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10 Thesen

zu den methodologischen Grundlagen normativer Erkenntnis


1.) Was den Bereich der positiven (empirischen) Wissenschaften angeht, so existiert hier - bei allen Problemen und Kontroversen im Einzelnen - doch ein tragfähiges methodologisches Fundament, das weiter ausbaufähig ist.

2.) Die Kritik der logischen Positivisten am Fehlschluss vom Sein auf das Sollen ist berechtigt. Damit entfallen viele traditionelle Versuche der Normenbegründung.

[Der Fehlschluss vom Sein auf das Sollen besteht darin, dass man aus dem, was ist, logisch herleiten will, was sein soll. Wo dies scheinbar gelingt, wird mit versteckt normativen Begriffen wie "Wesen", "Natur", "Widerspruch", "Fortschritt" etc. gearbeitet.]

3.) Wenn man die geltenden sozialen Normen nicht nur als Ausdruck von Machtverhältnissen ansehen will, dann darf man die normativen Fragestellungen nicht ignorieren.

4.) Ein tragfähiger Ausgangspunkt für eine Methodologie normativer Erkenntnis können Überlegungen zu den Vorraussetzungen jeder Argumentation sein, wie sie als "Theorie des Diskurses" von Habermas und anderen vorgetragen wurden. Wie auch in allen anderen Erkenntnisbereichen, wo Behauptungen mit dem Anspruch auf Richtigkeit formuliert werden, so gilt auch für normative Erkenntnis die folgende methodische Grundregel: "Strebe nach intersubjektiver Gültigkeit deiner Behauptungen." Eine Behauptung wird dann als intersubjektiv gültig betrachtet, wenn über sie ein dauerhafter argumentativer Konsens möglich ist.

[Normative Sätze wie z. B. "Der Abbruch einer Schwangerschaft sollte bestraft werden" oder "Entscheidungen auf dem Gebiet X sollen durch Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden" oder "Individuum A soll jetzt schweigen" können als Behauptungen aufgefasst werden, die mit dem Anspruch auf Richtigkeit und intersubjektive Geltung auftreten. Dieser Geltungsanspruch kann nur dadurch begründet werden, dass für die betreffende Behauptung gezeigt wird, dass über sie durch Argumentation ein Konsens hergestellt werden kann.

Der Begriff "intersubjektive Gültigkeit" ist umfassender als der in den Erfahrungswissenschaft gebräuchliche Begriff der Wahrheit, insofern als er nicht nur auf Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit anwendbar ist sondern auf jegliche Art von Behauptungen, seien sie nun positiver, normativer, Sinn deutender oder anderer Art. Dies ist der Punkt des Dissens mit den Positivisten, die Normen als subjektive Setzungen oder subjektive Wünsche auffassen.

Aus der oben formulierten Regel: "Strebe nach intersubjektiver Gültigkeit deiner Behauptungen" lassen sich weitere methodische Regeln für die Beantwortung normativer Fragen ableiten wie z. B. das Gebot der Verständlichkeit aller Argumente, das Gebot der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit aller Argumente oder der Ausschluss gewaltsamer oder manipulativer – also nicht-argumentativer - Formen der Beeinflussung.

Selbstverständlich kann jemand das Ziel intersubjektiver Gültigkeit ablehnen, aber dies kann er nur um den Preis, dass er damit aus der Diskussion ausscheidet. Wenn jemand für seine Behauptungen Anerkennung bzw. Geltung verlangt, ohne sich zugleich dem Kriterium argumentativer Konsensfähigkeit zu stellen, so handelt es sich um Glaubens- und Gehorsamsforderungen, denen mit anderen Mitteln als mit Argumenten begegnet werden muss.]

5.) Im Unterschied zu positiven Behauptungen, die ein betrachtendes Verhältnis zur Welt ausdrücken, handelt es sich bei normativen Behauptungen um ein Willensverhältnis zur Welt. Normative Soll-Sätze ("Zustand x soll sein") drücken einen Willensinhalt aus ("Jemand will, dass Zustand x ist"), allerdings ohne ein bestimmtes Subjekt zu nennen. Wessen Wille drückt sich in moralischen Normen aus?  Vereinfacht könnte man sagen: Was wir als Einzelne sollen, ist das, was wir als Gesamtheit dauerhaft wollen. Damit stellt sich als Bezugspunkt normativer Erkenntnis die Frage: "Was können wir am ehesten gemeinsam dauerhaft wollen?" (Dabei umfasst das "wir" all jene Personen, denen gegenüber der Anspruch auf Richtigkeit der betreffenden Norm erhoben wird.)

[Bei Diskussionen über positive Behauptungen ist die Möglichkeit eines argumentativen Konsens im Prinzip durch intersubjektiv übereinstimmende Sinneswahrnehmungen gegeben: "Überzeuge Dich mit eigenen Augen davon, dass meine Behauptung stimmt." Ein entsprechendes Kriterium ist auch für normative Behauptungen notwendig. Dazu muss geklärt werden, was einen Dissens in normativen Fragen eigentlich ausmacht. Nach der hier vertretenen Position ist eine Meinungsverschiedenheit in Bezug auf normative Behauptungen Ausdruck eines Interessenkonfliktes.]

6.) Ein argumentativer Konsens über das kollektive Interesse und damit über das, was sein soll, erscheint im Fall unterschiedlicher individueller Interessen nur dann möglich, wenn jeder die Interessen jedes andern so berücksichtigt, als seien es zugleich seine eigenen. Entsprechend diesem "Solidaritätsprinzip" lässt sich das kollektive Interesse als unparteiische und wohlwollende Zusammenfassung der individuellen Interessen bestimmen. Oder, formuliert in der Nutzenterminologie der Entscheidungstheorie: Der kollektive Nutzen einer Alternative wird bestimmt als Zusammenfassung der unparteiisch bestimmten individuellen Nutzen.

[Aus dieser These wird deutlich, dass hier an utilitaristische Positionen angeknüpft wird, die in der deutschen philosophischen Traditionen allerdings stets einen schlechten Ruf hatten - zu Unrecht, wie ich meine. Allerdings wird hier nicht der psychologische und ethische Hedonismus des älteren Utilitarismus übernommen. Außerdem ist natürlich die Begründung für das Prinzip der solidarischen Interessenberücksichtigung eine andere.]

7.) Eine solche solidarische Bestimmung des Gesamtinteresses setzt die Kenntnis und Gewichtung der individuellen Interessen voraus, also eine interpersonal vergleichbare Nutzenmessung. (Hier liegen noch die größten Schwierigkeiten dieses Ansatzes).

[Unter dem Einfluss des Behaviorismus haben die meisten Ökonomen die Möglichkeit eines interpersonalen Nutzenvergleichs verworfen. Richtig daran ist, dass Nutzen keine Dimension ist, die gewöhnlicher empirischer Messung zugänglich ist. Versuche der Operationalisierung, etwa indem man die relative Stärke von Interessen an der Bereitschaft der Individuen misst, für deren Befriedigung ein bestimmtes Quantum an Zeit, Geld oder ähnlichen Gütern zu opfern, werden der Forderung nach solidarischer Interessenberücksichtung nur höchst unvollkommen gerecht, da z. B. die Ausstattung der Individuen mit Zeit oder Geld unterschiedlich sein kann. In Bezug auf den erkenntnistheoretischen Status der interpersonalen Interessenabwägung bestehen noch erhebliche Unklarheiten.]

8.) Art und Gewichtung der Interessen eines andern Menschen kann man zumindest im Prinzip durch Identifikation mit dem andern einschätzen. Dazu muss man sich gedanklich in die Lage des anderen hineinversetzen und muss sich dessen Lebensbedingungen und persönlichen Eigenschaften möglichst intensiv vergegenwärtigen.

[Eine derartige Abwägung zwischen eigenen und fremden Interessen wird im sozialen Zusammenleben ständig mehr oder weniger bewusst praktiziert. Trotz aller Schwierigkeiten, andere Menschen in ihren Interessen "verstehen" zu können, erscheint es nicht als ausgeschlossen, dass Methoden entwickelt werden, die diese Interessenabwägung intersubjektiv kontrollierbar und übereinstimmend ermöglichen.]

9.) Dabei fallen die zu berücksichtigenden individuellen Interessen nicht notwendigerweise mit den vom betreffenden Individuum faktisch geäußerten Interessen zusammen, da ein Mensch sich über seine wirkliche Interessenlage täuschen kann. Vermeintliche Interessen sind für die Bestimmung des allgemeinen Interesses ungeeignet, weil sie nicht dauerhaft sein können. In die Bestimmung des Gesamtinteresses sollen möglichst aufgeklärte individuelle Interessen eingehen, womit diejenigen Interessen gemeint sind, die das Individuum hätte, wenn es über Alternativenbereich, Handlungsfolgen und Herkunft seiner Motive von richtigen Annahmen ausgehen würde.

[Dass die ethisch relevanten Interessen nicht mit den faktisch geäußerten Interessen identisch sein müssen, ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass man selber vergangene Entscheidungen bereuen kann. Allerdings wird es aus praktischen Gründen häufig sinnvoll sein, den Individuen die Bestimmung ihrer Interessen selbst zu überlassen, wie dies bei demokratischen Abstimmungen oder Marktvorgängen auch geschieht. Nach der hier entwickelten Position sollten jedoch nur qualifizierte und intersubjektiv nachvollziehbare Interessen in die Bestimmung des Gesamtinteresses eingehen.]

10.) Der Austausch aller verfügbaren Argumenten führt in realen Diskussionen nicht immer zu einem Konsens. Aufgrund fehlenden Wissens über die zu erwartenden Handlungsfolgen können zum Beispiel mehrere Meinungen rational vertretbar bleiben. Um trotz unterschiedlicher Meinungen der Individuen über die richtige Norm dennoch die soziale Koordination zu gewährleisten, sind zusätzlich zur Ebene der Diskussion Verfahren und Institutionen erforderlich, die allgemein verbindliche Normen setzen.


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Letzte Bearbeitung 30.05.2008 / Eberhard Wesche

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