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Kritik an den Positionen der Ethik-Werkstatt
Hier ist Platz für Ihre kritischen Gegenargumente und Fragen zur Ethik-Werkstatt
Einfach eine E-Mail schreiben an:
wesche_eberhard@yahoo.de (wesche_eberhard@yahoo.de)
29.10.07 *** 04.11.07 ***
"Hallo Eberhard,
wenn ich Dich richtig verstanden habe, so vertrittst Du
utilitaristische Positionen, wenn vielleicht auch anders begründet als sonst
üblich. Deshalb treffen die Argumente von Rawls gegen den Utilitarismus wohl
auch deinen Ansatz. Im Wikipedia-Artikel "A Theory of Justice" habe ich die
folgende Auflistung der Kritikpunkte gefunden, die ich ziemlich überzeugend
finde. Was ist Deine Meinung dazu? Gruß Hannes."
1.) Für Rawls impliziert der Utilitarismus eine unabsehbare Folgensequenz, die
von keinem rational handelnden Individuum übersehen werden kann. Er meint damit,
dass ein Nutzenmaximierer alle weiteren sich aus der Handlung ergebenden
Folgehandlungen berücksichtigen muss. Dies kann ihm wegen der Beschränktheit
seines Wissen nicht gelingen. Menschen können nicht über ein vollständiges
Konsequenzenwissen verfügen, folglich auch nicht alle Folgen in ihren
Entscheidungen berücksichtigen und somit auch nicht in der Lage sein, den
Gesamtnutzen einer Gesellschaft zu maximieren.
2.) Eine Beurteilung des Nutzens einer Handlung kann nur aufgrund der
Erfahrungen der Vergangenheit folgen. Nun gibt es aber kein Gesetz, das besagt,
dass ein einmal stattgefundenes Ereignis in der Zukunft immer wieder die
gleichen Folgen mit sich bringt wie in der Vergangenheit.
3.) Die Maximierung des Nutzens kann nur aus der Perspektive der gegenwärtig
entscheidenden Personen erfolgen. Damit werden aber auch deren gegenwärtigen
Interessenslagen verabsolutiert und in alle Zukunft fortgeschrieben.
4.) Individuelle Interessen sind allenfalls ordinal, nicht aber kardinal
messbar.
5.) Für Rawls birgt der Utilitarismus keine Gerechtigkeitserwägungen, da er auf
Nutzenmaximierung abstellt und Gerechtigkeitserwägungen nicht explizit
formuliert. Ebenso sieht Rawls in diesem Konzept eine Gleichgültigkeit gegen
Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit.
6.) Rawls hält die Vorteile eines Individuums nicht mit den Nachteilen eines
anderen verrechenbar.
7.) Rawls hält den Utilitarismus für indifferent zwischen den Interessen
Einzelner. Als Beispiel vergleicht er den Tierquäler mit dem Sozialarbeiter,
dessen beider Beschäftigungen ihnen ein gleiches Maß an Befriedigung bringen. Er
sieht nun im Utilitarismus keine Möglichkeit gegeben, zwischen beiden Handlungen
zu entscheiden, wenn sie zur Wahl stünden.
8.) Letztes Argument ist für ihn die Degradierung des menschlichen Individuums
als reines "Glücksbehältnis".
Hallo Hannes,
vorweg meinen Dank für Deinen Beitrag. Es scheint hier eine gewisse
Schwellenangst beim aktiven Betreten der Ethik-Werkstatt zu geben.
Wahrscheinlich gibt es auch Befürchtungen, dass ich meinen "Heimvorteil" als
Herausgeber der Ethik-Werkstatt ausnutze und die Kritik in meinem Interesse
kontrolliere. Ich hoffe, dass sich diese Befürchtungen bald als unbegründet
erweisen werden.
Zur Kritik. Ich lehne mich dabei an Deine Aufzählung an.
1. Gegen das Prinzip der Maximierung des allgemeinen Nutzens
bzw. Interesses wird eingewandt, dass es nicht durchführbar sei, weil kein
Mensch alle Konsequenzen seines Handelns bis in die fernste Zukunft erkennen und
noch dazu bewerten könne.
Es ist zwar richtig, dass unser Wissen über die Konsequenzen unseres Handelns
beschränkt ist, doch hindert uns dies keineswegs daran, das vorhandene Wissen -
und sei es auch nur die Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten - unserem Handeln
zugrunde zu legen. Wir tun dies ständig bei unseren Alltagsentscheidungen, etwa
bei der Einteilung des Geldes, das uns zur Verfügung steht. Wir handeln dabei
nach bestem Wissen, nicht nach vollkommenem Wissen.
Eine derart grundsätzliche Ablehnung des Prinzips der Folgenberücksichtigung,
wie sie Rawls in dem Wikipedia-Artikel zugeschrieben wird (leider ohne
Textbeleg), würde das gesamte Gebäude seiner Theorie zum Einsturz bringen, denn
für die Entscheidung in der Ausgangsposition ("Urzustand") nimmt Rawls
rationale Individuen an, also solche, die ihre Zwecke mit geeigneten Mitteln
verfolgen. Ob ein Mittel für einen bestimmten Zweck geeignet ist, ist aber eine
Frage nach den Folgen seiner Anwendung. Insofern ist diese Kritik ein Eigentor.
2. Entsprechendes trifft auf Kritikpunkt 2 zu. Wenn es keinen Grund dafür gibt,
dass die bisherigen empirischen Regelmäßigkeiten weiterbestehen werden, dann
dürfte ich noch nicht einmal ein Messer nehmen, um mir eine Scheibe Brot
abzuschneiden. Von rationaler Entscheidung kann dann keine Rede mehr sein.
3. Wieso können die Bewertungen im Utilitarismus nur nach den Interessen der
heute Lebenden vorgenommen werden? Die Bedürfnisse kommender Generationen (z. B.
in Bezug auf die Rodung der Wälder, die Erosion der Böden, die Erwärmung der
Atmosphäre, die Erzeugung hochgiftiger Abfälle oder die Zerstörung der
Ozonschicht) sind uns doch mit hinreichender Sicherheit bekannt. Deshalb können (und
sollten) diese Bedürfnisse bei der Bestimmung dessen, was im allgemeinen
Interesse liegt, auch berücksichtigt werden.
4. Diesen Kritikpunkt (Unmöglichkeit einer Bestimmung von
Nutzeneinheiten) fasse ich zusammen mit Kritikpunkt 6 (Unmöglichkeit einer Abwägung von
Interessen verschiedener Personen).
Diese Problematik, die meist unter der Überschrift "Möglichkeit einer
interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung" abgehandelt wird, ist in der Tat
noch nicht befriedigend gelöst. Für die Möglichkeit eines interpersonalen
Nutzenvergleichs kann man jedoch gute Argumente anführen.
Festzustellen ist vorweg, dass Rawls' Theorie bei der Bestimmung der
vergleichsweise am schlechtesten gestellten sozialen Gruppe das Nutzenniveau
einer sozialen Gruppe g1 in der Gesellschaftsordnung x mit dem Nutzenniveau
einer sozialen Gruppe g2 in der Gesellschaftsordnung y vergleichen muss. Damit
setzt Rawls selber einen ordinalen (rangmäßigen) interpersonalen Nutzenvergleich
voraus.
Wenn es uns nicht möglich wäre, das Wohlergehen verschiedener Individuen oder
Gruppen zu vergleichen, und wir die Frage nicht beantworten könnten, wem es
besser geht, dann hätten Sätze wie die folgenden keinen Sinn: "Man soll Menschen
in unverschuldeter Not helfen!" oder "Von dem Erdbeben wurden die Einwohner der
Stadt A am stärksten getroffen" oder "Die Hauptlast bei der Sanierung der
Staatsfinanzen tragen die ärmeren sozialen Schichten".
Man kann m. E. darüber hinaus die Vorteile, die eine bestimmte Entscheidung für
einen selbst mit sich bringt, auch größenmäßig mit den Nachteilen vergleichen, die
eine andere Person durch diese Entscheidung erleidet. Dazu muss man sich in
den andern hineinversetzen und den Größenvergleich der Vor- und Nachteile auch aus seiner Sicht machen.
Leider gibt es dazu kaum empirische Untersuchungen der Sozialpsychologie, doch
ich bin relativ optimistisch, dass dabei keine völlig verschiedenen
Größenbestimmungen herauskommen werden.
Außerdem ist bei den Nutzenmessungen keinerlei Perfektionismus erforderlich. Die
quantitativen Nutzenbestimmungen müssen nur genau genug sein, um die anstehende
Entscheidung fällen zu können.
5. Am Utilitarismus wird bemängelt, dass er keine Gerechtigkeit kenne. In der
Tat spielt dieser Begriff im Utilitarismus keine herausragende Rolle. Allerdings
ist der Begriff hochgradig unbestimmt und oft scheint mit der Bezeichnung einer
Entscheidung als "gerecht" nicht mehr gemeint zu sein, als dass der Sprecher sie
für "gerechtfertigt" hält.
Für den Utilitarismus ist Gerechtigkeit im Sinne von "Gleichbehandlung der
Individuen" und "Gleichberücksichtigung der Interessen der Individuen"
spätestens seit Sidgwick ein fest verankertes Prinzip. Nicht zufällig war es ein
Utilitarist (R.M. Hare), der die Universalisierbarkeit ethischer Sätze als
erster analysierte. Und bereits Bentham betonte, dass bei der Bestimmung des
allgemeinen Interesses jedes Individuum als eines zählte, nicht weniger und
nicht mehr. Deshalb waren Utilitaristen wie William Godwin und seine Frau
Mary Wollstonecraft Vorkämpfer des allgemeinen gleichen Wahlrechts, als von
deutschen Philosophen noch kaum etwas in dieser Richtung zu hören war.
7. Bemängelt wird, dass der Utilitarismus alle Wünsche bzw. Interessen ohne
Unterschied berücksichtigt. Das Beispiel (Tierquäler und Sozialarbeiter) wird
den Utilitaristen allerdings nicht gerecht, denn für sie ist Schmerz - auch der
von Tieren - das in allererster Linie zu Vermeidende. Tierquälerei ist damit
unbedingt schlecht. Im Kampf gegen die Tierversuche standen wiederum
Utilitaristen an vorderster Front.
Man müsste dazu noch mehr sagen (Benthams provokante These: "Kegeln ist genauso
gut wie Gedichte verfassen", "Pushpin is as good as poetry"), aber ich will hier
erstmal einen Schnitt machen.
Grüße an alle Nachdenklichen, E.W.
15.11.07
Hallo Eberhard,
meiner Ansicht nach ist die "Konsenstheorie der Wahrheit", wie Du sie im
Anschluss an Habermas, Apel und Lorenzen vertrittst, durch die Kritik von Ernst
Tugendhat (nachzulesen in dem Reclam-Bändchen "Probleme der Ethik" Seite 109 -
121) inzwischen längst erledigt.
Für Habermas ist der durch zwangfreie Argumentation herstellbare Konsens das
Kriterium des Begründetseins einer Aussage.
Zumindest für empirische Aussagen ist das Begründungskriterium in den
Verifikationsregeln enthalten, die ihre Bedeutung ausmachen. Dass verschiedene
Personen, wenn sie so einen Satz begründen, zu einer Übereinstimmung kommen,
beruht einfach darauf, dass sie alle dieselben Begründungsregeln anwenden.
Wenn die Übereinstimmung sich auf Argumente gründet, bilden eben die Argumente
die Grundlage für das Begründetsein der empirischen Aussage und nicht der
Konsens. Die Konsenstheorie als eine allgemeine Begründungstheorie ist
deshalb unannehmbar.
Linguist.
***
19.11.07
Hallo Linguist,
danke für Deinen Beitrag und den Hinweis auf den von mir wegen seiner nüchternen
und selbstkritischen Art zu philosophieren sehr geschätzten Ernst Tugendhat.
Dessen Kritik an der "Konsenstheorie der Wahrheit" kann ich jedoch nicht teilen.
Meiner Meinung nach behält der Konsens als anzustrebendes Ziel jeder
Argumentation seine zentrale Bedeutung. Dies zeigt sich m. E. auch an Deiner
eigenen Argumentation. Wenn Du z. B. schreibst, dass die Konsenstheorie als
allgemeine Begründungstheorie "unannehmbar" ist, dann heißt das doch, dass Du
ihr nicht zustimmen kannst und dass Du sie nicht für allgemein konsensfähig
hältst. Du benutzt hier offenbar selber das Kriterium eines möglichen
allgemeinen Konsenses.
Nun zu dem Argument, dass für empirische Aussagen das Begründungskriterium in
den Verifikationsregeln enthalten ist, die die Bedeutung dieser Aussagen
ausmachen, und dass bei der Wahrheitsfindung der Konsens als Kriterium keine
aktive Rolle spielt.
Um die Sache anschaulicher zu machen, will ich die Frage an einem Beispiel
diskutieren.
Angenommen ist geht um den empirischen Satz: "Gestern haben 2 Männer die
Bankfiliale in der Urbanstraße überfallen".
Dieser Satz sei zwischen den Personen A und B strittig. Während A den obigen
Satz für richtig hält, ist B der Meinung, dass es sich bei dem einen Bankräuber
um eine Frau gehandelt habe. Die Bedeutung der Worte "Mann" und "Frau" ist für A
und B dieselbe. So ist z. B. für A wie für B ein entwickelter Busen ein
weibliches Geschlechtsmerkmal und eine tiefe Stimme ein männliches
Geschlechtsmerkmal usw. Hier haben A und B keinerlei Differenzen.
Wenn A behauptet: "Es waren zwei Männer" und B behauptet: "Es war ein Mann und
eine Frau", dann kann nur einer von beiden recht haben. Um zu entscheiden,
welcher der beiden Sätze wahr ist, kommt es auf die jeweiligen Begründungen an,
d.h. auf die Argumente, die für oder gegen die Behauptungen sprechen.
Hier gibt es nun starke und schwache Argumente je nachdem, wie weit ein Argument
intersubjektiv nachvollziehbar und übernehmbar ist.
Wenn A sagt: "Ich habe es den beiden in ihrem ganzen Verhalten angesehen, dass
es sich um Männer handelt" und wenn es sich bei A um einen Passanten handelt,
der aus etwa 50 Meter Entfernung sah, wie die beiden Räuber aus der Bank kamen,
so handelt es sich wohl eher um ein schwaches, nicht übernehmbares, also nicht
konsensfähiges Argument.
Wenn B ein Bankkunde ist, der zum Zeitpunkt des Überfalls gerade abgefertigt
wurde und B sagt: "Ich stand nahe bei dem einen Bankräuber und konnte sein
Parfüm riechen", so ist dies eher ein starkes, übernehmbares, also
konsensfähiges Argument.
Zur empirischen Wahrheitsfindung ist nicht nur die semantische Klärung der
Bedeutungen notwendig sondern auch die haltbare Interpretation von
Sinneseindrücken und die theoretische Erklärung von "Indizien".
Bei allen genannten Aspekten kommt es vor allem auf die dauerhafte
intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Übernehmbarkeit der Behauptungen und der
Argumente an, also auf deren allgemeine Konsensfähigkeit,
meint E.
***
21.11.07
Hallo Eberhard,
in der Ethik-Werkstatt wird nach dem alten Rezept verfahren, angeblich
unangreifbare theoretische Fundamente zu bestimmen und daraus dann alles Weitere
abzuleiten. Ein solches Fundament, eine solche letzte Begründung kann es jedoch
nicht geben, wie schon eine einfache Überlegung zeigt. Wenn ich logisch
argumentiere, und das verlangst Du doch ???, kann ich immer nur von Prämissen
ausgehen, aus denen ich meine Schlüsse ziehe. Aber woher weiß ich, dass die
Prämissen stimmen? Doch wieder nur aus andern Prämissen, usw. usf.
Das Suchen nach einer sicheren Begründung der eigenen Theorie sollte man deshalb
ganz aufgeben und es durch das Prinzip der kritischen Prüfung ersetzen, so wie
es z. B. Hans Albert und andere kritische Rationalisten fordern.
Meiner Ansicht nach ist der in der Ethik-Werkstatt praktizierte Stil des Denkens
auch aus anderen Gründen bedenklich, wenn nicht gefährlich, zumindest wenn es um
die soziale Ordnung mit ihren Institutionen und die Handlungsregeln der
Einzelnen geht.
Wenn Du meinst, die richtige soziale Ordnung und die richtigen Normen für das
Handeln der Individuen "wissenschaftlich" bestimmen zu können, dann folgt daraus
doch, wenn Du konsequent bist, dass diese richtige Ordnung auch realisiert
werden sollte. Oder willst Du diese Schlussfolgerung nicht ziehen?
Aber das heißt doch: die bestehenden Verfassungsorgane und Entscheidungsträger
werden damit überflüssig und es bedarf nur noch der Theorie, um zu bestimmen,
was richtig ist.
Wer die moralisch-rechtlichen Fragen analog zu den empirisch-wissenschaftlichen
Fragen lösen will, der kommt früher oder später zu totalitären politischen
Schlussfolgerungen,
um
die von ihm angeblich wissenschaftlich gewonnenen
Wahrheiten praktisch umzusetzen.
Ich zitiere hier mal Albert, da man das Problem kaum besser formulieren kann,
als er es in seinem Aufsatz "Aufklärung und Steuerung" getan hat. Albert
schreibt dort: "Versuche, einen gesellschaftlichen Konsens durch ideologische
Konstruktion eines für alle akzeptablen Gemeinwohls quasi-theoretisch
vorwegzunehmen sowie einen entsprechenden Gemeinwillen zu konstruieren und ihn
dem Gesellschaftskörper als Ganzem zuzuschreiben, können heute als hoffnungslos
kompromittiert angesehen werden." Dem kann ich mich nur anschließen.
Deshalb kann ich nur dringend raten, von solchen philosophischen Theorien
Abstand zu nehmen. Gruß Dieter.
***
24.11.07
Hallo Dieter,
fangen wir mit Frage an, ob man eine Theorie begründen sollte bzw. ob man das
überhaupt kann.
Ich erhebe in der Tat den unbescheidenen Anspruch, dass die hier vertretene
Theorie auf einem soliden und tragfähigem Fundament ruht - wenn ich einmal eine
Metapher aus dem Hausbau verwenden darf.
Gedankenschritt 1
Meiner Ansicht nach gibt es für alle Erkenntnis einen stabilen Bezugspunkt. Das
ist das, was wir anstreben, wenn wir Erkenntnis suchen, wenn wir auf unsere
Fragen nach Antworten suchen.
Uns ist ja nicht mit irgendwelchen Antworten gedient, sondern wir brauchen
Antworten, die "richtig" sind. Mit "Richtigkeit" ist hier gemeint, dass
möglichst alle sie möglichst dauerhaft beibehalten sollen. Eine Antwort, die
heute richtig ist, soll auch morgen richtig sein (intertemporale Geltung) und
eine Antwort, die für mich richtig ist, soll auch für jeden andern richtig sein
(intersubjektive Geltung).
Warum ist dies ein tragfähiger Ausgangspunkt aller Erkenntnis?
Weil derjenige, dem es gar nicht um intersubjektiv und intertemporal geltende,
d.h. allgemein geltende Antworten geht, als Argumentationspartner ausscheidet.
Denn es ist für ihn kein Problem, dass für mich eine Antwort die richtige ist,
die für ihn die falsche ist. Und es macht dann auch keinen Sinn, den eigenen
Zweifeln nachzugehen, wenn es unproblematisch ist, dass eine Antwort jetzt
richtig ist, die im nächsten Moment falsch sein wird.
Also:
Wer nicht nach Antworten mit allgemeiner Geltung sucht, der kann keine
Behauptungen oder Gegenbehauptungen aufstellen. Denn wenn diese für andere von
Bedeutung sein sollen, müssen sie mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung
versehen sein.
Gedankenschritt 2
Wenn wir uns um die richtigen Antworten auf unsere Fragen bemühen, dann suchen
wir nach Antworten, deren allgemeiner Geltungsanspruch nicht nur behauptet
sondern auch allgemein einsichtig begründet werden kann. Dies unterscheidet
rationale bzw. wissenschaftliche Behauptungen von dogmatischen Behauptungen.
Der allgemeine Geltungsanspruch rationaler Behauptungen wird eingelöst durch
Argumente, die der andere nachvollziehen und übernehmen kann. Diese kann man als "Begründungen" bezeichnen.
Behauptungen, die Geltung beanspruchen, ohne diesen Anspruch argumentativ
einlösen zu wollen, kann man als "dogmatische Behauptungen" bezeichnen.
Wer nur dogmatische Behauptungen aufstellen will und sich nicht auf das Streben
nach allgemein einsichtigen Antworten festlegen lässt, der schließt sich damit
selber als Argumentationspartner aus.
Wenn der skizzierte Gedankengang richtig ist, dann muss sich jeder, der an einer
erkenntnisorientierten
Argumentation teilnehmen will, auf das Ziel allgemein geltender und allgemein einsichtiger Antworten
festlegen lassen.
Wem es aber gar nicht um Antworten mit allgemeiner Geltung geht oder wer für
seine dogmatischen Antworten nur Glauben fordert, der mag dies tun, aber seine
Äußerungen sind für
die Bestimmung der richtigen Antworten irrelevant.
Damit ist eine tragfähige gemeinsame Grundlage für das weitere Vorgehen
geschaffen.
So viel für heute. Auf Deine anderen Punkte gehe ich noch ein. Alle die zu dem
Vorgetragenen Einwände oder Fragen haben, sollten sich einen Ruck geben und eine
E-Mail schicken, bittet E.W.
***
25.11.07
Hallo Dieter,
nun zu Deinen Befürchtungen hinsichtlich diktatorischer Konsequenzen einer
wissenschaftlichen Sozialethik.
Diese Gefahr sehe ich auch, ich bin jedoch der Ansicht, dass dies nicht auf die
von mir vertretene Position zutrifft. Kritischer Gesichtspunkt für die
Richtigkeit einer Norm als Antwort auf eine moralische Frage ist meiner Ansicht
nach, ob alle gemeinsam wollen können, dass diese
moralische Norm faktisch gilt. Jeder muss sich fragen: Könnte ich die Norm
auch dann wollen, wenn ich zugleich in der Lage der andern wäre?
Im Mittelpunkt der Diskussion darüber wird die Gewichtung und das Abwägen der
Interessen aller Betroffenen stehen.
Die stattfindende Argumentation kann jedoch aus mehreren Gründen kein
definitives Ergebnis garantieren. So wie auch in den Erfahrungswissenschaften
können mehrere Positionen vertretbar bleiben. Man kann den Philosophen also
nicht zum König machen.
Aus dieser Situation heraus ergibt sich die Notwendigkeit von Verfahren der
rechtlich-politischen Normsetzung wie z. B. Abstimmungen nach dem
Mehrheitsprinzip oder die Verträge von Eigentümern etc.
Soweit - etwas holzschnittartig - meine Entgegnung auf den
Totalitarismus-Verdacht. E.W.
***
05.12.07
Hi!
ich muss mich auch mal zu Wort melden, weil mir so einiges an der Ideologie der
Ethik-Werkstatt völlig unausgegoren zu sein scheint. Das Gerede vom "Konsens"
dreht sich doch nur im Kreise. Was soll denn das für ein "Kriterium" sein!? Du
sagst: "Man kann für eine Behauptung nur dann den Anspruch auf
Allgemeingültigkeit erheben, wenn darüber ein allgemeiner Konsens möglich ist".
Das ist doch im höchsten Grade schwammig und vage. Wer genau gehört denn zu
denen, die zustimmen müssen? Die Antwort "alle" führt keinen Schritt weiter: Wer
sind denn "alle" ? Gehören dazu auch zukünftige Generationen? Wenn ja, dann
verrate mir bitte mal, wie sie das bewerkstelligen sollen! Wenn Du entgegnest,
dass es ja nicht um einen faktischen Konsens gehe sondern um dessen Möglichkeit,
so wird das Ganze für mich völlig nebulös. Wie willst Du denn diese Möglichkeit
feststellen? Ich will Dir Deine Illusionen nicht nehmen, aber überzeugt hat mich
das, was ich auf dieser Website gelesen habe, herzlich wenig. Gruß Delfin.
***
07.12.07
Hallo Delfin,
wenn Dich die Argumente der Ethik-Werkstatt schon nicht überzeugt haben, so
haben sie doch hoffentlich Dein kritisches Denken angeregt und es war keine
völlig verlorene Zeit für Dich.
Nun zu Deiner recht herb ausgefallenen Kritik. Du fragst, wer denn zu denen
zählt, deren Zustimmung möglich sein muss, was also mit dem Ausdruck "allgemeiner Konsens" gemeint ist.
Die Antwort auf Deine Frage ergibt sich aus der Konstruktion der Theorie.
Jemand kann - ohne in sich widersprüchlich zu sein – sagen: "Ich strebe keinen
Konsens an". Er kann das machen, aber nur mit der Konsequenz, dass er jeglichen
Anspruch, in irgendeiner Weise "recht zu haben", verliert. Denn der Anspruch auf
Allgemeingültigkeit (Wahrheit, Richtigkeit) in Bezug auf eine Behauptung –
insofern als er sich von dem Anspruch auf Glauben und Gehorsam unterscheidet –
setzt intersubjektive Einsichtigkeit der Begründung voraus.
Entsprechend könnte jemand auch sagen: "Ich strebe nur den Konsens innerhalb
meines Staates (meiner Gemeinschaft, meiner Familie etc.) an." Er kann das zwar tun,
aber nur mit der Konsequenz, dass er gegenüber den dadurch Ausgeschlossenen
jeglichen Anspruch, in irgendeiner Weise ihnen gegenüber "recht zu haben",
verzichten muss.
Sein soziales Verhältnis gegenüber jenen, auf deren Konsens es ihm nicht
ankommt, hat er damit als ein (potentielles) Gewalt- bzw. Feindverhältnis
gekennzeichnet.
Unter den Bedingungen einer Globalisierung der physischen Folgewirkungen und der
wirtschaftlichen Abhängigkeiten kommen als von unseren Entscheidungen und
Handlungen Betroffene nur alle Menschen in Frage: Der CO2-Ausstoß in
den USA wirkt sich auf alle Länder der Erde aus – und umgekehrt.
Das ist ein Argument dafür, die Argumentation über politische Normen und
Entscheidungen an einem universalen Konsens zu orientieren. (Das schließt nicht
aus, dass die normsetzenden Institutionen föderalistisch strukturiert sind und
je nach dem Grad der gemeinsamen Betroffenheit soziale Einheiten bilden, die
sich in vielem selbst verwalten.)
Die Berücksichtigung von Interessen zukünftiger Generationen sowie die
Berücksichtigung von Bedürfnissen der Tiere und Pflanzen kann nur über
eine "fürsorgliche" Herrschaft erfolgen. Diese Herrschaft mag noch so
fürsorglich sein – es bleibt ein Herrschaftsverhältnis gegenüber all jenen,
deren Zustimmung nicht nötig ist, weil sie nicht für sich selber sprechen
können.
Soviel erstmal für heute von E.W. Auf den möglichen Konsens als Kriterium komme
ich noch zurück.
***
08.12.07
Hallo Delphin,
nun zu Deiner Kritik am "möglichen Konsens" als Kriterium der
Allgemeingültigkeit von Behauptungen. Meine These lautet zugespitzt: Wenn eine
Behauptung für jemanden gültig (wahr, richtig) sein soll, dann muss dieser
die Behauptung auch einsehen können. Andernfalls ist ein Anspruch auf Gültigkeit
nicht von einem Anspruch auf Glauben unterscheidbar.
Wie ist das bei empirischen (faktischen, positiven) Behauptungen über die
Beschaffenheit der Welt? Nehmen wir als ein möglichst einfaches Beispiel die
Behauptung: "Vor dem Hauptbahnhof in Hannover steht (heute am 10.12.2007) ein
Reiterstandbild." Die Gültigkeit einer solchen Behauptung lässt sich auf
verschiedenste Weise begründen. Letztlich kann jemand von der Richtigkeit dieser
Behauptung durch den Hinweis überzeugt werden: "Geh doch hin und überzeuge dich
mit Deinen eigenen Augen von der Richtigkeit der Behauptung." Die
übereinstimmende Wahrnehmung verschiedener Subjekte ist offensichtlich das
konsensstiftende Element bei positiven Behauptungen.
Bei theoretischen Aussagen, die regelmäßige Zusammenhänge bezüglich bestimmter
Phänomen behaupten, sind es die aus der Theorie ableitbaren Vorhersagen,
deren übereinstimmende Wahrnehmung eine Bestätigung oder Falsifikation der
Theorie ermöglichen. So ließ sich aus der Einsteinschen Theorie ableiten, dass
Lichtstrahlen durch die Massenanziehung gebogen werden. Dies konnte an der
scheinbaren Verschiebung von Sternen nachgewiesen werden, deren Lichtstrahlen
dicht an der Sonne vorbeigingen und dadurch gebogen wurden.
Es kommt dabei nicht auf die faktische Zustimmung aller Adressaten der Theorie
an. So ist es irrelevant, wenn manche Personen die Behauptung und die Begründung
aus Mangel an Intelligenz nicht verstehen, oder wenn nationalsozialistische
Professoren und Vertreter einer "Deutschen Physik" das Experiment mit der
Ablenkung des Sternenlichtes ignorieren und totschweigen, weil Einstein
jüdischer Abstammung war. Auch die Blindheit mancher Menschen ist kein Argument
gegen die Theorie. Sie bleibt trotzdem allgemein konsensfähig.
Entscheidend ist, dass die fehlende Zustimmung durch ein Individuum nicht der
Behauptung angelastet werden kann. Ähnlich wird ein Satz ja nicht dadurch
unverständlich, dass ein Schwerhöriger ihn akustisch nicht wahrnehmen kann.
Entscheidend ist, dass unter idealen Bedingungen von Seiten der Adressaten diese
tatsächlich zustimmen.
Ich gebe zu, dass hier noch viele Fragen offen sind und vieles noch der
Präzisierung bedarf. Ich halte jedoch die Möglichkeit eines allgemeinen Konsens
für ein brauchbares Konzept, wenn es um die Wahrheit oder Richtigkeit von
Behauptungen geht. Grüße an alle Interessierten E.W.
p.s.: Wo bleiben die Leute vom Fach mit ihrer Kritik? Oder ist das Internet als
Medium nicht standesgemäß?
***
27.12.07
Hallo Eberhard,
ich habe eine grundsätzliche Kritik an dem Ansatz der Ethik-Werkstatt. Du
beanspruchst dafür eine universale Gültigkeit. Wenn man jedoch genauer hinsieht,
so gehst Du von Voraussetzungen aus, die allein der europäischen Tradition
entstammen.
Zu nennen ist der extreme Individualismus, der sich daran zeigt, dass es beim
Konsens auf einzelne Individuen ankommen soll.
Es gibt aber Gesellschaften, in denen der einzelne Mensch z. B. nur als Mitglied
einer Familie existieren kann und dementsprechend auch nur als Familienmitglied
zählt und zu berücksichtigen ist.
Auch die prinzipielle Gleichwertigkeit der Individuen ist in vielen Kulturen
nicht gegeben. Ich denke da etwa an Kastensysteme. Warum sollte das, was ein
Häuptling oder Brahmane entscheidet, gleiches Gewicht haben wie das, was ein
einfaches Stammesmitglied oder ein Paria will?
Das ganze Konzept riecht mir ziemlich stark nach Eurozentrismus.
MfG Johanna.
***
28.12.2007
Hallo Johanna,
Dein grundsätzlicher Einwand stellt in der Tat das ganze Projekt in Frage.
Werden hier nicht spezifisch europäische kulturelle Inhalte unzulässigerweise
den ganz anders gearteten außereuropäischen Kulturen übergestülpt?
Dies scheint unausweichlich, aber es sollte zu denken geben, dass die ebenfalls
spezifisch europäische Naturwissenschaft und Technik von den außereuropäischen
Kulturen übernommen werden konnte. Der Grund hierfür liegt in dem
Wahrheitskriterium der Naturwissenschaften. Intersubjektive Beobachtbarkeit und
technische Machbarkeit sind Kriterien, die gerade nicht durch die
Voraussetzung einer bestimmten regionalen Autorität beschränkt werden.
In ähnlicher Weise verstehe ich die in der Ethik-Werkstatt vertretene
konsenstheoretische Begründung moralischer und rechtlicher Normen als universal
anwendbar. Die Grundbegriffe wie Individuum, Kollektiv, Konflikt, Konsens,
Interesse, Frage, Antwort, Norm, Bewertung etc. sind allgemein verständlich und
schließen keine Kultur von vornherein aus.
Dass auf dem Raumschiff Erde die Menschen zunehmend enger zusammen leben und
immer stärker vom Handeln der Anderen betroffen werden, ist für alle Menschen
erfahrbar. Dass es bei dieser wirtschaftlichen, militärischen und
umweltpolitischen Globalisierung immer wieder zu Konflikten kommt, die entweder
eher durch Anwendung von Macht oder aber eher einvernehmlich gelöst werden
können, wissen Menschen aller heutigen Kulturen und ist nichts spezifisch
Europäisches.
Angesichts dieser globalen Situation wird nun von allen am Konflikt Beteiligten
gefordert, sich um Lösungen in Form von normativen Regelungen zu bemühen, die
für alle Beteiligten akzeptabel sind (d. h. die von allen bejaht werden können
bzw, die
gegenüber allen Beteiligten durch nachvollziehbare und übernehmbare Argumente
begründet werden können).
Ich denke, dass dies Vorgehen, bei dem auf die Fragen, die aus den Problemen des
Zusammenlebens erwachsen, nach gemeinsame Antworten gesucht wird, allgemein
verständlich ist.
Es kann auch jeder Mensch verstehen - gleichgültig in welcher kulturellen
Tradition er steht - was es bedeutet, wenn ein Individuum oder ein Kollektiv
sich nicht auf das Bemühen um gemeinsame Antworten auf die normativen Fragen
festlegen lässt. Wer den Konsens nicht suchen will, behält
sich vor, seine eigenen Interessen auch gegen die Interessen der anderen zu
verfolgen, was in letzter Konsequenz Streit, Kampf und Krieg bedeutet.
Gegenüber den tradierten Religionen und Weltanschauungen, die alle eine
Glaubensentscheidung und die Anerkennung einer Autorität voraussetzen, um
wirksam zu werden, handelt es sich hier um eine universal anwendbare Methode.
Dass diese Methode in der europäischen Denktradition entstanden ist, tut dem
keinen Abbruch, so wie die Technik universal anwendbar ist,
obwohl sie der europäischen Denktradition entstammt. E.W.
***
02.05.2011
"Hallo Eberhard,
ich will Deiner Einladung
zur Kritik Folge leisten und beziehe mich auf das Motto der Ethik-Werkstatt und
die Erläuterung zu Beginn der Startseite. ("Was für mich wahr und gültig sein
soll, das muss von mir auch eingesehen werden können.")
Meines Erachtens machst Du es Dir
etwas zu leicht. Du willst die Grundlage für eine ethisch-normative
Theorie schaffen, die jeder akzeptieren muss. Stattdessen definierst Du einfach, was Deiner Ansicht nach
"Wissenschaft" ist und schmeißt dann alles raus, was nicht unter diese
Definition fällt. So kann man keine
für alle zu akzeptierende methodische Grundlage einer normativen Ethik schaffen.
Im Gegenteil, mit solcher Art subjektiver Definitionsstrategie wird eine offene
fruchtbare Diskussion eher verhindert. Gruß Hannes."
***
04.05.2011
Hallo Hannes,
Wenn Deine Kritik zutreffen würde, dann wäre das für meine gesamten Überlegungen
in der Tat fatal. Ich gebe zu, dass man mich in der von Dir geschilderten Weise
(miss)verstehen kann. Wenn die ganze theoretische Konstruktion an einer
Definition hängen würde, die wie alle Definitionen erstmal nur eine Sache der
geeigneten sprachlichen Konvention ist, dann könnte ich wirklich einpacken. Ich hoffe jedoch,
dass ich für Dich und jeden Anderen nachvollziehbar begründen kann, warum die
Definition von 'Wissenschaft', die ich verwende, gerade nícht beliebig ist und
dass der Gedanke, der dahinter steht, nicht aufgegeben werden kann, ohne dabei
das ganze Unternehmen 'normative Ethik', um das es ja hier geht, sinnlos zu machen.
Wenn es nur darum ginge, irgendwelche allgemein geltende Normen zu bestimmen
und die Befolgung dieser Normen mittels Sanktionen bei den Adressaten dieser
Normen durchzusetzen, dann wäre es nicht nötig, dass sich zahlreiche kluge Leute
über Jahre hinweg damit befassen und nach einer Lösung zu suchen. Ich könnte
dann z. B. ohne viel Umstände den Islam und dessen Moral zur allgemein geltenden
Lehre erklären und die zugehörigen Bestrafungen einführen. Ich könnte dies auch
begründen, indem ich auf die Schriften und die Worte Mohammeds, den Propheten
Allahs verweise.
Warum genügt das uns nicht?
Unter anderem
genügt uns das deshalb nicht, weil man dasselbe mit dem Christentum machen
könnte. Wir hätten dann allerdings zwei unterschiedliche moralische Ordnungen
mit unterschiedlichen Begründungen. Wir hätten einen moralischen Dissens, der
sich zumindest auf dieser gedanklichen Ebene nicht beseitigen ließe. Damit wäre
der Keim für künftige Religionskriege gelegt.
Wenn man das nicht will,
dann muss man etwas tiefer in das Problem einsteigen. Dann darf man nicht nur
die allgemeine Geltung einer moralischen Ordnung anstreben, sondern diese
Moral sollte auch in einer allgemein verständlichen und nachvollziehbaren Weise
begründet bzw. gerechtfertigt sein. Ich habe eine Position, die diesen
Kriterien entspricht, als "Wissenschaft" bezeichnet. Damit sind
logischerweise Lehren, die
diese Kriterien nicht akzeptieren, als "nicht wissenschaftlich" ausgegrenzt.
Aber die Bezeichnung ist hier nicht das Entscheidende. Ich könnte statt
"Wissenschaft" auch "rationales Denken" sagen. Entscheidend ist der Unterschied
in der Sache. Entscheidend ist, dass es für eine Diskussion einen wichtigen
Unterschied macht, ob man z. B. seine Position mit Koranzitaten begründen darf
oder nicht. Dieser Unterschied in der Sache rechtfertigt meines Erachtens eine
Abgrenzung zwischen beiden Arten von Diskussion. Damit keine Missverständnisse
entstehen: Trotzdem kann man natürlich über alles andere weiter miteinander
reden.
Es grüßt Dich E.
***
14.12.2012
Guten Tag Eberhard Wesche,
wenn ich Ihr Bemühen richtig verstehe, so geht
es Ihnen um die Regeln und Normen. die das Zusammenleben der Menschen bestimmen.
Ich bin wie sie der Ansicht, dass dies eine wichtige Sache ist. Ich glaube
allerdings nicht, dass man die richtige Lösung dadurch findet, dass man die
Sache bis zur völligen Übereinstimmung aller ausdiskutiert. Das ist doch wohl
mit "Konsens" gemeint, oder? Wie man an vielen Foren im Internet sehen kann,
sind die Diskussionen dort oft wenig produktiv und manchmal reine
Zeitverschwendung. Wenn wir unsere gesellschaftliche Ordnung nach dem gestalten
wollten, was bei solchen Foren herauskommt, dann "Gute Nacht!".
Mit
freundlichen Grüßen
Anonymus.
***
16.12.2012
Guten Tag Anonymus,
die von Ihnen vorgebrachte Kritik an einer am Konsens
orientierten Konzeption von Erkenntnis, Wissenschaft und Wahrheit ist weit
verbreitet. Ich will deshalb etwas ausführlicher darauf eingehen. Da es
verschiedene Varianten des konsenstheoretischen Ansatzes gibt, kann ich hier
natürlich nur für mich sprechen.
Richtig an der Kritik ist die
Feststellung, dass die argumentative Auseinandersetzung, der Diskurs, häufig
kein definitives Ergebnis hervorbringt. Das heißt, dass mehrere moralische Positionen
vertretbar bleiben und damit ein inhaltlicher Dissens fortbesteht. Dies gilt
übrigens sowohl für den moralischen Diskurs wie für den
erfahrungswissenschaftlichen Diskurs. Wenn die Individuen von unterschiedlichen
Annahmen hinsichtlich der Beschaffenheit der Welt ausgehen, kommt es zu
unterschiedlichen normativen Überzeugungen.
Selbst dann, wenn es bereits zu einer
Übereinstimmung aller Beteiligten gekommen ist, kann der Diskurs aufgrund neuer
Argumente wieder aufgenommen werden. Mit dem Fortschritt der
Erfahrungswissenschaften können sich neue Handlungsalternativen eröffnen, die bei der Entscheidung
bisher nicht berücksichtigt wurden.
Der "Streit der Gelehrten" wird nicht selten selbst dann noch
weitergeführt, wenn die strittige Entscheidung bereits Geschichte ist.
Damit stellt
sich die Frage, was angesichts eines nicht aufgelösten Dissens zu tun ist.
Eine mögliche Konsequenz bestünde darin, die Individuen in ihren
Überzeugungen freizustellen und sie so handeln zu lassen, wie sie selber es für
das Beste halten. Hier lässt sich relativ einfach demonstrieren, dass ein
solches Vorgehen keineswegs zu allgemein akzeptablen Ergebnissen führt. Da die
Handlungen der Einzelnen nicht koordiniert sind und keine Kooperation
stattfinden kann, sind die Ergebnisse für die Gesellschaftsmitglieder
katastrophal. Solche "Gesellschaften" sind genaugenommen gar keine und haben
keinen Bestand. Erst durch verbindliche und auch überwiegend befolgte
Regelungen, die beinhalten, wie die Einzelnen handeln sollen oder handeln
dürfen, kann eine Gesellschaft die kaum zu unterschätzenden Vorteile
koordinierten Handelns und organisierter Zusammenarbeit verfügbar machen.
Damit bildet sich neben der Ebene der moralischen Normen, auf der inhaltlich
und konsensorientiert argumentiert wird, eine zweite Ebene der gesetzten Normen,
auf der institutionell und verfahrensbezogen argumentiert wird. Beide Ebenen
stehen zueinander in einem komplizierten Spannungsverhältnis, das nicht durch
die Eliminierung einer Ebene beseitigt werden darf.
Hier will ich erstmal
abschließen. Mit freundlichen Grüßen, E.
***
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