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Harsanyis Bestimmung der besten Gesellschaftsordnung


(Dieser Text entspricht § 43 der Arbeit: Einzelinteresse und Gesamtinteresse *** (565 K))

Ein auf dem spieltheoretischen Nutzenbegriff aufbauender Ansatz zur Operationalisierung eines Nutzenmaßstabs, der die Interessen aller Individuen in solidarischer Weise berücksichtigt, wurde von John C. HARSANYI in dem Aufsatz: "Cardinal Welfare, Individualistic Ethics and Interpersonal Comparisons of Utility" vorgeschlagen. [in: Journal of Political Economy (1955) August].

HARSANYI unterscheidet dort zwischen den "subjektiven Präferenzen" eines Individuums, die die Eigeninteressen eines Individuums wiedergeben, und sogenannten "ethischen Präferenzen", die eine unparteiliche und überpersönliche Einstellung ("an impartial and impersonal attitude") des Individuums ausdrücken.

Danach entscheidet ein Individuum dann gemäß seinen "ethischen Präferenzen", wenn es nicht weiß, welches seine Position in den zur Entscheidung stehenden Alternativen sein wird, sondern wenn die gleiche Wahrscheinlichkeit besteht, dass es in die Lage irgendeines Individuums gerät. Zur "Lage" eines Individuums gehören dabei nicht nur die äußeren Lebensbedingungen sondern auch die subjektiven Einstellungen und Geschmacksrichtungen ("attitudes and tastes") des betreffenden Individuums.

Unter diesen Bedingungen ist jedes Individuum gezwungen, nicht nur sein Eigeninteresse wahrzunehmen, sondern es muss sich in die Lage der andern Individuen hineinversetzen und ihre Interessen in gleicher Weise berücksichtigen wie seine eigenen, denn es kann mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in die Lage irgendeines Individuums geraten. Insofern fallen unter der Bedingung einer Auslosung der Positionen für die Individuen Eigeninteresse und Gesamtinteresse weitgehend zusammen.

Dies Verfahren soll an einem vereinfachten Beispiel erläutert werden.

Angenommen fünf Individuen mit etwa gleicher Interessenlage und gleichem Einkommen beziehen gemeinsam eine Fünf-Zimmer-Wohnung. Die Zimmer sind unterschiedlich nach Größe, Helligkeit, Lärmbelastung usw.. Diese Miniaturgesellschaft von fünf Leuten steht nun vor der Entscheidung, wer welches Zimmer bewohnen soll und welchen Mietanteil er dafür übernehmen soll. Dabei soll der Mietanteil jedes Einzelnen entsprechend dem Gebrauchswert des Zimmers festgelegt werden, das er bewohnt.

Wenn man nun zuerst die Aufteilung der Zimmer auf die Individuen vornimmt und anschließend versucht, den Mietanteil für jedes Zimmer festzulegen, so wäre es bei einem Eigeninteresse jedes Individuums, möglichst wenig Miete zu bezahlen, in der Praxis nur schwer möglich, zu einer Einigung zu gelangen. Jeder würde gemäß seinem Eigeninteresse bemüht sein, den Nutzwert des von ihm bewohnten Zimmers möglichst niedrig darzustellen im Verhältnis zu den andern Zimmern, um seine eigenen Ausgaben möglichst niedrig zu halten.

Wenn man jedoch umgekehrt vorgeht und erst eine Bewertung der Zimmer vornimmt und dann die Zimmer durch Verlosung aufteilt, so kann niemand bei der Bewertung der Zimmer sein Eigeninteresse wahrnehmen, denn er weiß ja noch nicht, welches er bewohnen wird.  Eine Verlosung der Zimmer ist hier deshalb unproblematisch, weil jede Verteilung gleichwertig ist, denn es wird eine gleiche Interessenlage der Individuen hinsichtlich der Wohnbedingungen angenommen. Eine solche Situation würde jedes Individuum zu solidarischen Entscheidungen - oder in HARSANYIs Terminologie zu "ethischen Präferenzen" - zwingen.  Die Brechung des Eigeninteresses durch die Einführung von Ungewissheit findet sich auch in den später entwickelten Theorien von RAWLS und BUCHANAN/TULLOCK.

Durch die Einführung des Risikos gleicht die Entscheidung zwischen zwei Alternativen - z. B. zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen - der Entscheidung zwischen zwei Lotterien. Für jede Position in einer Gesellschaftsordnung existiert ein Los. Darauf ist die äußere Lage und die Präferenzstruktur eines der Individuen in dieser Gesellschaftsordnung verzeichnet. Diese Inhalte der Lose sind allen Individuen bekannt. HARSANYI nimmt nun an, dass sich die Individuen gemäß den in der Spieltheorie üblichen Postulaten der rationalen Entscheidung unter Ungewissheit verhalten. Danach ergibt sich der Nutzen einer Alternative aus dem Nutzen, den die Alternative als sicheres Ereignis hätte, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens. Dieser Erwartungswert ergibt einen kardinal interpretierbaren Nutzenmaßstab, d. h. mit ihm lassen sich mathematische Operationen wie Addition und Multiplikation durchführen. Der Gesamtnutzen verschiedener solcher Lotterien für ein Individuum lässt sich dann durch das arithmetische Mittel der Nutzenwerte aller Los-Ergebnisse bestimmen.

Allerdings wäre der Gesamtnutzen, wie ihn ein Individuum durch seine ethischen Präferenzen bestimmt, damit noch nicht notwendigerweise für alle Individuen gleich. Die ethischen Präferenzen der Individuen fallen nämlich nur dann zusammen, wenn die Individuen einen interpersonal vergleichbaren Nutzenmaßstab bei der Bewertung der Positionen verwenden und wenn sie außerdem die gleiche Einstellung zum Risiko haben, da die Risikobereitschaft eines Individuums den als Erwartungswert bestimmten Nutzen beeinflusst. Ein Individuum mit hoher Risikoneigung wird eine Lotterie mit großen Nutzendifferenzen zwischen den Los-Ergebnissen - wo es also "Hauptgewinne" und "Nieten" gibt - höher einstufen als ein Individuum mit einer geringen Risikoneigung, selbst wenn die sicheren Los-Ergebnisse für beide Individuen den gleichen Nutzen hätten.

Die praktische Anwendbarkeit des von HARSANYI vorgeschlagenen Verfahrens ist allerdings nur beschränkt. Es gibt eher eine theoretische Vorstellung von der Beschaffenheit "unparteiischer" und "solidarischer" ethischer Präferenzen. In den meisten Fällen lässt sich ein kollektiver Entscheidungsprozess nicht so konstruieren, dass die Individuen nichts über ihre Position in den zur Auswahl stehenden Alternativen wissen. Bestimmte Positionen etwa im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind an bestimmte Fähigkeiten intellektueller Art gekoppelt. Andere Situationen wie z. B. Schwangerschaft treten nur nur für Individuen weiblichen Geschlechts auf. Wer seine Vorlieben und Interessenschwerpunkte kennt, weiß, dass er diese unter allen alternativen Systemen haben wird, sodass er auf deren Befriedigung besonderes Gewicht legen kann. All dies sind Gründe, warum ein Individuum gar nicht tatsächlich in die Lage bestimmter anderer Individuen kommen kann , sodass sich dann auch keine Entscheidung nach Art einer Auslosung der Positionen real konstruieren lässt.

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Letzte Bearbeitung 14.08.2008 / Eberhard Wesche

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