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Präzisierung der ethischen Fragestellung
Was ist genau die normative Fragestellung? Es lassen sich
verschiedene Arten normativer Fragen formulieren, die sich in ihrem Inhalt nur zum Teil decken:
" Wie soll ich in dieser bestimmten
Situation handeln?"
"Wie soll ich in Situationen dieser Art
handeln?"
"Wie soll man in dieser bestimmten Situation handeln?"
"Wie soll man in Situationen dieser Art
handeln?"
"Welche Normen soll ich befolgen, unabhängig davon, wie die andern
handeln?"
"Welche Normen soll man befolgen, unabhängig davon, wie die andern
handeln?"
"Welches sind die richtigen Normen für mein Handeln?"
"Welches sind die richtigen Normen für das Handeln aller Menschen?"
"Welche Normen sollen für das Handeln der Menschen gelten, angenommen alle
würden diese Normen befolgen?"
"Welche Normen sollen für das Handeln der Menschen - so wie sie nun einmal sind
- gelten?"
"Welche Normen sind für mich verbindlich?"
"Welche Normen sind für alle verbindlich?"
"Welche Normen sollen zum Gesetz erhoben und sanktioniert
werden?"
Die ersten vier Fragen beziehen sich auf bestimmte Handlungssituationen. Damit
erhebt sich die Frage, wodurch eine Handlungssituation bestimmt wird. Gehören
dazu auch bereits bestehende normative Vorentscheidungen? Es macht ja einen
Unterschied, ob ich zuvor bereits etwas vereinbart habe oder nicht. Und es macht
auch einen Unterschied, ob eine Rechtsordnung besteht oder nicht. Damit
verschiebt sich jedoch das Problem sofort auf die Frage nach der
Verbindlichkeit
der bereits bestehenden normativen Elemente. Die Frage "Wie soll ich (Wie soll
man) handeln?" lässt sich offenbar nicht "direkt" angehen.
***
Das Normenproblem stellt sich auf verschiedenen Ebenen:
Neben der individualethischen Fragestellung: "Wie
soll man in einer bestimmten Situation handeln?" ist die
rechtspolitische Fragestellung von Bedeutung, die
allgemein formuliert lautet: "Welche Normen sollen zu Gesetzen gemacht werden?"
Zu den Gesetzen gehören dabei nicht
nur die Festlegungen der vorgeschriebenen Handlungen bzw. Unterlassungen, sondern auch die
anzuwendenden Sanktionen bei Nicht-Befolgung dieser
Verhaltensnormen durch Strafen wie z. B. Freiheitsentzug.
Damit ergibt sich die Frage, wer die Gesetze durchsetzt. Zur Durchsetzung
gehört u.a. die Ermittlung von Normverletzungen (Wer hat welche Norm verletzt?) und
die Vollstreckung der Sanktionen (z. B. Verhaftung des Normverletzers und Vollzug
der Sanktion.)
Damit ist ein sozialer Mechanismus bzw. eine soziale Organisation erforderlich,
um diese Funktion zu erfüllen. Z. B. die soziale Ächtung von Normverletzern, Gerichte, Polizei, Gefängnisse
- also im Kern eine überlegene Macht, ein Staat.
Mit der Aufgabe der Gesetzgebung stellt sich sofort die Frage nach der
Verfassung des Staates, in der die Fragen
entschieden werden,
nach welchem
Verfahren die Gesetze bestimmt werden sollen, und vor allem,
wer der Gesetzgeber
sein soll.
- Ist es ein Gremium von Fachleuten für Normenbestimmung, z. B. ein Gremium von
Moralphilosophen? (Wer entscheidet über die Zusammensetzung eines
solchen Gremiums? Was ist, wenn sich die Fachleute nicht einig sind?)
- Ist es ein Prophet im göttlichen Auftrag? (Wer entscheidet darüber,
ob es sich bei einem Individuum tatsächliche um einen göttlich inspirierten
Propheten handelt?)
- sind es der Mitglieder einer Gemeinschaft oder ein bestimmter
Teil von diesen, z. B. die
Gesamtheit aller Erwachsenen? (Wie soll sich eine solche Gemeinschaft
konstituieren? Wie kann eine sehr viele Individuen Gesetze geben? Was
ist im Falle der Uneinigkeit?)
An diesen Fragen wird deutlich, dass der Gesetzgebungslehre eine Verfassungslehre beigeordnet sein muss, die das Verfahren der Gesetzgebung
festlegt (Welche Verfassungsorgane gibt es und mit welchen Kompetenzen sind sie
ausgestattet? Wie bestimmt sich die Mitgliedschaft in der Normengemeinschaft?)
***
Ebenen der
Geltung und der Allgemeinheit von Normen
- ich fordere die allgemeine Befolgung einer bestimmten Norm
- ich fordere die institutionelle Einführung einer bestimmten Norm (z. B. als
staatlich sanktioniertes Recht, als Bestandteil einer Vereinssatzung ...)
- ich behaupte, dass jede Person zu jeder Zeit eine bestimmte Norm befolgen soll
- ich behaupte, dass eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation sich
hätte anders verhalten sollen
- ich behaupte, dass eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation sich
falsch verhalten hat
- ich missbillige ein bestimmtes Verhalten einer bestimmten Person
Diesen unterschiedlichen Ebenen entsprechen unterschiedliche Fragestellungen.
***
Wenn man fragt: "Ist es akzeptabel, dass alle die Norm x befolgen?", so
beurteilt man die Norm x unter der Voraussetzung, dass sie
ausnahmslos befolgt wird. Da diese Annahme nicht unbedingt realistisch
ist, stellt sich die Frage: "Und was ist,
wenn sich einige nicht an die Norm x halten?" Damit würde die
ursprüngliche Frage ja folgendermaßen verändert: "Wäre es
akzeptabel, wenn die meisten die Norm x befolgen würden,
einige aber nicht?"
Damit verändert sich natürlich die
Konsensfähigkeit. Nehmen wir ein Beispiel: Alle waren sich einig, dass
an Stelle der unzähligen Trampelpfade, die bequem aber
hässlich sind, ein einziger Weg angelegt werden soll und die
Fläche ansonsten schön bepflanzt werden soll. Deshalb das
Schild: "Nicht betreten! Anpflanzungen!" Wenn nun manche
Leute doch die Abkürzung über die Grünfläche nehmen, so wird
für die "gesetzestreuen" Individuen die Norm
unakzeptabel, denn sie nehmen nicht nur den Umweg in Kauf, auch die
erwarteten positiven Ergebnisse dieser Einschränkung, die blühenden Blumenbeete, sind hinüber.
Damit wird eine soziale Sanktionsinstanz
notwendig und der Weg der "Verrechtlichung" wird beschritten. Hier trennen sich
dann auch die Wege derjenigen, die nach dem moralisch richtigen Handeln
nur fragen, weil sie "gute Menschen" sein wollen und keine Schuld auf sich laden
wollen, und denjenigen, die nach der richtigen Moral fragen, weil sie die
gesellschaftliche Ordnung "moralisch gerecht" gestalten wollen. Den Ersteren
kommt es vor allem auf die innerpsychische Sanktionsinstanz an, das "Gewissen".
Den Letzteren geht es vor allem um die Rechtfertigung bzw. Kritik der soziale
Ordnung und deren Durchsetzung.
Die Frage, welche Gesetze gelten sollen, kann verstanden werden als die Frage
nach einem Gesamtentwurf eines vollständigen Normensystems. Angesichts des
unübersehbaren Regelungsbedarfs einer technisierten, arbeitsteiligen Großgesellschaft erscheint
ein solcher utopischer Gesamtentwurf kaum möglich. Außerdem fragt sich, wie eine
solche Konzeption realisiert werden kann.
Wenn man sich auf einzelne Normen oder bestimmte zu regelnde Bereiche
beschränkt, so stellt sich sofort das Problem der Wechselwirkungen zwischen
verschiedenen Normen: ob es sinnvoll ist, eine bestimmte Norm einzuführen, hängt
auch davon ab, welche anderen Normen bereits in Kraft sind.
***
Der Einzelne wird hineingeboren in eine bereits bestehende soziale Ordnung. Auch wenn ich theoretisch ganz von vorne, bei den Grundlagen, anfange: in der Praxis kann ich nicht ganz von vorne anfangen. Die wichtigste moralische oder politische Frage lautet deshalb: Gibt es im Vergleich zur bestehenden Ordnung bessere Alternativen?
***
Die Frage, welche Normen für bestimmte Bereiche gelten sollen, stellt sich praktisch immer im Situationen, wo schon Normen gelten und anerkennt sind. Zwar müssen prinzipiell alle Regeln in Frage gestellt werden können, aber man wird erstmal vom normativen Status quo ausgehen müssen. Man wird also immer spezifizieren müssen, welche Normen als veränderbar und welche als gegeben anzusehen sind.
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Wenn ich sage, dass die Ethik auf "Soll-Fragen" und die empirische Wissenschaft auf "Ist-Fragen"
antwortet, so bedeutet diese Arbeitsteilung nicht, dass bei
der Beantwortung der "Soll-Fragen" die "Ist-Fragen" keine
Rolle spielen. Ganz im Gegenteil: Immer wenn bei der Beantwortung
einer "Soll-Frage" z. B. die Folgen einer Handlung
eine Rolle spielen, müssen "Ist-Fragen" beantwortet
werden. Ob z. B. die Einführung der Todesstrafe zu einer
Verringerung der Kapitalverbrechen führt, kann nicht durch
philosophisches Nachdenken beantwortet werden, sondern dazu
muss man die entsprechenden sozialwissenschaftlichen
Untersuchungen durchführen.
Aber keine empirische Wissenschaft ist allein
ausreichend, um die Frage zu beantworten, wie Menschen in
bestimmten Situationen handeln sollen. Zielsetzungen,
Wertungen oder Handlungsgebote können die empirischen
Wissenschaften nicht vorgeben. Sie können jedoch Fragen nach
Ursachen und Folgen, nach Mitteln und Wegen beantworten und den
Bereich des Menschenmöglichen und Machbaren erweitern.
Insofern bleibt das ethische Denken wichtig und notwendig.
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Neuformulierung der Problemstellung:
1. Ausgangspunkt sind Konflikte,
seien es
- Konflikte zwischen den Interessen verschiedener Individuen,
- Konflikte zwischen dem Interesse eines Individuums und den bestehenden
Normen der Gruppe, der es angehört,
- Konflikte zwischen den Interessen verschiedener Gruppen;
- Konflikte zwischen den Interessen einer Gruppe und den Normen einer
umfassenderen Gruppe
2. Ziel ist es, diese Konflikte ohne Anwendung von Gewalt zu
lösen.
3. Dies erfordert hinsichtlich dieser Konflikte Entscheidungen
in Form von Normsetzungen, die zum einen für alle
am Konflikt beteiligten Parteien verbindlich gelten, und der zum andern alle am
Konflikt beteiligten Parteien frei zustimmen können.
***
Der Wille der Subjekte ist auf die gesamte Realität gerichtet. Die von
einem Individuum gewollte Welt mag einerseits die bestehende Welt sein,
sie mag andererseits auch eine veränderte Welt sein: Ich will, dass manches so
bleibt, und ich will, dass manches sich ändert.
Zu dieser Realität gehören nicht
nur die natürlichen Abläufe und Geschehnisse, sondern auch das, was andere
Menschen sind und tun: Ich will, dass dieser Mensch sich in dieser Hinsicht weiter so
verhält wie bisher, und ich will, dass er in jener Hinsicht sich anders verhält
als bisher. Dieser Wille richtet sich auf das ganze Sein und Verhalten des
anderen Menschen. Insofern taucht der andere Mensch nur als Objekt meines
Willens auf. Ich muss auf ihn so einwirken, dass er sich meinem Willen gemäß
verhält.
In dem Fall, wo das Objekt meines Willens ein intelligenter Mensch ist und
nicht leblose Sachen oder sprachlose Pflanzen und Tiere, habe ich eine besondere
Einwirkungsmöglichkeit, um meinen Willen zu realisieren, die gemeinsame Sprache. Ich kann ihm gegenüber meinen
Willen äußern und ihn zu einem entsprechenden Handeln auffordern.
Die andern
sind dann nicht nur einfache Objekte meines Willens sondern sie sind zugleich
verständige Adressaten meiner Willensäußerungen. Ich fordere sie auf,
ihr Verhalten in einer bestimmten Weise zu gestalten, ich fordere sie zu
bestimmten Handlungen und Unterlassungen auf. Dies macht Sinn nur dann, wenn es
einen Mechanismus in der Psyche des andern gibt, der meine Willensinhalte
übernehmen kann und das Verhalten in dem von mir gewollten Sinne ändert. Es
setzt die Fähigkeit zur bewussten Eigensteuerung des Verhaltens voraus. Erst auf dieser Ebene
tritt ein Konflikt in der Form auf, das der andere sich meinem Willen
entgegenstellt und sich diesem nicht beugen will.
Der andere kann mir jedoch nicht nur als Objekt meines Willens und als Adressat
der von mir gesetzten Normen entgegentreten, er kann auch derjenige sein, mit
dem ich mich einigen will, der andere kann mein Argumentationspartner sein, den ich
von der Richtigkeit bestimmter Normen überzeugen will. In diesem Fall
fordere ich nicht nur Gehorsam in Bezug auf bestimmte Normen, sondern ich
begründe die von mir vertretenen Normen, appelliere an seine Einsicht, seine
Vernunft. Erst auf dieser Ebene kann es Schuld geben, als Verfehlung der
möglichen Einigung.
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Man reduziert den Anspruch an die Ethik zu
weit, wenn es reicht, für moralische Normen "Plausibilität" zu erreichen (wann
ist die erreicht?) , um sie dann gegen soziale Widerstände durchzusetzen. Das
ist eher das Geschäft des praktischen Politikers, der sein "plausibles"
Parteiprogramm politisch durchsetzen will.
Als Wissenschaftler und Philosoph sehe ich meine Aufgabe eher darin, die
Beantwortung offener Fragen voranzubringen und nach den geeigneten
Methoden und den Kriterien für die richtige Beantwortung dieser Fragen zu
suchen. Und im Bereich der Ethik geht es um die Beantwortung der
Frage, wie wir handeln sollen oder dürfen.
Dabei unterscheide ich
inhaltliche ethische Fragen (" Darf man bzw. soll man x tun?" ) von
methodologischen Fragen (" Wie kann man inhaltliche Fragen richtig beantworten?).
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Wenn das "individuelle Wohl" das ist, was ein Individuum nach reiflicher Überlegung will, und wenn das "Gesamtwohl" das ist, was alle Individuen der Gesamtheit nach reiflicher Überlegung gemeinsam wollen, so kommt man notwendigerweise zu der Frage, was wir alle gemeinsam wollen bzw. welche Normen unser aller Anerkennung finden können. Dies erscheint mir eine sinnvolle Ausgangsfrage zu sein, die für den Entwurf einer Ethik keine andere Voraussetzung macht als die, dass man sich zwanglos durch Argumente einigen will und die Fragen nicht dem Machtkampf überlassen will.
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Mit der Suche
nach einer nachvollziehbaren und akzeptierbaren
Begründung moralischer Normen setzt man sich scheinbar zwischen alle Stühle.
Der eine Stuhl ist von denen besetzt, die eine derartige
Begründung für ausgeschlossen halten, weil jeder seine
eigene Moral für allgemeingültig erklärt usw..
Der andere
Stuhl ist von denen besetzt, für die eine Begründung nicht nötig
ist, weil die Inhalte der Moral sehr einfach und für alle
Zeiten und Gesellschaften praktisch die gleichen sind.
Beide Positionen sind einander direkt entgegen gesetzt. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass man sich in beiden Fällen die
Mühen einer expliziten, logisch einwandfreien Begründung
oder Kritik der moralischen Normen erspart.
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
***
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Übersicht
Ethik-Werkstatt: Ende der Seite: "Präzisierung der ethischen Fragestellung"
Letzte Bearbeitung 18.11.2005 / Eberhard Wesche
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