, so dürfe auch niemand zum Ethikunterricht gezwungen werden.

Diese Analogie leuchtet mir nun überhaupt nicht ein. Inwiefern ist die Lektüre und Behandlung von Immanuel Kant oder John Stuart Mill ein Gewissensproblem?

Ich sehe da eher eine Analogie zwischen dem Ethikunterricht und dem Unterricht in „Politischer Weltkunde“ (Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Gegenwartskunde).

Was die theoretischen Grundlagen angeht, ist z.B. die Situation in der Demokratietheorie keineswegs gefestigter als in der Ethik. Trotzdem verzichten wir nicht auf die Vermittlung und Erörterung der theoretischen Grundlagen der Demokratie in der Schule.

Dass die Begründung moralischer Normen nicht so beliebig ist, wie Abrazo meint, hat sie sehr konkret selber demonstriert, als sie schrieb:
„Bevor Du anderen was von Liebe erzählen willst, übe sie bitte erst einmal praktisch, z.B. dadurch, dass Du Philosophieinteressierte nicht mit Glaubenssätzen traktierst und ihren Thread nicht mit Labereien zumüllst, die nichts mit dem Thema zu tun haben. Das ist eine Frage von Rücksichtnahme, und wer dazu nicht in der Lage ist, braucht das Wort Liebe gar nicht erst in den Mund zu nehmen, weil er durch seine Handlungen seine Sätze selbst als leeres Gerede widerlegt.“

Dieser Appell zur Rücksichtnahme gegenüber den Interessen anderer bezieht sich auf ein ethisches Grundprinzip, das m.E. auch ohne die Offenbarung eines göttlichen Willens erörtert und begründet werden kann.

Wenn nur dies Prinzip gegenseitiger Rücksichtnahme jedem Kind, das in unserer Gesellschaft heranwächst, in der Schule einsichtig vermittelt werden könnte, dann wäre für unser Zusammenleben bereits viel gewonnen,

meint Eberhard.








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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von doc_rudi am 24. Apr. 2006, 19:19 Uhr
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Hallo,
wie schon gesagt, kann jeder außerhalb der Schule machen und glauben, was er will, so dass die Abschaffung des Religionsunterrichts nicht gegen die Religionsfreiheit verstoßen würde. Im Gegenteil: wenn die Religion A Unterricht in der Schule geben darf, dann wollen natürlich die Religionen B, C, D, E usw. das gleiche Recht. Da in Berlin minedstens 3 Religionen stark vertreten sind, wollen die Moslems natürlich ihre Scheiße genau wie die Katholiken in der Schule lehren. Und das ist in Berlin das Problem. Da beliebig viele Religionen denkbar sind, könnte schließlich kein normaler Unterricht mehr stattfinden.
Nun sind sie in Berlin auf die Ethik gekommen, was das Gleiche in grün ist. Statt schönen Philosophieunterricht zu machen, in dem diskutiert werden kann, was Wahrheit ist, wird die eigentliche Absicht, die Moslems rauszuhalten, mal wieder verbrämt.
Es könnte neben Philosophie auch Gemeinschaftskunde unterrichtet werden, weil nämlich das Zusammenleben in einer Gemeinschaft es erfordert, sich an Regeln zu halten. Die Frage, warum Regeln und welche Regeln, wäre doch ein gutes Unterrichtsthema, das man nicht mit Ethik oder Moral verbrämen sollte. Vernünftiges Denken und entsprechendes Handeln mit Verzicht auf körperliche Gewalt reicht doch. Also: Religionen, Moral und Ethik raus aus der Schule und klare Regeln rein.
Nebenbei: das eigentliche Problem, nämlich was soll die Gemeinschaft mit denen machen, die die Regeln nicht einhalten, haben die Schulen in Berlin alle noch nicht gelöst, da ist die bekannte Neuköllner Schule kein Einzelfall.
Gruß
rudi



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am 24. Apr. 2006, 22:17 Uhr
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Streng genommen sollte Ethik (im Gegensatz zur Moral) eine Wissenschaft sein, die die verschiedenen Moralen der verschiedenen Ideologien, darunter auch die der Religionen, beschreibt, vergleicht und wissenschaftlich untersucht, ohne selbst ein Werturteil abzugeben.

Was gegen diese Wissensvermittlung sprechen soll, weiß ich nicht.

Wenn aber Rudi meint: "Die Frage, warum Regeln und welche Regeln, wäre doch ein gutes Unterrichtsthema, das man nicht mit Ethik oder Moral verbrämen sollte." dann irrt er. Diese Regeln sind nämlich nicht anderes als Moral. Und die in einer Gesellschaft gültige Moral muss man eben erlernen. Sonst nimmt sich die Gesellschaft das Recht, entsprechende Sanktionen zu verhängen. Zu Recht, wie ich meine.

Daraus folgt: In einem guten Ethikunterricht sollten und werden die verschiedenen Religionen ebenso behandelt, wie die derzeit gültige Staatsmoral.


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am 24. Apr. 2006, 22:24 Uhr
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Hi, zusammen, hi Eberhard,

so einfach, wie Du das behauptest, sehe ich die Sache ganz und gar nicht.

Dieser Appell zur Rücksichtnahme gegenüber den Interessen anderer bezieht sich auf ein ethisches Grundprinzip, das m.E. auch ohne die Offenbarung eines göttlichen Willens erörtert und begründet werden kann.


Nun, dann begründe doch mal!

Denn Du solltest nicht übersehen, dass ich keineswegs zur Rücksichtnahme als allgemeines ethisches Prinzip appelliert habe, sondern darauf hingewiesen habe, dass einer, der ein bestimmtes Prinzip für sich als grundlegend in Anspruch nimmt, unglaubwürdig ist, wenn er sich in seinem Handeln nicht selbst danach richtet.

Das heißt: man kann ohne weiteres sagen, wer dies als ethisches Prinzip behauptet, muss das tun, sonst ist er nicht seriös. Der Knackpunkt ist aber der, dass man eben durchaus unterschiedliche ethische Prinzipien als für einen selbst vorrangig behaupten kann. Wenn man einen neutralen Ethik-Unterricht geben will: welches sind denn die neutralen ethischen Prinzipien?

Demokratie ist das Organisationsprinzip unseres Staates. Dat jilt et hier. Folglich kann man die demokratischen Prinzipien lehren, ohne sie begründen zu müssen. So, wie man eben Recht und Staatsbürgerkunde allgemein lehren kann, ohne sie ethisch begründen zu müssen; dieses Recht gilt hier, hätt sich dä Fall.

Willst Du hingegen Demokratie als ethischen Wert begründen und so vermitteln, kommst Du damit gewaltig in die Bredouille. Ist Dir aufgefallen, dass unsere egozentrischen Solipsisten so gut wie nie etwas für Demokratie übrig haben? Was auch völlig normal ist, denn was, bitte schön, will ein Egozentriker mit Mehrheitsentscheidungen? Du siehst, Du brauchst noch nicht mal die bekannten politischen Ideologien zu bemühen.

Ist ein Schulfach Ethik für alle Schüler mit dem Grundgesetz zu vereinbaren?
Die Voraussetzung dafür wäre, dass eine für Schüler verständliche Wertevermittlung ohne weltanschaulichem Hintergrund möglich wäre. Wie zum Beispiel? Da ich da noch gewissen Arbeitsbedarf für Ethiker sehe, hätte ich dafür schon gerne konkrete Beispiele.

Inwiefern ist die Lektüre und Behandlung von Immanuel Kant oder John Stuart Mill ein Gewissensproblem?
In der Grund-, Haupt- und Realschule?

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Gordon am Vorgestern, 08:01 Uhr
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Dass der Staat weltanschaulich neutral zu sein habe, ist eine nahezu unbestrittene Auffassung. Jetzt fängt er an, weltanschauliche Erziehung zur staatlichen Aufgabe zu erklären, jedenfalls in Brandenburg und Berlin und bekommt dafür Beifall. Warum? Weil man sich darüber freut, dass es gegen die Kirchen geht, die den Ersatz des Religionsunterrichts durch die sogenannte LER ablehnen. Im Osten ist man eh gewohnt, weil der Staat bis 1989 genau das gemacht hat.

Es gibt keinen neutralen Ethikunterricht. Kinder wollen wissen, wie der Lehrer selbst für sich ethische Fragen beantwortet. Wenn er sich entzieht wirkt er unglaubwürdig. Darum kann es auch keinen neutralen Religionsunterricht geben.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Soulflyer777 am Vorgestern, 09:19 Uhr
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on 04/24/06 um 22:17:59, Hanspeter wrote:Streng genommen sollte Ethik (im Gegensatz zur Moral) eine Wissenschaft sein, die die verschiedenen Moralen der verschiedenen Ideologien, darunter auch die der Religionen, beschreibt, vergleicht und wissenschaftlich untersucht, ohne selbst ein Werturteil abzugeben.

Was gegen diese Wissensvermittlung sprechen soll, weiß ich nicht.

Wenn aber Rudi meint: "Die Frage, warum Regeln und welche Regeln, wäre doch ein gutes Unterrichtsthema, das man nicht mit Ethik oder Moral verbrämen sollte." dann irrt er. Diese Regeln sind nämlich nicht anderes als Moral. Und die in einer Gesellschaft gültige Moral muss man eben erlernen. Sonst nimmt sich die Gesellschaft das Recht, entsprechende Sanktionen zu verhängen. Zu Recht, wie ich meine.

Daraus folgt: In einem guten Ethikunterricht sollten und werden die verschiedenen Religionen ebenso behandelt, wie die derzeit gültige Staatsmoral.



Moin H.P,
So seh ich das auch.
Die in einer Gesellschaft gültige Moral,muß man erlernen.

Gruß,S.F

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am Vorgestern, 09:41 Uhr
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Jetzt fängt er an, weltanschauliche Erziehung zur staatlichen Aufgabe zu erklären

Genau das ist das Problem. Übersehen wird der wesentliche Unterschied zwischen Wissensvermittlung (die selbstverständlich verfassungsgemäß ist, begründet letztlich durch die Freiheit der Wissenschaft) und Wertevermittlung. Und darüber hat der Staat nun mal nicht zu befinden, sofern die zu vermittelnden Werte nicht mit der Verfassung kollidieren. Hier gilt nämlich Art. 4 GG Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit.

Terminus des Bundesverfassungsgerichtes (BVG): wertorientierter Unterricht.

Darum kann es auch keinen neutralen Religionsunterricht geben.

Das sowieso nicht.
Zieht man die Sache allerdings auf das Thema Weltanschauung, dann muss man den überzeugten Atheismus mit der Religion, egal welche, in eine Reihe stellen. Hier kommt die bekenntnisfreie Schule ins Spiel: sie ist genau so berechtigt, wie jede andere Schule auch, ist aber auch keine neutrale Schule, sondern eine weltanschaulich geprägte Schule. Einer der wesentlichen Kritikpunkte ist ja der, dass so die bekenntnisfreie Schule zur Regelschule gemacht wird, und das dürfte vom Grundgesetz her nicht zulässig sein.

Anders sähe die Sache aus, gäbe es formulierte allgemein anerkannte ethische Prinzipien. Gibt es die? Oder könnte es eventuell sein, dass daran noch gearbeitet wird?

Und damit zu Deinem Eingangsthread, Eberhard, denn Deine Kritik weise ich zurück:

Offenbar darf nach Auffassung der Kläger Ethik nur von den jeweiligen Religionsgemeinschaften für die jeweiligen Mitglieder dieser Religionsgemeinschaften erteilt werden.

Unpräzise. Die Kläger verlangen nicht, dass wertorientierter Unterricht nur von Religionsgemeinschaften erteilt werden darf (das würde mit Blick auf die gleichwertigen Rechte der Bekenntnisfreien gegen unsere Verfassung verstoßen), sondern sie verlangen, dass weltanschaulich Gebundene wertorientierten Unterricht von Lehrkräften erhalten, die an die gleiche Weltanschauung gebunden sind, mit der Begründung, dass es einen weltanschaulich neutralen wertorientierten Unterricht nicht gibt, was zur Folge hätte, dass ihnen mit der Pflichtteilnahme an einem angeblich neutralen Unterricht die Werte einer Anschauung zwangsweise vermittelt werden soll, die sie ablehnen.

Dieses Argument ist nur widerlegbar, wenn man den Klägern allgemein gültige ethische Prinzipien nennt, die, und nur die, vermittelt werden sollen. Ist das möglich?

1. Für jede Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung, welche ethischen Normen gelehrt und sanktioniert werden, denn in ihnen wird deutlich, wie die Menschen miteinander umgehen.

Unpräzise. Ethische Normen werden nicht sanktioniert. Sanktioniert wird die Verletzung von Rechtsnormen oder - durch soziale Kontrolle - von Moralen. Diese sind aber auch in einer Gesellschaft verschieden. Das Anzeigen eines Drogenhändlers gilt in Kifferkreisen als unmoralisch und wird entsprechend sanktioniert.

3. Der demokratische Gesetzgeber hat die Aufgabe, sich der bestehenden Probleme anzunehmen, wie sie in den Meinungen der Wähler zum Ausdruck kommen.


Bei der Erfüllung dieser Aufgabe ist der Gesetzgeber an die Verfassung gebunden. Und die garantiert nun einmal die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, zu der gehört, dass niemandem vom Staat ein Bekenntnis aufgezwungen werden darf, das nicht das Seine ist.

In der Praxis hat das BVG einen Vermittlungsvorschlag bei der Auseinandersetzung um L.E.R. gemacht, der die folgenden m.E. wesentlichen Elemente enthält:

Die Regelungen über das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde in § 11 Abs. 2 bis 4 des Brandenburgischen Schulgesetzes bleiben unberührt. Außer dem Unterricht in diesem Fach kann Religionsunterricht gemäß § 9 Abs. 2 dieses Gesetzes in allen Schulformen und Schulstufen erteilt werden. Ergänzend werden für die beiden Unterrichtsfächer Regelungen entsprechend § 2 dieser Vereinbarung getroffen.

7. Schülerinnen und Schüler, deren Eltern gegenüber der Schule erklären, dass ihr Kind [i]wertorientierten Unterricht zu den Gegenstandsbereichen des Faches Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde allein in Form des Religionsunterrichts erhalten soll, und den Besuch eines solchen Unterrichts nachweisen, sind von der Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht in dem Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde befreit. Bei Schülerinnen und Schülern, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, tritt die eigene Erklärung an die Stelle der Erklärung der Eltern. [/i]

Dies ist ein Vermittlungsvorschlag des BVG, betreffend Land Brandenburg.

http://www.oefre.unibe.ch/law/dfr/bv104305.html

Ich schlage vor, wir halten uns mal daran bei der Frage, worum es eigentlich geht. Denn von wirklichkeitsfremdem Philosophieren, das sich auf fiktive Umstände und Normen bezieht, halte ich nicht allzu viel.


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am Vorgestern, 12:31 Uhr
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Es geht hier nicht um die Frage, ob Jesus auferstanden oder Mohammed der Prophet Allahs ist.
Sondern es geht darum, dass die Werte, die das Grundgesetz definiert, zum Erziehungsziel in der Schule gemacht wird. Und zwar auf breiter Basis, die im Sozialkundeunterricht nicht möglich ist.
Dass man zB jungen Leuten klar macht, dass Meinungsverschiedenheiten nicht per Faustschlag entschieden werden, dass in unserem Land Mann und Frau gleichberechtigt sind, Heiraten nicht erzwungen werden dürfen etc.

Ich halte es für unerträglich, dass man zB. "Ehrenmorde" damit abtut, dass dies unter die "Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit" fällt.
Wo sollen junge Menschen lernen, welche Moral in unserer Gesellschaft gilt? In der Schule, im Fernsehen, im Knast??




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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Eberhard am Vorgestern, 21:32 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Abrazo,

die Fragestellung, mit der ich diese Diskussionsrunde eröffnet habe, lautet: Ist ein Ethikunterricht für alle Schüler mit dem Grundgesetz vereinbar?

Ich habe die Meinung vertreten, dass dies der Fall ist.

Die Begründung hierfür lautet: Es gibt unter den Heranwachsenden eine zunehmende moralische Orientierungslosigkeit.

Wenn der Gesetzgeber mit Mehrheit beschließt, dies Problem auch durch einen allgemeinen Ethikunterricht für alle Schüler anzugehen, so bewegt er sich damit im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Aufgaben und Rechte.

Die Freiheit der Religionsausübung wird dadurch nicht eingeschränkt.

Der Verweis auf die unumstößlichen religiösen Begründungen der Moral bringt keine Lösung des Problems. Es spricht vieles dafür, dass der Prozess der Säkularisierung weitergehen wird und dass die religiösen Weltbilder weiterhin an Glaubwürdigkeit verlieren werden.

Eine Position, die auf alle Fragen nach den Gründen für moralische Regeln nichts inhaltliches zu sagen weiß sondern nur auf die Autorität des göttlichen Gesetzgebers verweisen kann, erscheint mir nicht sehr wirksam.

Die Vorstellung, man könne demokratisches und rechtsstaatliches Bewusstsein wecken ohne Begründungen der jeweiligen Normen, nur als Information über das was faktisch gilt, erscheint mir unrealistisch.

Wenn die Befürchtungen vor mangelnder weltanschaulicher Neutralität beim Ethikunterricht so schwerwiegend sind, wie kann es dann einen Deutschunterricht geben, in dem die Werke von Bertolt Brecht oder Heinrich Böll behandelt werden? Und wie kann es dann einen Biologieunterricht geben, in dem die Genetik behandelt wird?

Haben mehr als 2000 Jahre philosophischer Bemühungen um die Bestimmung des guten Handelns nichts erbracht, was möglichst viele kennen und verstehen sollten? Müssen sich die Philosophen wirklich ein solches Armutszeugnis ausstellen lassen?

Ist die nazistische Rassentheorie wirklich genau so gut oder schlecht begründet wie etwa die Theorie der Gewaltenteilung?

Sollte nicht jedes Kind sich einmal Gedanken gemacht haben über Regeln wie: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu“ oder „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie Du den Schmerz“? Oder können Kinder nicht ihre Ansichten diskutieren über gerechte und ungerechte Behandlung der Schüler durch den Lehrer?
Über Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme?

fragt Eberhard.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Gordon am Vorgestern, 21:54 Uhr
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Etwas überrascht stelle ich fest, dass Eberhard einfach Familie und Eltern ignoriert. Sie kommen einfach nicht vor. wer die beiden Sprüche nicht von seinen Eltern gehört hat, für den kommt die Schule vielleicht schon zu spät. Erziehung ist vor allem das Recht der Eltern und auf gar keinen Fall das des Staates. Nur nebenbei: Aus dem Reliunterricht können Eltern und dann die Schüler selbst sich jederzeit abmelden, von im Berlin geplanten LER nicht.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am Vorgestern, 22:33 Uhr
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Eberhard tut gut daran, die Eltern nicht zu erwähnen. Denn im Ethikunterricht geht es nicht darum, ein irgendwie geartetes Elternbild zu vermitteln, sondern die Moral, die in der Basis in unserem Grundgesetz verankert ist.

Wenn die Eltern ihre Kindern im Sinne unserer Gesellschaft und unserer Rechtsordnung erzogen haben, dann ist ja alles ok. Haben sie ihre Kinder aber falsch erzogen - zb. im rechts- oder linksextremen Sinn, gemäß den Vorstellungen radikaler Islamisten oder im Sinn von Kulturen, die mit der unsrigen nicht übereinstimmen - dann wird es höchste Zeit, den Kindern das im Ethikunterricht beizubringen.

Deshalb ist es konsequent, diesen Unterricht verpflichtend zu gestalten. Und die Eltern, die ihre Kinder aus dem Ethikunterricht abmelden möchten, sollten sich dann auch aus unserer Gesellschaft abmelden bzw. abgemeldet werden.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am Vorgestern, 23:02 Uhr
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Hi, zusammen,

tja, ich bin versucht zu sagen, da kochen doch hier und da missionarische Gefühle hoch.

Es ist leider ein Irrtum zu glauben, das Grundgesetz habe Verbindlichkeit für das deutsche Individuum. Es bindet den Staat, nicht den Bürger. Das heißt, der Staat schreibt den Bürgern nicht vor, was sie zu glauben, zu meinen und zu denken haben.

Beweis: das Grundgesetz.

Art 1

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.


Das Deutsche Volk bekennt sich zu den Menschenrechten. Die könnte man vermitteln. Aber welches sind die? Denn, das gilt es zu bedenken, die Menschenrechte sind kulturunabhängig. Und außerdem handelt es sich auch hier um Rechte und nicht um Werte. Es wird angenommen, dass dahinter von allen Menschen erkannte Werte stecken. Aber welche?

Sondern es geht darum, dass die Werte, die das Grundgesetz definiert, zum Erziehungsziel in der Schule gemacht wird

Welche Werte definiert denn das Grundgesetz? Und es ist schlicht und einfach verfassungswidrig, wenn der Staat zu seinen Werten erzieht.

Ich halte es für unerträglich, dass man zB. "Ehrenmorde" damit abtut, dass dies unter die "Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit" fällt.

Hier wäre in der Tat aufklärender Unterricht angebracht, denn diese Ansicht ist schlicht und einfach falsch. Für die kürzlich verhängten 9 Jahre Gefängnis hatte man in der Türkei kein Verständnis. Den Türken galt die Strafe als viel zu gering; erst gestern habe ich gehört, bei denen gab es in einem vergleichbaren Fall 16 Jahre. Du wirst auch keinen islamischen Theologen finden, der erklärt, hier handle es sich um Religion. Tatsächlich ist es archaisches Brauchtum von, nun, sagen wir, etwas verwahrlosten Gesellschaften, wie es die kurdische in türkisch-Anatolien ist (bei den iranischen und irakischen Kurden ist von derlei Bräuchen nichts bekannt). Folge von Armut, mangelnder Bildung und Entrechtung.

Die Freiheit der Religionsausübung wird dadurch nicht eingeschränkt.

Es geht aber nicht um die Freiheit der Religionsausübung, also z.B. des Kirchganges, sondern um die Freiheit des Glaubens.

Es spricht vieles dafür, dass der Prozess der Säkularisierung weitergehen wird und dass die religiösen Weltbilder weiterhin an Glaubwürdigkeit verlieren werden.

Ich würde sagen, dafür spricht sehr wenig. In den USA lehnen 53% der Staatsbürger die Evolutionstheorie ab, in islamischen Ländern bis weit nach Schwarzafrika hinein erringen religiöse Parteien in demokratischen Wahlen Mehrheiten und, nun, der Weltjugendtreff in Köln letztes Jahr sah auch nicht gerade nach Säkularisierung aus. Ich sehe eher, dass die säkularen Weltbilder mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verlieren. Da sollte sich die Philosophie den Schuh anziehen, dass sie da vielleicht zu lange zu schweigsam war - oder sich mit Problemen beschäftigt hat, die Normalmensch nicht die Spur interessieren.

Grundsätzlich gilt: unser Staat verbietet sich qua Verfassung das Recht, Kinder zu seinen Werten hin zu erziehen. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied zu den 'Gottesstaaten', aber auch z.B. zur ehemaligen DDR, ebenso jedoch zum wilhelminischen Untertanenstaat; für die war es nämlich selbstverständlich, dass der Staat den wertorientierten Unterricht in eigener Regie bestimmt. So etwas ist bei uns nicht verfassungsgemäß. Muss man sich erst mal klar machen.

Die wertorientierte Erziehung der Kinder, da bewegt sich Gordon vollkommen auf dem Boden unserer Verfassung, wird von den Eltern bestimmt und nicht vom Staat. Mit Berufung auf die Menschenrechte ist es zwar ohne weiteres möglich, einen werteorientierten Unterricht zu geben; aber eben nicht gegen den Willen der Eltern.

Die Philosophie hat sehr viel erreicht. Aber man sollte dabei nicht vergessen, dass die Philosophie auch kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Theologien hatte. Auch da hat die Philosophie viel erreicht. Nur kann man leider dem Normalmenschen nicht Kant ans Herz legen, weil er davon nur Bahnhof versteht. Und es ist auch ganz und gar nicht so, dass Philosophie grundsätzlich areligiös war und ist. Also wird man den Konflikt auch innerhalb der Philosophie finden.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Joy am Vorgestern, 23:19 Uhr
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on 04/25/06 um 22:33:20, Hanspeter wrote:Eberhard tut gut daran, die Eltern nicht zu erwähnen. Denn im Ethikunterricht geht es nicht darum, ein irgendwie geartetes Elternbild zu vermitteln, sondern die Moral, die in der Basis in unserem Grundgesetz verankert ist.

Wenn die Eltern ihre Kindern im Sinne unserer Gesellschaft und unserer Rechtsordnung erzogen haben, dann ist ja alles ok. Haben sie ihre Kinder aber falsch erzogen - zb. im rechts- oder linksextremen Sinn, gemäß den Vorstellungen radikaler Islamisten oder im Sinn von Kulturen, die mit der unsrigen nicht übereinstimmen - dann wird es höchste Zeit, den Kindern das im Ethikunterricht beizubringen.




Meinst Du hier mit "unserer Kultur" die allgegenwärtige Anbetung des Mammon? Milliarden von Rüstungsausgaben? Profit als das Mass aller Dinge? Jedem mit gnadenloser massiver Gewalt zu drohen, wenn er sich diesem Irr- und Wahnsinn verweigert und sich an dem Idiotenspiel nicht erfreuen kann? Nennst Du das "Kultur"? Das kann doch nicht Dein Ernst sein, oder doch?

Ganz nebenbei: Es geht hier im Forum um PHILOSOPHIE (= LIEBE + WEISHEIT). Politik (= rationale Berechnung) ist alles andere als Philosophie. Politik ist jenes Pharisäertum, welches Wasser predigt und Wein säuft.

Niemand wird unsere Kinder per Gesetz verändern können, denn sie sind nur der Spiegel von uns selbst. Sie machen nach, was ihnen vorgelebt, nicht was ihnen vorgepredigt wird.

Die ganze Diskussion geht am eigentlich Wesentlichen -wie gewohnt- völlig vorbei und es wird sich solange nichts wirklich verändern, solange Diskussionen auf dem Niveau dieser Scheinheiligkeit geführt werden. Nach §§ schreien immer nur die Dummen...


Gruß
Joy


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Joy am Gestern, 00:20 Uhr
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on 04/25/06 um 23:02:37, Abrazo wrote:Hi, zusammen,

tja, ich bin versucht zu sagen, da kochen doch hier und da missionarische Gefühle hoch.

Es ist leider ein Irrtum zu glauben, das Grundgesetz habe Verbindlichkeit für das deutsche Individuum. Es bindet den Staat, nicht den Bürger. Das heißt, der Staat schreibt den Bürgern nicht vor, was sie zu glauben, zu meinen und zu denken haben.

Beweis: das Grundgesetz.

Art 1

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.


Das Deutsche Volk bekennt sich zu den Menschenrechten. Die könnte man vermitteln. Aber welches sind die? Denn, das gilt es zu bedenken, die Menschenrechte sind kulturunabhängig. Und außerdem handelt es sich auch hier um Rechte und nicht um Werte. Es wird angenommen, dass dahinter von allen Menschen erkannte Werte stecken. Aber welche?




Hallo Abrazo,

Du weisst aber auch, dass es sich bei all diesen §§ um pure Scheinheiligkeit handelt und dass Papier geduldig ist. Nicht "das Deutsche Volk" (was nur eine Abstraktion, aber keine Realität ist!) bekennt sich zu diesem oder jenen, sondern ein kleiner Zirkel hat dies ohne das Volk je zu fragen, einfach so in dessen Namen aufgeschrieben und zwar ohne es dabei überhaupt zu fragen, wozu es sich angeblich bekennt. Ein "Volk" kann sich zudem gar nicht bekennen - bekennen kann sich immer nur ein Mensch, ein geistiges Individuum!

Diese aufgeschriebenen Gesetze, was sind sie bitte anderes als "Vergewaltigungen"? Was ist Politik bitte anderes als Schaumschlägerei? Jedes Gericht urteilt -in welchen Belangen auch immer- "im Namen des Volkes", in Wirklichkeit aber nur in Anwendung von §§, zu deren Erlass das "Volk" niemals auch nur gefragt wurde. Hier herrscht Heuchelei pur und diese Herrschaftsstrukturen sollen nun nach Möglichkeit bereits dem kindlichen Geist -am liebsten ab Geburt- per Indoktrination gesetzlich verschrieben werden wie eine Pockenimpfung, nur um diese irr- und wahnsinnige Herrschaftsstruktur, ausgerichtet und orientiert am alleinigen Interesse des Mammon, möglichst langfristig abzusichern. Läge dies im Interesse des "Volkes", wie von einem kleinen Zirkel behauptet, bedürfte es doch gar keiner Zwangs-§§. Aber eben weil dies nicht der Fall ist, bedarf es eben der §§, welche stets gegen das Volk gerichtet sind... Das Individuum sieht doch im "Staat" nicht seinen Vertreter, sondern nur seinen Gegner, der es gnadenlos abschöpfen will und das auch noch angeblich in seinem eigenen Namen...

Und weil Du an anderer Stelle Dich auf Marx berufst, er schreibt: "Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit." Rein auf "die Welt" bezogen, die weltliche Realität, ist Marx einer der besten Philosophen überhaupt, da reicht ihm kaum einer das Wasser. Wer Marx's Schriften kennt, der kommt kaum daran vorbei, ihn fast schon als einen "Propheten" zu betrachten, denn was er über den Kapitalismus schreibt, über die "Fratze des Kapitalismus", das ist heutige Alltagsrealität in der kapitalistischen Welt, in der der Mammon alles gilt, der einzige Massstab überhaupt ist, der jede Menschlichkeit ignoriert und stets von der "Kostenfrage" aus die Welt betrachtet.

In diesen Belangen, welche dieses Threadthema angeht, stimme ich Dir sogar weitestgehend zu und bin mit Dir eins. Schaue ich aber "tiefer", dann divergieren wir völlig, denn Philosophie betrachtet oder sucht zumindest nach einer Betrachtung des GANZEN - während zumeist nur die "Hälfte", nämlich der materielle Aspekt des SEINS, als vermeintliches GANZES betrachtet wird und dann landet der menschliche "Geist" immer im Irrtum, denn er glaubt, dass -jetzt sinnbildlich gesprochen- die Vorderseite der Münze die GANZHEIT der Münze sei und blendet die Rückseite völlig aus. Und genau an dieser Ausblendung krankt sozusagen das, was wir sprachlich als "Welt" bezeichnen und eben deswegen wird das Leid nicht geringer, sondern nimmt permanent weiter zu. Wer davor die Augen verschliesst, der kann daher sehr wohl als "noch blind" bezeichnet werden... (Eberhard -an seinen Beiträgen hier im Forum betrachtet, zähle ich zu diesen (noch-)Blinden und meine das dabei kein bisschen wertend, denn das, was er wirklich-ist, das ist quasi schon immer sehend.)


Gruß
Joy


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am Gestern, 07:07 Uhr
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@abrazo

Mit den Menschenrechten meint das Grundgesetz die Allgemeinen Menschenrechte, die 1948 formuliert und zwischenzeitlich ergänzt wurden. Ich weiß, dass es auch Versuche von islamischer und buddhistischer Seite gab und gibt, eine Alternative zu diesen Menschenrechten zu erstellen. Hier in unser westlichen Kultur gelten aber erstgenannte Menschenrechte. Und die enthalten sehr wohl Werte, denn Rechte beschreiben stets irgendwelche Werte.

Abrazo schreibt zum Thema Ehrenmorde: "Für die kürzlich verhängten 9 Jahre Gefängnis hatte man in der Türkei kein Verständnis."

Hat man sehr wohl. Sicher nicht unter den westlich gebildeten Türken. Und auch nicht dann, wenn westliche Journalisten danach fragen. Aber unter den "Grauen Wölfen" in Berlin wird das ganz anders gesehen.

Abrazo schreibt weiter: "Grundsätzlich gilt: unser Staat verbietet sich qua Verfassung das Recht, Kinder zu seinen Werten hin zu erziehen."

Das ist falsch. Die Werte eines Staates sind in seinen Gesetzen verankert. Und der Staat verpflichtet seine Bürger zur Einhaltung und Achtung dieser Gesetze. Dies zu erreichen ist unter anderem ein Ziel des Ethikunterrichts.


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am Gestern, 10:32 Uhr
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Die Werte eines Staates sind in seinen Gesetzen verankert. Und der Staat verpflichtet seine Bürger zur Einhaltung und Achtung dieser Gesetze.

Welcher Wert ist hier verankert - und wieweit verpflichtet der Staat damit die Bürger?


Art 13 GG

(1) Die Wohnung ist unverletzlich.

(2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden.

(3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden.

(4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen.

(5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.

(6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle.

(7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.


Die Vorstellung davon, was im Grundgesetz steht könnte und das, was tatsächlich drin steht, ist durchaus verschieden. Ich empfehle, es mal zu lesen.

Z.B. auch, was darin zum Thema Erziehung steht:

Art 6 GG

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.


Folgt: es ist definitiv nicht das Recht des Staates.

Eingreifen darf der Staat nur dann, wenn die Kinder offenkundig Schaden nehmen. Und das muss selbstverständlich - so ist das bei Rechtsangelegenheiten - bewiesen werden.

Aber unter den "Grauen Wölfen" in Berlin wird das ganz anders gesehen.

Die Grauen Wölfe sind aber keine religiöse, sondern eine türkisch-nationalistische politische Gruppierung.

Und der Staat verpflichtet seine Bürger zur Einhaltung und Achtung dieser Gesetze. Dies zu erreichen ist unter anderem ein Ziel des Ethikunterrichts.

Da gibt es einen feinen, aber wichtigen Unterschied, der den pluralistische demokratischen Staat vom totalitären Staat trennt.

Ich verweise auf den Urheber christlich-abendländischen totalitären Denkens, Kirchenvater Augustinus. Weil das auch so schön zeigt, wie christlich das Denken etlicher angeblich vollkommen Säkularer tatsächlich geprägt ist.

Für Augustinus gab es einen göttlichen Schöpfungsplan, zu dessen Verwirklichung der Staat verpflichtet war: den Gottesstaat als Endziel der Geschichte, in dem sich staatliche Gewalt auflöst (ja, ja, auch Marx war insofern ein christlicher Denker). Der Staat (bzw. der Papst) hatte also entsprechend Einfluss auf die Entwicklung seiner Untertanen zu nehmen.

Der demokratische Staat kehrt sich davon ab. Er verfolgt nicht nur kein Ziel, das ist ihm sogar verboten. Denn die Entwicklung einer Gesellschaft wird einzig und allein von dieser Gesellschaft bestimmt, sie ergibt sich aus dem innergesellschaftlichen Diskurs. In diesem Diskurs haben alle, die sich beteiligen, das gleiche Gewicht. Auch Philosophen haben in ihm nur dann etwas zu melden, wenn sie mit ihren Argumenten überzeugen können.

Aufgabe des Staates ist es dafür zu sorgen, dass die Freiheit des gleichberechtigten Diskurses erhalten wird. Von daher sind seine Gesetze Spielregeln; ethische Positionen zu beziehen ist seine Sache nicht. Natürlich beziehen Parteien und Regierungen mehr oder minder ethische Positionen; die aber wurden gewählt bzw. bestehen aus Bürgern, die bestimmte ethische Positionen gemeinsam beziehen. Sofern diese Parteien die Regierung bilden, ist es ihr Recht, ihren ethischen Grundwerten gemäß zu entscheiden. Allerdings nur bis zu einer Grenze, die letztlich das Grundgesetz bestimmt und über deren Einhaltung das BVG wacht: der gleichberechtigte Diskurs darf von einer Regierung nicht beschränkt werden.

Und der Staat hat die Aufgabe auch darüber zu wachen, dass die Bürger sich im gleichberechtigten Diskurs nicht gegenseitig beschränken, dass sie also die demokratischen Spielregeln einhalten. Und kein Staatsmodell propagieren und zu verbreiten suchen, das den gleichberechtigten Diskurs abschaffen will.

Von daher sind alle an den Staat heran getragenen Wünsche, er möge seine Kinder in eine bestimmte Richtung erziehen, verfassungswidrig. Nicht verfassungswidrig ist selbstverständlich die Wissensvermittlung, also die Bildung - im Gegenteil, dafür zu sorgen ist staatliche Pflicht - und, was dazu gehört, die Vermittlung der hier geltenden Spielregeln. Eben deswegen sage ich: Recht und Staatsbürgerkunde. Was den pluralistischen, auch ethischen Diskurs ja eher fördert denn einschränkt. Man denke an Art. 2:


(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Wer will behaupten, dass die Präsentation und Diskussion über diesen GG-Artikel einer kritischen Betrachtung von Gewalt an Schulen und in der Freizeit nicht förderlich wäre?

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Eberhard am Gestern, 11:21 Uhr
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Hallo allerseits,

es geht um die Frage, ob die Einführung eines Fachs Ethik für alle Schüler mit dem Grundgesetz und der darin garantierten Glaubensfreiheit vereinbar ist.

Aus der Fragestellung ergibt sich zwangsläufig, dass die Rolle der Eltern bei der Vermittlung moralischer Einstellungen hier nicht im Mittelpunkt steht.

Aus der Fragestellung ergibt sich weiterhin, dass Positionen, wonach es sich bei den Bestimmungen unserer Verfassung um „pure Scheinheiligkeit“ handelt, die „stets gegen das Volk gerichtet sind“, nichts zur Beantwortung der hier gestellten Frage beitragen können.

Die Frage ist, ob die Thematisierung von Moral und Ethik im Schulunterricht zum verfassungsgemäßen Bildungsauftrag der Schulen gehört.

Dass unter nicht unerheblichen Teilen der Heranwachsenden ein Defizit an moralischen Einstellungen besteht, ist wohl unstrittig. Ich nenne hier nur den Vandalismus. So wurden In dem kleinen Park am Potsdamer Platz in Berlin immer wieder die Lampen zerschlagen. Schließlich hat das Gemeinwesen kapituliert und beschlossen, die zerstörten Lampen nicht mehr zu erneuern.

Der Einfluss der Religionsgemeinschaften auf die Gesinnung der Heranwachsenden reicht gegenwärtig offensichtlich nicht aus, um Vandalismus und Bandenkriminalität den Nährboden zu entziehen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Anteil der Bevölkerung entweder überhaupt keiner Religionsgemeinschaft angehört oder dort zu den „Karteileichen“ zählt, die höchstens 1 bis 2 Mal im Jahr zum Gottesdienst gehen.

(1970 besuchten von ca. 27 Millionen Katholiken der Bundesrepublik ca. 10 Millionen den sonntäglichen Gottesdienst. 1999 waren es noch ca. 4,5 Millionen. Dies ist ein Rückgang um mehr als die Hälfte.

Ca. ein Drittel der Bevölkerung gehört weder der katholischen noch der evangelischen Kirche an.

Quelle: Statistisches Bundesamt. Datenreport 2002.)

Es gibt also gute Gründe, die Vermittlung moralischer Einstellungen nicht nur den Religionsgemeinschaften zu überlassen.

Unsere Frage ist: Darf die Schule hier tätig werden?

Diese Frage wird verneint mit der folgenden Begründung:

1. Jeder Ethikunterricht ist notwendigerweise wertorientiert, weil es keine allgemein gültigen ethischen Prinzipien gibt.

2. Ein wertorientierter Unterricht kann nicht weltanschaulich neutral sein.

3. Deshalb bedeutet die Verpflichtung zur Teilnahme am Ethikunterricht die zwangsweise Vermittlung einer fremden Wertorientierung und Weltanschauung.

Diese Argumentation muss ernst genommen werden. Wenn man dieser Argumentation folgt, dann muss jeder Schüler das Recht haben, anstelle des allgemeinen Ethikunterrichts einen Ethikunterricht durch die je eigene weltanschauliche Richtung zu besuchen.

Meiner Ansicht nach muss jedoch der Ethikunterricht weltanschaulich nicht weniger neutral sein als z.B. der Deutschunterricht . Dort werden Werke wie „Emilia Galotti“ von Lessing, „Wilhelm Tell“ von Schiller, „Die Weber“ von Hauptmann, „Mutter Courage“ von Brecht oder „Die Physiker“ von Dürrenmatt behandelt. Dies sind alles keineswegs weltanschaulich neutrale Texte und auch die einzelnen Lehrer haben dazu ihre persönliche Meinung. Trotzdem wird die Behandlung solcher Texte im Rahmen des Deutschunterrichts nicht in Frage gestellt.

Besteht nicht in entsprechender Weise die Möglichkeit, sich für den Ethikunterricht auf weithin anerkannte Autoren und Texte zu einigen, die als Teil der Allgemeinbildung gelten können? Kann man diese Texte (natürlich nur nach altersgerechter didaktischer Bearbeitung) nicht gemeinsam lesen und erörtern, ohne dass hier eine weltanschauliche Richtung in Form einer staatlichen Moral vorgegeben wird?

Besteht mit einem Fach Ethik nicht auch die Möglichkeit, die ununterbrochen im schulischen Alltag auftauchenden moralischen Fragen zum Gegenstand des gemeinsamen Nachdenkens zu machen? (Abschreiben und Abschreiben lassen, Schummeleien bei Tests, Stören durch Zu-spät-Kommen oder private Unterhaltungen, Androhung und Einsatz von körperlicher Gewalt, Behandlung von Außenseitern, Angeben mit Klamotten oder Schuhen, Zivilcourage gegenüber Stärkeren und Hilfsbereitschaft gegenüber Schwächeren, Anschwärzen von Mitschülern, ethnische Vorurteile etc. etc.)

Grüße an alle Interessierten von Eberhard.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am Gestern, 12:11 Uhr
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Besteht nicht in entsprechender Weise die Möglichkeit, sich für den Ethikunterricht auf weithin anerkannte Autoren und Texte zu einigen, die als Teil der Allgemeinbildung gelten können? Kann man diese Texte (natürlich nur nach altersgerechter didaktischer Bearbeitung) nicht gemeinsam lesen und erörtern, ohne dass hier eine weltanschauliche Richtung in Form einer staatlichen Moral vorgegeben wird?

Das ist Wissensvermittlung, also Bildung, und damit kann es in unserem Staat keinerlei Probleme geben, wenn ich auch aus praktischen Gründen angesichts etlicher deutscher Rabauken und Rabauken aus Migrantenfamilien ausgewählte Grundgesetz- und Gesetzestexte (z.B. StGB, Telekommunikationsgesetz und Urheberrecht, StPO, ZPO, selbstverständlich aufbereitet, im Original sind die für Jugendliche unlesbar) Emilia Galotti vorziehen würde.

Das Problem in Berlin kann in den Ausdruck "werteorientierte Erziehung" gefasst werden. Das ist der Stein des Anstoßes.

Den Vergleich mit dem Philosophieunterricht (oder auch dem in Latein, der ja schon mit Klasse 5 beginnen kann) sollte man heran ziehen. Inwiefern ist ein solcher Unterricht werteorientiert? Er vermittelt Wissen, Weltbilder, Ansichten und Überzeugungen unterschiedlicher Leute aus unterschiedlichen Epochen. Schon in der 5. Klasse wird Lateinschülern vermittelt, wie der Römer dachte und welche Werte er hatte. Und lässt sie darüber diskutieren. Aber das Ziel ist eben nicht, Werte zu vermitteln. Was der Schüler davon hält, das zu entscheiden überlässt man ihm selbst. Erfahrungsgemäß beschleunigt gerade dieses Wissen um unterschiedliche Auffassungen und Entscheidungsmöglichkeiten die Reifung der Persönlichkeit ganz erheblich.

Hab ich's hier schon erwähnt? Ich selbst bin entschiedene Antipädagogin. Nach Lektüre eines Pädagogikbuches, in dem Bildung und Erziehung mit dem Bild des Sokrates im Kreise seiner Schüler (Bildung) und des Pestalozzi mit dem Kinde auf dem Arm (Erziehung) gezeichnet wurden mit der Absicht, man möge hinnehmen, dass beides gleich notwendig sei, kam ich zu dem Schluss, wo ein Sokrates sitzt, wird ein Pestalozzi nicht gebraucht. Damit bin ich auch bei Asi-Kindern stets hervorragend zurecht gekommen.

Zur kritischen Beleuchtung möglicher gesellschaftlicher Ursachen einer Forderung nach werteorientierter Erziehung versus Bildung möchte ich kurz aus einem Zeitungsartikel von Michael Hirz zitieren, Überschrift: Der Bürger im Aufwind.

Eine Spaltung der Gesellschaft wird als unabänderlich in Kauf genommen. Paul Nolte, der als Erster wieder freimütig von Unterschichten sprach, die zivilisiert werden müssten, sieht ein deutliches Auseinanderdriften der Gesellschaft: Einerseits eine größer werdende Unterschicht, die schon an praktischen Fragen wie richtiger Ernährung, Erziehung und angemessendem sozialem Verhalten scheitert. Und andererseits die Herausbildung einer neuen Bürgerlichkeit, die klassische Formen wie beispielsweise die Salonkultur und das gesellschaftliche Engagement wiederbelebt. ... Dieses Einverständnis mit sozialer Ungleichheit ist die Achillesferse der Propagandisten einer neuen Bürgerlichkeit.

Und nu nimm mal Pisa. Ist es ein Zufall, dass Jugendkriminalität mit Bildungsmängeln einhergehen? Kann es eine Lösung sein, die ungebildete Unterschicht staatlicherseits moralisch zu erziehen (was erfahrungsgemäß nicht klappt - weil bürgerliche Moral in der Regel doppelt ist, der Unterschicht aber immer nur eine Hälfte beigebracht wurde, was die alsbald immer merkte) und die Bildung schleifen zu lassen mit dem Argument, zu mühsam für die Lehrer, da die Schüler dazu eh keinen Bock hätten? Guckt da nicht durch die Hintertür das Bild vom braven christlichen Arbeitsmann herein, der sich seiner Inferiorität bewusst ist und deswegen tut, was die besseren Kreise im sagen?

Um mal die Strukturen herauszupolken, denen solche Forderungen auch entspringen könnten, die sich dann mit anderen Denkstrukturen und Interessen treffen.



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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am Gestern, 12:46 Uhr
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Die Beiträge werden immer länger, die Inhalte aber nicht überzeugender.

@Abrazo schreibt auf meine Aussage: "Die Werte eines Staates sind in seinen Gesetzen verankert. Und der Staat verpflichtet seine Bürger zur Einhaltung und Achtung dieser Gesetze."
Welcher Wert ist hier verankert - und wieweit verpflichtet der Staat damit die Bürger?

Ist das so schwer zu verstehen?
Wenn das Gesetz Mord mit einer hohen Freiheitsstrafe belegt, dann heißt das, dass unsere Gesellschaft dem Erhalt des individuellen Lebens einen sehr hohen Wert beimisst. Sie verpflichtet die Bürger, sich daran zu halten. Wenn nun ein Islamist darauf verweist, dass im Koran das Töten der Ungläubigen befohlen wird, dann mag er das zwar persönlich für richtig halten - Glaubensfreiheit - wenn er aber andere dazu aufruft, wird die Gesellschaft dieses sanktionieren, weil er damit gegen unsere Werteordnung verstößt.

Alles klar?

Die Begründung, eine Antipädagogin zu sein, ist für sich allein nicht überzeugend. Bereits bei Säugetieren und Vögeln ist es üblich, dass die Kinder von ihren Eltern lernen. Diese Methode hat sich bewährt.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Joy am Gestern, 14:00 Uhr
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on 04/26/06 um 12:46:44, Hanspeter wrote:Wenn das Gesetz Mord mit einer hohen Freiheitsstrafe belegt, dann heißt das, dass unsere Gesellschaft dem Erhalt des individuellen Lebens einen sehr hohen Wert beimisst. Sie verpflichtet die Bürger, sich daran zu halten. Wenn nun ein Islamist darauf verweist, dass im Koran das Töten der Ungläubigen befohlen wird, dann mag er das zwar persönlich für richtig halten - Glaubensfreiheit - wenn er aber andere dazu aufruft, wird die Gesellschaft dieses sanktionieren, weil er damit gegen unsere Werteordnung verstößt.




Wird ein religöser Text wie der Koran einer ist, aus säkulärer Sicht betrachtet, dann wird er zwangsläufig missverstanden und missinterpretiert. Den "Ungläubigen zu töten" bezieht sich nämlich nicht auf "andere Menschen", sondern auf das illusionäre eigene Ego "in sich selbst".


on 04/26/06 um 12:46:44, Hanspeter wrote:Die Begründung, eine Antipädagogin zu sein, ist für sich allein nicht überzeugend. Bereits bei Säugetieren und Vögeln ist es üblich, dass die Kinder von ihren Eltern lernen. Diese Methode hat sich bewährt.



Ich gehe ja sehr selten mit Abrazo's hier geäusserten Ansichten einig. Aber hier bin ich mit ihr eins - z.B. der Moral-Vermittlung, die nämlich immer eine "doppelte" ist. Im Gegensatz ist Dein hier genanntes Vergleichs-Beispiel bezogen auf Säugetiere und Vögel nämlich nicht doppelt. Hier "lernen" die Jungen, die Nachkommen ebenso durch das ihnen vorleben der "Alten". Abrazo's Darlegung bezüglich eines "Antipädagogismus" geht damit im Grunde konform, denn was sie diesbezüglich sagt, heisst doch nichts anderes als das, was Anatole France in dem einen Satz zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: "Wir können aufhören unsere Kinder zu erziehen, denn sie machen uns ohnehin alles nach." Die Psychologie z.B. erkennt dies in jenem Zusammenhang, dass Menschen, welche als Kinder selbst "Opfer" von häuslicher Gewalt wurden, dies als Erwachsene nur zu oft dann als "Täter" wiederholen, obwohl sie durchaus wissen, wie sie einst als Kind selbst unter der Gewalt gelitten haben.

Was hier allein notwendig ist, ist eine höhere Bewusstheit, und diese kann durch kein Gesetz oder Unterricht in der Welt herbeigeführt oder vermittelt werden, sondern ist einzig und allein Angelegenheit des Individuums selbst. Wer seine Kinder wirklich liebt - wird sie nicht zu irgendwas "erziehen", er lässt sie entsprechend ihren individuellen Anlagen "frei gedeihen" und lebt ihnen die Liebe damit selbst quasi aktiv vor.


Gruß
Joy


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am Gestern, 15:37 Uhr
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Was Du sagst, stimmt leider nicht, Hanspeter.

Nehmen wir nochmal Art. 2 GG:

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Was steht da?
Da steht klipp und klar, dass der Staat aufgrund eines Gesetzes in das Recht auf Leben eingreifen darf.

Gibt es dafür ein Beispiel? Oh ja. Nämlich das Luftsicherheitsgesetz.
Das auf der unter Juristen weit verbreiteten Auffassung basierte, dass das Recht auf Leben ein eingeschränktes Recht ist, kein absolutes, wie die Menschenwürde (die tatsächlich gar kein Recht ist).
Erst das BVG hat in diesem Jahr (!) diese Auffassung teilweise für verfassungswidrig erklärt, stark verkürzt gesagt mit dem Argument, dass die Menschenwürde voraussetzt, dass Mensch lebt.

Der einzige Wert im Grundgesetz ist die Menschenwürde. Alles andere sind weiter nichts als Rechte, die in erster Linie der Bürger dem Staat gegenüber hat und Pflichten, die der Staat der Gesellschaft und damit dem einzelnen Bürger gegenüber hat. Zu den Pflichten des Staates gehört, des Bürgers Recht auf Unversehrtheit zu schützen und bei Verletzung dagegen vorzugehen. Wer klagt in diesem Falle an - der Bürger, der Opfer eines Verbrechens geworden ist? Nein. Der Staatsanwalt.

Kein Gesetz darf im Widerspruch zum Wert Menschenwürde stehen. Hier liegt der Ansatzpunkt für eine neutrale ethische Diskussion, auch im Bildungsbereich: in welchem Zusammenhang stehen die Gesetze mit der Menschenwürde?

Ferner rate ich zu überlegen: was ist strafbar?
Klare Antwort: eine Handlung, auch die Planung einer Handlung.
Aber nur unter der Voraussetzung von § 1 StGB:

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Ohne Gesetz keine Strafe.

Es gibt kein Gesetz, das einen Glauben oder eine Gesinnung unter Strafe stellt. Folglich sind Glaube und Gesinnung nicht strafbar. Fundamentalistische Evangelikale glauben, dass Homosexualität eine verdammenswerte Sünde ist. Das dürfen sie. Sie dürfen auch darüber diskutieren. Strafbar machen sie sich erst dann, wenn aus diesem Glauben eine Tat folgt: z.B. Beleidigung und Volksverhetzung.

Folglich gilt:

Wenn nun ein Islamist darauf verweist, dass im Koran das Töten der Ungläubigen befohlen wird, dann mag er das zwar persönlich für richtig halten - Glaubensfreiheit - wenn er aber andere dazu aufruft, wird die Gesellschaft dieses sanktionieren, weil er damit gegen unsere Werteordnung verstößt.

Wird sie nicht. Sie wird ihn bestrafen wg Volksverhetzung, Anleitung zu Straftaten, Belohnung und Billigung von Straftaten oder wg einer Straftat, die er selbst begangen hat, aber nicht, weil der das Töten von Ungläubigen für richtig hält. Und nicht deswegen, weil er gegen unsere Werteordnung verstößt - das täte er bereits, wenn er das nur glaubt, ohne zu handeln - sondern deswegen, weil er ein Gesetz bricht. So nüchtern und prosaisch läuft das bei uns.

So, wie auch einer nicht bestraft wird, wenn er es für richtig hält, alle Tierversuchslabore mit Gewalt zu zerstören. Bestraft wird er erst dann, wenn er dazu aufruft oder plant, das selber zu tun, die Tat also vorbereitet.

Es besteht ein gravierender Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Handlungsfreiheit, den sehr viele nicht begriffen haben.

Einer darf seine Auffassung, Heroin solle zum Gebrauch freigegeben werden, ohne weiteres sagen und diskutieren. Aber aus dieser Meinungsfreiheit folgt nicht, dass er deswegen auch straffrei mit Heroin handeln darf.

Und im Übrigen - auch das ist eine Frage des Wissens, nämlich von objektiven Abgrenzungskriterien - ist noch lange nicht überall, wo Religion drauf steht, auch Religion drin (das koranische Tötungsgebot setzt nämlich den Verteidigungsfall voraus. Den sich Einer natürlich zusammenspinnen kann - was ich allerdings nicht mehr unter Religionsfreiheit setzen würde, da Fachleute, also islamische Theologen z.B., seine Argumente problemlos mit Berufung auf die gemeinsame Religion in den Klump hauen. So, wie nicht alles Kunst und Wissenschaft ist, was das von sich behauptet, um die schier absolute Freiheit von Kunst und Wissenschaft zu beanspruchen; normal lässt man das im Zweifelsfalle von Künstlern und Wissenschaftlern entscheiden). Ein kritisches Bewusstsein dafür entwickelt man mit Sicherheit nicht, wenn man alles, was auch nur im Entferntesten nach Religion riecht, in Bausch und Bogen ablehnt.

Ceterum censo: ich plädiere für Unterricht in Recht und Staatsbürgerkunde.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Eberhard am Gestern, 16:50 Uhr
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Hallo allerseits,

ich sehe eine gewisse Annäherung der Positionen. Ich stimme Abrazo zu, dass es nicht im Sinne des Grundgesetzes wäre, wenn die staatlichen Schulen eine bestimmte Moral als die allein richtige lehren und vermitteln würden.

Andererseits würde Abrazo offenbar ein Fach Ethik für verfassungskonform halten, wenn dort die Kenntnis und das Verständnis verschiedener ethischer Positionen – seien sie nun religiös oder anderweitig begründet – im Mittelpunkt steht.

Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Information über die Inhalte und Institutionen unserer Rechtsordnung sowie die Kenntnis und Begründung rechtsstaatlicher Prinzipien im Rahmen des Schulunterrichts zu kurz kommen.

Ein solcher Unterricht könnte die Anfälligkeit für den Fundamentalismus jeglicher Richtung verringern. Die Grundstruktur des fundamentalistischen Überzeugungstäters drückt sich in dem Satz aus „Wir dürfen das, weil wir Recht haben“, während der Kern rechtsstaatlichen Denkens in der Erkenntnis besteht, dass die Überzeugungen unterschiedlich sein können und dass deshalb nicht die Überzeugungen das letzte Wort haben dürfen, sondern die verfassungsmäßigen Verfahren der Normsetzung - sofern man den sozialen Frieden will und nicht den Konfessionskrieg,

meint Eberhard.


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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am Gestern, 17:52 Uhr
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Hi,

d'accord, bis auf das:

Die Grundstruktur des fundamentalistischen Überzeugungstäters drückt sich in dem Satz aus „Wir dürfen das, weil wir Recht haben“, während der Kern rechtsstaatlichen Denkens in der Erkenntnis besteht, dass die Überzeugungen unterschiedlich sein können und dass deshalb nicht die Überzeugungen das letzte Wort haben dürfen, sondern die verfassungsmäßigen Verfahren der Normsetzung - sofern man den sozialen Frieden will und nicht den Konfessionskrieg,

Die Grundstruktur des fundamentalistischen Überzeugungstäters drückt sich nicht in dem Satz aus "wir dürfen das, weil wir Recht haben." Diesen Satz kann ich auch problemlos jemandem entgegenhalten, der mich im Hundefreilauf auffordert, meinen Hund an die Leine zu nehmen: ich darf das, weil ich Recht habe.

Die Frage ist, wovon dieses Recht abgeleitet wird.
Ich leite mein Recht davon ab, dass diese Fläche als Hundefreilauf ausgewiesen ist.

Der Fundamentalist leitet sein Recht davon ab, dass er für das Gute kämpft.

Welchen Weg schlägt nun der ein, der eine staatliche werteorientierte Erziehung verlangt? Ist ein Wert nicht immer das, was man als das Gute ansieht? Wird nicht das, was diesem Wert widerspricht, als das Böse angesehen, das eben kein Recht mehr hat?

Ist nicht eine staatliche werteorientierte Erziehung der erste Schritt zum Krieg? Nicht geplant und wohl noch nicht einmal bewusst, führt auch keineswegs notwendigerweise zu diesem Ergebnis - und dennoch eine Gefahr?

Tatsachenwissen, Akzeptanz der Pluralität und Freiheit des Diskurses, wer den inneren und äußeren Frieden will, muss diese verteidigen.

Und, nicht zuletzt mit dem Argument, dass wir uns alle irren können, die Spielregeln. Vorläufig. Solange wir nämlich nicht mehr Sätze gefunden haben, über die wir uns einigermaßen einig sind, wie den von der Unantastbarkeit der Menschenwürde (wobei manch Tierschützer selbst den zur Disposition stellt [hairstand])

(Wobei das Tatsachenwissen in seinem Wert nicht unterschätzt werden darf: das fehlt Fundamentalisten erfahrungsgemäß.)

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Hanspeter am Gestern, 22:27 Uhr
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Eberhard schreibt: "Ich stimme Abrazo zu, dass es nicht im Sinne des Grundgesetzes wäre, wenn die staatlichen Schulen eine bestimmte Moral als die allein richtige lehren und vermitteln würden."

Das halte ich für falsch.
Moral ist die Bewertung einer menschlichen Handlung. Sie fragt, was ist "gut", was ist "böse". Und diese Bewertung manifestiert sich in den Gesetzen. Auch wenn es keinen Zweifel über die Relativität von Moralen gibt, muss eine gegebene Gesellschaft sich für eine bestimmte Moral entscheiden und diese per Staatsgewalt durchsetzen.
Sie kann nicht sagen, wir halten uns an die Menschenrechte, aber wenn jemand der Meinung ist, die Scharja ist gottgegeben und daher alleingültig, dann mag er das so sehen. Eine Gesellschaft, die ihre eigenen Gesetze (und damit die dahinterstehende Moral) relativiert, ist dem Untergang geweiht.
Das schließt natürlich nicht eine Diskussion auch über geltende Gesetze aus. Aber solange die Diskussion nicht zu einer Gesetzesänderung geführt hat, sind die geltenden Gesetze verbindlich.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Eberhard am Heute, 10:37 Uhr
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Hallo allerseits,

hallo Abrazo,

mit dem fundamentalistischen Überzeugungstäter, der nach dem Motto handelt, „Ich darf das, weil ich recht habe“, ist nicht der Hundehalter gemeint, der auf geltendes Recht („Dies ist ein Hundeauslaufgebiet“) verweist, sondern der Überzeugungstäter, der davon überzeugt ist, dass das, was er tut, inhaltlich richtig ist, gleichgültig was die Rechtsordnung bestimmt.

Du ziehst dann eine Parallele zwischen dem Überzeugungstäter und demjenigen, der eine werteorientierte staatliche Erziehung verlangt, insofern als beide das Gute verwirklichen wollen. Du fragst: „Ist nicht eine staatliche werteorientierte Erziehung der erste Schritt zum Krieg?“

Hier kann ich Dir nicht folgen. Ich kann mir eine Politik oder Erziehung, die nicht an Werten orientiert ist, nicht vorstellen. Dass ich bestimmte Werte verfolge, impliziert nicht die Ansicht, dass diejenigen, die andere Werte verfolgen, dazu kein Recht hätten.

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Abrazo am Heute, 10:43 Uhr
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Moral ist die Bewertung einer menschlichen Handlung. Sie fragt, was ist "gut", was ist "böse". Und diese Bewertung manifestiert sich in den Gesetzen.

Ist es moralisch, seine Schulden nicht bezahlen zu müssen? Die meisten werden sagen: nein. Interessiert aber nicht, wenn es um die Verjährung geht. Wenn einer aus 2002 50.000 ? Mietschulden hat und die Klage geht am 2. Januar 2006 ein, dann kann der Schuldner die Einrede der Verjährung machen mit dem Ergebnis, dass niemand ihn rechtmäßig dazu zwingen kann, seine Schulden zu bezahlen. Recht hat nichts zu tun mit Moral. Da geht es um die gesellschaftlichen Spielregeln, sonst nichts.

muss eine gegebene Gesellschaft sich für eine bestimmte Moral entscheiden und diese per Staatsgewalt durchsetzen.


Ein nicht geringer Teil unserer Gesetze stammt aus dem 19. Jahrhundert und leiten sich aus Römerzeiten ab. Seither sind Preussentum, Wilhelminische Zeit, Revolution und Weimarer Republik, Nazizeit, Nachkriegsrestauration und 1968 vorbei gegangen. Paragrafen wurden gestrichen (z.B. Zechbetrug), andere eingefügt, paar wurden geändert, doch im Wesentlichen sind sie gleich geblieben. Wo verkörpern unsere Gesetze die Moral?

(Wenn von Scharia die Rede ist, sollte man übrigens auch nicht übersehen, dass es allein in der Sunna 4 verschiedene Rechtsschulen gibt mit unterschiedlichen Gesetzen, dazu noch die Schia. Und dass das Hauptproblem gerade in der Liberalität besteht, die zur Folge hat, dass regionaler Brauch und Sitte in den jeweils gültigen Rechtskanon aufgenommen wurden. Und darin, dass jeder dahergelaufene Möchtegern-Heiliger ein Rechtsgutachten erstellen und dafür werben kann, weil er meint das entspräche der - ja wem denn wohl? Natürlich, der islamischen Moral! Was meinst Du denn, warum anerkannte islamische Theologen zur Zeit an einer Fatwa arbeiten, nach der nur anerkannte, akademisch ausgebildete Theologen Rechtsgutachten erstellen dürfen?)

Sie kann nicht sagen, wir halten uns an die Menschenrechte, aber wenn jemand der Meinung ist, die Scharja ist gottgegeben und daher alleingültig, dann mag er das so sehen.

Doch, genau das sagt unsere Gesellschaft.

Und sie verbietet auch niemandem, nach der Scharia (bzw. dem, was er dafür hält) zu leben.

Solange er in seinem Tun (!) nicht die Spielregeln unserer Gesellschaft verletzt. Wenn er das tut, kann er sich nicht auf seinen Glauben berufen, dann gibt's einen übergebraten.

Ein Brite kann problemlos glauben, die einzig gute, richtige und anständige Weise, Auto zu fahren, sei der Linksverkehr. Sobald er diesen Glauben aber in Deutschland auf der Straße umsetzen will, wird er aus dem Verkehr gezogen und kriegt Fahrverbot - denn bei uns gilt nun mal der Rechtsverkehr.

Was die Gültigkeit unserer Gesetze betrifft, da haben wir also überhaupt kein Problem miteinander.

Problem ist, dass leider etliche aus Unkenntnis Gesetze immer mit Moral in einen Topf rühren und dann natürlich meinen, ihre persönliche, subjektive Moral sei der Maßstab dafür, wie ein Gesetz ausgelegt werden muss, und das ist schlicht und einfach falsch. Die Rechtswissenschaft - jede, auch die islamische - trachtet vielmehr danach, genau diese Subjektivität wenn irgend möglich zu vermeiden und statt dessen objektive Kriterien in der Rechtssprechung anzuwenden.

Und weil dies im Grundgesetz so für Recht erklärt ist und es den Staat verpflichtet, dieses Recht auch einzuhalten, haben sich auch die staatlichen Schulen danach zu richten.

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Titel: Re: Fach Ethik: Eingriff in die Religionsfreiheit?
Beitrag von Eberhard am Heute, 11:25 Uhr
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Hallo allerseits, hallo Hanspeter,

Du schreibst: < Moral ist die Bewertung einer menschlichen Handlung. Sie fragt, was ist "gut", was ist "böse". Und diese Bewertung manifestiert sich in den Gesetzen. Auch wenn es keinen Zweifel über die Relativität von Moralen gibt, muss eine gegebene Gesellschaft sich für eine bestimmte Moral entscheiden und diese per Staatsgewalt durchsetzen. >

Hier geht es um die wichtige aber nicht gerade einfache Frage des Verhältnisses zwischen Recht und Moral.

Ich stimme dir darin zu, dass Recht etwas mit Moral zu tun hat und dass keine Rechtsordnung ohne Moral auskommt.

Was wäre eine Rechtsordnung ohne die moralische Überzeugung der Bürger, dass die Gesetze zu befolgen sind? Die Furcht vor der Strafverfolgung durch Polizei und Gerichte als ausreichendes Motiv der Gesetzestreue ist darauf keine Antwort, denn wenn die Polizisten und die Richter keine Amtsmoral haben und sich nicht an ihre Amtspflichten halten, wer soll dann diese sanktionieren?

Es ist zwar richtig, dass die Verbindlichkeit einer Rechtsnorm nicht direkt von ihrer inhaltlichen Richtigkeit abhängt sondern von ihrem verfassungsmäßigen Zustandekommen, aber das Recht ist von der „Gerechtigkeit“ nicht völlig abgekoppelt.

Dies wird schon daran deutlich, dass Gesetze im demokratischen Rechtsstaat ja nicht nur erlassen werden, sondern dass sie vor der Beschlussfassung ausführlich und öffentlich beraten werden müssen und damit immer eine Begründung besitzen.

Außerdem bedürfen auch die Bestimmungen der Verfassung selber der inhaltlichen Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung kann nur darin liegen, dass die betreffenden Verfahren der Normsetzung diejenigen sind, die am ehesten inhaltliche richtige, „gerechte“ Gesetze hervorbringen.

Trotzdem bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der inhaltlichen Richtigkeit („Gerechtigkeit“) der Rechtsnormen und dem Ziel der friedlichen und geordneten sozialen Kooperation („Rechtssicherheit“) durch verbindliche Verfahren der Normsetzung.

Als Demokrat beuge ich mich dem Mehrheitswillen, auch wenn ich der Ansicht bin, dass meine - in der Minderheit gebliebene - Ansicht die richtige ist.

Die von Dir angenommene Deckungsgleichheit zwischen Moral und Recht lässt sich meines Erachtens nicht durchhalten. Aus der Tatsache, dass in einer Gesellschaft ein bestimmtes Handeln unter Strafe gestellt ist, folgerst Du, dass damit dies Handeln auch moralisch negativ bewertet werden muss.

Dies ist nicht unbedingt der Fall. Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass das Recht aufgrund seiner Bindung an verkündete Gesetze eine verfahrensmäßige Schwerfälligkeit besitzt, die sich nicht für alle Bereiche der Normgebung eignet. Vieles ist aus diesem und aus anderen Gründen nicht „justiziabel“, obwohl es ohne weiteres moralisch bewertet werden kann.

So muss das Recht mit relativ allgemeinen Beschreibungen von Tat, Täter, Situation etc. arbeiten und kann dadurch nicht jedem Einzelfall gerecht werden. Andernfalls wären die Gesetzestexte viel zu umfangreich und unübersichtlich.

In der Straßenverkehrsordnung steht z.B., dass ein Autofahrer bei rotem Ampellicht halten muss. Es steht jedoch nicht darin, dass man das Ampellicht nicht beachten muss, wenn man nachts um halb vier vor einer Ampel steht, die durch einen technischen Defekt nicht mehr auf „Grün“ schaltet, und wenn weit und breit kein anderer Verkehrsteilnehmer zu erblicken ist.

Aus dem Umstand, dass ein bestimmtes Handeln - z.B. außerehelicher Sex - rechtlich nicht verboten ist, kann man ebenfalls nicht folgern, dass dies Handeln auch moralisch nicht verboten sondern erlaubt ist.

Ich habe aus diesem Grund Probleme mit der von Dir vorgeschlagenen Ableitung einer staatlichen Wertordnung und Moral aus den geltenden Rechtsnormen.

Es grüßt Dich und alle Interessierte Eberhard.

p.s.: Ich möchte an dieser Stelle einmal meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass sich die Umgangsformen und der Diskussionsstil in den Philtalk-Diskussionen gegenüber früher erheblich verbessert haben – was auch der inhaltlichen Qualität zugute kommt. Achten wir darauf, dass es so bleibt!


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