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Selbsterkenntnis
Selbsterkenntnis fängt da an, wo wir
den Mut haben, alles, was in uns steckt
–
also auch das, was uns erstmal als "schlecht", "unmoralisch", "primitiv" oder "minderwertig" erscheint,
bewusst zu registrieren und nicht gleich wieder aus
unserem Bewusstsein verdrängen.
Der Jugendliche, der sich aus seiner Kindheit verabschiedet und anfängt, sich
selbst zu beobachten und zu beurteilen, merkt, dass er in vielem gar nicht dem
entspricht, was ihm in seiner Erziehung als Ideal vermittelt wurde:
Er stellt
etwa fest, dass er manchmal neidisch und missgünstig ist, dass er manchmal
unehrlich und angeberisch ist, dass "primitive" körperliche Reize und
Lustgefühle in ihm oft übermächtig sind, dass sein Gesicht oder sein Körper
nicht den vorherrschenden Schönheitsidealen entspricht, dass schier
unüberwindliche Hemmungen und Ängste ihn fesseln, dass er auf manchen Gebieten
nicht so leistungsfähig und erfolgreich ist, wie er dachte, oder dass
Hassgefühle und aggressive Impulse in ihm aufbrechen, vor deren Heftigkeit er
selber erschrickt.
In dieser
kritischen Phase der Selbstfindung
kommt es darauf an, nicht die Augen
vor dem zu verschließen, was sich an Problematischem in uns selbst zeigt,
sondern sich bewusst mit diesen Impulsen auseinanderzusetzen: zu verstehen,
warum diese Impulse zur Natur des Menschen gehören und zu erkennen, welche
Auswirkungen ein Ausleben dieser Impulse für einen selbst und für die anderen
hätte.
Wenn dies mit einer
kritischen Prüfung der anerzogenen Ideale, Werte
und Normen einhergeht, dann bestehen gute
Bedingungen dafür, dass sich eine Person entwickelt, die sich nicht ständig
selber neurotisch im Wege steht und deren Energien sich nicht in inneren Konflikten
und Depressionen verbrauchen, sondern die fähig ist zu einer "vernünftigen" Selbststeuerung und zu einer tatkräftigen Gestaltung
des eigenen Lebens.
***
Es ist "menschlich, allzu menschlich", dass ich "Schwächen" habe, dass ich
unbewältigte Erfahrungen mit mir
herumtrage, dass ich Bereiche habe, in denen ich mich selber als "Versager" oder
als "schlecht" empfinde. Entscheidend ist, wie ich damit umgehe. Die erste
Voraussetzung ist nüchterne Selbsterkenntnis: "So bin ich. Das kann ich, das
kann ich nicht. Diese akzeptablen und diese problematischen Antriebe und Wünsche
stecken in mir drin."
Der erste Schritt zu einer selbstbestimmten integrierten Person ist die
Bewusstmachung der eigenen "Schwachstellen". Odysseus wusste, dass er dem
lockenden Gesang der Sirenen nicht widerstehen kann. Deshalb hat er sich - in
freier Entscheidung - an den Mast fesseln lassen, und er ist den Sirenenklängen
nicht erlegen und ist mit seinem
Schiff nicht an den Felsen zerschellt.
Wir Menschen haben durch unsere stammesgeschichtliche Herkunft von den
Säugetieren eine Erbschaft an elementaren Trieben, unwillkürlichen Reaktionen,
Gefühlen, Bedürfnissen in uns, einschließlich der entsprechenden nervlichen und
hormonalen Steuerungen, die unser Wollen und Handeln in vielem bestimmen. Das
allein macht uns noch nicht unfrei, denn durch diese Anlagen sind wir erst, wer
wir sind. Dass ich ein männliches Wesen bin, auf welches der Anblick typisch
weiblicher Körperformen eine anziehende Wirkung ausübt, ist mir angeboren und
steckt als sexuelle Motivation in mir, ob ich es will oder nicht. Das bin ich
selber.
Die Frage ist, wie ich im Einklang mit diesen "animalischen" Bereichen in mir
leben kann, wie ich diese Bereiche integrieren kann, ohne meine spezifisch
menschliche Fähigkeit zum Nachdenken, zur Vorausschau von Konsequenzen oder zur
Kenntnis und Berücksichtigung fremder Wünsche und Interessen deshalb aufzugeben.
Anders formuliert: Wie können "vernünftige" Selbststeuerung und angeborene
Triebstruktur miteinander vereinbar werden? Denn "Ausleben" der eigenen Impulse
ohne zu fragen: "Was folgt daraus für mich und für die andern?" führt zu
Handlungen, die ich später bereue oder die andere mir zu Recht vorwerfen - mit
allen dazugehörigen sozialen Folgen.
Das wäre dann auch nicht das, was ich will.
***
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Letzte Bearbeitung 14.02.2006 / Eberhard Wesche
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