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Kritik an den Positionen der Ethik-Werkstatt

Hier ist Platz für Ihre kritischen Gegenargumente und Fragen zur Ethik-Werkstatt
Einfach eine E-Mail schreiben an: wesche_eberhard@yahoo.de    (wesche_eberhard@yahoo.de)



29.10.07

"Hallo Eberhard,
 wenn ich Dich richtig verstanden habe, so vertrittst Du utilitaristische Positionen, wenn vielleicht auch anders begründet als sonst üblich. Deshalb treffen die Argumente von Rawls gegen den Utilitarismus wohl auch deinen Ansatz. Im Wikipedia-Artikel "A Theory of Justice" habe ich die folgende Auflistung der Kritikpunkte gefunden, die ich ziemlich überzeugend finde. Was ist Deine Meinung dazu? Gruß Hannes."

1.) Für Rawls impliziert der Utilitarismus eine unabsehbare Folgensequenz, die von keinem rational handelnden Individuum übersehen werden kann. Er meint damit, dass ein Nutzenmaximierer alle weiteren sich aus der Handlung ergebenden Folgehandlungen berücksichtigen muss. Dies kann ihm wegen der Beschränktheit seines Wissen nicht gelingen. Menschen können nicht über ein vollständiges Konsequenzenwissen verfügen, folglich auch nicht alle Folgen in ihren Entscheidungen berücksichtigen und somit auch nicht in der Lage sein, den Gesamtnutzen einer Gesellschaft zu maximieren.

2.) Eine Beurteilung des Nutzens einer Handlung kann nur aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit folgen. Nun gibt es aber kein Gesetz, das besagt, dass ein einmal stattgefundenes Ereignis in der Zukunft immer wieder die gleichen Folgen mit sich bringt wie in der Vergangenheit.

3.) Die Maximierung des Nutzens kann nur aus der Perspektive der gegenwärtig entscheidenden Personen erfolgen. Damit werden aber auch deren gegenwärtigen Interessenslagen verabsolutiert und in alle Zukunft fortgeschrieben.

4.) Individuelle Interessen sind allenfalls ordinal, nicht aber kardinal messbar.

5.) Für Rawls birgt der Utilitarismus keine Gerechtigkeitserwägungen, da er auf Nutzenmaximierung abstellt und Gerechtigkeitserwägungen nicht explizit formuliert. Ebenso sieht Rawls in diesem Konzept eine Gleichgültigkeit gegen Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit.

6.) Rawls hält die Vorteile eines Individuums nicht mit den Nachteilen eines anderen verrechenbar.

7.) Rawls hält den Utilitarismus für indifferent zwischen den Interessen Einzelner. Als Beispiel vergleicht er den Tierquäler mit dem Sozialarbeiter, dessen beider Beschäftigungen ihnen ein gleiches Maß an Befriedigung bringen. Er sieht nun im Utilitarismus keine Möglichkeit gegeben, zwischen beiden Handlungen zu entscheiden, wenn sie zur Wahl stünden.

8.) Letztes Argument ist für ihn die Degradierung des menschlichen Individuums als reines "Glücksbehältnis".

***



04.11.07

Hallo Hannes,

vorweg meinen Dank für Deinen Beitrag. Es scheint hier eine gewisse Schwellenangst beim aktiven Betreten der Ethik-Werkstatt zu geben. Wahrscheinlich gibt es auch Befürchtungen, dass ich meinen "Heimvorteil" als Herausgeber der Ethik-Werkstatt ausnutze und die Kritik in meinem Interesse kontrolliere. Ich hoffe, dass sich diese Befürchtungen bald als unbegründet erweisen werden.

Zur Kritik. Ich lehne mich dabei an Deine Aufzählung an.

1. Gegen das Prinzip der Maximierung des allgemeinen Nutzens bzw. Interesses wird eingewandt, dass es nicht durchführbar sei, weil kein Mensch alle Konsequenzen seines Handelns bis in die fernste Zukunft erkennen und noch dazu bewerten könne.

Es ist zwar richtig, dass unser Wissen über die Konsequenzen unseres Handelns beschränkt ist, doch hindert uns dies keineswegs daran, das vorhandene Wissen - und sei es auch nur die Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten - unserem Handeln zugrunde zu legen. Wir tun dies ständig bei unseren Alltagsentscheidungen, etwa bei der Einteilung des Geldes, das uns zur Verfügung steht. Wir handeln dabei nach bestem Wissen, nicht nach vollkommenem Wissen.

Eine derart grundsätzliche Ablehnung des Prinzips der Folgenberücksichtigung, wie sie Rawls in dem Wikipedia-Artikel zugeschrieben wird (leider ohne Textbeleg), würde das gesamte Gebäude seiner Theorie zum Einsturz bringen, denn für die Entscheidung in der Ausgangsposition ("Urzustand") nimmt Rawls rationale Individuen an, also solche, die ihre Zwecke mit geeigneten Mitteln verfolgen. Ob ein Mittel für einen bestimmten Zweck geeignet ist, ist aber eine Frage nach den Folgen seiner Anwendung. Insofern ist diese Kritik ein Eigentor.

2. Entsprechendes trifft auf Kritikpunkt 2 zu. Wenn es keinen Grund dafür gibt, dass die bisherigen empirischen Regelmäßigkeiten weiterbestehen werden, dann dürfte ich noch nicht einmal ein Messer nehmen, um mir eine Scheibe Brot abzuschneiden. Von rationaler Entscheidung kann dann keine Rede mehr sein.

3. Wieso können die Bewertungen im Utilitarismus nur nach den Interessen der heute Lebenden vorgenommen werden? Die Bedürfnisse kommender Generationen (z. B. in Bezug auf die Rodung der Wälder, die Erosion der Böden, die Erwärmung der Atmosphäre, die Erzeugung hochgiftiger Abfälle oder die Zerstörung der Ozonschicht) sind uns doch mit hinreichender Sicherheit bekannt. Deshalb können (und sollten) diese Bedürfnisse bei der Bestimmung dessen, was im allgemeinen Interesse liegt, auch berücksichtigt werden.

4. Diesen Kritikpunkt (Unmöglichkeit einer Bestimmung von Nutzeneinheiten) fasse ich zusammen mit Kritikpunkt 6 (Unmöglichkeit einer Abwägung von Interessen verschiedener Personen).

Diese Problematik, die meist unter der Überschrift "Möglichkeit einer interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung" abgehandelt wird, ist in der Tat noch nicht befriedigend gelöst. Für die Möglichkeit eines interpersonalen Nutzenvergleichs kann man jedoch gute Argumente anführen.

Festzustellen ist vorweg, dass Rawls' Theorie bei der Bestimmung der vergleichsweise am schlechtesten gestellten sozialen Gruppe das Nutzenniveau einer sozialen Gruppe g1 in der Gesellschaftsordnung x mit dem Nutzenniveau einer sozialen Gruppe g2 in der Gesellschaftsordnung y vergleichen muss. Damit setzt Rawls selber einen ordinalen (rangmäßigen) interpersonalen Nutzenvergleich voraus.

Wenn es uns nicht möglich wäre, das Wohlergehen verschiedener Individuen oder Gruppen zu vergleichen, und wir die Frage nicht beantworten könnten, wem es besser geht, dann hätten Sätze wie die folgenden keinen Sinn: "Man soll Menschen in unverschuldeter Not helfen!" oder "Von dem Erdbeben wurden die Einwohner der Stadt A am stärksten getroffen" oder "Die Hauptlast bei der Sanierung der Staatsfinanzen tragen die ärmeren sozialen Schichten".

Man kann m. E. darüber hinaus die Vorteile, die eine bestimmte Entscheidung für einen selbst mit sich bringt, auch größenmäßig mit den Nachteilen vergleichen, die eine andere Person durch diese Entscheidung erleidet. Dazu muss man sich in den andern hineinversetzen und den Größenvergleich der Vor- und Nachteile auch aus seiner Sicht machen. Leider gibt es dazu kaum empirische Untersuchungen der Sozialpsychologie, doch ich bin relativ optimistisch, dass dabei keine völlig verschiedenen Größenbestimmungen herauskommen werden.

Außerdem ist bei den Nutzenmessungen keinerlei Perfektionismus erforderlich. Die quantitativen Nutzenbestimmungen müssen nur genau genug sein, um die anstehende Entscheidung fällen zu können.

5. Am Utilitarismus wird bemängelt, dass er keine Gerechtigkeit kenne. In der Tat spielt dieser Begriff im Utilitarismus keine herausragende Rolle. Allerdings ist der Begriff hochgradig unbestimmt und oft scheint mit der Bezeichnung einer Entscheidung als "gerecht" nicht mehr gemeint zu sein, als dass der Sprecher sie für "gerechtfertigt" hält.

Für den Utilitarismus ist Gerechtigkeit im Sinne von "Gleichbehandlung der Individuen" und "Gleichberücksichtigung der Interessen der Individuen" spätestens seit Sidgwick ein fest verankertes Prinzip. Nicht zufällig war es ein Utilitarist (R.M. Hare), der die Universalisierbarkeit ethischer Sätze als erster analysierte. Und bereits Bentham betonte, dass bei der Bestimmung des allgemeinen Interesses jedes Individuum als eines zählte, nicht weniger und nicht mehr. Deshalb waren Utilitaristen wie William Godwin und seine Frau Mary Wollstonecraft Vorkämpfer des allgemeinen gleichen Wahlrechts, als von deutschen Philosophen noch kaum etwas in dieser Richtung zu hören war.

7. Bemängelt wird, dass der Utilitarismus alle Wünsche bzw. Interessen ohne Unterschied berücksichtigt. Das Beispiel (Tierquäler und Sozialarbeiter) wird den Utilitaristen allerdings nicht gerecht, denn für sie ist Schmerz - auch der von Tieren - das in allererster Linie zu Vermeidende. Tierquälerei ist damit unbedingt schlecht. Im Kampf gegen die Tierversuche standen wiederum Utilitaristen an vorderster Front.

Man müsste dazu noch mehr sagen (Benthams provokante These: "Kegeln ist genauso gut wie Gedichte verfassen", "Pushpin is as good as poetry"), aber ich will hier erstmal einen Schnitt machen.

    Grüße an alle Nachdenklichen, E.W.

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15.11.07

Hallo Eberhard,

meiner Ansicht nach ist die "Konsenstheorie der Wahrheit", wie Du sie im Anschluss an Habermas, Apel und Lorenzen vertrittst, durch die Kritik von Ernst Tugendhat (nachzulesen in dem Reclam-Bändchen "Probleme der Ethik" Seite 109 - 121) inzwischen längst erledigt.

Für Habermas ist der durch zwangfreie Argumentation herstellbare Konsens das Kriterium des Begründetseins einer Aussage.

Zumindest für empirische Aussagen ist das Begründungskriterium in den Verifikationsregeln enthalten, die ihre Bedeutung ausmachen. Dass verschiedene Personen, wenn sie so einen Satz begründen, zu einer Übereinstimmung kommen, beruht einfach darauf, dass sie alle dieselben Begründungsregeln anwenden.

Wenn die Übereinstimmung sich auf Argumente gründet, bilden eben die Argumente die Grundlage für das Begründetsein der empirischen Aussage und nicht der Konsens. Die Konsenstheorie als eine allgemeine Begründungstheorie ist deshalb unannehmbar.

Linguist.

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19.11.07

Hallo Linguist,

danke für Deinen Beitrag und den Hinweis auf den von mir wegen seiner nüchternen und selbstkritischen Art zu philosophieren sehr geschätzten Ernst Tugendhat.

Dessen Kritik an der "Konsenstheorie der Wahrheit" kann ich jedoch nicht teilen. Meiner Meinung nach behält der Konsens als anzustrebendes Ziel jeder Argumentation seine zentrale Bedeutung. Dies zeigt sich m. E. auch an Deiner eigenen Argumentation. Wenn Du z. B. schreibst, dass die Konsenstheorie als allgemeine Begründungstheorie "unannehmbar" ist, dann heißt das doch, dass Du ihr nicht zustimmen kannst und dass Du sie nicht für allgemein konsensfähig hältst. Du benutzt hier offenbar selber das Kriterium eines möglichen allgemeinen Konsenses.

Nun zu dem Argument, dass für empirische Aussagen das Begründungskriterium in den Verifikationsregeln enthalten ist, die die Bedeutung dieser Aussagen ausmachen, und dass bei der Wahrheitsfindung der Konsens als Kriterium keine aktive Rolle spielt.

Um die Sache anschaulicher zu machen, will ich die Frage an einem Beispiel diskutieren.

Angenommen ist geht um den empirischen Satz: "Gestern haben 2 Männer die Bankfiliale in der Urbanstraße überfallen".

Dieser Satz sei zwischen den Personen A und B strittig. Während A den obigen Satz für richtig hält, ist B der Meinung, dass es sich bei dem einen Bankräuber um eine Frau gehandelt habe. Die Bedeutung der Worte "Mann" und "Frau" ist für A und B dieselbe. So ist z. B. für A wie für B ein entwickelter Busen ein weibliches Geschlechtsmerkmal und eine tiefe Stimme ein männliches Geschlechtsmerkmal usw. Hier haben A und B keinerlei Differenzen.

Wenn A behauptet: "Es waren zwei Männer" und B behauptet: "Es war ein Mann und eine Frau", dann kann nur einer von beiden recht haben. Um zu entscheiden, welcher der beiden Sätze wahr ist, kommt es auf die jeweiligen Begründungen an, d.h. auf die Argumente, die für oder gegen die Behauptungen sprechen.

Hier gibt es nun starke und schwache Argumente je nachdem, wie weit ein Argument intersubjektiv nachvollziehbar und übernehmbar ist.

Wenn A sagt: "Ich habe es den beiden in ihrem ganzen Verhalten angesehen, dass es sich um Männer handelt" und wenn es sich bei A um einen Passanten handelt, der aus etwa 50 Meter Entfernung sah, wie die beiden Räuber aus der Bank kamen, so handelt es sich wohl eher um ein schwaches, nicht übernehmbares, also nicht konsensfähiges Argument.

Wenn B ein Bankkunde ist, der zum Zeitpunkt des Überfalls gerade abgefertigt wurde und B sagt: "Ich stand nahe bei dem einen Bankräuber und konnte sein Parfüm riechen", so ist dies eher ein starkes, übernehmbares, also konsensfähiges Argument.

Zur empirischen Wahrheitsfindung ist nicht nur die semantische Klärung der Bedeutungen notwendig sondern auch die haltbare Interpretation von Sinneseindrücken und die theoretische Erklärung von "Indizien".

Bei allen genannten Aspekten kommt es vor allem auf die dauerhafte intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Übernehmbarkeit der Behauptungen und der Argumente an, also auf deren allgemeine Konsensfähigkeit,

meint E.

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21.11.07

Hallo Eberhard,

in der Ethik-Werkstatt wird nach dem alten Rezept verfahren, angeblich unangreifbare theoretische Fundamente zu bestimmen und daraus dann alles Weitere abzuleiten. Ein solches Fundament, eine solche letzte Begründung kann es jedoch nicht geben, wie schon eine einfache Überlegung zeigt. Wenn ich logisch argumentiere, und das verlangst Du doch ???, kann ich immer nur von Prämissen ausgehen, aus denen ich meine Schlüsse ziehe. Aber woher weiß ich, dass die Prämissen stimmen? Doch wieder nur aus andern Prämissen, usw. usf. 

Das Suchen nach einer sicheren Begründung der eigenen Theorie sollte man deshalb ganz aufgeben und es durch das Prinzip der kritischen Prüfung ersetzen, so wie es z. B. Hans Albert und andere kritische Rationalisten fordern.

Meiner Ansicht nach ist der in der Ethik-Werkstatt praktizierte Stil des Denkens auch aus anderen Gründen bedenklich, wenn nicht gefährlich, zumindest wenn es um die soziale Ordnung mit ihren Institutionen und die Handlungsregeln der Einzelnen geht.

Wenn Du meinst, die richtige soziale Ordnung und die richtigen Normen für das Handeln der Individuen "wissenschaftlich" bestimmen zu können, dann folgt daraus doch, wenn Du konsequent bist, dass diese richtige Ordnung auch realisiert werden sollte. Oder willst Du diese Schlussfolgerung nicht ziehen?

Aber das heißt doch: die bestehenden Verfassungsorgane und Entscheidungsträger werden damit überflüssig und es bedarf nur noch der Theorie, um zu bestimmen, was richtig ist.

Wer die moralisch-rechtlichen Fragen analog zu den empirisch-wissenschaftlichen Fragen lösen will, der kommt früher oder später zu totalitären politischen Schlussfolgerungen,
um die von ihm angeblich wissenschaftlich gewonnenen Wahrheiten praktisch umzusetzen.

Ich zitiere hier mal Albert, da man das Problem kaum besser formulieren kann, als er es in seinem Aufsatz "Aufklärung und Steuerung" getan hat. Albert schreibt dort: "Versuche, einen gesellschaftlichen Konsens durch ideologische Konstruktion eines für alle akzeptablen Gemeinwohls quasi-theoretisch vorwegzunehmen sowie einen entsprechenden Gemeinwillen zu konstruieren und ihn dem Gesellschaftskörper als Ganzem zuzuschreiben, können heute als hoffnungslos kompromittiert angesehen werden." Dem kann ich mich nur anschließen.

Deshalb kann ich nur dringend raten, von solchen philosophischen Theorien Abstand zu nehmen.  Gruß  Dieter.

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24.11.07

Hallo Dieter,

fangen wir mit Frage an, ob man eine Theorie begründen sollte bzw. ob man das überhaupt kann.

Ich erhebe in der Tat den unbescheidenen Anspruch, dass die hier vertretene Theorie auf einem soliden und tragfähigem Fundament ruht - wenn ich einmal eine Metapher aus dem Hausbau verwenden darf.


Gedankenschritt 1

Meiner Ansicht nach gibt es für alle Erkenntnis einen stabilen Bezugspunkt. Das ist das, was wir anstreben, wenn wir Erkenntnis suchen, wenn wir auf unsere Fragen nach Antworten suchen.

Uns ist ja nicht mit irgendwelchen Antworten gedient, sondern wir brauchen Antworten, die "richtig" sind. Mit "Richtigkeit" ist hier gemeint, dass möglichst alle sie möglichst dauerhaft beibehalten sollen. Eine Antwort, die heute richtig ist, soll auch morgen richtig sein (intertemporale Geltung) und eine Antwort, die für mich richtig ist, soll auch für jeden andern richtig sein (intersubjektive Geltung).

Warum ist dies ein tragfähiger Ausgangspunkt aller Erkenntnis?

Weil derjenige, dem es gar nicht um intersubjektiv und intertemporal geltende, d.h. allgemein geltende  Antworten geht, als Argumentationspartner ausscheidet. Denn es ist für ihn kein Problem, dass für mich eine Antwort die richtige ist, die für ihn die falsche ist. Und es macht dann auch keinen Sinn, den eigenen Zweifeln nachzugehen, wenn es unproblematisch ist, dass eine Antwort jetzt richtig ist, die im nächsten Moment falsch sein wird.

Also:
Wer nicht nach Antworten mit allgemeiner Geltung sucht, der kann keine Behauptungen oder Gegenbehauptungen aufstellen. Denn wenn diese für andere von Bedeutung sein sollen, müssen sie mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung versehen sein.

Gedankenschritt 2

Wenn wir uns um die richtigen Antworten auf unsere Fragen bemühen, dann suchen wir nach Antworten, deren allgemeiner Geltungsanspruch nicht nur behauptet sondern auch allgemein einsichtig begründet werden kann. Dies unterscheidet rationale bzw. wissenschaftliche Behauptungen von dogmatischen Behauptungen.

Der allgemeine Geltungsanspruch rationaler Behauptungen wird eingelöst durch Argumente, die der andere nachvollziehen und übernehmen kann. Diese kann man als "Begründungen" bezeichnen.

Behauptungen, die Geltung beanspruchen, ohne diesen Anspruch argumentativ einlösen zu wollen, kann man als "dogmatische Behauptungen" bezeichnen.

Wer nur dogmatische Behauptungen aufstellen will und sich nicht auf das Streben nach allgemein einsichtigen Antworten festlegen lässt, der schließt sich damit selber als Argumentationspartner aus.

Wenn der skizzierte Gedankengang richtig ist, dann muss sich jeder, der an einer erkenntnisorientierten Argumentation teilnehmen will, auf das Ziel allgemein geltender und allgemein einsichtiger Antworten festlegen lassen.

Wem es aber gar nicht um Antworten mit allgemeiner Geltung geht oder wer für seine dogmatischen Antworten nur Glauben fordert, der mag dies tun, aber seine Äußerungen sind für die Bestimmung der richtigen Antworten irrelevant.  

Damit ist eine tragfähige gemeinsame Grundlage für das weitere Vorgehen geschaffen.

So viel für heute. Auf Deine anderen Punkte gehe ich noch ein. Alle die zu dem Vorgetragenen Einwände oder Fragen haben, sollten sich einen Ruck geben und eine E-Mail schicken, bittet  E.W.

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25.11.07

Hallo Dieter,

nun zu Deinen Befürchtungen hinsichtlich diktatorischer Konsequenzen einer wissenschaftlichen Sozialethik.

Diese Gefahr sehe ich auch, ich bin jedoch der Ansicht, dass dies nicht auf die von mir vertretene Position zutrifft. Kritischer Gesichtspunkt für die Richtigkeit einer Norm als Antwort auf eine moralische Frage ist meiner Ansicht nach,
ob alle gemeinsam wollen können, dass diese moralische Norm faktisch gilt. Jeder muss sich fragen: Könnte ich die Norm auch dann wollen, wenn ich zugleich in der Lage der andern wäre?

Im Mittelpunkt der Diskussion darüber wird die Gewichtung und das Abwägen der Interessen aller Betroffenen stehen.

Die stattfindende Argumentation kann jedoch aus mehreren Gründen kein definitives Ergebnis garantieren. So wie auch in den Erfahrungswissenschaften können mehrere Positionen vertretbar bleiben. Man kann den Philosophen also nicht zum König machen.

Aus dieser Situation heraus ergibt sich die Notwendigkeit von Verfahren der rechtlich-politischen Normsetzung wie z. B. Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip oder die Verträge von Eigentümern etc.

Soweit - etwas holzschnittartig - meine Entgegnung auf den Totalitarismus-Verdacht.  E.W.

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05.12.07

Hi!
ich muss mich auch mal zu Wort melden, weil mir so einiges an der Ideologie der Ethik-Werkstatt völlig unausgegoren zu sein scheint. Das Gerede vom "Konsens" dreht sich doch nur im Kreise. Was soll denn das für ein "Kriterium" sein!? Du sagst: "Man kann für eine Behauptung nur dann den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, wenn darüber ein allgemeiner Konsens möglich ist". Das ist doch im höchsten Grade schwammig und vage. Wer genau gehört denn zu denen, die zustimmen müssen? Die Antwort "alle" führt keinen Schritt weiter: Wer sind denn "alle" ? Gehören dazu auch zukünftige Generationen? Wenn ja, dann verrate mir bitte mal, wie sie das bewerkstelligen sollen! Wenn Du entgegnest, dass es ja nicht um einen faktischen Konsens gehe sondern um dessen Möglichkeit, so wird das Ganze für mich völlig nebulös. Wie willst Du denn diese Möglichkeit feststellen? Ich will Dir Deine Illusionen nicht nehmen, aber überzeugt hat mich das, was ich auf dieser Website gelesen habe, herzlich wenig. Gruß Delfin. 

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07.12.07

Hallo Delfin,

wenn Dich die Argumente der Ethik-Werkstatt schon nicht überzeugt haben, so haben sie doch hoffentlich Dein kritisches Denken angeregt und es war keine völlig verlorene Zeit für Dich.

Nun zu Deiner recht herb ausgefallenen Kritik. Du fragst, wer denn zu denen zählt, deren Zustimmung möglich sein muss, was also mit dem Ausdruck "allgemeiner Konsens" gemeint ist.

Die Antwort auf Deine Frage ergibt sich aus der Konstruktion der Theorie.

Jemand kann - ohne in sich widersprüchlich zu sein – sagen: "Ich strebe keinen Konsens an". Er kann das machen, aber nur mit der Konsequenz, dass er jeglichen Anspruch, in irgendeiner Weise "recht zu haben", verliert. Denn der Anspruch auf Allgemeingültigkeit (Wahrheit, Richtigkeit) in Bezug auf eine Behauptung – insofern als er sich von dem Anspruch auf Glauben und Gehorsam unterscheidet – setzt intersubjektive Einsichtigkeit der Begründung voraus.

Entsprechend könnte jemand auch sagen: "Ich strebe nur den Konsens innerhalb meines Staates (meiner Gemeinschaft, meiner Familie etc.) an." Er kann das zwar tun, aber nur mit der Konsequenz, dass er gegenüber den dadurch Ausgeschlossenen jeglichen Anspruch, in irgendeiner Weise ihnen gegenüber "recht zu haben", verzichten muss.

Sein soziales Verhältnis gegenüber jenen, auf deren Konsens es ihm nicht ankommt, hat er damit als ein (potentielles) Gewalt- bzw. Feindverhältnis gekennzeichnet.

Unter den Bedingungen einer Globalisierung der physischen Folgewirkungen und der wirtschaftlichen Abhängigkeiten kommen als von unseren Entscheidungen und Handlungen Betroffene nur alle Menschen in Frage: Der CO2-Ausstoß in den USA wirkt sich auf alle Länder der Erde aus – und umgekehrt.

Das ist ein Argument dafür, die Argumentation über politische Normen und Entscheidungen an einem universalen Konsens zu orientieren. (Das schließt nicht aus, dass die normsetzenden Institutionen föderalistisch strukturiert sind und je nach dem Grad der gemeinsamen Betroffenheit soziale Einheiten bilden, die sich in vielem selbst verwalten.)

Die Berücksichtigung von Interessen zukünftiger Generationen sowie die Berücksichtigung von Bedürfnissen der Tiere  und Pflanzen kann nur über eine "fürsorgliche" Herrschaft erfolgen. Diese Herrschaft mag noch so fürsorglich sein – es bleibt ein Herrschaftsverhältnis gegenüber all jenen, deren Zustimmung nicht nötig ist, weil sie nicht für sich selber sprechen können.

Soviel erstmal für heute von E.W. Auf den möglichen Konsens als Kriterium komme ich noch zurück.

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08.12.07

Hallo Delphin,

nun zu Deiner Kritik am "möglichen Konsens" als Kriterium der Allgemeingültigkeit von Behauptungen. Meine These lautet zugespitzt: Wenn eine Behauptung für jemanden gültig (wahr, richtig) sein soll, dann muss dieser die Behauptung auch einsehen können. Andernfalls ist ein Anspruch auf Gültigkeit nicht von einem Anspruch auf Glauben unterscheidbar.

Wie ist das bei empirischen (faktischen, positiven) Behauptungen über die Beschaffenheit der Welt? Nehmen wir als ein möglichst einfaches Beispiel die Behauptung: "Vor dem Hauptbahnhof in Hannover steht (heute am 10.12.2007) ein Reiterstandbild." Die Gültigkeit einer solchen Behauptung lässt sich auf verschiedenste Weise begründen. Letztlich kann jemand von der Richtigkeit dieser Behauptung durch den Hinweis überzeugt werden: "Geh doch hin und überzeuge dich mit Deinen eigenen Augen von der Richtigkeit der Behauptung." Die übereinstimmende Wahrnehmung verschiedener Subjekte ist offensichtlich das konsensstiftende Element bei positiven Behauptungen.

Bei theoretischen Aussagen, die regelmäßige Zusammenhänge bezüglich bestimmter Phänomen behaupten, sind es die aus der Theorie ableitbaren Vorhersagen, deren übereinstimmende Wahrnehmung eine Bestätigung oder Falsifikation der Theorie ermöglichen. So ließ sich aus der Einsteinschen Theorie ableiten, dass Lichtstrahlen durch die Massenanziehung gebogen werden. Dies konnte an der scheinbaren Verschiebung von Sternen nachgewiesen werden, deren Lichtstrahlen dicht an der Sonne vorbeigingen und dadurch gebogen wurden.

Es kommt dabei nicht auf die faktische Zustimmung aller Adressaten der Theorie an. So ist es irrelevant, wenn manche Personen die Behauptung und die Begründung aus Mangel an Intelligenz nicht verstehen, oder wenn nationalsozialistische Professoren und Vertreter einer "Deutschen Physik" das Experiment mit der Ablenkung des Sternenlichtes ignorieren und totschweigen, weil Einstein jüdischer Abstammung war. Auch die Blindheit mancher Menschen ist kein Argument gegen die Theorie. Sie bleibt trotzdem allgemein konsensfähig.

Entscheidend ist, dass die fehlende Zustimmung durch ein Individuum nicht der Behauptung angelastet werden kann. Ähnlich wird ein Satz ja nicht dadurch unverständlich, dass ein Schwerhöriger ihn akustisch nicht wahrnehmen kann.
Entscheidend ist, dass unter idealen Bedingungen von Seiten der Adressaten diese tatsächlich zustimmen.

Ich gebe zu, dass hier noch viele Fragen offen sind und vieles noch der Präzisierung bedarf. Ich halte jedoch die Möglichkeit eines allgemeinen Konsens für ein brauchbares Konzept, wenn es um die Wahrheit oder Richtigkeit von Behauptungen geht.  Grüße an alle Interessierten E.W.

p.s.: Wo bleiben die Leute vom Fach mit ihrer Kritik? Oder ist das Internet als Medium nicht standesgemäß?

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27.12.07

Hallo Eberhard,

ich habe eine grundsätzliche Kritik an dem Ansatz der Ethik-Werkstatt. Du beanspruchst dafür eine universale Gültigkeit. Wenn man jedoch genauer hinsieht, so gehst Du von Voraussetzungen aus, die allein der europäischen Tradition entstammen.

Zu nennen ist der extreme Individualismus, der sich daran zeigt, dass es beim Konsens auf einzelne Individuen ankommen soll.

Es gibt aber Gesellschaften, in denen der einzelne Mensch z. B. nur als Mitglied einer Familie existieren kann und dementsprechend auch nur als Familienmitglied zählt und zu berücksichtigen ist.

Auch die prinzipielle Gleichwertigkeit der Individuen ist in vielen Kulturen nicht gegeben. Ich denke da etwa an Kastensysteme. Warum sollte das, was ein Häuptling oder Brahmane entscheidet, gleiches Gewicht haben wie das, was ein einfaches Stammesmitglied oder ein Paria will?

Das ganze Konzept riecht mir ziemlich stark nach Eurozentrismus.   

MfG Johanna.

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28.12.2007

Hallo Johanna,

Dein grundsätzlicher Einwand stellt in der Tat das ganze Projekt in Frage. Werden hier nicht spezifisch europäische kulturelle Inhalte unzulässigerweise den ganz anders gearteten außereuropäischen Kulturen übergestülpt?

Dies scheint unausweichlich, aber es sollte zu denken geben, dass die ebenfalls spezifisch europäische Naturwissenschaft und Technik von den außereuropäischen Kulturen übernommen werden konnte. Der Grund hierfür liegt in dem Wahrheitskriterium der Naturwissenschaften. Intersubjektive Beobachtbarkeit und technische Machbarkeit sind Kriterien, die gerade nicht durch die Voraussetzung einer bestimmten regionalen Autorität beschränkt werden.

In ähnlicher Weise verstehe ich die in der Ethik-Werkstatt vertretene konsenstheoretische Begründung moralischer und rechtlicher Normen als universal anwendbar. Die Grundbegriffe wie Individuum, Kollektiv, Konflikt, Konsens, Interesse, Frage, Antwort, Norm, Bewertung etc. sind allgemein verständlich und schließen keine Kultur von vornherein aus.

Dass auf dem Raumschiff Erde die Menschen zunehmend enger zusammen leben und immer stärker vom Handeln der Anderen betroffen werden, ist für alle Menschen erfahrbar. Dass es bei dieser wirtschaftlichen, militärischen und umweltpolitischen Globalisierung immer wieder zu Konflikten kommt, die entweder eher durch Anwendung von Macht oder aber eher einvernehmlich gelöst werden können, wissen Menschen aller heutigen Kulturen und ist nichts spezifisch Europäisches.

Angesichts dieser globalen Situation wird nun von allen am Konflikt Beteiligten gefordert, sich um Lösungen in Form von normativen Regelungen zu bemühen, die für alle Beteiligten akzeptabel sind (d. h. die von allen bejaht werden können bzw, die gegenüber allen Beteiligten durch nachvollziehbare und übernehmbare Argumente begründet werden können).

Ich denke, dass dies Vorgehen, bei dem auf die Fragen, die aus den Problemen des Zusammenlebens erwachsen, nach gemeinsame Antworten gesucht wird, allgemein verständlich ist.

Es kann auch jeder Mensch verstehen - gleichgültig in welcher kulturellen Tradition er steht - was es bedeutet, wenn ein Individuum oder ein Kollektiv sich nicht auf das Bemühen um gemeinsame Antworten auf die normativen Fragen festlegen lässt. Wer den Konsens nicht suchen will, behält sich vor, seine eigenen Interessen auch gegen die Interessen der anderen zu verfolgen, was in letzter Konsequenz Streit, Kampf und Krieg bedeutet.

Gegenüber den tradierten Religionen und Weltanschauungen, die alle eine Glaubensentscheidung und die Anerkennung einer Autorität voraussetzen, um wirksam zu werden, handelt es sich hier um eine universal anwendbare Methode. Dass diese Methode in der europäischen Denktradition entstanden ist, tut dem keinen Abbruch, so wie die Technik universal anwendbar ist, obwohl sie der europäischen Denktradition entstammt. E.W.

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02.05.2011

"Hallo Eberhard,

 ich will Deiner Einladung zur Kritik Folge leisten und beziehe mich auf das Motto der Ethik-Werkstatt und die Erläuterung zu Beginn der Startseite. ("Was für mich wahr und gültig sein soll, das muss von mir auch eingesehen werden können.")

Meines Erachtens machst Du es Dir etwas zu leicht. Du willst die Grundlage für eine ethisch-normative Theorie schaffen, die jeder akzeptieren muss. Stattdessen definierst Du einfach, was Deiner Ansicht nach "Wissenschaft" ist und schmeißt dann alles raus, was nicht unter diese Definition fällt. So kann man keine für alle zu akzeptierende methodische Grundlage einer normativen Ethik schaffen. Im Gegenteil, mit solcher Art subjektiver Definitionsstrategie wird eine offene fruchtbare Diskussion eher verhindert.
 Gruß Hannes."

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04.05.2011

Hallo Hannes,

Wenn Deine Kritik zutreffen würde, dann wäre das für meine gesamten Überlegungen in der Tat fatal. Ich gebe zu, dass man mich in der von Dir geschilderten Weise (miss)verstehen kann. Wenn die ganze theoretische Konstruktion an einer Definition hängen würde, die wie alle Definitionen erstmal nur eine Sache der geeigneten sprachlichen Konvention ist, dann könnte ich wirklich einpacken. Ich hoffe jedoch, dass ich für Dich und jeden Anderen nachvollziehbar begründen kann, warum die Definition von 'Wissenschaft', die ich verwende, gerade nícht beliebig ist und dass der Gedanke, der dahinter steht, nicht aufgegeben werden kann, ohne dabei das ganze Unternehmen 'normative Ethik', um das es ja hier geht, sinnlos zu machen.

Wenn es nur darum ginge, irgendwelche allgemein geltende Normen zu bestimmen und die Befolgung dieser Normen mittels Sanktionen bei den Adressaten dieser Normen durchzusetzen, dann wäre es nicht nötig, dass sich zahlreiche kluge Leute über Jahre hinweg damit befassen und nach einer Lösung zu suchen. Ich könnte dann z. B. ohne viel Umstände den Islam und dessen Moral zur allgemein geltenden Lehre erklären und die zugehörigen Bestrafungen einführen. Ich könnte dies auch begründen, indem ich auf die Schriften und die Worte Mohammeds, den Propheten Allahs verweise.

Warum genügt das uns nicht?

Unter anderem genügt uns das deshalb nicht, weil man dasselbe mit dem Christentum machen könnte. Wir hätten dann allerdings zwei unterschiedliche moralische Ordnungen mit unterschiedlichen Begründungen. Wir hätten einen moralischen Dissens, der sich zumindest auf dieser gedanklichen Ebene nicht beseitigen ließe. Damit wäre der Keim für künftige Religionskriege gelegt.

Wenn man das nicht will, dann muss man etwas tiefer in das Problem einsteigen. Dann darf man nicht nur die allgemeine Geltung einer moralischen Ordnung anstreben, sondern diese Moral sollte auch in einer allgemein verständlichen und nachvollziehbaren Weise begründet bzw. gerechtfertigt sein. Ich habe eine Position, die diesen Kriterien entspricht, als "Wissenschaft" bezeichnet. Damit sind logischerweise  Lehren, die diese Kriterien nicht akzeptieren, als "nicht wissenschaftlich" ausgegrenzt. Aber die Bezeichnung ist hier nicht das Entscheidende. Ich könnte statt "Wissenschaft" auch "rationales Denken" sagen. Entscheidend ist der Unterschied in der Sache. Entscheidend ist, dass es für eine Diskussion einen wichtigen Unterschied macht, ob man z. B. seine Position mit Koranzitaten begründen darf oder nicht. Dieser Unterschied in der Sache rechtfertigt meines Erachtens eine Abgrenzung zwischen beiden Arten von Diskussion. Damit keine Missverständnisse entstehen: Trotzdem kann man natürlich über alles andere weiter miteinander reden.
    Es grüßt Dich E.

***

 

14.12.2012


Guten Tag Eberhard Wesche,

wenn ich Ihr Bemühen richtig verstehe, so geht es Ihnen um die Regeln und Normen. die das Zusammenleben der Menschen bestimmen. Ich bin wie sie der Ansicht, dass dies eine wichtige Sache ist. Ich glaube allerdings nicht, dass man die richtige Lösung dadurch findet, dass man die Sache bis zur völligen Übereinstimmung aller ausdiskutiert. Das ist doch wohl mit "Konsens" gemeint, oder? Wie man an vielen Foren im Internet sehen kann, sind die Diskussionen dort oft wenig produktiv und manchmal reine Zeitverschwendung. Wenn wir unsere gesellschaftliche Ordnung nach dem gestalten wollten, was bei solchen Foren herauskommt, dann "Gute Nacht!".

Mit freundlichen Grüßen
Anonymus.

***

 

16.12.2012

Guten Tag Anonymus,

die von Ihnen vorgebrachte Kritik an einer am Konsens orientierten Konzeption von Erkenntnis, Wissenschaft und Wahrheit ist weit verbreitet. Ich will deshalb etwas ausführlicher darauf eingehen. Da es verschiedene Varianten des konsenstheoretischen Ansatzes gibt, kann ich hier natürlich nur für mich sprechen.

Richtig an der Kritik ist die Feststellung, dass die argumentative Auseinandersetzung, der Diskurs, häufig kein definitives Ergebnis hervorbringt. Das heißt, dass mehrere moralische Positionen vertretbar bleiben und damit ein inhaltlicher Dissens fortbesteht. Dies gilt übrigens sowohl für den moralischen Diskurs wie für den erfahrungswissenschaftlichen Diskurs. Wenn die Individuen von unterschiedlichen Annahmen hinsichtlich der Beschaffenheit der Welt ausgehen, kommt es zu unterschiedlichen normativen Überzeugungen.

Selbst dann, wenn es bereits zu einer Übereinstimmung aller Beteiligten gekommen ist, kann der Diskurs aufgrund neuer Argumente wieder aufgenommen werden. Mit dem Fortschritt der Erfahrungswissenschaften können sich neue Handlungsalternativen eröffnen, die bei der Entscheidung bisher nicht berücksichtigt wurden.

Der "Streit der Gelehrten" wird nicht selten selbst dann noch weitergeführt, wenn die strittige Entscheidung bereits Geschichte ist.

Damit stellt sich die Frage, was angesichts eines nicht aufgelösten Dissens zu tun ist.

Eine mögliche Konsequenz bestünde darin, die Individuen in ihren Überzeugungen freizustellen und sie so handeln zu lassen, wie sie selber es für das Beste halten. Hier lässt sich relativ einfach demonstrieren, dass ein solches Vorgehen keineswegs zu allgemein akzeptablen Ergebnissen führt. Da die Handlungen der Einzelnen nicht koordiniert sind und keine Kooperation stattfinden kann, sind die Ergebnisse für die Gesellschaftsmitglieder katastrophal. Solche "Gesellschaften" sind genaugenommen gar keine und haben keinen Bestand. Erst durch verbindliche und auch überwiegend befolgte Regelungen, die beinhalten, wie die Einzelnen handeln sollen oder handeln dürfen, kann eine Gesellschaft die kaum zu unterschätzenden Vorteile koordinierten Handelns und organisierter Zusammenarbeit verfügbar machen.

Damit bildet sich neben der Ebene der moralischen Normen, auf der inhaltlich und konsensorientiert argumentiert wird, eine zweite Ebene der gesetzten Normen, auf der institutionell und verfahrensbezogen argumentiert wird. Beide Ebenen stehen zueinander in einem komplizierten Spannungsverhältnis, das nicht durch die Eliminierung einer Ebene beseitigt werden darf.
Hier will ich erstmal abschließen. Mit freundlichen Grüßen, E.

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