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Theorieansätze in der Politikwissenschaft

 
Inhalt:

Einleitung
Der empirisch-analytische Ansatz
Der normativ-ontologische Ansatz
Der kritisch-dialektische Ansatz


Textanfang

Einleitung

In den deutschsprachigen Einführungen in die Politikwissenschaft ist es üblich, drei verschiedene Ansätze bzw. theoretische Richtungen in der Politikwissenschaft zu unterscheiden, 1. den deduktiv-empirischen Ansatz, 2. den ontologisch-normativen Ansatz und 3. den dialektisch-historischen Ansatz.


Der empirisch-analytische Ansatz ist als wissenschaftliche Schule in der deutschen Politikwissenschaft weniger klar auszumachen. Entschiedene Vertreter einer streng positiven, werturteilsfreien Wissenschaft gab es eher in der deutschen Soziologie und Philosophie als in der Politologie. Zu nennen wären hier Ernst Topitsch, Hans Albert, Erwin Scheuch und Ralf Dahrendorf, die im Positivismusstreit der sechziger Jahre in der deutschen Soziologie das empirisch-analytische Wissenschaftsprogramm vertreten haben. Jedoch hat diese Richtung auch in der Politikwissenschaft einen erheblichen Einfluss gehabt, insbesondere im Bereich der empirischen Wahl-, Parteien-, Elite- und Meinungsforschung, wie sie vor allem in Köln, Mannheim, aber auch an Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung betrieben wurden. Zu nennen sind hier Namen wie Rudolf Wildenmann und Otto Stammer.

Der normativ-ontologische Ansatz in der Politikwissenschaft wurde von der Freiburger und Münchener Schule repräsentiert. Wichtige Vertreter dieser Richtung waren Arnold Bergsträsser, der während des Nationalsozialismus in die USA emigriert war, ebenso wie auch Leo Strauss und Eric Voegelin. Aus dieser so genannten "Freiburger Schule", wo Bergsträsser nach seiner Rückkehr lehrte, gingen Politikwissenschaftler wie Wilhelm Hennis, Manfred Hättich, Dieter Oberndörfer, Kurt Sontheimer und Alexander Schwan hervor. Hinzu kommen noch Politikwissenschaftler wie Hans Maier, der auch bayerischer Kultusminister war und Helmut Kuhn, die beide in München beheimatet waren.

Der dritte Ansatz, die kritisch-dialektische Theorie, wird vor allem durch die Frankfurter Schule repräsentiert, die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno nach ihrer Rückkehr aus der Emigration in Frankfurt gegründet wurde. Bereits vor dem Krieg hatte sich um die "Zeitschrift für Sozialforschung" ein Kreis von Theoretikern gebildet, die von der Marxschen Theorie ausgingen.

Mit dieser Dreiteilung ist das Spektrum der westdeutschen Politikwissenschaft keineswegs erschöpft, man denke etwa an Wissenschaftler wie Ernst Fraenkel, Ossip K. Flechtheim, Gert von Eynern, Otto Heinrich von der Gablentz und Richard Löwenthal, die in Berlin lehrten oder Eugen Kogon, Thomas Ellweiner oder Dolf Sternberger. Allerdings haben die genannten drei Strömungen jeweils ein profiliertes Wissenschaftsprogramm entworfen und von dorther auf die Entwicklung der Politikwissenschaft besonderen Einfluss ausgeübt.

Außerdem haben die drei Ansätze nicht nur ein jeweils eigenes Konzept der Politikwissenschaft entwickelt, sondern sie stellten auch politische Richtungen dar: die Vertreter des normativ-ontologischen Ansatzes waren gewöhnlich im konservativen politischen Spektrum beheimatet, die Vertreter des empirisch-analytischen Ansatzes vertraten politisch meist technokratisch-reformerische Positionen und die Vertreter des dialektisch-kritischen Ansatzes gehörten zum linken politischen Spektrum radikaler Kultur- bzw. Kapitalismuskritik.

Diese Verknüpfung wissenschaftstheoretischer Konzeptionen mit politischen Richtungen war natürlich nicht zufällig, aber für die rationale Klärung und die produktive wechselseitige Kritik der verschiedenen Positionen war diese Konstellation keineswegs förderlich, denn hinter jeder Kritik an der eigenen wissenschaftstheoretischen Konzeptionen vermutete man zugleich den Angriff des politischen Gegners, den es abzuwehren galt.

Hieraus erklärt sich eine gewisse Sterilität und Parzellierung der theoretischen Diskussion innerhalb der westdeutschen Politikwissenschaft und ein Festhalten an der meines Erachtens inzwischen überholten Trias von Ansätzen.

Nach dieser kurzen Übersicht sollen nun die drei Ansätze etwas näher charakterisiert werden. Begonnen werden soll mit einer Darstellung des empirisch-analytischen Ansatzes, da sich die beiden anderen Ansätze vor allem als Kritik des empirisch-analytischen Ansatzes verstehen.

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Der empirisch-analytische Ansatz

Der empirisch-analytische Ansatz stellt – international gesehen – wohl die methodologische Hauptströmung in der Politikwissenschaft und den Sozialwissenschaften allgemein dar. Grob gesprochen handelt es sich um die Absicht, die Sozialwissenschaften nach dem Vorbild der Naturwissenschaften als strenge Erfahrungswissenschaften zu betreiben, die durch systematische und methodisch kontrollierte Beobachtung der Realität regelmäßige Zusammenhänge zwischen sozialen Phänomenen aufdeckt bzw. Annahmen über die Existenz solcher Regelmäßigkeiten widerlegt oder bestätigt.

Angestrebt wird dabei die Formulierung von Gesetzesaussagen. Damit sind solche Regelmäßigkeiten gemeint, die generell zu treffen und die deshalb auch zur Prognose zukünftiger Ereignisse geeignet sind. Indem die Sozialwissenschaften regelmäßige Zusammenhänge im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bereich aufdecken, ermöglichen Sie eine gezielte Beeinflussung des sozialen Geschehens im Sinne einer Sozialtechnik, ähnlich wie die von der Naturwissenschaften entdeckten Regelmäßigkeiten Grundlage einer hochentwickelten Technik sind.

Ziel des empirisch-analytischen Ansatzes ist also eine Verbesserung der Informationsbasis hinsichtlich der Beschaffenheit der Realität, um die jeweils angestrebten Ziele besser erreichen zu können. Der Anspruch des empirisch-analytischen Ansatzes geht insofern über den naiven Empirismus hinaus, der sich auf die möglichst genaue Beschreibung und Sammlung von Tatbestände oder Fakten beschränkt, ohne Theoriebildung zu betreiben.

"Empirisch" ist dieser Ansatz insofern, als alle Behauptungen über die Beschaffenheit von Gesellschaft und Politik letztlich anhand der intersubjektiv übereinstimmenden Erfahrung überprüfbar sein müssen, wenn sie als Wissenschaft anerkannt werden wollen. ("Empirie", aus dem Griechischen: Erfahrung). Dabei wird "Erfahrung" allerdings im eingeschränkten Sinne von "Beobachtung" verwandt, d. h. dass die "innere Erfahrung" oder Introspektion ausgeschlossen wird, da hier keine intersubjektive Übereinstimmung gegeben sei.

"Analytisch" ist dieser Ansatz insofern, als die logisch-begriffliche Ordnung und Analyse der Beobachtungsdaten einen entscheidenden Teil der wissenschaftlichen Dorschung darstellt. Die verschiedenen Aussagen einer Wissenschaft sollen nicht nur - zumindest indirekt - anhand von Beobachtungen überprüfbar sein, sie sollen auch in sich logisch widerspruchsfrei sei.

Ob dies der Fall ist, kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn die benutzten Begriffe in ihrer Bedeutung möglichst eindeutig und präzise definiert sind. Solange unklare und mehrdeutige Begriffe innerhalb einer Wissenschaft verwandt werden, sind der Anwendung logischen Denkens entsprechende Grenzen gesetzt.

Aufbauend auf den Kriterien von Beobachtung und Logik ist von den empirisch-analytischen Theoretikern eine ausgefeilte Methodologie entwickelt worden. Diese Methodologie befasst sich unter anderem mit den jeweils geeigneten Verfahren der Beobachtung und Datenerhebung (Methoden der empirische Sozialforschung), mit der mathematisch-statistischen Ordnung und Interpretation von Daten, mit der logischen Struktur von Sätzen und den Bedingungen ihrer Überprüfbarkeit sowie mit den Möglichkeiten einer präzisen und empirisch anwendbaren Begriffsbildung.

Wesentlich für den empirisch-analytischen Ansatz ist, dass es sich um eine streng erfahrungswissenschaftliche Konzeption handelt, die selber keine Werturteile oder Normen aufstellen will. Wissenschaftliche Theorien sollen werturteilsfrei sein. Die Begründung hierfür ist, dass Werturteile bzw. Normen ein Sollens-Element enthalten, dass jedoch mit den Mitteln der Beobachtung nur festgestellt werden kann, was ist, jedoch nicht, was sein soll.

Weiterhin gilt, dass es mit den Mitteln der Logik nicht möglich ist, aus noch so vielen Ist- Sätzen einen Soll-Satz zu logisch zu deduzieren, denn die logischen Schlussregeln erlauben nur tautologische Umformungen der Prämissen und ihrer Implikationen. Es kann jedoch aus Beschreibungen dessen, was ist, kein völlig neues Element in Form eines Sollens logisch abgeleitet werden.

Daraus folgt, dass die Erfahrungswissenschaft unzuständig ist für die Aufstellung und Begründung von Werturteilen und Normen und insofern wissenschaftliche Theorien werturteilsfrei sein müssen.

Allerdings können die Werthaltungen und Normensysteme einer Gesellschaft zum Gegenstand empirischer Forschung und Theoriebildung gemacht werden, indem man etwa mittels Umfragen die relative Bedeutung ermittelt, die Werte wie materieller Wohlstand, Gesundheit, Umwelterhaltung, Friedenssicherung, Arbeitszufriedenheit oder nationale Machtentfaltung für die einzelnen Wähler haben. Auch die Tendenzen und Ursachen eines Wertewandels können empirisch erforscht werden.

Daneben kann die Erfahrungswissenschaft auch Aussagen über die Realisierbarkeit von Zielen und über das Bestehen von politischen Zielkonflikten machen.

Schließlich kann ein Erfahrungswissenschaftler natürlich auch Wert- und Normensysteme auf ihre logische Widerspruchsfreiheit hin untersuchen.

Mit der Forderung nach Werturteilsfreiheit beanspruchten die empirisch-analytischen Methodologen jedoch nicht, eine wertfreie Wissenschaft zu betreiben. Werturteilsfreiheit ist nicht gleichzusetzen mit Wertfreiheit im Sinne von Neutralität, denn wie bereits von Max Weber betont wurde, beinhaltet jede wissenschaftliche Tätigkeit nicht nur die Entscheidung für die Suche nach Wahrheit, sondern sie erfordert immer auch Entscheidungen darüber, welche Forschungsfragen man stellt, welche Begriffe und welche Methoden man verwendet und wieweit man die Zusammenhänge zurückverfolgt.

Solche Entscheidungen setzen jedoch notwendig bestimmte Wertungen voraus, so dass die Idee einer neutralen, wertfreien wissenschaftlichen Tätigkeit bestenfalls eine Selbsttäuschung darstellt.

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Der normativ-ontologische Ansatz

Der normativ-ontologische Ansatz versteht sich in ausdrücklichen Gegensatz zu einer am Vorbild der Naturwissenschaften orientierten Political Science, die streng erfahrungswissenschaftlich arbeiten will und sich deshalb in Bezug auf die Begründung von Normen und Werturteilen für unzuständig erklärt. Stattdessen versucht der normativ-ontologische Ansatz, an vor-positivistische Traditionen des abendländischen Denkens anzuschließen, wie sie sich vor allem bei Aristoteles und Thomas von Aquin finden.

Vor-positivistisch sind diese Positionen insofern, als sie die logische Unterscheidung von Ist-Sätzen und Soll-Sätzen nicht akzeptieren, sondern davon ausgehen, dass aus der Wirklichkeit selber die gültigen Normen und Werte herausgelesen werden können. Aktueller Hintergrund für diese Rückwendung zum ethischen Denken der abendländischen Tradition ist dabei die Auffassung, dass die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts - mit perfektionierten Diktaturen und Massenvernichtung  im technischen Großmaßstab - ihre wesentliche Ursache in der Untergrabung der tradierten abendländischen Sittlichkeit  haben und dass dafür die moderne Wissenschaft mit ihrem Positivismus und Wertrelativismus wesentliche Verantwortung trägt.

Leo Strauss, einer der wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes, schreibt in der Einleitung zu "Naturrecht und Geschichte" : "Mag uns unsere Sozialwissenschaft auch noch so klug und weise hinsichtlich der Mittel machen, die wir für irgendwelche Zwecke wählen mögen, so gibt sie doch zu, dass sie unfähig ist, uns bei der Unterscheidung zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen, gerechten und ungerechten Zielen zu helfen. Eine derartige Wissenschaft ist nicht mehr als ein bloßes Werkzeug: sie ist zur Magd jedweder Mächte und Interessen geboren." (S. 3 f.) "Je mehr wir den Verstand kultivieren, umso mehr züchten wir den Nihilismus; d. h. umso weniger sind wir im Stande, loyale Glieder der Gesellschaft zu sein. Die unausweichliche praktische Konsequenz des Nihilismus ist fanatischer Obskurantismus" (S. 6), womit vor allem der Nationalsozialismus gemeint ist.

An Stelle einer Politikwissenschaft als werturteilsfreier Erfahrungswissenschaft wird eine "Politik als praktische Wissenschaft" gefordert. Sie soll die ethischen Fragestellungen der traditionellen praktischen Philosophie wieder aufnehmen, die die Fragen nach dem richtigen Handeln bearbeitet, im Unterschied zur theoretischen Philosophie, die sich mit der Erkenntnis der natürlichen Gesetzmäßigkeiten befasst. Insofern nach den Normen des Handelns im Bereich der Politik gefragt wird, ist die Charakterisierung dieses Ansatzes als "normativ" gerechtfertigt. Als "ontologisch" kann man diese Richtung deshalb bezeichnen, weil sie diese Normen durch eine Erkenntnis des Seins gewinnen will (Ontologie ist in der Philosophie die Lehre vom Sein). Dabei stehen im Hintergrund oft theologische Vorstellungen.

Ein weiterer "Ahnherr" des normativ-ontologischen Ansatzes ist Voegelin, der die Wissenschaft und insbesondere die Politikwissenschaft folgendermaßen bestimmt: "Ihr Ziel ist die Erkenntnis der Seinsordnung, der Stufen der Seinshierarchie und ihres Verhältnisses zueinander, der Wesensgefüge der Seinsbereiche, und im besonderen des menschlichen Wesens und seine Stellung im Ganzen des Seins … Um das entscheidende Ereignis, das eigentlich philosophische, das die politische episteme begründete, war die Einsicht, dass die innerhalb der Welt unterscheidbaren Seinsstufen überhöht werden von einer jenseitigen Quelle des Seins und seiner Ordnung." (Voegelin, E.: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959, S. 26, zitiert nach Lenk, Kurt: Politische Wissenschaft, S. 146)

Die Erkenntnis der Normen und Werte wird demnach durch eine Art Wesenserkenntnis erreicht: Man versucht das "Wesen" der Politik, das Wesen des Staates, das Wesen des Menschen etc. zu bestimmen und aus der Analyse dieses Wesens werden Norman abgeleitet, die zu einer Verwirklichung dieses Wesens führen sollen. Wegen des Verfahrens der Wesensbestimmung wird auch vom "Essentialismus" ("essentia", lateinisch: Wesen.)

Entsprechend dieser philosophischen Grundposition, die vor allem im Neo-Thomismus – der vorherrschenden katholischen Philosophie – wurzelt, wird von den "aufgegebenen Zwecken" des Gemeinwesens gesprochen (Hennis, W.: Politik als praktische Wissenschaft, S. 20) bzw. von dem "uns aufgegebenen Begriff der Demokratie" (Hennis, Die missverstandene Demokratie, S. 10). Es wird das Telos oder Ziel des Staates bestimmt, etwa die Verwirklichung des Gemeinwohls, die Garantie von Sicherheit und Ordnung, oder es wird nach der politischen Ordnung gefragt, die der moralisch-geistigen Natur des Menschen gemäß ist (Oberndörfer in: Wissenschaftliche Politik, S. 19 f.).

Trotz ihrer Betonung normativer Fragestellungen wurde von den Vertretern einer "Politik als praktischer Wissenschaft" jedoch kein Versuch gemacht, die zentralen normativen Begriffe wie Gemeinwohl, Tugend, Menschenwürde usw. einer systematischen Präzisierung und Begründung zu unterziehen. Kammler schreibt dazu kritisch: "Den in philosophischer Tiefe verankerten Begriffen haften, da sie der Materialisierung im Rahmen gegenwärtiger Politik und der sie beherrschenden Konflikte entbehren, die Züge einer Traditionsbeschwörung an, die die Wege und Ziele einer vernünftig bestimmten politischen Praxis weitgehend im bequemen Halbdunkel des unausgefüllten Postulats belässt. Die 'gute und gerechte' Ordnung etwa bleibt bloßes Medium ohne Konturen, da beliebige konkrete Inhalte subsumiert und verschiedene politisch-soziale Wertvorstellungen gleichermaßen induziert werden können." (in: Argument 50/2, S. 162 f.).

Schließlich müssen sich die Vertreter das normativ-ontologischen Ansatzes noch vorhalten lassen, dass sie die konkrete empirische Analyse der politischen Verhältnisse vernachlässigt hätten.

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Der kritisch-dialektische Ansatz

Als letztes soll der kritisch-dialektischer Ansatz charakterisiert werden, wobei das Schwergewicht auf der kritischen Theorie der Frankfurter Schule liegt. Eine Charakterisierung fällt hier vor allem deswegen nicht leicht, weil nach dem Selbstverständnis dieses Ansatzes Methode und Gegenstand eine untrennbare Einheit bilden, so dass es keine systematische Darstellung der eigenen Erkenntnismethode gibt, die etwa der Methodologie der Erfahrungswissenschaft vergleichbar wäre.

Generell kann man sagen, dass der philosophische Hintergrund der Vertreter des kritisch-dialektischen Ansatzes in der Philosophie Hegels und ihrer Rezeption durch Marx liegt. Hier haben zentrale Begriffe dieses Ansatzes wie Dialektik, Totalität, Widerspruch, Entfremdung, Fetischisierung oder Verdinglichung ihren Platz.

Allerdings gibt es bei aller Gemeinsamkeit erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern dieses Ansatzes, je nachdem, ob sie stärker von Hegel oder von Marx herkommen und je nachdem, wie weit sie sich im Rahmen dieser Systeme bewegen oder eigene Wege gehen, die manchmal nur noch einen lockeren Zusammenhang zu den "Klassikern" haben. Gerade weil der dialektisch-kritische Ansatz keine Methodologie sein will und methodische Selbstreflexion nur sehr unsystematisch stattfindet, bewegen sich im Rahmen der kritisch-dialektischen Strömung sehr unterschiedliche Positionen. Der Bogen spannt sich von einer empirisch orientierten Ökonomie und Soziologie des Kapitalismus anhand Marxscher Kategorien bis hin zu esoterischen Philosophien im Stile Adornos, der von der Philosophie "die Anstrengung" fordert, "über den Begriff durch den Begriff hinaus zu gelangen." (Negative Dialektik, S. 25)

An Stelle eines Überblicks will ich deshalb hier exemplarisch vorgehen und das Selbstverständnis des kritisch-dialektischen Ansatzes anhand des 1937 erschienenen Aufsatzes von Max Horkheimer mit dem Titel: "Traditionelle und kritische Theorie" darstellen. Ähnlich wie der normativ-ontologische Ansatz versteht sich auch der kritisch-dialektische Ansatz als Kritik der modernen positivistischen Erfahrungswissenschaft, der die Reduzierung auf eine nur "instrumentelle Vernunft", auf ein bloß technisch verwertbares Wissen angelastet wird.

Horkheimer stellt fest, dass die "Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft bestrebt (sind), dem Vorbild der erfolgreichen Naturwissenschaften nachzufolgen." (Traditionelle und kritische Theorie, S. 14) Horkheimer bringt diese Tendenz mit den gesellschaftlichen Anforderungen an die Wissenschaft in Zusammenhang: "Theorie im traditionellen … Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaften überall lebendig ist, organisiert die Erfahrung aufgrund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben." (S. 57) "Sowohl die Handhabung der physischen Natur wie auch diejenige bestimmter ökonomischer und sozialer Mechanismen erfordert eine Formung des Wissensmaterials, wie sie in einem Ordnungsgefüge von Hypothesen gegeben ist." (S. 17) "Es ist ein Operieren mit Konditionalsätzen, angewandt auf eine gegebene Situation. Unter Voraussetzung der Umstände a, b, c, d muss das Ereignis q erwartet werden, fällt d weg, das Ereignis  r … und so fort. Solches Kalkulieren gehört zum logischen Gerüst der Historie wie der Naturwissenschaft. Es ist die Existenzweise von Theorie im traditionellen Sinne." (S. 16)

Horkheimer schreibt weiter: "Die Systeme der Disziplinen enthalten die Kenntnisse in einer Form, die sie unter den gegebenen Umständen für möglichst viele Anlässe verwertbar macht. Die soziale Genesis der Probleme, die realen Situationen, in denen die Wissenschaft gebraucht, die Zwecke zu denen sie angewandt wird, gelten ihr selbst als äußerlich." (S. 57)

Wie ist demgegenüber nun die kritische Theorie der Gesellschaft angelegt? Woher bezieht diese Theorie die Maßstäbe ihrer Kritik? Dies ist nicht immer leicht auszumachen, da die tragenden positiven und negativen Wertbegriffe wie z. B. Vernunft, Humanität, Gerechtigkeit, oder Unterdrückung, Ausbeutung, Entfremdung, Verdinglichung etc., die über die Analyse des faktisch Bestehenden kritisch hinausweisen, von Horkheimer wie selbstverständlich benutzt werden, ohne dass sie einer gesonderten Klärung und Begründung überhaupt bedürftig erscheinen.

Methodisch wichtig für die Kritik ist der Bezug auf das Ganze der Gesellschaft bzw. die Totalität, wie es auch heißt: "Die isolierende Betrachtung einzelner Tätigkeiten und Tätigkeitszweige mitsamt ihren Inhalten und Gegenständen bedarf, um wahr zu sein, des konkreten Bewusstseins ihrer eigenen Beschränktheit. Es muss zu einer Konzeption übergegangen werden, in der die Einseitigkeit, welche durch die Abhebung intellektueller Teilvorgänge von der gesamtgesellschaftlichen Praxis entsteht, wieder aufgehoben wird." (S. 21)

Damit zusammenhängend werden die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer geschichtlichen Gewordenheit und Veränderlichkeit betrachtet: "Die kritische Theorie der Gesellschaft hat … die Menschen als Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Die Verhältnisse der Wirklichkeit … erscheinen ihr nicht als Gegebenheiten, die bloß festzustellen und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen wären ... Die Gegenstände und die Art ihrer Wahrnehmung, die Fragestellung und der Sinn der Beantwortung zeugen von menschlicher Aktivität und dem Grad ihrer Macht." (S. 57)

Die sozialen Verhältnisse sind also im gesellschaftlichen Zusammenwirken der Menschen produziert, allerdings ohne, dass es so etwas wie ein allgemeines gesamtgesellschaftliches Bewusstsein bereits gibt, das so etwas wie eine allgemein-menschliche Vernunft realisieren könnte. "Wo sich (das Individuum) als passiv und abhängig erfährt, ist (die Gesellschaft) ein wenn auch bewusstloses und insofern uneigentliches, jedoch tätiges Subjekt. Dieser Unterschied in der Existenz von Mensch und Gesellschaft ist ein Ausdruck der Zerspaltenheit, die den geschichtlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens bisher eigen war. Die Existenz der Gesellschaft hat entweder auf unmittelbarer Unterdrückung beruht oder ist eine blinde Resultante widerstrebender Kräfte, jedenfalls nicht das Ergebnis bewusster Spontanität der freien Individuen." (S. 22)

Die Kritik leitet sich demgemäß ab aus dem gedanklichen Vorgriff auf einen "Zustand, in dem tatsächlich ein umgreifendes Subjekt, d. h. die selbstbewusste Menschheit existiert." (S. 55)

Allerdings ist dies nicht bereits durch eine staatliche Planung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses erreicht, wie die sowjetischen Marxisten meinen, denn "der Entwicklungsgrad der wesentlichen Momente realer Demokratie und Assoziation gehört mit zum Inhalt des Begriffs der Vergesellschaftung." (S. 62)

Trotz dieses rein gedanklichen Vorgriffs auf eine "selbstbewusste Menschheit" oder auf die "Gemeinschaft freier Menschen" wird von Horkheimer betont, dass "die dialektische Theorie … keine Kritik aus der bloßen Idee (übt). Schon in ihrer idealistischen Gestalt (d. h. bei Hegel) hat sie die Vorstellung von einem an sich Guten, das der Wirklichkeit bloß entgegengehalten wird, verworfen. Sie urteilt nicht nach dem, was über die Zeit, sondern nach dem, was an der Zeit ist." (S. 62) Dies soll erreicht werden durch den Bezug auf die realen historischen Möglichkeiten: "Von abstrakter Utopie unterscheidet sich diese Idee (der Assoziation freier Menschen, in der jeder die gleiche Möglichkeit hat, sich zu entfalten) durch den Nachweis ihrer realen Möglichkeit beim heutigen Stand der menschlichen Produktivkräfte." (S. 38)

Gegenüber der normativ-ontologischen Theorie, die die menschliche Natur und die gesellschaftliche Ordnung eher statisch sieht, betonte der kritisch-dialektische Ansatz, dass bei der Bestimmung politischer Programmatik immer vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft ausgegangen werden muss, was im Anschluss an Marx vor allem bedeutet, dass der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, also der technischen Möglichkeiten der Naturbeherrschung, berücksichtigt werden muss. Es gibt also nicht "die gerechte Gesellschaftsordnung", sondern nur die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt mögliche und zu fordernde nächste Entwicklungsstufe auf dem Wege zur "selbstbewussten Menschheit", zur "Assoziation freier Menschen".

Hier wird deutlich, dass im Hintergrund eine Theorie des Geschichtsverlaufs steht, die die Menschheitsgeschichte als eine zielgerichtete Entwicklung hin zur "selbstbewussten Menschheit", und dass von hier normative Orientierungen des politischen Handelns abgeleitet werden.


 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Methodologie der empirischen Politikwissenschaft ** (116 K)
    Methodologie der Politikwissenschaft ** (242 K)
    Methodologie normativer Wissenschaft ** (48 K)
 

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Letzte Bearbeitung 23.09.2008 / Eberhard Wesche

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