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Die "Politische Theorie" in der Politikwissenschaft
(1980)
Anhang:
Zur Situation in der
Politischen Philosophie
Die Politikwissenschaft und
ihre Nachbardisziplinen
Zur Bestimmung des
Politischen
Innerhalb der Politikwissenschaft hat es neben den
Bereichen "Innenpolitik" und "Internationale Politik" traditionell immer auch
den Bereich "Politische Theorie" gegeben. Jedoch gibt es unter den
Politikwissenschaftern keineswegs Einigkeit über die Aufgaben, die einem Fach "Politische Theorie" sinnvoller Weise zukommen sollten. In der Tat ist die
Abhebung eines eigenständigen Theoriebereichs innerhalb der Politikwissenschaft
nicht unproblematisch, und sie ist in anderen Wissenschaften unüblich. So gibt
es in den Wirtschaftswissenschaften neben der Volkswirtschaftslehre und der
Betriebswirtschaftslehre nicht noch ein eigenes Fach "Theorie der Wirtschaft".
Von zahlreichen Politikwissenschaftlern wird diese Einteilung deshalb auch
kritisiert. So schreibt einer der wichtigsten Repräsentanten der bundesdeutschen
Politikwissenschaft, Klaus von Beyme, in seinem Buch: "Die politischen Theorien
der Gegenwart" : "Diese Einteilung (in Politische Theorie, Innenpolitik,
Internationale Politik) ist fragwürdig, weil ihr kein einheitliches Kriterium
zugrunde liegt. Regierungslehre und internationale Beziehungen sind durch den
Gegenstand gekennzeichnet, während die politische Theorie eher nach dem
Abstraktionsgrad der Bemühungen von den Forschungsobjekten gedacht wird, obwohl
weder Regierungslehre noch Internationale Beziehungen sinnvoll ohne Theorie
betrieben werden können." (S. 20)
Wenn man unter einer Theorie ein System von logisch miteinander verbundenen
Sätzen zur Erklärung eines Sachverhalts versteht, so ist klar, dass
Wissenschaftler auf jedem Gebiet Theorien aufstellen müssen, wenn sie nicht nur
Fakten feststellen oder Begriffe definieren wollen, sondern auch Fragen nach den
Ursachen und Folgen von Sachverhalten beantworten wollen. Deshalb wäre es
natürlich wenig sinnvoll, die Theorien abgekoppelt von den konkreten Forschungen
gesondert zu thematisieren.
Für eine Position, die Politikwissenschaft als eine rein
erfahrungswissenschaftliche Sozialwissenschaft versteht, bleiben neben den an
einzelnen Bereichen ansetzenden Forschungen und Theorien vor allem zwei
Bereiche, die darin nicht ohne weiteres aufgehen und die deshalb mit einem
gewissen Recht einer gesonderten Beschäftigung bedürfen:
Zum einen ist das der Bereich der Wissenschaftstheorie oder Methodologie, in dem
Theorien darüber aufgestellt werden, mit welchen Zielen und nach welchen Regeln
die Politikwissenschaft betrieben werden soll.
Zum andern ist es der Bereich der allgemeinen Theorien über den Gesamtbereich
des Politischen. Beispiele hierfür wären etwa Systemtheorien oder
marxistische Gesellschaftstheorien sowie Theorien über einzelne
Gesellschaftstypen (Pluralismustheorie, Totalitarismustheorie,
Kapitalismustheorie, Theorie der Industriegesellschaft).. Dies sind dann auch Bereiche, die von
empirisch-sozialwissenschaftlich orientierten Autoren wie v. Beyme und Narr /
Naschold in ihren Einführungen in die moderne politische Theorie behandelt
werden.
Ausgeklammert wird bei v. Beyme und Narr / Naschold das, was man gewöhnlich als "Geschichte der politischen Ideen" bezeichnet. Beyme formuliert sehr scharf,
warum er die politische Ideengeschichte von der sozialwissenschaftlichen
Theoriebildung getrennt sehen will. Er schreibt: "Die Mehrzahl der empirischen
Sozialforscher besteht mit Recht auf der Unterscheidung zwischen politischer
Theorie, die für unser heutige Forschungen Gültigkeit besitzt, und der
politische Ideengeschichte. Mit Robert Merton erkennen die meisten als
systematische Theorie nur die Kumulation jener Teile früherer Theorien an, die
bisher den Test empirischer Forschungen überstanden haben." (S.18)
Wenn der Unterschied zwischen einer modernen sozialwissenschaftlichen Theorie
und den Theorien der so genannten "Klassiker" des politischen Denkens auch durch
v. Beyme scharf betont wird, so will er doch der politische Ideengeschichte die
Berechtigung nicht absprechen. Auch für Narr "besteht kein Zweifel, dass eine
Beschäftigung mit vergangenen politischen Gedankenkomplexen äußerst sinnvoll
ist". Über den möglichen Sinn einer Beschäftigung mit politischen Theorien der
Vergangenheit und damit über die Gesichtspunkte und Verfahren, die hier
anzuwenden sind, bestehen jedoch kontroverse Auffassungen.
Zum einen kann man eine historisch-philologische Darstellung und Interpretation
der Autoren geben, ohne daraus weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. Eine solche
bloße Exegese wird zwar für notwendig erachtet, aber eine rein historisierende
Ideengeschichte wird gewöhnlich als unzureichend betrachtet.
Vorherrschend ist heute die Auffassung, dass man die Theoretiker der
Vergangenheit im Zusammenhang mit der sozialen Entwicklung ihrer Zeit betrachten
muss. In diesem Sinne fordert Narr, "den jeweils mitbestimmenden sozialen
Hintergrund auszuführen" und "den sozialen Ursprung, die politischen speziellen
Absichten hinter den einzelnen Gedankenkomplexen ... in die Analyse der Gedanken
mit einzubeziehen." (S.30)
Ergebnis einer derartigen Betrachtungsweise ist dann
eine wissenssoziologische bzw. ideologiekritische Analyse der jeweiligen
Theorie, indem man deren Entstehung aus einer bestimmten historischen Situation
und den Interessenkonstellationen sozialer Gruppierungen zu erklären versucht.
So wichtig eine derartige Analyse des Entstehungszusammenhangs einer Theorie
auch ist, so muss doch festgehalten werden, dass mit der Frage nach der Genese
einer Theorie noch keineswegs die Frage nach ihrer Geltung beantwortet ist. Denn
eine Behauptung wird nicht dadurch war oder falsch, dass sie von bestimmten
Personen mit bestimmten Motiven vertreten wird. Hier läuft meines Erachtens eine
wichtige Trennlinie innerhalb der Vertreter der Politischen Theorie zwischen
denen, die die Theorien der Vergangenheit nur als Produkt ihrer Zeit und
Gesellschaft analysieren und jenen, die sich inhaltlich auf die vorgetragenen
Behauptungen und ihre Begründungen einlassen und nach der Geltung der Argumente
hier und jetzt fragen.
Für die meisten heutigen Politikwissenschaftler ist es vor allem deswegen schwer
möglich, sich inhaltlich mit den Positionen traditioneller politischer Theorie
auseinander zu setzen, weil dies in wesentlichen Teilen normative Positionen
sind, die nicht nur politische Phänomene beschreiben und erklären wollen,
sondern die Forderungen darüber aufstellen und begründen, wie der politische
Bereich zu gestalten ist: Wie sollen Konflikte zwischen Einzelnen und Gruppen
entschieden werden? Wer soll die Befugnis zur Gesetzgebung haben? Wer soll als
Regierung die laufenden Entscheidungen treffen? Welche Begrenzung soll es für
Gesetzgeber und Regierung geben? Wann sind Individuen zum Befolgen der Gesetze
verpflichtet und wann zu Widerstand oder Aufstand berechtigt? usw. usw. Diese
und ähnliche Fragen werden in der traditionellen Politischen Theorie
aufgeworfen, und insofern ist sie normative Theorie.
Starke Strömungen in der modernen Wissenschaft tendieren jedoch dahin,
ethisch-politische Fragestellungen nach dem, was sein soll, aus dem Bereich der
Wissenschaft auszuschließen. Die wichtigste dieser Strömungen ist der modernen
Positivismus oder Empirismus, der alle Fragestellungen aus dem Bereich der
Wissenschaft ausscheiden will, die nicht durch das Kriterium der Beobachtung und
die Regeln der Logik entscheidbar sind. Und für Normsetzung und Werturteile
gilt, dass sie nicht in gleicher Weise mit den Mitteln der Logik und der
Beobachtung überprüfbar sind, wie die rein konstatierenden Aussagen der
Erfahrungswissenschaften. Nach positivistischer Auffassung kann in Bezug auf
normative Sätze nicht von Wahrheit oder Allgemeingültigkeit gesprochen werden,
und es kann deshalb auch nicht Aufgabe von Politikwissenschaftlern sein,
normative Theorien über die Politik oder andere gesellschaftliche Bereiche zu
entwickeln, wie das die politischen Denker der Vergangenheit getan haben.
Für die Politische Theorie oder Philosophie bleibt nach dieser Auffassung nur
noch die Aufgabe der logischen Analyse dieser normativen Theorien. In seiner
Einleitung zu dem Sammelband "Politische Philosophie" schreibt der britische
Theoretiker Quinton nach einer Aufzählung der "Klassiker" politischen Denkens
und ihrer Hauptwerke: "Eine rückwärts schauende Liste dieser Art ist nicht mehr
länger angemessen, um die politische Philosophie in ihrer heutige Funktion zu
bestimmen. Was zu diesem Wechsel des Gegenstandes geführt hat, ist das starke
Anwachsen methodologischer Reflexion unter den neueren Philosophen, was sie dazu
geführt hat, eine sehr viel begrenztere Vorstellung ihrer Fähigkeiten und damit
ihrer Verantwortlichkeiten zu akzeptieren." (S.1)
Nach Quinton hat die Philosophie als Metatheorie die Aufgabe, "die Begriffe,
Aussagen und Argumente der inhaltlichen Disziplin erster Ordnung zu
klassifizieren und zu analysieren." (S.1) Für eine derart verstandene politische
Philosophie bedeutet dies, dass sie die zentralen Begriffe der verschiedenen
politischen Denker wie Freiheit, Gerechtigkeit, Souveränität, Autorität,
Gemeinwohl etc. auf ihre Bedeutung analysiert und die jeweiligen
Argumentationsweisen klärt, dass sie sich aber selber jeder normativen
Theoriebildung zu enthalten hat.
Nicht nur die Ausbreitung des logischen Positivismus als dominierender Wissenschaftstheorie führte zu einer Eliminierung explizit normative
Fragestellungen. Auch von Seiten der hegelianisch-marxistischen Richtung wurde
es als unwissenschaftlich abgelehnt, Fragen nach dem, was sein soll, unmittelbar
zu thematisieren. Stattdessen sei es Aufgabe der Wissenschaft, die dialektischen "Widersprüche" in der Gesellschaft aufzudecken, die auf ihre Auflösung drängen,
und aus denen sich die Tendenzen der historischen Entwicklung ergeben.
Für Marx und die übrigen "wissenschaftlichen" Sozialisten war der Kommunismus
die "reale Bewegung", wie es Marx und Engels in der "Deutschen Ideologie" einmal
formulierten, jedoch kein Ideal, das auf Vernunftgründen basierte. Derart
normativer, ethisch begründeter Sozialismus galt als vorwissenschaftlich und
utopisch, wie Engels in der Einleitung zum "Anti-Dühring" formulierte.
Wenn man bedenkt, dass es sich beim Positivismus und der dialektischen Theorie
Hegelscher oder Marxscher Prägung um die beiden einflussreichsten
wissenschaftlichen Strömungen der letzten Jahrzehnte handelte, so verwundert es
nicht, dass die Geschichte der politischen Ideen historisch, soziologisch und
ideologiekritisch betrieben wurde, dass man sich aber häufig nicht auf eine
inhaltliche Argumentation der von den Klassikern vertretenen normativen
Positionen einließ. Und so verwundert es nicht, dass die systematische normative
Theoriebildung im Verhältnis zu empirischer Forschung und Theoriebildung lange
Zeit vernachlässigt wurde.
Dies gilt meines Erachtens auch für diejenigen Strömungen, die im Prinzip eine
Einbeziehung normativer Fragestellungen forderten, wie die Freiburger Schule um Bergsträsser und die Berliner Pluralismustheoretiker um Fraenkel. Sie benutzten
zwar traditionelle normative Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl,
Tugend, Menschenwürde usw., jedoch findet sich bei ihnen praktisch kein Versuch,
diese Begriffe ihres unbestimmten Charakters zu entkleiden und eine
systematische normative Argumentation zu entwickeln.
Allerdings hat sich diese Situation in den letzten Jahren gewandelt. Schrieb
noch 1962 der britische Theoretiker Isaiah Berlin einen gegen die
positivistischen Liquidierung der normativen Politischen Theorie gerichteten
Artikel mit dem bezeichnend defensiven Titel: "Does Political Theory still exist?",
so sieht heute die wissenschaftliche Landschaft bereits wieder sehr viel anders
aus. Besonders seit dem Erscheinen von John Rawls' "Theorie der Gerechtigkeit"
und der daran anschließenden breiten Diskussion hat sich gezeigt, dass die
Beschäftigung mit normativen Fragen nicht nur das moralinsaure Geschäft von ewig
Gestrigen sein muss.
Soweit der Überblick zur Situation des Faches 'Politische Theorie', der
zugegebenermaßen von einer Position aus gemacht wird, die keineswegs
vorherrschend unter den Politikwissenschaftlern ist.
Welche Schlussfolgerungen kann man aus dem Gesagten ziehen? Das Fach Politische
Theorie hat nicht die Aufgabe, mit der Theoriebildung auf den einzelnen
Gegenstandsbereichen zu konkurrieren. Stattdessen müssen im Fach Politische
Theorie die Fragen aufgeworfen werden, die von einer zunehmend
empirisch-sozialwissenschaftlich erfahrenen Politikwissenschaft, die vor allem
an der Erforschung ihrer spezifischen Gegenstandsbereich interessiert ist,
notwendigerweise vernachlässigt werden.
Das sind vor allem wissenschaftstheoretische oder methodologische Fragen, also
Fragen danach, wie in der Politikwissenschaft argumentiert wird bzw.
argumentiert werden sollte. Dazu gehört auch die kritische Analyse der
Grundbegriffe und Grundannahmen der verschiedenen Ansätze in der
Politikwissenschaft. Besonderes Gewicht muss dabei meines Erachtens auf die
Reflexion der normativen politischen Argumentation gelegt werden, die bei jeder
Kritik oder Rechtfertigung politische Zustände eine Rolle spielt. Denn die
systematische Analyse der Begründung politischer Werte, Ziele und Programme
wurde unter dem Einfluss des Empirismus und Positivismus stark vernachlässigt.
Zur Situation in der politischen Philosophie
(1980)
I.
Gelegentlich hat es den Anschein, als sei die schöpferische politische
Philosophie eine Sache der Vergangenheit und als könne man heute nicht viel mehr
machen, als die Klassiker der politischen Ideengeschichte zu analysieren, zu
interpretieren, zu systematisieren und sozialgeschichtlich einzuordnen, so
als
sei politische Philosophie auf die Geschichte der politischen Philosophie
beschränkt.
Diese Vorstellung wurde vor allem durch die Entwicklung der modernen
Wissenschaftstheorie begünstigt, die immer schärfer den logischen Unterschied
zwischen positiven Behauptungen (also Aussagen über die tatsächliche
Beschaffenheit der Wirklichkeit) und normativen Behauptungen (also Urteilen
darüber, was gut ist bzw. wie die Wirklichkeit beschaffen sein soll)
herausarbeitete und die nachwies, dass mit den Mitteln von Beobachtung und Logik
nur positive Aussagen, nicht jedoch Werturteile und Sollsätze begründet werden
können.
Da jedoch die politische Philosophie, wie sie bei den Klassikern zu finden ist,
ein Gemisch aus positiven und normativen Aussagen darstellt, wobei die
normativen Intention der Rechtfertigung und Kritik politischer Ordnungen im
Mittelpunkt steht, erschien eine Fortsetzung der politischen Philosophie nach
Art der Klassiker als wissenschaftlich unzulässig, weil unvereinbar mit dem
Postulat der Werturteilsfreiheit.
Einen Ausdruck dieser vom Positivismus beherrschten geistigen Situation ist etwa
der Umstand, dass in den sechziger Jahren der britische politische Philosoph
Isaia Berlin einen Aufsatz veröffentlichte mit dem Titel: "Does political
thinking still exist?", in dem er gegen die vorherrschende analytische
Wissenschaftstheorie die Berechtigung auch normativer Theoriebildung zu
verteidigen suchte.
Im Verlauf der sechziger Jahre, in dem die Werturteilsfrage erneut in den
Mittelpunkt gerückt wurde – etwa im sogenannten "Positivismusstreit" - wurde die
streng positivistische Position jedoch zunehmend zurückgedrängt. Dies geschah
nicht zuletzt unter dem Einfluss einer sich verstärkenden - z. T. radikalen -
Gesellschaftskritik, die die normativen politischen und ökonomischen
Grundprinzipien der parlamentarisch-kapitalistisch verfassten Gesellschaften in
Frage stellte, einer Gesellschaftskritik, der sich die Sozialwissenschaften kaum
noch mit dem Hinweis auf ihre Unzuständigkeit für normative Fragen entziehen
konnten.
Als Resultat des "Positivismusstreites" setzte sich zunehmend die Auffassung
durch, dass die methodische Unterscheidung zwischen positiven und normativen
Sätzen berechtigt ist und dass nur positive Theorien erfahrungswissenschaftlich
nach Art der Naturwissenschaften begründet werden können. Aber daraus folgt
keineswegs, dass für normative Theorien nicht andere Formen der
Begründung ihrer Allgemeingültigkeit existierten. Mit dieser Kritik des
Szientismus, der Wissenschaft nur nach dem Muster der Naturwissenschaften
betreiben wollte, war der Weg frei, um die
sich verstärkende Kritik und Rechtfertigung der bestehenden sozialen Ordnungen
auch im Rahmen der politischen Philosophie inhaltlich zu thematisieren.
So kam es im Verlauf der sechziger Jahre zu einer Wiederbelebung der normativen
Diskussion und Theoriebildung im Bereich von Ethik, Politik, Ökonomie und Recht,
und es wurden zahlreiche Arbeiten vorgelegt, die normative politische
Philosophie nicht nur historisierend, sondern auch schöpferisch und systematisch
begründet betrieben.
II.
Einen Überblick über die Strömungen in der politischen Philosophie der zweiten
Hälfte des 20.
Jahrhunderts zu geben, fällt nicht leicht angesichts der Verschiedenartigkeit
der einzelnen Theoretiker. Deshalb sind die folgenden Einteilungen (wie alle
theoretischen Schubladen) auch nur mit
Vorsicht zu verwenden.
Zum einen gibt es die in der Tradition von Hegel und Marx stehenden Theoretiker
wie Ernst Bloch, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und - mit
Einschränkungen - Jürgen Habermas, die man als
dialektisch-geschichtsphilosophisch orientiert bezeichnen kann, insofern sie
ihre Kritik und Rechtfertigung politischer Ordnungen vor allem aus einer Analyse
der historischen Entwicklung der Menschengattung sowie der "Widersprüche" und
Krisen dieser Entwicklung ableiten.
Charakteristisch für Autoren dieser Richtung ist, dass sie das Problem der
Rechtfertigung
und Kritik politischer Ordnungen nicht aus der Perspektive der einzelnen
Individuen angehen, sondern aus der Perspektive sozialer Kollektive, seien es
Völker oder Nationen, wie bei Hegel, oder seien es ökonomisch definierte Klassen wie bei
Marx.
Hinzuzufügen ist, dass die dialektisch-geschichtsphilosophisch orientierten
Theoretiker mit Ausnahme von Habermas die logische Unterscheidung zwischen
Tatsachenaussagen und Werturteilen gewöhnlich nicht methodisch reflektieren,
weshalb man bei diesen Theoretikern praktisch keine systematische Abhandlung
über die Rechtfertigung politischer Institutionen und Normen findet. Stattdessen
fließt die Kritik in die Analyse und Beschreibung der sozialen
Verhältnisse eher implizit ein, etwa indem gezeigt wird, dass diese
Institutionen vor allem den partikularen Interessen einer bestimmten
Gesellschaftsklasse dienen bzw. von den Vertretern dieser Klasse dominiert
werden. Eine systematische Ausarbeitung und Rechtfertigung eigener politische
Zielvorstellungen findet man aufgrund der methodischen Voraussetzungen dieser
Richtung jedoch so gut wie gar nicht.
Als weitere Strömung innerhalb der politischen Philosophie kann man die "kritischen Rationalisten" nennen, für die Namen wie Hans Albert, Ernst Topitsch
oder Karl Popper stehen. Vor allem Hans Albert hat versucht, aus bestimmten
wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Positionen des vor allem von Popper
entwickelten "Fallibilismus" auch politische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Wenn es nirgends, auch nicht in der Naturwissenschaft, endgültig beweisbare
Behauptungen gibt, sondern wenn alle wissenschaftlichen Aussagen den Charakter
falsifizierbarer Hypothesen haben (also "fallibel", dem Irrtum und der
Widerlegung ausgesetzt sind), so kommt es den kritischen Rationalisten darauf
an, alle Behauptungen - auch die normativ-politischen Prinzipien der
gesellschaftlichen Ordnung - der ständigen Überprüfung und Kritik zu unterziehen
und sie mit alternativen Lösungsmöglichkeiten zu konfrontieren, woraus dann die
Notwendigkeit einer offenen pluralistischen Demokratie gefolgert wird.
Als weitere Richtungen seien die am Existentialismus orientierten
Autoren genannt, wie Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Karl Jaspers, sowie die am
Thomismus (so benannt nach Thomas von Aquin) orientierten Theoretiker, die von bestimmten Wesensbestimmungen der
Natur, der Gesellschaft oder des Menschen ausgehen und daraus politische
Schlussfolgerungen ableiten. Zu nennen ist hier die katholischen Soziallehre und
ihr nahe stehende Theoretiker.
Im englischen Sprachbereich dominierten dagegen die Theorie des
Gesellschaftsvertrages und der Utilitarismus, zwei philosophische Strömungen,
die im deutschen Sprachbereich nie recht Fuß fassen konnten, da die deutsche
Denktradition zu der individualistischen und rationalistischen Grundhaltung
dieser Theorien eher quer steht.
***
Die Politikwissenschaft und ihre Nachbardisziplinen
Inhalt:
Einführung
Die Rechtswissenschaft
Die Wirtschaftswissenschaft
Die Soziologie
Die Geschichtswissenschaft
Die Ethik bzw. Moralphilosophie
Textanfang
Einführung
Dass die Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin Probleme bei
der Bestimmung ihres eigenen Arbeitsgebietes und ihres Verhältnisses zu den
Nachbardisziplinen hat, zeigt sich zum Beispiel an der neuen Ausbildungsordnung
dieses Fachbereichs. So gibt es für die Studienanfänger keine "Einführung in die
Politikwissenschaft" sondern stattdessen gibt es in den ersten zwei Semestern
Kurse und ergänzende Überblicksvorlesungen zu "Politik und Geschichte", "Politik
und Wirtschaft", "Politik und Recht", "Politische Ökonomie" und "Politische
Soziologie".
An diesem Kursschema wird deutlich, in welch hohem Maße Politikwissenschaft mit
den anderen, meist stärker im akademischen Bereich verankerten Disziplinen
verbunden ist, vor allem der Geschichtswissenschaft, der
Wirtschaftswissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Soziologie und der
Philosophie.
Diese enge Verknüpfung mit den Nachbardisziplinen drückt sich auch in der
personellen Zusammensetzung der Dozentenschaft aus, in der sich neben
Diplompolitologen zahlreiche gelernte Historiker, Ökonomen, Juristen und
Soziologen finden (und sogar Philosophen, Psychologen und Altphilologen.)
Aus dieser engen thematischen und personellen Verknüpfung mit den
Nachbardisziplinen heraus ist es verständlich, dass aus diesen Disziplinen auch
die dort gebräuchlichen Begriffe und Methoden in die Politikwissenschaft
hineingetragen werden. Auf diesen Sachverhalt gründen sich Auffassungen, die
anstatt von der einen Politikwissenschaft lieber von den
verschiedenen Politischen Wissenschaften reden, so dass Politikwissenschaft
letztlich nichts anderes ist als die Zusammenfassung der Ergebnisse der anderen
Disziplinen, insofern diese sich mit politischen Phänomene befassen, also z. B.
politische Zeitgeschichte, öffentliches Recht – insbesondere Staatsrecht,
Volkswirtschaftspolitik, politische Soziologie und politische Philosophie.
Diese Auffassung mag übertrieben sein, aber mit den problematischen Auswirkungen
der geschilderten Situation ist wohl jeder konfrontiert worden, wenn er Mühe
hatte, sich die zum Teil weit auseinanderklaffenden Begrifflichkeiten und
Methoden verschiedener politikwissenschaftlicher Dozenten oder Autoren
verständlich zu machen. Diese Diskussions- und Verständigungsschwierigkeiten
innerhalb der Politikwissenschaft sind sicherlich zu einem erheblichen Teil
durch die zunehmende Spezialisierung bedingt, die für sämtliche Disziplinen
gilt, aber hinzu kommt bei der Politikwissenschaft der Umstand, dass es
schwieriger ist, einen Kernbereich der Politikwissenschaft auszumachen oder
herrschende Lehrmeinungen zu benennen, mit deren Begrifflichkeit und Methodik
jeder Politikwissenschaftler vertraut ist.
Gegenüber dieser Situation hat es von Seiten der sich heraus bildenden
Politikwissenschaft verschiedene Versuche gegeben, die Politikwissenschaft in
Gegenstand, Fragestellung oder Methodik von den benachbarten Disziplinen
abzugrenzen. Bevor auf diese Versuche eingegangen wird, sollen kurz die
Nachbardisziplinen und deren Stellung umrissen werden, um vor diesem Hintergrund
die Besonderheit der Politikwissenschaft besser klären zu können. Vorweg sei
allerdings einschränkend gesagt, dass dabei notwendigerweise Vereinfachungen
vorgenommen werden müssen, um die für die einzelnen Disziplinen typische
Perspektive herauszuarbeiten.
zum Anfang
Die Rechtswissenschaft
Um mit der Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz zu beginnen, so ist deren
Hauptzielsetzung die Analyse und Interpretation von Rechtsnormen einschließlich
ihrer Anwendung auf den Einzelfall. Die Perspektive des Juristen bei der
Untersuchung sozialer Vorgänge lässt sich deshalb typischerweise durch die Frage
charakterisieren, ob ein bestimmtes Verhalten rechtlich geboten bzw. zulässig
ist oder nicht. Die Frage wird durch argumentativen Bezug auf geltende
Gesetzestexte und vorangegangene Gerichtsentscheidungen beantwortet. Dass die
Frage nach dem, was rechtmäßig ist, im Zentrum der juristischen Perspektive
steht, liegt nahe, da das juristische Studium ja einen Teil der Ausbildung zum
Rechtsanwalt, Richter oder Staatsanwalt darstellt, also Berufen, die mit der
Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten befasst sind.
Wenn Juristen politische Institutionen behandeln, z. B. internationale
Organisationen, Staaten, Gemeinden, Verwaltungsbehörden, Parteien oder
ähnliches, so konzentrieren sie sich auf die Systematisierung und Auslegung der
Normen, die diese Institutionen konstituieren. Eine juristische Darstellung des
Staatsrechts der Bundesrepublik informiert also zum Beispiel darüber, wie die
Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verteilt sind, nach welchem
Modus die Parlamente gewählt und die staatlichen Ämter besetzt werden.
Methodisch gesehen handelt es sich um eine Auslegung der Rechtsnormen, die
jedoch auf Grund der Unbestimmtheit vieler Rechtsbegriffe keineswegs nur eine
Frage der logischen Deduktion ist, sondern zusätzliche Wertungen erfordert Man
denke etwa an Begriffe wie "Verhältnismäßigkeit der Mittel", "Sozialpflichtigkeit des Eigentums" oder "Verunglimpfung des Staates und seiner
Organen", in deren Auslegung immer Wertungen einfließen werden.
Über die Relevanz einer derartigen juristischen Perspektive besteht wohl kein
Zweifel in einer Gesellschaft, die in immer stärkerem Maße rechtlich normiert
ist, so dass Konflikte immer häufiger die Form von Rechtsstreitigkeiten annehmen.
Allerdings sind die Grenzen dieser Perspektive nur zu deutlich.
Zum einen informiert die Kenntnis geltende Rechtsnormen einer Gesellschaft zwar
darüber, was die Individuen bzw. Amtsträger tun dürfen bzw. tun sollen, aber sie
informiert nicht darüber, wie tatsächlich gehandelt wird und warum so gehandelt
wird. Der Verfassungsrechtler kann etwa angeben, dass der Bundestag ein
bestimmtes Gesetz beschließen darf, aber die Frage, warum das Gesetz so
beschaffen ist und nicht anders, liegt außerhalb seiner Zuständigkeit als
Jurist.
Eine andere Beschränkung der juristischen Perspektive ergibt sich daraus, dass
die Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Verhaltens die geltenden Normen zum
Bezugspunkt in der Beurteilung nimmt, dass aber Fragen nach der Rechtmäßigkeit
keineswegs Fragen nach der Gerechtigkeit ersetzen können. Dies ist den Juristen
natürlich bewusst, die eine scharfe Unterscheidung zwischen der juristischen und
der politisch-moralischen Argumentation machen.
Eine wirksam durchgesetzte Rechtsordnung kann nun vielleicht Rechtssicherheit
schaffen in dem Sinne, dass jeder weiß, welche Verhaltensweisen er von den
andern erwarten und fordern kann und dass jeder sein eigenes Verhalten
entsprechend planen kann, aber so sinnvoll eine solche Koordinierung menschliche
Handlungen durch sanktionierte Rechtsnormen auch ist, wer gesellschaftliche
Prozesse vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit betrachtet,
neigt nur zu leicht zu einer Verteidigung der jeweils bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse.
Eine Politikwissenschaft aus juristischer Perspektive findet sich heute seltener
als früher, doch kann man auch heute noch Einführungen in das Regierungssystem
der Bundesrepublik finden, die eine vorwiegend staatsrechtliche
Betrachtungsweise praktizieren.
zum Anfang
Die Wirtschaftswissenschaft
Eine andere Nachbardisziplin der Politikwissenschaft ist die
Wirtschaftswissenschaft oder Ökonomie. Gegenstand und Methoden der
Wirtschaftswissenschaft sind unter Ökonomen sicherlich umstrittener als es die
der Rechtswissenschaft unter Juristen sind, aber zumindest für die
vorherrschende, an die Neoklassik anschließende Lehrmeinung lässt sich doch
etwas über deren typische Perspektive aussagen.
Im Mittelpunkt steht hier die Wirtschaft als der Prozess der Herstellung und
Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, wobei als Aufgabe der Wirtschaft
gewöhnlich die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nach Gütern angesehen wird.
Methodisch gesehen handelt es sich bei der vorherrschenden ökonomischen Theorie
um theoretische Modelle, die mit bestimmten Annahmen über die Verhaltensmaximen
der ökonomischen Akteure sowie über die technischen Produktionsbedingungen
arbeiten, aus denen dann auf rein logisch- deduktivem Wege die Resultate
gewonnen werden.
Zentral für diese theoretischen Modelle ist die Annahme des Rationalverhaltens
der Akteure, das heißt dass alle Wirtschaftssubjekte sich so verhalten, wie es
ihrem eigenen Interesse unter den gegebenen Bedingungen am besten entspricht.
Als Wertgesichtspunkt steht im Hintergrund ökonomischer Analysen meist das
Streben nach Wirtschaftlichkeit bzw. Effizienz, was sich umgangssprachlich so
formulieren lässt, dass mit den gegebenen Produktionskapazitäten eine
bestmögliche Güterversorgung erzielt werden soll.
Das Effizienzkriterium der modernen Ökonomie ist dabei die Pareto-Optimalität:
optimal ist danach ein Zustand, in dem es nicht mehr möglich ist, durch
Veränderungen irgendjemanden besser zu stellen, ohne zugleich jemand anders
schlechter zu stellen.
Die Probleme der ökonomischen Perspektive, die vom Effizienzkriterium her
bestimmt ist, lassen sich kurz folgendermaßen skizzieren: Zum einen dominiert
der Gesichtspunkt der Güterversorgung, also die Befriedigung der Bedürfnisse,
die die Individuen als Konsumenten haben. Dagegen kommen ihre Bedürfnisse als
Arbeitskräfte kaum in den Blick, weil die Arbeitskraft vorwiegend als
Produktionsfaktor gesehen wird. Zum andern entziehen sich zahlreiche
Bedürfnisbefriedigungen einer Wirtschaftlichkeitsberechnung, weil sie sich nicht
in Marktpreisen niederschlagen. Zu nennen wären hier zum Beispiel
Umweltbelastungen oder andere Beeinträchtigungen der Lebensqualität, die beim
Produzieren und Konsumieren anfallen, ohne dass die davon Betroffenen sich davor
schützen könnten oder für ihre Nachteile entschädigt würden.
Ein drittes Problem der ökonomischen Perspektive besteht darin, dass das
genannte Optimalitätskriterium nach Pareto für sich genommen ein nicht
unproblematischer Bewertungsmaßstab ist, denn z. B. für Verbesserungen der
Güterversorgung durch Umverteilung vorhandenen Reichtums zu Gunsten der Ärmeren
ist das Kriterium blind. Derartige Umverteilungen sind keine Optimierungen im
ökonomischen Sinne, denn hierbei wird der jemand schlechter gestellt, da ihm
etwas weggenommen wird. So viel zur Kritik der ökonomischen Perspektive und zur
Betrachtung sozialer Prozesse unter Gesichtspunkten ihrer Wirtschaftlichkeit und
Effizienz.
Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass die ökonomische Theorie methodisch einen
erheblichen und andauernden Einfluss auf die Politikwissenschaft ausübt, indem
Modelle des eigeninteressierten Rationalverhaltens auf politische Prozesse
angewandt werden. Bekanntere Beispiele sind die ökonomischen Theorie der
Demokratie der Ökonomen Schumpeter und Downs sowie die Analysen internationaler
Beziehungen mit den Mitteln der Spieltheorie, die von den Ökonomen von Neumann
und Morgenstern entwickelt wurde. Diese Entwicklungen laufen gewöhnlich unter
der Bezeichnung Neue Politische Ökonomie.
zum Anfang
Die Soziologie
Als dritte Nachbardisziplin soll die Soziologie betrachtet
werden. Angesichts der Vielzahl von Strömungen und Ansätzen in der Soziologie
lässt sich die Soziologie besonders schwer als Disziplin charakterisieren und
man kann wohl nicht von der soziologischen Perspektive sprechen. Aber
vielleicht kann als typisch doch der große Stellenwert empirischer
Sozialforschung innerhalb der Soziologie hervorgehoben werden. Die Soziologie
ist neben der Psychologie wohl diejenige sozialwissenschaftlichen Disziplin, in
der sich das Programm einer strikten Erfahrungswissenschaft am stärksten
durchgesetzt hat.
Mit Mitteln wie dem Interviews, der teilnehmenden Beobachtung, der
Inhaltsanalyse oder der Sekundäranalyse statistischen Materials haben vor allem
Soziologen die Einstellungen und das Verhalten von politischen Eliten,
Parteimitgliedern, Wählern, politischen Bewegungen, sozialen Schichten und
Subkulturen untersucht, um empirischer Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten
aufzudecken und die Annahmen von Theorien zu überprüfen. Durch das Teilgebiet
der politischen Soziologie war die Soziologie wahrscheinlich diejenige
Nachbardisziplin, die nach dem Zweiten Weltkrieg den größten Einfluss auf die
Politikwissenschaft ausgeübt hat.
Über die Notwendigkeit einer derartigen empirisch-soziologischen Erforschung der
gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse gibt es sicherlich keine
Diskussion. Kritik ist jedoch dann anzumelden, wenn Wissenschaft auf
Erfahrungswissenschaft in diesem Sinne eingeengt werden soll und völlige
Werturteilsfreiheit gefordert wird, wie es im Anschluss an Max Weber und die
logischen Positivisten etwa von Ernst Topitsch und Hans Albert getan wurde. Eine
derartige rein empirische Perspektive ist gerade für die Politikwissenschaft
problematisch, weil damit die Fragen, die den Inhalt politischer
Auseinandersetzungen ausmachen, aus der wissenschaftlichen Reflexion
ausgeklammert bleiben. Kritik und Rechtfertigung politischer Institutionen oder
Entscheidungen sind vom Standpunkt einer empirischen Sozialwissenschaft keine
Aufgabe für die Politikwissenschaft. Konsequenz ist, dass die
Wertgesichtspunkte, die die Auswahl von Fragestellung und Begrifflichkeit
empirischer Forschung steuern, entweder völlig im Dunkeln bleiben oder
allenfalls bekenntnishaft als persönliche Meinung des Wissenschaftlers
eingeführt werden.
Im Unterschied zur Ökonomie, die vom homo oekonomicus, dem gemäß seinem
Eigeninteresse handelnden Menschen ausgeht, ist der homo sociologicus eher ein
durch die Gesellschaft und ihre Kultur bzw. ihre Subkulturen geprägtes Wesen:
durch den Sozialisationsprozess verinnerlichen die Individuen die
gesellschaftlich herrschenden Werte und Normen. Deshalb sieht die Soziologie die
Individuen vor allem als Träger sozialer Rollen bzw. als Angehörige von sozialen
Kollektiven, die in ihrem Verhalten durch die Rollenerwartungen der sozialen
Umgebung und durch die Werthaltungen ganzer Kollektive und Gruppen geprägt
werden.
Diese soziologischen Perspektive hat auf die Politikwissenschaft einen großen
Einfluss ausgeübt, wenn man etwa an die Wahlforschung denkt und die Erklärung
der Wahlentscheidung aus Faktoren wie Schichtzugehörigkeit,
Religionszugehörigkeit, Bildungsgrad usw. Hier konkurrieren die soziologischen
Erklärungsversuche mit ökonomischen Ansätzen, die das Verhalten der Wähler als
rationale Verfolgung ihrer individuellen Eigeninteressen verstehen.
zum Anfang
Die Geschichtswissenschaft
Die Geschichtswissenschaft ist grob gesprochen diejenigen Disziplinen, die sich
mit der Erforschung der Vergangenheit menschlicher Gesellschaften beschäftigt.
Insofern die Geschichtsschreibung schwerpunktmäßig politische
Geschichtsschreibung war und noch ist, bestehen hier viele Berührungspunkte zur
Politikwissenschaft. Allerdings ist das Erkenntnisprogramm der
Geschichtswissenschaft insofern unterschieden vom Erkenntnisprogramm der
modernen empirischen Sozialwissenschaften, als es der Geschichtswissenschaft vor
allem um die Beschreibung und Erklärung historisch spezifischer, individueller
Phänomene geht und nicht zu sehr um die Aufstellung allgemeiner
Gesetzmäßigkeiten, die auch auf andere Phänomene Anwendung finden.
Die Grenze einer Perspektive, deren Ideal die möglichst vollständige und Quellen
gestützte Erfassung individueller Phänomene ist, zeigt sich bei der Frage,
inwiefern die Resultate derartige Untersuchungen Hilfestellung bei der Lösung
gegenwärtiger Probleme bieten können. Der Politikwissenschaftler von Beyme, der
vom Programm einer systematischen, empirischen Politikwissenschaft ausgeht,
schreibt dazu kritisch: "Obwohl die Historiker sich in programmatischen Reden
und Schriften immer wieder Gedanken über die Frage 'Können wir aus der
Geschichte lernen?' gemacht haben, war die Geschichtswissenschaft auf Grund
ihres spezifischen Ansatzes – trotz vieler punktuelle Einsichten – nicht in der
Lage, systematische Anleitung zum Handeln bei Vermeidung der historischen Fehler
zu geben, und es fehlte ihr meist auch der Wille zu Prognosen auf Grund
empirischer Befunde." (Politische Theorien S. 90)
zum Anfang
Die Ethik bzw. Moralphilosphie
Als letzte Nachbardisziplin der Politikwissenschaft sei noch die Ethik oder
Moralphilosophie erwähnt, die neben Erkenntnistheorie und Logik ein klassisches
Teilgebiet der Philosophie darstellt. Gegenstand der Ethik ist die Analyse und
Begründung von Normen menschlichen Handelns. Unter dem Einfluss des am Ideal der
Naturwissenschaften orientierten Positivismus der verschiedensten Spielarten
galt die Ethik lange Zeit für viele als eine veraltete Disziplinen und sie vor
allem an deutschen Universitäten ein eher kümmerliches Dasein.
Allerdings setzt sich in jüngster Zeit wieder stärker die Einsicht durch, dass
ethische Fragestellungen nach Werten, Zielen und Normen menschlichen Handelns
relevant bleiben und nicht eliminiert werden können. Wo immer zum Beispiel im
politischen Bereich gegen Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Unwahrheit und
Unmenschlichkeit angegangen wird, stehen im Hintergrund bewusst oder unbewusst
ethische Positionen, aus denen sich die Kritik ableitet. Angesichts der oft
diametral entgegen gesetzten Wertungen und Forderungen wäre es die Aufgabe einer
wissenschaftlichen Ethik, nach Möglichkeiten allgemeingültiger Begründungen von
Werten und Normen zu suchen. Allerdings ist hier einiges nachzuholen, weil sich
die Philosophen, die sich überhaupt mit ethischen Fragen beschäftigten, häufig
nur auf Individualethische Probleme bezogen haben unter Ausklammerung der
Gesellschaftsordnung und ihrer Institutionen.
Eine solche, gewissermaßen auf das individuelle Seelenheil beschränkte normative
Fragestellung, die die politischen und ökonomischen Ordnungen als gegeben
hinnimmt, kann jedoch für politische Fragen und Auseinandersetzungen keine Hilfe
sein.
Soweit die Skizzierung der Nachbarwissenschaften der Politikwissenschaft, die
notgedrungen manchmal etwas holzschnittartig ausgefallen ist. Zweck dieser
Skizze ist es, den möglichen Platz der Politikwissenschaft innerhalb der
verschiedenen Disziplinen zu bestimmen. Dabei kann es natürlich nicht darum
gehen, eifersüchtig Fächer und Bereiche voneinander abzugrenzen, sondern Ziel
muss es sein, zu einer sinnvollen Arbeitsteilung und Kooperation innerhalb der
Wissenschaften zu kommen, in der die wichtigsten Probleme und Fragen
systematisch behandelt werden können.
***
Zur Bestimmung des Politischen
Unter Politikwissenschaftlern ist die Haltung weit verbreitet, dass es
überflüssig sei, das Fach besonders zu charakterisieren und von anderen
Disziplinen abzugrenzen. Diese Position geht gewöhnlich von einer einheitlichen
Sozialwissenschaft aus, für deren Entwicklung es problematisch wäre, wenn durch
künstliche Fächergrenzen die Verfolgung bestimmter Zusammenhänge abgeschnitten
wäre. Diese Auffassung hat eine gewisse Berechtigung, solange die einzelnen
Fächer eifersüchtig darüber wachen, dass kein Fachfremder sich auf ihrem Terrain
bewegt, und so die interdisziplinäre Forschung behindert.
Andererseits ist es im Interesse einer sinnvollen Arbeitsteilung innerhalb der
Wissenschaft notwendig, dass nicht alle die gleichen Fragen aufwerfen, sondern
dass zusammengehörige Gebiete auch institutionell zusammengefasst werden, um ein
Mindestmaß an Kooperation und kontinuierlicher Diskussion innerhalb der
sonst völlig unüberschaubaren Vielfalt möglicher Fragestellungen zu erreichen.
Deshalb ist das Bemühen um eine Bestimmung und Abgrenzung des Faches
Politikwissenschaft nicht überflüssig.
Bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts dominierte bei der Erforschung
des Politischen eine staatsrechtliche Betrachtungsweise, die sich vor allem mit
der Systematisierung von Staats- und Regierungsformen befasste.
Diese stark
juristisch gefärbte Betrachtungsweise des Politischen, die auf den Staat als
Institution beschränkt war, wurde vor allem den soziologisch arbeitenden
Wissenschaftlern zunehmend zu eng. Von dorther ergab sich die Forderung nach
einer stärkeren Einbeziehung sozialer Prozesse in die Untersuchung des
Politischen.
Von großem Einfluss ist bei dieser Neubestimmung der Politikwissenschaft die
Definition von Max Weber gewesen. Er definierte 'Politik'
als "das Streben nach
Machtanteil oder das Streben nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es
zwischen Staaten oder zwischen den Menschengruppen, die er umschließt. Macht
bedeutet dabei … jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen
Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" (aus "Politik als Beruf" ).
Die Auffassung, dass Gegenstand der Politikwissenschaft Machtprozesse sind, wird
vor allem von Autoren vertreten, die die Politikwissenschaft als eine empirische
Sozialwissenschaft betreiben wollen. So schreiben die US-amerikanischen Autoren
Laswell und Kaplan in ihrem Buch "Power and Society" : "Politische Wissenschaft als eine empirische Disziplin ist die Erforschung der Bildung und Teilung von
Macht."
Allerdings unterscheiden sie sich insofern von Max Weber, als sie
Machtprozesse nicht nur in Bezug zum Staat als Institution analysieren wollen. Laswell schreibt an anderer Stelle: "Macht bedeutet das Fällen wichtiger
Entscheidungen, und die Wichtigkeit von Entscheidungen wird durch ihre
Auswirkung auf die Verteilung von Werten gemessen. Werte sind Objekte des
Begehrens wie Ansehen, Sicherheit, Einkommen. Die Macht von Individuen und
Gruppen wird gemessen durch das Ausmaß ihrer Teilnahme am Fällen wichtiger
Entscheidungen."
Laswell wendet sich mit dieser Bestimmung von Politikwissenschaft
gegen die
Fixierung auf die Untersuchung staatlicher Institutionen. Er unterscheidet
zwischen 'Regierung' (government) als "lokaler Institution" und 'Regierung' als
einer "Funktion" der Gesellschaft, nämlich dem Fällen wichtiger Entscheidungen: "Was institutionell 'Regierung' genannt wird, hat oft sehr wenig mit dieser
Funktion zu tun. Wir wissen, dass das, was in einer Stadt mit einem großen
Industriewerk 'Regierung' ('government') genannt wird, nur einen mäßigen Einfluss
auf wichtige Entscheidungen haben kann: Diese können durch den Vorstand des
Werkes getroffen werden. Wenn 'Regierung' als Funktion der Forschungsgegenstand
ist, so sind die Werksdirektoren diejenigen, die untersucht werden müssen, und
nicht die Schattenfiguren, die als politische Amtsträger bezeichnet werden."
Wenn Politik verstanden wird als Machtausübung in Form wichtiger sozialer
Entscheidungsprozesse, so schafft das die Möglichkeit, "den Bereich einer
Politikwissenschaft als 'Zentralanstaltenforschung' zu überschreiten und z. B.
Machtprozesse in der Wirtschaft zu untersuchen" (So W.-D. Narr).
Eine solche
Konzeption wurde mit großer Deutlichkeit von R. A. Dahl formuliert: "Ein
politisches System", so schreibt er, "ist ein beständiges Muster menschlicher
Beziehungen, das in bedeutsamen Maße Macht, Herrschaft und Autorität in sich
schließt." Wie Dahl selber einräumt, ist diese Definition sehr umfassend, da
Beziehungen von Macht, Herrschaft oder Autorität in praktisch allen sozialen
Einheiten existieren. "Sie bedeutet, dass viele soziale Assoziationen, die die
meisten Menschen gewöhnlich nicht als politisch ansehen, politische Systeme
besitzen: private Klubs, Geschäftsunternehmen, Gewerkschaften, religiöse
Organisationen, Bürgergruppen, primitive Stämme, Klans, vielleicht sogar
Familien."
Der Umfang der Politikwissenschaft wird nach dieser Konzeption nicht durch einen
Objektbereich bestimmt, etwa den Staat, sondern durch die Konzentrierung auf
einen bestimmten Aspekt sozialer Vorgänge, nämlich die Ausübung von Macht.
Deshalb können Wirtschaftswissenschaftler und Politikwissenschaftler ohne
weiteres dieselbe Institution untersuchen, denn sie betrachten diese jeweils
unter einem anderen Aspekt.
Gegen eine solche Konzeption von Politikwissenschaft als
Erforschung von Machtprozessen wurde angeführt, dass Macht in allen sozialen
Beziehungen vorkommt. "Der sozial ubiquitäre Charakter der Macht kann eine
Wissenschaft von der Politik nicht begründen", schreibt zum Beispiel Kurt
Sontheimer.
Und Alfred Grosser schreibt in seinem Buch "Politik erklären" : "Nicht jede Macht
ist politisch", und er nennt einen Familienvater, der Frau und Kinder dazu
bringt, statt am Meer die Ferien auf dem Lande zu verbringen. "Die Macht, die er
ausgeübt hat, (war) nicht unmittelbar politisch, da sie keinen Einfluss auf die
Zukunft der organisierten Gesellschaft ausübt." Nach Grosser gibt es einen
Bereich des Politischen, dessen Grenzen jedoch zugleich fließend und
veränderlich sind: "Auf der Stufe der Institutionen, durch die Machtausübung
erfolgt und auf der Machtkämpfe geschlichtet oder verschärft werden, ist das
Politische zu Hause."
Dementsprechend fordert Grosser "der Versuchung (zu) widerstehen, der nur allzu
viele Politologen erliegen. Unter dem Vorwand, dass das Politische überall ist,
stellen sie alles auf die gleiche Ebene und weigern sich, der Betrachtung des
eigentlich politischen Bereichs Priorität zu geben und die fragmentarischen
sozialen Phänomene, die sie als Soziologen oder Psychologen untersuchen, mit den
zentralen politischen Tatsachen in Verbindung zu bringen."
Auch O. K. Flechtheim, der "den politischen Bereich vor allem als System von
Machtströmen" versteht, macht den politischen Bereich deshalb letztlich am Bezug
zum Staat fest: "Umfasst Politik dasjenige menschliche Handeln und Verhalten,
jene mitmenschlichen Beziehungen und Prozesse und diejenigen sozialen Gruppen,
Bewegungen und Institutionen, die primär an der Macht orientiert sind, so
beinhaltet der Begriff sowohl den Staat, so weit er Macht- und
Herrschaftsinstitution ist, wie auch alles sich zu Herrschaftsverhältnissen,
-prozessen und -gebilden verdichtende Verhalten, insoweit es nur mehr oder
weniger unmittelbar mit dem Staat zusammenhängt." Nur durch diesen zumindest
indirekten Bezug zum Staat wird für Flechtheim eine Macht 'politisch'.
Eine derartige Bindung des Politischen an den Staat bzw. die Institutionen der
Machtausübung, wie Grosser sich ausdrückt, hat gegenüber der generellen Analyse
von Macht- und Entscheidungsprozessen, wie sie von Laswell und Dahl
vorgeschlagen wird, den Vorteil, dass für die Politikwissenschaft als Fach ein
gemeinsamer gegenständlicher Bezugspunkt bestehen bleibt und nicht nur die
Gemeinsamkeit zentraler analytischer Kategorien wie Macht, Herrschaft oder
Entscheidung.
Die Problematik einer solchen Bestimmung des Politischen kann am Politikbegriff
Wolf-Dieter Narrs verdeutlicht werden. Narr schreibt: "Politik, das politische
Feld, ist gekennzeichnet durch wissenschaftlich als Fragen formulierte Probleme,
alternative Möglichkeiten, diese Probleme zu bewältigen, also Möglichkeiten des
offenen oder unterdrückten Konflikts, und schließlich der Entscheidung und
Durchführung der aktualisierten Problemlösung."
Aber in diesen allgemeinen
entscheidungstheoretischen Kategorien wie 'Problemstellung', 'alternative
Lösungsmöglichkeiten', 'Interessenkonflikt', 'Entscheidung' und 'Durchführung' ließe
sich etwa auch analysieren, wie die Fußball-Nationalmannschaft ihr nächstes
Länderspiel gewinnen kann, welche personellen und strategischen Alternativen
existieren, welche Alternative von wem favorisiert wird und wie die
Entscheidung letztlich zu Stande kommt und umgesetzt wird.
Dies vielleicht etwas extreme Beispiel demonstriert die Problematik einer
Politikwissenschaft, die als allgemeine Analyse von Prozessen der Machtausübung
oder Entscheidung verstanden wird.
Um der Schwierigkeit zu entgehen, jede beliebige Entscheidungsproblematik oder
Machtausübung zum Gegenstand der Politikwissenschaft machen zu müssen, haben
verschiedene Autoren im Anschluss an Max Weber betont, dass es im politischen
Bereich nicht um irgendwelche Entscheidungen sondern um verbindliche
Entscheidungen geht, hinter denen der Anspruch auf legitime Gewaltanwendung
steht.
Ein solcher Politikbegriff wurde vor allem von David Easton vertreten, dessen
Systemanalyse der Politik außerordentlich einflussreich war. (David Easton: The
Political System. New York 1953). Easton schreibt: "Das Studium der Politik
bemüht sich um Verständnis dafür, wie autoritative Entscheidungen für eine
Gesellschaft gefällt und umgesetzt werden." (S.85) Autoritativ ist eine
Entscheidung dann, " wenn das Gefühl vorherrscht, dass ihr gehorcht werden muss
oder gehorcht werden sollte." (S.85) Dieser Politikbegriff nähert sich stark der
Auffassung Max Webers, der allerdings Betonung auf das spezifische Mittel legte,
dessen sich politische Verbände zur Garantierung ihrer Ordnung letztlich
bedienen können, der für legitim erachteten Anwendung physischen Zwanges.
Max Weber hatte definiert: "Ein Staat ist eine menschliche Gemeinschaft, die
(erfolgreich) das Monopol legitimen physischen Zwanges innerhalb eines
bestimmten Territoriums in Anspruch nimmt." (S.75) Die US-amerikanischen
Politikwissenschaftler Almond und Powell schreiben in diesem Sinne: "Wir stimmen
mit Max Weber überein, dass legitimer Zwang der Faden ist, der sich durch das
Handeln des politischen Systems zieht und ihm seine besondere Qualität und
Bedeutung gibt sowie seinen Zusammenhang als ein System. Die politischen
Autoritäten, und nur sie, haben ein allgemein anerkanntes Recht, Zwang
anzuwenden und darauf gegründeten Gehorsam zu befehlen. (Gewalt ist 'legitim',
wo der Glaube an die gerechtfertigte Art ihrer Anwendung existiert.) …
Wenn wir
vom politischen System sprechen, schließen wir alle Interaktionen ein, die die
Anwendung oder Androhung legitimen physischen Zwanges betreffen. Das politische
System umfasst nicht nur Institutionen, wie zum Beispiel Gesetzgebungsorgane,
Gerichte oder Verwaltungsbehörden, sondern alle Strukturen in ihren politischen
Aspekten." (S. 40)
Diese Definition des politischen Systems kann nach dem Verständnis von Almond
und Powell nicht nur auf Gesellschaften angewandt werden, die einen Staat im
modernen Sinne besitzen. Dies wäre für die Politikwissenschaft problematisch,
denn wie z. B. Grosser schreibt: "Der Versuch, das Politische als allein vom
Staat ausgehend zu definieren, ist deshalb zu restriktiv, da es früher und jetzt
noch viele Gesellschaften gibt, die eine nichtstaatliche Organisationsform
besitzen." (S. 57) Almond und Powell betonen deshalb: "Es gibt Gesellschaften,
in denen die anerkannte Kompetenz zum Gebrauch physischen Zwanges weit gestreut
ist, wo die Familie, der Klan, religiöse Körperschaften oder andere Arten von
Gruppen daran teilhaben, oder wo sie privat ergriffen wird, wie in der Fehde
oder dem Duell. Aber wir betrachten sogar diese Formen als politische Systeme
besonderer Art, die weiterhin vergleichbar sind mit jenen Gemeinwesen, in denen
es so etwas wie ein annäherndes Monopol legitimen physischen Zwanges gibt." (S.
42)
Zu fragen ist nun nach den Stärken und Schwächen einer solchen Konzeption, die
das politische System durch die für legitim erachtete Anwendung von physischem
Zwang definiert und die die Strukturen dieses Systems, die darauf einwirkenden
Kräfte sowie die von ihm ausgehenden Wirkungen thematisiert.
Was das Problem einer sinnvollen Arbeitsteilung innerhalb der Wissenschaften
betrifft, so kann die vorgelegte Konzeption als brauchbar betrachtet werden.
Wesentliche Überschneidungen ergeben sich hier nur mit der Politischen
Soziologie. Doch umfasst die Soziologie als Fach ein derart riesiges Feld, dass
die Ausgliederung und Verselbständigung von Spezial-Soziologien wie der
Politischen Soziologie unproblematisch und notwendig erscheint.
Schwerer wiegt schon der Einwand, dass mit einem solchen Politikbegriff der Weg
zu gesamtgesellschaftlichen Analysen versperrt werde, insbesondere zu den
ökonomischen Wurzeln politischer Macht. So schreibt Hans Kastendiek in seiner
Untersuchung zur Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft: "Indem diese
Disziplin … (die Willensbildung- und Entscheidungsprozesse) zum Hauptgegenstand
ihrer nicht-ideengeschichtlichen Studien machte und das Politische auf dieser
Ebene ansiedelte, war sie nur noch in der Lage, den Bereich zu untersuchen,
indem sich … politische Machtverhältnisse äußern und durchsetzen, war aber nicht
mehr im Stande, die gesellschaftliche Basis von Machtpositionen zu
reflektieren." (Blanke/Jürgens/Kastendiek S. 74)
Diese Kritik mag in Bezug auf die tatsächliche westdeutsche Politikforschung in
vielem zutreffen, allerdings trifft sie nicht zu auf das
politikwissenschaftliche Programm: die Untersuchung des Prozesses verbindlicher
Entscheidungssetzung unter Aspekten von Macht und Herrschaft. Es ist nicht
einzusehen, warum nicht von der Untersuchung dessen, was Kastendiek die "Äußerung" von Macht nennt, weitergegangen werden kann zur Untersuchung der
'Basis' von Macht, also der Ressourcen und der Sanktionsmöglichkeiten, die den
politischen Akteuren zur Verfügung stehen. Und in zahlreichen
politikwissenschaftlichen Studien wurde dieser Schritt auch vollzogen.
...
Aber was ist, wenn bestimmte Probleme gar nicht in den Entscheidungsprozess
politischer Gremien gelangen, etwa weil die Betroffenen die Verwirklichung ihrer
Ziele sowieso für aussichtslos halten oder weil keine Kommunikationskanäle zu
Gremienmitgliedern bestehen? Was ist, wenn Akteure sich über ihre wirkliche
Interessenlage täuschen, weil ihnen gezielt Informationen vorenthalten wurden?
Was ist, wenn Akteure ihrer wahren Ziele und Absichten aus taktischen Gründen
bewusst verbergen? Was ist, wenn Beteiligte von vornherein auf die Verfolgung
bestimmter Ziele verzichten, weil sie wissen, dass dies zu Gegenreaktionen
führen würde, die ihnen schaden würden?
In all diesen Fällen muss eine empirische Erfassung der gefällten Entscheidungen
sowie der von den Beteiligten geäußerten Interessen an den bestehenden
Machtverhältnissen vorbeigehen. 'Macht' ist nichts, was sich direkt beobachten
ließe oder für das sich ohne weiteres ein empirischer Indikator finden ließe.
Angesichts der großen Schwierigkeiten mit Begriffen wie Macht und Herrschaft
bleibt deshalb das Unternehmen einer Politikwissenschaft mit Fragezeichen
versehen, die diese Begriffe zu ihren zentralen Kategorien erklärt.
Ein anderer möglicher Einwand gegen das vorgetragene Konzept von
Politikwissenschaft ist der einer unzulässigen Verengung auf die Formen des
politischen Prozesses unter Vernachlässigung aller politischen Inhalte. Müssen
sich Politikwissenschaftler nicht auch inhaltlich mit den Gebieten befassen, auf
denen politische Probleme existieren, wie z. B. die Situation von ausländischen
Arbeitern, die Diskriminierung von Frauen, die Jugendarbeitslosigkeit, Armut und
Hunger in der Dritten Welt, Aufrüstung, Umweltzerstörung, Gefahren von
Atomkraftwerken, Stadtsanierung und anderes mehr?
Bei den aufgezählten Problembereichen handelt es sich nicht um das politische
System selber, sondern um "Politikfelder", also Bereiche, in die politische
Entscheidungen hineinwirken bzw. hineinwirken sollten, wobei die einzuschlagende
Politik zur Lösung der Probleme in der Regel umstritten ist.
Wenn der Politikwissenschaftler einen Beitrag zur Lösung der akuten politischen
Streitfragen machen will, muss er sich mit den jeweiligen Gebieten befassen, wie
Reaktortechnik, Waffentechnik, Konjunkturtheorie, türkische Kultur, Mietrecht,
Schadstoffausstoß, Tarifverträge und anderes mehr. Diese Gebieten gehören
keineswegs zur Politikwissenschaft in einigen Sinne sondern sie sind dem
zuzuordnen sind, was im angelsächsischen Raum "Policy Sciences" genannt wird,
also Wissenschaften, die die Informationsgrundlage politischer Entscheidungen
verbessern helfen.
Ein Politikwissenschaftler mag zugleich Experte sein für ein oder zwei
Politikfelder, aber trotzdem können diese Politikfelder, die den Gegenstand
anderer wissenschaftlicher Disziplinen bilden, nicht zugleich auch zum
Kerngebiet der Politikwissenschaft erklärt werden. Dies bedeutet jedoch nicht,
dass sich einzelne Politikwissenschaftler nicht auch als Soziologen,
Psychologen, Ökonomen, Verkehrswissenschaftler oder Ethnologen betätigen
dürften.
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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Die 'Politische Theorie' in
der Politikwissenschaft"
Letzte Bearbeitung 03.11.05 / Eberhard Wesche
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