Ethik-Werkstatt - Volltexte im HTML-Format - kostenlos

-->Übersicht       -->Alphabetische Liste aller Texte       -->Info zu dieser Website       -->Lexikon       -->Startseite


Wahrheit: Begriff und Kriterium 




Was meinen wir, wenn wir sagen: "Das ist wahr"?

Wann sagen wir: "Das ist wahr" oder "Das ist nicht wahr"? Und was meinen wir damit? Wenn man von Formulierungen wie "Das ist keine wahre Freude" oder ähnlichem absieht, so zeichnet man mit dem Wort "wahr" vor allem bestimmte sprachliche Äußerungen aus. Im Folgenden soll es ausschließlich um die Wahrheit sprachlicher Äußerungen gehen.

Nehmen wir ein fiktives Beispiel aus dem Alltag.

Markus sagt zu Joscha: "Joscha, Du hast meinen Fußball kaputt gemacht."

Markus beschreibt damit die Beschaffenheit eines bestimmten Vorgangs in einem bestimmten Bereichs der wirklichen Welt.

Mit dieser Äußerung drückt Mar
kus zugleich seine eigene Überzeugung aus, dass er diese Aussage seinem eigenen Denken und Handeln zugrunde legt. Wenn Markus zusätzlich sagen würde: "Joscha hat meinen Player kaputt gemacht. Ich bin davon jedoch nicht überzeugt", so würde das als eine verwirrende Inkonsistenz angesehen. Zwar besteht kein logischer Widerspruch zwischen den beiden Sätzen. Aber der Sinn von Markus' Äußerung ist nicht zu erkennen, wenn er selber von der Richtigkeit der Äußerung nicht überzeugt ist.

Zugleich fordert Markus mit dieser Äußerung alle anderen Individuen unausgesprochen auf, diese Aussage ebenfalls ihrem Denken und Handeln zu Grunde zu legen.

Wenn Markus sagen würde: "Joscha hat meinen Player kaputt gemacht, aber wer anderer Meinung ist, sollte seine Meinung ruhig beibehalten", so würde das ebenfalls als eine verwirrende Inkonsistenz angesehen. Zwar besteht auch hier kein logischer Widerspruch, aber der Sinn der Äußerung ist nicht zu erkennen, wenn kein anderer diese Aussage übernehmen soll. Wenn Markus also sagt: "Joscha hat meinen Fussball kaputt gemacht", so beschreibt Markus nicht nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit, sondern er informiert über seine Überzeugung in dieser Angelegenheit und fordert alle anderen zur Übernahme dieser Überzeugung auf.

Dies soll im Folgenden als "Geltungsanspruch" bezeichnet werden, der für diese Äußerung erhoben wird. Sätze, die mit einem solchen Geltungsanspruch geäußert werden, sollen im Folgenden als "Behauptungen" bezeichnet werden.


Festzuhalten ist, dass nicht jede Äußerung über die Beschaffenheit der realen Welt als Behauptung auftritt. Wenn derselbe Satz ("Joscha hat meinen Player kaputt gemacht") z. B. in einem Lehrbuch der deutschen Sprache vorkommt, um anhand dieses Satzes die Anordnung von Subjekt, Prädikat und Objekt im Satz zu erlernen, so handelt es sich nicht um eine Behauptung, da für diese Aussage keinerlei Geltung beansprucht wird.

Wenn ein Schriftsteller aus seinem neuen Roman liest und ein Zuhörer wendet ein: "Das ist aber nicht wahr!", so kann man nur mit dem Kopf schütteln und sagen: "Das hat ja auch niemand behauptet!" Nur dort, wo etwas behauptet wird, kann es um Wahrheit gehen.

Um den Behauptungscharakter einer Äußerung deutlich zu machen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Markus kann den Geltungsanspruch für seine Äußerung auch durch die folgende Formulierung ausdrücken: "Es ist wahr, dass Joscha meinen Player kaputt gemacht hat."

Wenn ein Satz wahr ist, dann ist er nicht nur für mich wahr, sondern auch für jeden anderen. Wenn in unserm Beispiel Joscha zu Markus sagen würde: "Das mag deine Wahrheit sein, aber meine Wahrheit ist eine andere", so wäre Markus sicher erstmal verdutzt und er würde wahrscheinlich dann mit gutem Grund das Gespräch als sinnlos beenden. Denn wenn es jemandem gar nicht um die eine, gemeinsame Wahrheit geht, gibt es mit ihm auch keine gemeinsame Ebene der Diskussion mehr.

Noch ein anderer Bedeutungsaspekt des Wortes "wahr" ist wichtig. Um das zu zeigen, nehmen wir einmal an, dass Joscha schließlich zugibt, dass ihm der Player hingefallen ist und er danach nicht mehr funktionierte. Als Markus ihm am nächsten Tag den MP3-Player bringt und sagt: "Ich möchte den Player heil von Dir zurückbekommen, denn Du hast ihn kaputt gemacht", schüttelt Joscha mit dem Kopf und sagt: "Das ist überhaupt nicht wahr, dass ich den MP3-Player kaputt gemacht habe."

Markus stutzt etwas und sagt: "Aber gestern hast Du doch selber gesagt, dass Du ihn kaputt gemacht hast!"  

Darauf sagt Joscha nur cool: "Was gestern wahr war, muss ja nicht heute wahr sein." Markus fällt der Unterkiefer runter und nach einer kurzen Überraschungspause wendet er sich mit den Worten: "Der spinnt ja wohl" von Joscha ab.

Markus beendet die Diskussion an diesem Punkt zu recht, denn zur impliziten Bedeutung des Wortes "wahr" gehört: Wenn eine Behauptung gestern wahr war, dann muss sie auch noch heute wahr sein. Die  Auszeichnung einer Behauptung als "wahr" beinhaltet also nicht nur einen personunabhängigen (intersubjektiven) Geltungsanspruch sondern auch einen zeitunabhängigen (intertemporalen) Geltungsanspruch. Kurz gesagt: Mit der Auszeichnung einer Behauptung als "wahr" wird für diese Behauptung ein allgemeiner Anspruch auf Geltung verbunden.


Kriterien der Wahrheit

Soviel zur Bedeutung des Wortes "wahr" und zu dem Zuammenhang, in dem das Wort verwendet wird. Die Frage ist natürlich, wie die Wahrheit oder Unwahrheit einer bestimmten Behauptung ("Joscha hat den MP3-Player von Markus kaputt gemacht") festgestellt werden kann. Um diese Frage zu beantworten, bedarf es eines Kriteriums für die Wahrheit einer Behauptung. Die Frage nach den Kriterien für die Wahrheit von Behauptungen ist wohl eine der wichtigsten und zugleich eine der schwierigsten Fragen der Philosophie.
zum Anfang

***

Behauptung - Geltungsanspruch - Wahrheit

Was heißt es, wenn man sagt, eine  Aussage über die Beschaffenheit der Welt sei "wahr" ?

Wenn Fritz bezogen auf die Bundesliga-Ergebnisse sagt: "Dortmund hat gestern gegen Hamburg 3:0 gewonnen" und Tom fragt: "Ist das wahr?", dann kann Mark das bestätigen, indem er sagt: "Ja, es ist wahr, was Fritz gesagt hat". Er könnte die Bestätigung jedoch auch anders formulieren und sagen: "Ja, es ist so, wie Fritz gesagt hat."

Eine Aussage ist demnach wahr, wenn es so ist, wie die Aussage besagt.

Wenn Mark zu Tom sagt: "Es ist wahr, dass Dortmund gestern gegen Hamburg 3:0 gewonnen hat",
so drückt er damit seine Meinung aus, dass sich der andere auf diese Aussage verlassen kann.

Wenn Mark den Satz als "wahr" auszeichnet, dann "behauptet" er diesen Satz. Er beansprucht für diesen Satz "Geltung" in dem Sinne, dass er andere dazu auffordert, diesen Satz dem eigenen Denken und Handeln zu Grunde zu legen.

Und da "wahr" nicht auf bestimmte Zeitpunkte und Personen bezogen wird, geht es dabei um die zeit- und personunabhängige Geltung einer Aussage.

Es kann zwar Person A die Aussage "Dortmund hat gestern gegen Hamburg 3:0 gewonnen" für wahr halten und Person B die Aussage: "Dortmund hat gestern gegen Hamburg 0:3 verloren", aber es kann nicht für A das die erste Aussage wahr sein und für B die zweite Aussage. Wenn etwas "wahr" ist, dann muss es für jedermann wahr sein. Der Anspruch auf die "Wahrheit" einer Aussage ist also ein Anspruch auf person-unbhängige bzw. "intersubjektive" Geltung.

Weiterhin kann die Aussage: "Gestern (am 20.09.2004) hat Dortmund gegen Hamburg 3:0 gewonnen" zwar heute als wahr gelten und morgen vielleicht als falsch, sie kann aber nicht heute wahr sein und morgen falsch. Der Anspruch auf die "Wahrheit" einer Aussage ist also ein Anspruch auf zeit-unabhängige bzw. "intertemporale" Geltung.

Wie man die Wahrheit einer Aussage feststellen oder begründen kann, was das Kriterium für die Wahrheit einer Aussage ist, ist eine andere Frage.

Festzuhalten bleibt noch, dass nicht sowohl eine Aussage als auch die Verneinung dieser Aussage wahr sein kann. Wenn dies zulässig wäre, dann wären "wahre" Aussagen nicht nur keine verlässlichen Antworten auf offene Fragen sondern gar keine Antworten.

***

Unangenehme Wahrheiten und Wunschdenken

Nicht alle Wahrheiten sind angenehm. Es gibt auch schwer zu bewältigende Wahrheiten, vor denen man am liebsten die Augen verschließt. Und jeder muss selber wissen, wie viel an Wahrheit er verkraften kann und wie viel an tröstlichen Illusionen er noch benötigt. Eine Wahrheit, die für ein auf Selbsterhaltung angelegtes Wesen wie den Menschen, schwer zu ertragen ist, ist die Erkenntnis der Tatsache, dass das eigene Leben begrenzt ist. Wer jedoch den Verlust geliebter Menschen nicht ertragen kann, der wird sich mit einem Wiedersehen im Himmel trösten (oder mit dem Glauben an eine Wiedergeburt), und man sollte ihn auch nicht bedrängen, diese tröstlichen Illusionen aufzugeben.

Allerdings hat
jedes Wunschdenken seinen Preis und bei den religiösen Illusionen, die sich ja ausdrücklich der Kontrolle durch nüchternes Denkens entziehen, besteht immer die Gefahr, dass sie sich zu kollektiven Wahnvorstellungen mit gefährlichem Realitätsverlust entwickeln. Ich denke da an die Verfolgung von Hexen, Ketzern, Besessenen oder Ungläubigen – und an die paradiesisch belohnten Menschen, die sich selbst und dazu möglichst viele ungläubige Feinde in die Luft sprengen.

***

Rund um das Wort "wahr"

Auf das, was wahr ist, kann man vertrauen. Das wird im Englischen deutlich, die "true" bzw. "truth" sagen, was den gleichen Stamm hat wie "treu" und Vertrauen".

Das, was wahr ist, hat sich bewährt und wird sich bewähren. Es bietet Gewähr.

Was lange währt, wird endlich gut.

Wir sprechen bei Geld von einer Währung.

Was wahr ist, das soll man bewahren.

zum Anfang

***

Intersubjektivität statt Objektivität

Wenn es um Wahrheit geht, wird gewöhnlich die Forderung nach "Objektivität"   gestellt. So wird eine "objektive Berichterstattung" gefordert oder es wird eine "objektive Erkenntnis" verlangt. Der Gegenbegriff zur "Objektivität" ist gewöhnlich die "Subjektivität". Wer über etwas "subjektiv" berichtet, sucht aus der Fülle des Geschehens das von "seinem subjektiven Standpunkt aus gesehen" wichtige und bestätigende heraus und verschweigt alles andere. "Objekt" heißt soviel wie "Gegenstand". Für viele Philosophen galt es als Ziel, zu einer von allen subjektiven Beimengungen gereinigten und damit zu einer allein vom Gegenstand (dem Objekt) her bestimmten "objektiven" Erkenntnis zu gelangen, die dann auch irrtums- und fehlerfrei - und damit auch wahr - sein würde.

Diese Bemühungen endeten letztlich in einer Sackgasse. Es wurde gefragt, ob man ein Objekt überhaupt erkennen könne, ob es eine vom Subjektiven völlig losgelöste "absolute" Erkenntnis eines Objektes überhaupt geben könne, und schließlich auch noch, ob es es Objekte überhaupt gibt. Der philosophische Streit um die Beantwortung derartiger Fragen brachte wenig brauchbare Ergebnisse.

Fruchtbarer verlief die Diskussion in den empirischen Wissenschaften, die nach dem methodischen Prinzip vorgingen, dass Ansichten, die mit den Wahrnehmungen bzw. Beobachtungen nicht im Einklang stehen, revidiert werden müssen. Wissenschaftliche Ergebnisse sollten nur "bis auf Widerruf" gelten.

Das Problem des Irrtums stellt sich nicht dar als Diskrepanz von subjektiver Erkenntnis und Objekt sondern als Diskrepanz zwischen den bisherigen Überzeugungen eines Subjektes und neuen Erfahrungen, die damit nicht im Einklang stehen. Man sagt, dass man sich "geirrt" hat, wenn man aufgrund neuer Erfahrungen oder Überlegungen seine bisherige Überzeugung (das, was man bisher für wahr gehalten hat) nicht mehr aufrecht erhält sondern korrigiert. Dies ist die zeitliche Dimension: die Korrektur von Irrtümern und der Wandel der Überzeugungen ein und desselben Subjekt im Verlaufe der Zeit. Das Bestreben, von Irrtum frei zu sein, bezieht sich hier auf die intertemporale Stabilität der Erkenntnis desselben Subjektes.

Zum andern stellt sich das Problem des Irrtums dar als Diskrepanz zwischen den Überzeugungen des einen Subjektes und den Überzeugungen eines anderen Subjektes. Wenn zwei Subjekte etwas behaupten, was widersprüchlich ist, so muss sich mindestens eines der Subjekte irren. Sobald zwischen den Überzeugungen der Subjekte wieder Übereinstimmung besteht, ist das Problem des Irrtums nicht akut. Dies ist die Ebene der intersubjektiven oder interpersonalen Stabilität unserer Überzeugungen.

Wenn ich für meine Überzeugungen und Behauptungen eine intertemporal und intersubjektiv stabile Geltung erreiche, so habe ich alles, was ich brauche. Fragen, ob es Behauptungen geben kann, die intertemporal und intersubjektiv stabil sind, aber trotzdem "unwahr" sind, brauchen mich nicht weiter zu kümmern. Wenn ich über die Zeit hin keinen Grund habe, eine Überzeugung zu bezweifeln, und wenn eine Überzeugung zwischen allen andern Subjekten unstrittig ist, dann kann ich diese Überzeugung als "wahr" bezeichnen im Sinne einer - von meinem jetzigen Erkenntnisstand aus gesehenen - uneingeschränkten Geltung. Insofern kann man auf die problematische Forderung nach "Objektivität" verzichten.

***

Zeitunabhängiger Geltungsanspruch

Es macht keinen Sinn zu sagen: "Diese Behauptung war gestern richtig, aber heute ist sie falsch." Eine Behauptung, die heute falsch ist, war auch schon gestern falsch.  
 
Dem steht nicht entgegen, dass der Ratschlag "Du solltest Dir eine warme Jacke anziehen!" gestern, als Frost herrschte, richtig war, aber bei den heutigen frühlingshaften Temperaturen falsch ist.

Dieses etwas banale Beispiel soll nur klarmachen, dass der Anschein des Wechsels von "wahr" zu "falsch" allein dadurch entsteht, dass in den jeweiligen Behauptungen die relevanten Bedingungen nicht mit angegeben werden. Wenn man jedoch die Bedingungen explizit nennt, unter denen der Satz gilt, dann verschwindet das Problem.  
 
In unserem Fall sind es die unterschiedlichen Temperaturbedingungen, die nicht genannt wurden. Wenn man formuliert: "Wenn es draußen friert, sollte man sich warm anziehen!", so bleibt die Behauptung weiterhin richtig: sie ist insofern "zeitbeständig" - oder anders ausgedrückt: sie besitzt "intertemporale Geltung". Dieser Aspekt von Wahrheit steckt bereits in dem deutschen Wort "wahr", das mit Ausdrücken wie: "Es währt lange" und "Es bewährt sich" verwandt ist.

zum Anfang

***

Richtige Antworten

Eine Frage "beantworten" meint, sie "richtig" zu beantworten. "Richtigkeit"   enthält zum einen unausgesprochen den Anspruch auf dauerhafte  (intertemporale) und allgemeine (intersubjektive) Geltung, d. h.: wenn eine Antwort als "richtig" ausgezeichnet wird, dann soll sie jeder jederzeit seinem Denken und Handeln zugrunde legen.

Zum andern enthält die Auszeichnung einer Antwort als "richtig" im Kontext rationbaler wissenschaftlicher Argumentation auch die Zusicherung, dass der Geltungsanspruch mehr ist als ein bloßer Glaubens- und Gehorsamsanspruch. Wenn eine Antwort als "richtig" bezeichnet wird, dann bedeutet das zugleich, dass dieser Geltungsanspruch "vernünftig" eingelöst werden kann, also aufgrund von Argumenten (Begründungen), die im Prinzip für jedermann und jederzeit zwanglos einsichtig gemacht und nachvollzogen werden können.

***

Wahrheit - Glaube - Dogma

Wenn jemand etwas als "wahr" behauptet, dann erhebt er damit unausgesprochen einen allgemeinen Geltungsanspruch für diese Behauptung. Wenn er diesen Geltungsanspruch nicht durch Argumente begründet, die ich zum einen verstehen kann und die ich zum andern zwangfrei nachvollziehen, bejahen und übernehmen kann, dann verlangt er von mir nichts anderes, als dass ich ihm glauben soll. Aber warum sollte ich diesem Verlangen Folge leisten und meinen Kopf an der Garderobe abgeben?
 
Ich sehe auch keinen Grund, auf den Begriff der Wahrheit zu verzichten, denn er hat die sehr sinnvolle Funktion, den allgemeinen Geltungsanspruch in Bezug auf einen Satz auszudrücken.

Wenn ich etwas für wahr halten soll, ohne dass ich die Gründe dafür nachvollziehen und akzeptieren kann, so handelt es sich um ein Dogma, das ich glauben soll. Derartige Dogmen, mögen sie auch noch so viel Anhänger haben, sind etwas anderes als Erkenntnisse, die im Prinzip für jedermann nachprüfbar sind und die auch ich frei akzeptieren kann. "Wahrheit" ist immer eine Frage der Begründung durch nachvollziehbare Argumente. Mein Argument gegen eine dogmatische Position, die sich mir gegenüber nicht begründen will und die sich von mir nicht argumentativ in Frage stellen lässt, lautet: "Eine solche Position ist im buchstäblichen Sinn nicht 'diskutabel'."

Wenn eine solche dogmatische Position auch für mich verbindlich sein soll, dann ist dies Gewalt und dagegen darf und muss ich mich anders wehren als nur mit Argumenten.

zum Anfang

***

Wahrheit und Machtverhältnisse

Was in einer Gesellschaft als wahr gilt, mag eine Frage der Autoritäts- und Machtverhältnisse sein, aber niemals kann irgendjemand darüber entscheiden, was wahr ist. Wenn ich etwas für wahr halten soll, ohne dass ich die Gründe dafür nachvollziehen und akzeptieren kann, so handelt es sich um ein Dogma, das ich glauben soll. Derartige Dogmen, mögen sie auch noch so viele Anhänger haben, sind etwas anderes als Erkenntnisse, die im Prinzip für jedermann nachprüfbar sind und die auch ich frei akzeptieren kann. Wahrheit ist immer eine Frage der Begründung durch nachvollziehbare Argumente.

***

zum Anfang

Behauptungen und Protokolle der eigenen Wahrnehmung

Es gibt Protokolle der eigenen Wahrnehmung, z. B.: "Ich sehe dort einen Mann"
Wie wird der Übergang vollzogen zur Behauptung über die Wirklichkeit: "Dort ist ein Mann" ?

Diese Aussage ist im Unterschied zum Protokoll der eigenen Wahrnehmung unabhängig von einem bestimmten Sprecher.

(Achtung! Der erste Satz ist zugleich auch eine subjektfreie Behauptung über mein Sehen.)

Entspricht diesem Muster der Übergang vom subjektbezogenen Willensausdruck "Ich will, dass du kommst" zum normativen Satz "Du sollst kommen"?

Kann man sich bei dem Protokollsatz: "Ich sehe etwas Gelbes" irren?
Ich könnte die Bedeutung des Wortes "gelb" vergessen haben und mit "orange" verwechseln.

Auch wenn man Irrtum hier ausschließt, kann der Protokollsatz falsch sein, wenn das beobachtende Individuum lügt, also bewusst die Unwahrheit sagt.

***

Wenn man das Wort "wahr" benutzt, spricht man über Sätze .. mit all den Fallstricken, die damit verbunden sind.

***

Ich irre mich, wenn die Wirklichkeit nicht so beschaffen ist, wie ich gedacht oder erwartet habe.
Ich habe recht, wenn die Wirklichkeit so beschaffen ist, wie ich behauptet habe.

***

Begründet man die Behauptung oder begründet man die Richtigkeit dieser Behauptung? Oder macht beides keinen Unterschied? Deduziert wird die Behauptung, auf die bei Anwendung gültiger Schlüsse die Wahrheit übertragen wird.

***

Nicht immer muss eine Entscheidung über wahr und falsch getroffen werden. Der Wissenschaftler hat es gewöhnlich mit verschiedenen Annahmen zu tun, die er prüft, ohne dass er sich diese Annahmen zu eigen machen muss. Es geht also nicht immer um Behauptungen, über deren Wahrheit er entscheiden muss.

***

Eine These ist vertretbar, wenn es keine zwingenden Argumente gegen sie gibt. Es können mehrere unterschiedliche Thesen vertretbar sein, solange die Wahrheit nicht erwiesen ist.

zum Anfang

***

Informationsgehalt von Sätzen:

Ich kann dafür sorgen, dass ich immer recht habe, indem ich bei meiner Voraussage keine Möglichkeit ausschließe. Wenn ich von der Annahme ausgehe: "Morgen wird es regnen oder es wird morgen nicht regnen", so kann ich mich nicht irren. Die Annahme ist in jedem Fall richtig. Ebenso ist der Satz "Morgen wird es vielleicht regnen" immer richtig. Um sich irren zu können, muss man denkbare Möglichkeiten ausschließen.

Und eine Frage (z. B.: "Wird es morgen regnen?" ) muss ich mit "ja" oder "nein" beantworten, um mich dem Risiko eines Irrtums auszusetzen. Wenn ich mit "Ja oder Nein" antworte, dann hat die Antwort keinerlei Informationsgehalt. Man sagt in diesem Fall: "Das ist doch keine Antwort auf meine Frage!"

***

Wahrheiten im Plural

Man kann zwei Bedeutungen des Wortes "Wahrheit" unterscheiden: es gibt einmal "die Wahrheit" im Sinne des Geltungsanspruchs in Bezug auf bestimmte Sätze, z. B. wenn der Angeklagte sagt: "Herr Richter, ich sage die Wahrheit: Ich war es wirklich nicht!" Hier, wo "Wahrheit" heißt: "mit einem allgemeinen begründeten Geltungsanspruch versehen", kann es nur eine Wahrheit geben. Es macht keinen Sinn, zu sagen: "Ob Opfer oder Täter: Jeder hat seine eigene Wahrheit". Damit würde jede Argumentation sinnlos.  
 
Daneben gibt es aber auch eine andere Bedeutung von "Wahrheit", etwa wenn man sagt: "Der Bericht enthält einige Wahrheiten aber auch viele Unwahrheiten." Hier bedeutet "Wahrheit" soviel wie "wahrer Satz", und davon gibt es natürlich mehrere.  
 
Ich sehe kein Problem, wenn man aus mehreren wahren Sätzen auf einen anderen wahren Satz schließt, z. B. aus den Beschreibungen ihrer Tastwahrnehmungen durch verschiedene Individuen auf den getasteten Gegenstand.

***

Zwei Ebenen der Verwendung des Wortes "wahr"

Es gibt zwei Ebenen, auf denen das Wort "wahr" verwendet wird.

Einmal spricht man vom "wahr sein" einer Aussage. "Satz p ist wahr, wenn es so ist, wie p besagt" gehört auf diese Ebene. Hier kann man sagen: "p ist wahr oder falsch, unabhängig davon, ob und von wem p für wahr gehalten wird."

Aber wer stellt fest, ob es so ist? Dazu bedarf es der erkennenden Menschen.

Auf einer anderen Ebene liegt das "aussagen (behaupten, annehmen, beanspruchen etc.) dass etwas wahr ist".

Hierzu benötigt das betreffende Individuum Gründe, die seine Behauptung stützen und rechtfertigen.

Hier geht es nicht um die Wahrheit als Objektivität sondern um die Wahrheit als Intersubjektivität oder Allgemeingültigkeit.

***

Arten von Behauptungen

Wenn jemand für eine Behauptung "Wahrheit" beansprucht, dann fordert er damit allgemeine Zustimmung zu dieser Behauptung. Wenn dies nicht nur ein Glaubensanspruch sein soll, dann muss er den Wahrheitsanspruch durch allgemein nachvollziehbare und teilbare Argumente begründen.  

Welche Argumente nun zur Begründung taugen, hängt von der Art der Behauptung ab, um die es geht.

Der Satz "Gestern hat es in X-dorf geregnet" enthält eine singuläre empirische Aussage. Hier wird es auf Augenzeugen oder meteorologische Messergebnisse ankommen.

Der Satz: "Morgen wird es in X-dorf regnen" ist zwar auch empirisch, bedarf als Voraussage jedoch der Begründung aus Regelmäßigkeiten im Wettergeschehen.

Der Satz: "Man darf keine embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken verwenden" ist normativer Art und bezieht sich auf ein geltendes rechtliches oder moralisches Normensystem und ist von dorther zu begründen.

Der mathematische Satz "1 + 1 = 2" ist analytischer Art und ergibt sich aus den Definitionen und Axiomen der Mathematik.  
 
Je nach Art der strittigen Behauptung sind also andere Kriterien der Wahrheit anzuwenden, muss anders argumentiert werden, wobei es jedoch immer auf die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Argumente ankommt.

zum Anfang

***

Wahrheit jenseits des unterscheidenden Denkens?

Jemand sagt: "Die EINE WAHRHEIT wird nicht mit Denken erkannt oder gefunden, sondern jenseits des unterscheidenden Denkens und ist daher auch nicht in WORTEN formulierbar."

Damit habe ich jedoch meine Probleme. So möchte ich die Unterscheidung zwischen 'richtig' und 'falsch' nicht gerne aufgeben, denn das könnte lebensgefährlich werden. Man denke nur mal an den Fall, dass jemand einen defekten Lichtschalter auswechselt in der Annahme, die Drähte stünden nicht mehr unter Strom – und diese Annahme sei nicht richtig sondern falsch.

Die Rede von der EINEN WAHRHEIT, die nicht in Worten formulierbar ist und jenseits des unterscheidenden Denkens zu finden ist, kann ich nicht akzeptieren. Hier wird das Wort 'Wahrheit' offenbar nicht im üblichen Sinn verwendet, etwa wenn man eine strittige Behauptung als 'wahr' bezeichnet. Denn Behauptungen sind in Worte formulierte Sätze.

Die Verwendung des Wortes 'Wahrheit' zur Bezeichnung von etwas, das jenseits der gedanklichen Unterscheidung von richtig und falsch gefunden wird, geht am üblichen Verständnis von Wahrheit vorbei.

Man verwendet das Wort 'Wahrheit' gerade zur Auszeichnung dessen, was sich für alle und dauerhaft bewährt hat, im Unterschied zu Irrtum und Lüge. (Wahrheit ist eben deshalb einer der zentralen Werte – insbesondere für Philosophen.)

zum Anfang

***

Wahrheit contra Macht?

Die Forderung nach allgemeiner Nachvollziehbarkeit von Behauptungen und deren Begründungen soll dazu beitragen, dass strittige Fragen nicht durch die Macht des Stärkeren sondern "vernünftig", also auf Grund von allgemein nachvollziehbaren und einsehbaren Argumenten entschieden werden.  
 
Dass dies häufig nicht der Fall ist und bloße Macht entscheidet, ist wohl richtig. Aber gerade wenn dies der Fall ist, kann ich mit Hilfe meiner Position den nicht eingelösten Wahrheitsanspruch geißeln. Ich kann der herrschenden Gewalt ihre Verbrämungen herunterreißen und sie als bloße Gewalt ohne Rechtfertigung identifizieren.

***

Was streben wir an, wenn wir uns um Wahrheit bemühen?

Angesichts rivalisierender Wahrheitskonzeptionen scheint eine Entscheidung zwischen ihnen nur möglich durch eine Klärung dessen, was wir eigentlich anstreben, wenn wir "Wahrheit" anstreben.

Wir suchen offenbar nach Antworten, auf die sich im Idealfall jeder jederzeit verlassen kann. Diese intertemporale ("wahr" impliziert "für immer gültig" ) und intersubjektive ("wahr" impliziert "für alle gültig" ) Übertragbarkeit und Zuverlässigkeit der Antworten macht die Suche nach Wahrheit überhaupt erst lohnend.

Außerdem suchen wir nach Antworten, deren Gültigkeit nicht nur behauptet sondern auch argumentativ begründet werden kann. Zwar kann eine Antwort zufällig wahr sein, ohne dass dies gegenwärtig jemand begründen oder auch nur vermutet, jedoch darf ein Anspruch auf Wahrheit für eine Behauptung nur insoweit erhoben werden, wie er durch Argumente gestützt werden kann. Gute Argumente haben die Eigenschaft, die Überzeugung jedes wahrheitssuchenden und verständigen Individuums durch ihre bloße Kenntnis zugunsten der gestützten Antwort zu verändern.

Der Satz "Am 24.12.2020 wird es in Berlin schneien" mag wahr sein, aber er ist gegenwärtig nicht überzeugend begründbar und somit auch nicht konsensfähig. Insofern ist Konsensfähigkeit keine notwendige Bedingung für Wahrheit.

Ist argumentative Konsensfähigkeit eine hinreichende Bedingung für Wahrheit? Kann man sagen: "Immer wenn ein Satz überzeugend begründbar ist, dann ist er wahr" ?

Hier muss meines Erachtens differenziert werden: Wenn ich über überzeugende Argumente verfüge, so bin ich berechtigt, einen Wahrheitsanspruch für den betreffenden Satz zu erheben bzw. ihn zu behaupten. Das heißt jedoch nicht, dass der Satz damit endgültig wahr ist. Begründbarkeit wäre - um mit N. Rescher zu sprechen - ein "berechtigendes" aber kein "garantierendes" Kriterium" für Wahrheit. "Wahr" ist ein zeitunabhängiges Prädikat. Ein Satz, der heute wahr ist, muss auch morgen wahr sein.

Demgegenüber sind die verfügbaren Begründungen im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen, insofern als wir neue Wahrnehmungen und Argumente aufnehmen. Es kann also sein,  dass wir in Bezug auf ein und denselben Satz, dessen Wahrheitswert intertemporal derselbe bleibt, zum einen Zeitpunkt berechtigterweise einen Wahrheitsanspruch erheben, während wir dies zum andern Zeitpunkt nicht können. Deshalb kann es passieren, dass wir in Bezug auf einen Satz einen (relativ zur verfügbaren Begründung) berechtigten Anspruch auf Wahrheit erheben und dass dieser Satz zugleich falsch ist. Wir haben uns dann zwar geirrt, doch haben wir keinen argumentativen Fehler gemacht.

Formal gesehen ist eine argumentative Begründung eine Herleitung des fraglichen Satzes aus anderen Sätzen mittels bestimmter Schlussregeln, die garantieren, dass es sich nur um Umformungen der Bedeutung der Prämissen und nicht um die Einbringung anderer Bedeutungsgehalte handelt.

Wenn damit ein definitiver Wahrheitsbeweis erbracht werden soll, so setzt dies voraus, dass die zum Ausgangspunkt der Begründung herangezogenen Sätze ihrerseits wahr sind und dass díe verwendeten gültig, also 100prozentig wahrheitserhaltend sind. Dies scheint jedoch nur bei tautologischen Sätzen möglich zu sein.

Sowohl die zum Ausgangspunkt der Begründung herangezogenen Prämissen als auch die verwendeten Schlussregeln können Fehler enthalten, so dass eine Begründung immer nur mehr oder weniger "zwingend" sein kann.

Begründbarkeit ist also ein graduell abstufbarer Begriff, wobei es möglich scheint, in Bezug auf vorgelegte Begründungen methodologisch abzuschätzen, in welchem Maße diese Begründungen für Revisionen und Korrekturen  anfällig sind.

Verkürzt gesprochen heißt das: Wissenschaftler behaupten nicht nur etwas und begründen dies, sondern sie geben dazu auch eine Einschätzung der Grades an Sicherheit bzw. "Irrtumswahrscheinlichkeit" für ihre Behauptungen (zumindest sollten sie dies als gute Wissenschaftler tun.)

Ich glaube dabei nicht, dass in Bezug auf Begründungen der infinite Regress von Begründungen eine reale Gefahr darstellt, denn bestimmte Arten von Behauptungen sind praktisch keiner weiteren Begründung mehr fähig und bedürftig, so dass sie als Ausgangspunkte von Begründungen dienen können.

Welches diese "Basissätze" innerhalb normativer Argumentation sein können, stellt eine entscheidende Frage jeder Normenbegründung dar. Die Basissätze müssen zumindest zwei Bedingungen erfüllen: zum Einen müssen mindestens einige von Ihnen selber einen normativen Gehalt haben, um daraus normative Behauptungen ableiten zu können. Zum Andern müssen sie selber allgemein konsensfähig sein, um einen Anspruch auf Wahrheit im Sinne intersubjektiver und intertemporaler Gültigkeit begründen zu können

Mir scheint, dass die individuellen Willensinhalte geeignete Ausgangspunkte normativer Argumentation über das, was die Leute tun sollen, darstellen. Normen bzw. Soll-Sätze stellen selber Willensinhalte dar, allerdings ohne Bezug auf ein bestimmtes wollendes Subjekt. Sie drücken insofern ein "allgemeines Wollen" aus.

Die Frage ist natürlich, welches die "richtige" Messmethode und Aggregationsregel ist, um von den individuellen Willensinhalten zum allgemeinen Willensinhalt zu gelangen.

Außerdem stellen intrinsische individuelle Wertungen insofern einen geeigneten Ausgangspunkt der Argumentation dar, als es keinen Sinn macht, für den Satz: "Ich ziehe ceteris paribus Schmerzlosigkeit dem Schmerz vor" nach weiteren Begründungen zu verlangen.

Es erscheint mir zumindest plausibel, dass das, was das allgemeine Beste ist, auch das ist, was sein soll.

***

" Wahr" ist keine Eigenschaft eines Satzes. Die Auszeichnung eines Satzes als wahr bedeutet: "Wer diesen Satz seinem Denken und Handeln zugrunde legt, der wird nicht enttäuscht und braucht sich nicht zu korrigieren".

An dieser Formulierung wird deutlich, dass es kein definitives Kriterium der Wahrheit geben kann. Es ist unmöglich, für alle möglichen Subjekte und für alle Zeiten zu wissen, dass ein Satz nicht enttäuschen wird. (Obwohl es Sätze gibt, die wohl nie korrekturbedürftig sein werden. Etwa wenn ich konstatiere: "Ich habe jetzt Schmerzen".)

***

Zum Verhältnis von Wahrheit und Konsens:

Es erscheint mir kein gangbarer Weg zu sein, aus der Bedeutung der Begriffe "Wahrheit" bzw. "Begründung" die Forderung nach argumentativer Konsensfähigkeit herausholen zu wollen

Argumentative Konsensfähigkeit (oder auch: allgemein überzeugende Begründbarkeit) ist nicht bereits im Wahrheitsbegriff enthalten sondern ergibt sich erst als Konsequenz einer wissenschaftlichen (rationalen) Erkenntnishaltung.

Damit verschiebt sich die Diskussion: der Streit geht jetzt nicht mehr um die Wörter "Wahrheit" oder "Begründung" und deren Bedeutung, sondern es geht um die Rechtfertigung einer bestimmten Zielsetzung. Die Rechtfertigung für diese Zielsetzung ergibt sich - zugespitzt gesprochen - daraus, dass es sinnlos ist, mit jemandem über die Beantwortung irgendwelcher Fragen zu diskutieren, wenn es dem andern gar nicht um die wahre und auch für andere nachvollziehbar begründete Antworten geht.

***

Um nicht doktrinär zu werden und wegen der Vielschichtigkeit der normativen Problematik  erscheint es sinnvoll, einmal die tatsächlich vorgetragenen Argumente zusammenzutragen und in ihrer logischen Struktur möglichst klar herauszuarbeiten.

***

Ein Satz ist normativ wahr, wenn es so sein soll, wie der Satz es fordert. (Man kann auch den Ausdruck "allgemeingültig" verwenden, falls man den Terminus ´" wahr" für empirische bzw. logische Wahrheit reservieren will). Normsätze besagen, dass etwas so-und-so sein soll, und insofern können sie dann normativ wahr sein.

Als Sätze mit begründbarem Wahrheitsanspruch können sie auch behauptet werden, stellen also Behauptungssätze dar.

***

Zu meinem Vorgehen:

Ich versuche, eine sozialutilitaristische Konzeption aus dem Ziel der rationalen Wahrheitssuche (intersubjektive Begründbarkeit etc.) abzuleiten. Dabei setze ich keinerlei Normen voraus. Die Begründung der Moral erfolgt insofern außermoralisch.

***

Der Konsens über eine Behauptung ist nicht das eher beiläufige Ergebnis der argumentativen Begründung dieser Behauptung, sondern die Güte von Begründungen bemisst sich daran, inwieweit sie einen allgemeinen Konsens über die Behauptung herbeiführen können, also inwieweit sie allgemein überzeugend und einsichtig sind.

Wenn es um Wahrheit im Sinne von Wahrheit für jeden geht, dann müssen auch die Begründungen von Wahrheitsansprüchen Begründungen für jeden sein. Die methodologischen Regeln für Begründungen (die je nach der Art der zu begründenden Behauptung verschieden sein werden), sind deshalb bereits auf die Herstellung des allgemeinen Konsens hin konstruiert, indem Willkürlichkeit, Subjektivität, Unklarheit, mangelnde Nachvollziehbarkeit und Unverständlichkeit abgewertet werden. Die Begründung eines Wahrheitsanspruchs, die für mich stark bzw. schwach ist, muss deshalb auch für jeden andern stark bzw. schwach sein (abgesehen von Erkenntnisunterschieden, die aus der individuellen Perspektive herrühren).

Weil in die Regeln guter Begründung die allgemeine Konsensfähigkeit als Ziel bereits "eingearbeitet" ist, kann auch Einer allein für sich Wahrheitsansprüche begründen. Dadurch wird die Konsensfähigkeit als Kriterium nicht überflüssig, wie etwa Tugendhat meint, sondern bleibt weiterhin maßgebend - wenn auch nur indirekt. Denn die Regeln und Maßstäbe argumentativer Begründung in Bezug auf bestimmte Arten von Behauptungen liegen ja nicht fertig vor, sondern sind umstrittener Gegenstand in methodologischen Diskusssionen.

Man kann die Begriffe "Begründung" und "allgemeine Übereinstimmung" nicht völlig auseinander reißen, weil sich erfolgreiche Begründung daran misst, ob sie eine allgemeine Übereinstimmung herbeiführen kann.

***

Wenn Konsensfähigkeit als Kriterium für Wahrheitsansprüche brauchbar sein soll, dann muss man die Bedingungen spezifizieren, unter denen der mögliche Konsens in einen tatsächlichen Konsens übergeht. Durch diese Bedingungen müssen diejenigen Hindernisse der Zustimmung beseitigt werden, die nicht zu Lasten der betreffenden Behauptung und ihrer Begründung gehen, sondern zu Lasten des Individuums, um dessen Zustimmung es geht.

Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Individuum ...
- die Behauptung und ihre Begründung gar nicht kennt oder nicht richtig versteht, sie also nicht gedanklich nachvollziehen kann,
- nicht bereit ist zu einer unvoreingenommenen Prüfung der Behauptung und der Argumente, auch wenn diese langgehegten und liebgewordenen eigenen Überzeugungen widersprechen,
- unwahrhaftig in der Äußerung seiner eigenen Überzeugungen ist,

Ein solches Vorgehen ist keineswegs zirkulär.

***

Gegen das Konzept der Konsensfähigkeit wird eingewendet, dass z. B. eine unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeit oder die unterschiedliche mathematische Schulung die Konsensfähigkeit als Kriterium für die Berechtigung von Behauptungen ungeeignet macht, da dadurch kein Konsens zustande kommen kann.

Dies ist nicht richtig. Wenn ich z.B. besonders lichtstarke Augen habe, so bleibe ich zu der Behauptung berechtigt, dass der Fleck dort hinten im Dämmerlicht von roter Farbe ist, auch wenn die meisten Individuen unter diesen Bedingungen die Farbe nicht erkennen würden.

Denn der Konsens könnte könnte ja dadurch hergestellt werden, dass sie Licht machen und näher herangehen. Sollten meine Wahrnehmungen jedoch auch unter den besten Bedingungen von den andern nicht bestätigt werden, so dürfte ich auch keine entsprechenden Behauptungen mit allgemeinem Geltungsanspruch aufstellen.

Bei der Frage nach der Integrierbarkeit von Gleichungen sind z. B. die Leute in der U-Bahn nicht maßgeblich, weil sie die Behauptung, dass die Gleichung integrierbar ist, meist gar nicht verstehen und eine Begründung hierfür gedanklich nicht nachvollziehen können.

Die Frage nach der Konsensfähigkeit muss also unter der Vorraussetzung bestimmter Qualifikationen der Individuen gestellt werden, z. B. so:

Alle Personen,
- die die Behauptung "Dieser Fleck ist rot" richtig verstehen,
- denen es um die Wahrheit dieser Behauptung geht,
- die ihre Überzeugung hierzu ehrlich äußern,
- die nicht farbenblind sind,
- die den Fleck unter idealen Bedingungen sehen (bei Tageslicht aus der Nähe),
werden der Behauptung zustimmen, dass dieser Fleck rot ist.

Wenn ich den Satz: "Dieser Fleck ist rot" begründe mit dem Satz: "Ich sehe diesen Fleck deutlich als roten Fleck vor mir", so beziehe ich mich auf eine Art met
hodologische Regel, die man vielleicht so formulieren kann: "Wenn jemand etwas deutlich wahrnimmt, so ist es in der Regel so, wie er es wahrnimmt".

Die Begründung für diese methodologische Regel besteht darin, dass eine bestimmte Farbe auch von allen andern als dieselbe wahrgenommen wird. Hätte sich jemand bei der Begründung dagegen nicht auf die übereinstimmende Wahrnehmung sondern auf Eingebungen, Träume, heilige Schriften oder ähnliches berufen, so wären diese Begründungen nicht akzeptabel, weil es bei diesen Erkenntnisquellen hinsichtlich der Beschaffenheit der Welt keine intersubjektive Übereinstimmung gibt.

Gegen diese Position hat z. B. Tugendhat eingewendet, dass jemand, der sich bei der Begründung  des Satzes 'x ist rot' nicht auf seine visuelle Wahrnehmung beruft, den Satz gar nicht verstanden hat, denn nach seiner Auffassung machen die Verifikationsregeln die Bedeutung eines Satzes aus. Diese beziehen sich bei dem Ausdruck "ist rot" eben auf die visuelle Erfahrung (so Tugendhat in: Probleme der Ethik, S.81 und 116). Tugendhat sieht in der Methodologie und der Wissenschaftstheorie offenbar Teilgebiete der Semantik: "Wenn es sich um Fragen handelt, wie ein bestimmter Typus von Sätzen zu begründen ist, ... sehen wir uns ...auf die semantische Struktur dieser Sätze verwiesen" (S. 61).

Meines Erachtens kann die sprachliche Bedeutungsanalyse dies allein nicht leisten. In der Bedeutung des Wortes "rot" ist m. E. nicht enthalten, dass man die Frage, ob etwas rot ist, durch Hinsehen und nicht durch Eingebung oder etwas anderes zu entscheiden hat.

Kann man einen Satz nur dann verstehen, wenn man zugleich weiß, wie er zu verifizieren ist? Sagt mir die Bedeutungsanalyse, dass ich bei der Frage nach Alter und Entstehung der Erde nicht in die Bibel schauen muss, sondern physikalische Untersuchungen anstellen muss?

Aber selbst wenn man  die Frage der Gütekriterien für Begründungen über die Bedeutungsanalyse beantworten will (was in der Ethik bisher zu wenig überzeugenden Ergebnissen geführt hat) so bleibt die Rolle des Konsens doch weiterhin zu klären und erschöpft sich nicht darin, dass der Konsens nur eine Folge dessen sei, "dass alle eben dieselben Begründungsregeln anwenden." (S.116).

Wie kann ich denn feststellen, ob der andere dieselben Verwendungsregeln  für ein Wort hat wie ich? Doch nur anhand seiner Übereinstimmung mit mir in Bezug auf eindeutige Standardbeispiele.

Das Erlernen elementarer Wörter einer Sprache geschieht nicht in der Weise, dass der Lehrer dem Schüler die Verwendungsregeln für das Wort beibringt, sondern der Lehrer versucht von Anfang an, dass die Sätze des Schülers in der Anwendung mit seinen eigenen übereinstimmen. Die Übereinstimmung in Bezug auf die Standardbeispiele ist geradezu der Maßstab des Erfolges beim Erlernen der Sprache. Erst anhand des Faktums, dass die selbständigen Urteile des Schülers in Bezug auf die Standardfälle mit seinen eigenen Urteilen übereinstimmen, kann der Lehrer zu dem Schluss kommen, dass der Schüler die gleiche Sprache spricht wie er selber. Die Übereinstimmung ist also zugleich auch das Kriterium für die Befolgung der gleichen sprachlichen Verwendungsregeln.

Wo sich diese Übereinstimmung zwischen Lehrer und Schüler nicht herstellen lässt - z. B. weil der Schüler nur schwarz-weiß sieht - kann es auch keine gemeinsamen Sprachverwendungsregeln und Begründungsregeln geben. Insofern ist die Übereinstimmung auch eine Voraussetzung für die Existenz einer gemeinsamen Sprache.

***

Die mangelnde Überzeugungswirkung von Argumenten ist nicht selten den Adressaten der Argumente anzulasten, etwa wenn jemand für Argumente gar nicht empfänglich ist, weil er von vornherein nicht bereit ist, seine Vorurteile in Frage stellen zu lassen. Indiz hierfür ist z. B.,
- dass er Argumente gar nicht zur Kenntnis nehmen will,
- dass er Argumente von vornherein als irrelevant oder falsch abtut oder
- dass er mit einem totalen Ideologievorwurf operiert.
Es gibt hier sowohl intellektuelle als auch emotionale Beschränkungen der Vernünftigkeit.

***

Wenn man die beiden Sätze: "Ich bin berechtigt zu behaupten, dass p" und "Es ist richtig, dass p" nicht unterscheidet, dann ergeben sich problematische Konsequenzen, wie z. B. die, dass die Wahrheit eines Satzes von den uns gerade verfügbaren Möglichkeiten der Begründung dieses Satzes abhängt und dass damit p heute wahr sein kann und morgen falsch.

***

Wahrheit in normativen Fragen?

 

Der Anspruch auf "Wahrheit" beinhaltet den Anspruch auf "intersubjektive" und "intertemporale", also person- und zeitunabhängige Anerkennung und Geltung und muss durch Argumente eingelöst werden, die im Prinzip von jedem anderen nachvollziehbar und über die Zeit hin beständig sind.
 
Dies ist  bewusst so formuliert, dass es nicht nur auf Behauptungen faktischer Art angewendet werden kann, wie sie in den Erfahrungswissenschaften aufgestellt werden, sondern im Prinzip auf jede Art von Behauptungen – also auch auf Werturteile, moralische Urteile, normative Sätze, Sinndeutungen – sofern sie mit dem Anspruch "recht zu haben" erhoben werden.

***

Ist es nur dann sinnvoll, von "moralischem Wissen" zu reden, wenn es auch eine "moralische Realität" gibt?

Dagegen spricht, dass wir uns mit moralischen Fragen konfrontiert sehen ("Wie soll man in der Situation s handeln?") und dass wir die richtige Antwort darauf nicht "wissen". Ich halte es insofern für sprachlich ohne weiteres vertretbar, die richtigen Antworten auf gestellte Fragen als "Wissen" oder "Erkenntnis" zu bezeichnen.

***

Zu fordern, dass die gesuchten Normen zeitunabhängige Gültigkeit besitzen sollen, heißt nicht, dass damit Normen gesucht werden, die immer und zu jeder Zeit angewandt werden können. Die Zustimmungsfähigkeit von Normen hängt  von den jeweiligen Verhältnissen ab. Diese Verhältnisse ändern sich und damit müssen sich auch die Normen ändern, die zur Anwendung kommen. Die auf die früheren Verhältnisse bezogenen Normen werden deshalb nicht falsch, aber sie veralten und sie sind auf die neuen Verhältnisse nicht mehr anwendbar. 

***

Es ist sinnvoll, die Diskussion über die allgemeine Konsensfähigkeit von Normen mit der erfahrungswissenschaftlichen Diskussion über die Wahrheit von Aussagen zu vergleichen, um klar zu machen, dass über die Konsensfähigkeit einer Norm weder abgestimmt wird, noch dass irgendein Wissenschaftler darüber entscheidet, ob eine Norm konsensfähig ist oder nicht, so wie über die Wahrheit faktischer Aussagen weder abgestimmt werden kann, noch irgendein Wissenschaftler darüber entscheiden kann.

Trotzdem macht es Sinn, wenn ein Wissenschaftler die Antwort auf eine Frage nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit gibt und seine Antwort behauptet in der Weise, dass er damit den Anspruch an alle andern verbindet, diese Antwort ebenfalls zu bejahen.

Als moderner Wissenschaftler, der die Methodologie der Erfahrungswissenschaften mit der Muttermilch eingesogen hat, ist es für ihn selbstverständlich, dass er für seine Behauptung intersubjektiv nachvollziehbare (konsensfähige!) Gründe anführen muss wie z. B. die genaue Beschreibung der Versuchsanordnung und der Erhebung der Beobachtungsdaten.

Dass man zur Beantwortung von Fragen nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit kontrollierte Beobachtungen und Experimente machen muss, war noch vor ein paar hundert  Jahren keineswegs unumstritten und die Methodologie der Erfahrungswissenschaften ist auch nicht von heute auf morgen entstanden.

Es geht um den Aufbau einer in vergleichbarer Weise auf die intersubjektive Nachvollziehbarkeit aller Behauptungen und Argumente ausgerichteten Methodologie im Bereich normativer Fragen. Die Frage lautet:

Welche methodischen Regeln müssen beachtet werden, wenn man Fragen danach, wie Menschen unter bestimmten Bedingungen handeln sollen, konsensfähig beantworten will?

Die Ausrichtung am Kriterium der allgemeinen Konsensfähigkeit kann der Ethik zu einem ähnlich gesicherten Erkenntnisfortschritt verhelfen, so wie es das Konsens stiftende Kriterium der intersubjektiv übereinstimmenden Beobachtung in den Erfahrungswissenschaften getan hat.

  ***

Wie will man eine konkrete ethische Frage richtig beantworten, wenn unklar ist, was in Bezug auf ethische Fragen überhaupt "Richtigkeit" (bzw. "Wahrheit" oder "Allgemeingültigkeit") bedeuten kann? Ohne gesicherte Grundlagen stehen alle Ergebnisse auf schwankendem Grund.


 

***

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Wahrheit - eigene Diskussionsbeiträge ** (536 K)

***

zurück zum Anfang
Alphabetische Liste aller Texte
Übersicht

Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Wahrheit: Begriff und Kriterium"
Letzte Bearbeitung 14.11.2007 / 06/2015 / Eberhard Wesche

Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, auch Freunde, Kollegen und Bekannte auf die "Ethik-Werkstatt" hinzuweisen.