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Norbert Hoerster:
Moralbegründung durch übereinstimmende Interessen
Textinhalt:
Darstellung
Die Annahme eines überwiegenden
Interesses jedes Einzelnen an der Erhaltung des eigenen Lebens
Die Annahme einer weitgehenden Gleichheit
der einzelnen hinsichtlich der Gefährdung des eigenen Lebens und der Fähigkeit
zu töten
Kritik
Das Problem des Starken, der den Schutz der Normen nicht
benötigt
Auswirkungen einer Gruppenbildung
Parallelen zur Theorie des
Gesellschaftsvertrages
Das Problem ungleicher Verhandlungsmacht
Brechung des Eigeninteresses durch Ungewissheit?
Textbeginn
Darstellung
Die Annahme eines überwiegenden Interesses jedes Einzelnen an der
Erhaltung des eigenen Lebens
In seinem Aufsatz: "Moralbegründung ohne Metaphysik" (Erkenntnis XX, 1983,
S.222-238, wieder abgedruckt in: Aufklärung und Kritik,
Sonderheft 7/2003, nachzulesen hier)
demonstriert Norbert Hoerster am Beispiel des Tötungsverbotes die Möglichkeit, durch
Bezugnahme auf übereinstimmende Interessen der Individuen moralische Normen
gegenüber (fast) allen Beteiligten zu begründen. Dies geschieht durch den
Nachweis, dass die Durchsetzung einer bestimmten moralischen Norm (hier das Tötungsverbot)
für alle Beteiligten vorteilhaft ist gegenüber einem Zustand, in dem keine
diesbezügliche
Regelung besteht (das Töten
anderer jedem freigestellt ist).
Hoerster geht dabei von zwei Prämissen aus. Die erste Prämisse lautet:
(1) "Jeder
hat ein größeres Interesse am eigenen Überleben als am (gelegentlichen) Töten."
[Aufklärung u. Kritik S. 24]
Das beinhaltet, dass jeder Einzelne einen gesellschaftlichen Zustand a, in dem er von
niemandem getötet werden kann aber auch selber niemanden töten kann, vorzieht
gegenüber einem Zustand b, in dem er zwar andere töten kann, er aber auch
seinerseits von anderen getötet werden kann.
Im Zustand a ist das Überlebensinteresse befriedigt, aber nicht das
Tötungsinteresse. In Zustand b ist das Tötungsinteresse befriedigt, jedoch nicht
das Überlebensinteresse. Ansonsten gleichen sich die beiden Zustände a und b.
Nach
Hoersters Ansicht ziehen die allermeisten Menschen den Zustand a gegenüber dem
Zustand b vor. Nur für den Fanatiker, der sein eigenes Leben bedenkenlos riskiert,
gelte dies nicht.
Die Annahme einer weitgehenden Gleichheit
der Einzelnen hinsichtlich der Gefährdung des eigenen Lebens und der
Fähigkeit zu töten
Die zweite Prämisse lautet:
(2) "Jeder kann sein Überlebensinteresse ... nur dadurch sichern, dass er auf sein ... Tötungsinteresse verzichtet."
[A.u.Kr. S. 24]
Diese Prämisse impliziert eine gewisse Gleichheit der Einzelnen hinsichtlich
ihrer Stärke und ihres Schutzes.
Wenn jeder rational handelt und die Befriedigung des kleineren Interesses der
Befriedung des größeren Interesses opfert, so folgt daraus:
(3) Jeder verzichtet auf die Befriedigung seines
Tötungsinteresses.
Damit ist, so Hoerster, ein effektives Tötungsverbot
intersubjektiv, also für jedermann - ausgenommen Fanatiker - begründet. Die Begründung besteht in einem
Appell an das langfristige Interesse der Individuen: Auf lange Sicht ist es für alle
von Vorteil, wenn ein effektiv durchgesetztes Tötungsverbot gilt.
Hoerster ist der Ansicht, dass eine analoge Begründung auch für andere
Handlungsbereiche gegeben werden kann und dass so eine "Minimalmoral" nahezu
universal begründet werden kann. Hoerster nennt als weitere Regelungen das Verbot zu
lügen, die Garantie des wirtschaftlichen Existenzminimums, den Schutz der
körperlichen Unversehrtheit und eines gewissen Maßes an Bewegungs- und
Handlungsfreiheit, den Schutz des Privateigentums (im Sinne eines ausschließlichen
Zugriffs) an Konsumgütern sowie die Sicherstellung der Einhaltung von
Versprechen und Verträgen. Auch in diesen Bereichen stimmen die Interessen
der Einzelnen insofern überein, dass jeder die allgemeine Befolgung
entsprechender Normen einem ungeregelten Zustand vorzieht.
Das Problem des Starken, der den Schutz der Normen nicht benötigt
Problematisch erscheint vor allem die zweite Prämisse: "Jeder kann sein
Überlebensinteresse ... nur dadurch sichern, dass er auf sein ...
Tötungsinteresse verzichtet."
Diese Prämisse enthält recht weitgehende Annahmen. Insbesondere wird
vorausgesetzt, dass sich die Einzelnen hinsichtlich der Gefahr des
Getötetwerdens in einer ähnlichen Lage befinden.
Die zweite Prämisse impliziert weiterhin, dass es für einen bestimmten Einzelnen
keine andere Möglichkeit zur
Sicherung seines Überlebens gibt als den Verzicht aller anderen auf die
Möglichkeit, ihn zu töten.
Diese Annahme kann jedoch empirisch falsch sein.
Man denke etwa an einen Raubritter oder Seeräuber, der so gut geschützt und
bewaffnet ist, dass er das Tötungsverbot zu seinem Schutz nicht nötig hat sondern
eher
von dessen Fehlen profitiert.
Durch die zweite Prämisse wird also das Problem des
Starken nicht gelöst sondern nur ausgeklammert.
Auswirkungen einer Gruppenbildung
Die zweite Prämisse erscheint vor allem dann unrealistisch,
wenn man die Annahme einer atomistischen Individualisierung aufgibt und
berücksichtigt, dass die Einzelnen in Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen,
Weltanschauungen, Lebensformen oder Hautfarben eingebunden sind.
So könnte sich z. B. eine Gruppe, die den überwiegenden Anteil der Bevölkerung
umfasst, so stark machen, dass sie kleine Minderheiten verfolgen und ausrotten
kann, ohne dass deren Mitglieder befürchten müssen, selber getötet zu werden. Das Tötungsverbot würde
in diesem Fall nur innerhalb der herrschenden Gruppe gelten.
Wenn diese Variante für die einzelnen Mitglieder der herrschenden Gruppe größere
Vorteile bringt als
ein allgemeines Tötungsverbot, so ist Letzteres nicht mehr in ihrem Interesse
und man kann das allgemeine Tötungsverbot nicht mehr durch Appell an ihr Interesse
begründen.
Parallelen zur Theorie des
Gesellschaftsvertrages
Der von Hoerster hier vorgeführte und von ihm als "individual-rationalistisch" bezeichnete Ansatz der
Normenbegründung ist seiner Struktur nach eine hypothetische Vertragstheorie, auch wenn Hoerster
dies selber nicht so zu sehen scheint.
Die Individuen könnten aufgrund der
Übereinstimmung ihrer Eigeninteressen ein Tötungsverbot vereinbaren
und gleichzeitig durch die Einrichtung einer Sanktionsinstanz sicherstellen,
dass dies Verbot weitgehend befolgt wird.
Der individual-rationalistische Ansatz teilt
wegen dieser Strukturgleichheit all die Stärken und Schwächen einer Vertragstheorie
der Normenbegründung.
Das Problem ungleicher Verhandlungsmacht
Der wichtigste Einwand gegen die Vertragstheorie der
Normenbegründung ist der, dass der Inhalt der
vertraglichen Vereinbarung auch von der relativen Verhandlungsmacht der jeweiligen
Vertragsparteien (bargaining-power) bestimmt wird. Eine Partei, die auch ohne
einen bestimmen Vertragsabschluss auskommt und insofern warten kann, besitzt
gegenüber einer Partei, für die dieser Vertragsabschluss dringlich oder gar
überlebenswichtig ist, ein Druckmittel, um für sich Sonderrechte und
Ähnliches im Vertrag festzuschreiben. Die Interessen der Vertragsparteien werden
somit durch die Machtverhältnisse mitbestimmt.
Hoerster schränkt die Möglichkeit "ungleicher" Verträge zwar durch seine zweite
Prämisse ein, aber er zahlt dafür den Preis einer größeren Realitätsferne seines
Modells.
Bei ungleichen Machtverhältnissen ist es sogar möglich, dass die
Errichtung einer Kasten- oder Klassengesellschaft im übereinstimmenden Interesse
aller ist.
Wenn die schwächere Gruppe in einem Machtkampf keine Chance des Überlebens hat, aber durch Unterordnung
unter die stärkere Gruppe ihr Leben erleichtern und verbessern kann, so kann es
in ihrem eigenen Interesse sein,
sich auch mit einer unterlegenen Position und weniger Rechten zufrieden zu geben.
Moderne Vertragstheoretiker sind sich dieses Problems bewusst. Sie haben deshalb
in ihre Theorien bestimmte Annahmen oder spezielle Verfahren eingebaut, um die
einzelnen Individuen und die Gruppen an einer direkten Verfolgung ihrer Interessen zu hindern.
Brechung des Eigeninteresses durch Ungewissheit?
Bei Rawls ist dies der Schleier der Unwissenheit. Hoerster argumentiert -
ähnlich wie Buchanan und Tullock - mit der Ungewissheit der weiteren Zukunft. Da
die Regelungen langfristig sind, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die
heute herrschende Gruppe zukünftig einmal zu den mit weniger Rechten
ausgestatteten Gruppen gehören wird, und sei es auch erst nach mehreren
Generationen. Die heute Starken würden deshalb in ihrem eigenen Interesse auch
die Belange der heute Schwachen berücksichtigen, was ihnen dann zugute kommt,
wenn sie selbst oder ihre Nachkommen sich einmal in der schwächeren Position
befinden sollten.
Dies Argument wird jedoch nicht empirisch
belegt. Außerdem ist es problematisch, mit der bloßen Möglichkeit bestimmter
Zustände zu argumentieren, wie Hoerster dies beim Tötungsbeispiel und auch an
anderen Stelle tut. Für eine rationale Strategie zur Befriedigung individueller
Interessen sind die relativen Wahrscheinlichkeiten ausschlaggebend, mit denen
bestimmte Zustände eintreffen.
Wenn z. B. auf 10.000 Einwohner jährlich 1 Verkehrstoter kommt, so ist diese
Wahrscheinlichkeit so gering, dass auch ein starker Wunsch zu überleben nicht zu
einem rationalen Verzicht auf die Teilnahme am Straßenverkehr führt.
***
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Konsens durch Vertrag und
Konsens durch Argumentation *** (17 K)
***
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durch übereinstimmende Interessen"
Letzte Bearbeitung 18.01.2008 / Eberhard Wesche
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