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Offene Fragen einer normativen
Demokratietheorie
1.) Das
Verständnis vom Gemeinwohl bzw. Gesamtinteresse
1a.) Probleme im Begriff des
individuellen Nutzens
1b.) Probleme einer interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung
2.) Theoretische
Modelle des Mehrheitssystems
2a.) Das Gleichgewichtsproblem angesichts zyklischer Mehrheiten
3.) Die Senkung der
Entscheidungskosten
4.)
Das Problem der Bündel-Empfindlichkeit des Mehrheitsprinzips
Mit der
Entwicklung der modernen Nutzen- bzw. Präferenztheorie, der Entscheidungs- und
der Spieltheorie wurde ein begriffliches Instrumentarium bereitgestellt, das
geeignet erscheint, die traditionellen Fragen der politischen Philosophie - und
insbesondere der Demokratietheorie - nach der Legitimation politischer Ordnungen
in präziserer Form wieder aufzunehmen. Als Beispiele seien etwa die Arbeiten von Arrow, Black, Harsanyi, Downs, Tullock, Rawls und Sen genannt.
Erkenntnisziel einer normativen Demokratietheorie ist es, eine
Orientierung für die Gestaltung des politischen Willensbildungs- und
Entscheidungsprozesses zu geben.
Für die politische Demokratie ist das Mehrheitsprinzip zentral, so dass dessen
Rechtfertigung und Kritik im Mittelpunkt einer normativen Demokratietheorie
stehen muss.
Daraus ergeben sich verschiedene Schwerpunkte normativer Demokratietheorie:
Zum einen muss ein ethischer Maßstab begründet werden, an dem sich
verschiedene Demokratiemodelle kritisch messen lassen.
Zum andern muss die Arbeitsweise eines Mehrheitssystems mit seinen verschiedenen
Varianten theoretisch geklärt werden.
Neben den Problemen, die durch die Existenz des Wahlparadox entstehen, gibt es
das Problem der Informations- und Entscheidungskosten,
die in einem reinen Mehrheitssystem auftreten, wo jeweils alle Individuen zu
allen Entscheidungen ihr Votum abgeben. Hier sind vor allem Verfahren der
Dezentralisierung und der Repräsentation von praktischer Bedeutung.
Schließlich sei noch das Problem der Bündel-Empfindlichkeit des
Mehrheitsprinzips genannt, das aufgrund der nur ordinalen Erfassung der
individuellen Nutzen und die Voraussetzung gleicher Betroffenheit aller
Abstimmenden von der jeweiligen Entscheidung entsteht. "Bündel-Empfindlichkeit"
bedeutet, dass sich andere Resultate ergeben, wenn man die einzelnen Punkte
getrennt zur Abstimmung stellt und wenn man die Punkte zu einem Paket bündelt,
über das als Ganzes abgestimmt wird.
1.) Das
Verständnis vom Gemeinwohl bzw. Gesamtinteresse
Ich bin bisher von einem in der utilitaristischen Tradition stehenden ethischen
Konzept ausgegangen, bei dem das normativ verbindliche "Gesamtinteresse" durch
eine solidarische Gleichberücksichtigung aller individuellen Interessen bestimmt
werden soll. Entgegen dem in der Paretianischen Wohlfahrtsökonomie
vorherrschenden rein subjektiven und ordinal gemessenen Nutzenbegriff wurde
dabei von einer Abwägung der individuellen Interessen ausgegangen, d.h. es wurde
ein interpersonaler Nutzenvergleich und ein in kardinalen Einheiten messbarer
Nutzenbegriff vorausgesetzt, wie er ähnlich von John C. Harsanyi entwickelt
wurde.
Dieser an "klassische" utilitaristische Positionen und an die moderne
Entscheidungstheorie anschließende Ansatz wirft allerdings eine Reihe
theoretisch noch nicht befriedigend gelöster Probleme auf. Diese Schwierigkeiten
sind besonders im Anschluss an die Arbeiten von John Rawls verstärkt diskutiert
worden, der statt der utilitaristischen eine vertragstheoretische Konzeption der
Normenbegründung vertritt.
Offenbar lassen sich die meisten ethischen Kontroversen auf unterschiedliche
Interpretationen des Nutzenbegriffs im Rahmen normativer Theoriebildung
zurückführen. Vordringlich ist deshalb eine Klärung des erkenntnistheoretischen
Status und eine inhaltliche Präzisierung des Nutzenbegriffs.
1a.) Probleme im Begriff des
individuellen Nutzens
Wie bereits deutlich gemacht wurde, sollen die individuellen Nutzen die
Grundlage für die Bestimmung des "Gesamtnutzens" sein. Probleme tauchen jedoch
dadurch auf, dass in die individuellen Präferenzen gewöhnlich bereits moralische
Überzeugungen unterschiedlicher Art, wohlwollende und böswillige Motive etc.
eingegangen sind, so dass sie eine problematische Basis für die Zusammenfassung
(Aggregation) zu
einer normativ akzeptablen Präferenz des Individuums abgeben. Diese Diskussion, die unter
anderem von Theoretikern wie Sen und Rescher geführt wird, muss aufgearbeitet
werden, um einen normativ brauchbaren, "gereinigten" Begriff des individuellen
Nutzens zu bestimmen.
1b.) Probleme einer interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung
Hier liegen sicherlich die schwierigsten Probleme für jede utilitaristisch
konzipierte normative Theoriebildung. Die Frage ist, wie sich die Interessen
verschiedener Individuen intersubjektiv nachvollziehbar gegeneinander abwägen
lassen. Arrows Konzeption der "extended sympathy" aber vor allem auch Harsanyis
Konstruktion "ethischer Präferenzen" bilden wichtige Ansatzpunkte, die weiter zu
entwickeln wären. Fortschritte sind meiner Ansicht nach dadurch zu erwarten,
dass eine weitere erkenntnistheoretische Klärung dessen vorgenommen wird, was
eigentlich mit einem "interpersonalen Nutzenvergleich" gemeint ist. Insofern
hier ein wissenschaftlicher Konsens über die Bewertung von Alternativen vom
Standpunkt des jeweiligen Individuums gefordert ist, lässt sich der
Nutzenvergleich nicht völlig auf empirisch-psychologische Fragestellungen
reduzieren. Da mit einem solidarischen Nutzenvergleich ein "Sich-hineinversetzen-in-die-Lage-des-andern"
gefordert ist, müssen methodologische Probleme thematisiert werden wie z.B. die
Benutzung introspektiver Daten und die Voraussetzungen interpersonalen "Verstehens".
Im Zusammenhang mit dieser generellen Klärung eines ethisch akzeptablen
Nutzenbegriffs lassen sich dann auch weitere Probleme angehen, von denen hier
nur zwei genannt seien. Zum einen das Problem der Kommensurabilität
verschiedener Ziele und ihre Reduzierung auf eine einzige Bewertungsdimension,
ein Verfahren, das von Kritikern utilitaristischer Positionen in Frage gestellt
wird. Zum andern das Problem der "distributiven Gerechtigkeit", deren
Berücksichtigung für den Utilitarismus nach Meinung seiner Kritiker unmöglich
ist, solange nur die Maximierung des Gesamtnutzens und nicht die Angleichung der
individuellen Nutzenniveaus das Ziel ist.
2.) Theoretische Modelle des Mehrheitssystems
Abstimmungsverfahren nach dem Mehrheitsprinzip können unter bestimmten
Voraussetzungen als Annäherung an ein normativ akzeptables Gesamtinteresse
angesehen werden. Dabei wird jedoch von der vereinfachenden Annahme ausgegangen, dass eine Mehrheitsalternative existiert, d.h. dass
keine zyklischen
Mehrheiten auftreten. Diese Mehrheitsalternative bildet unter der Voraussetzung
rationaler Koalitionsbildung bei allen gleichgewichtigen
Abstimmungsverfahren den Gleichgewichtspunkt.
2a.) Das Gleichgewichtsproblem angesichts zyklischer Mehrheiten
Nach den Ergebnissen von Black, Plott und Kramer ist es jedoch schon bei
zweidimensional ausgeprägten Alternativen unwahrscheinlich, dass eine
Mehrheitsalternative und damit ein stabiler Gleichgewichtspunkt existiert.
Solange jedoch nicht theoretisch bestimmt werden kann, was das zu erwartende
Ergebnis bei Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip ist, kann das
Mehrheitssystem auch kaum normativ beurteilt werden. Damit ist die Lösung des
Gleichgewichtsproblems im Falle zyklischer Mehrheiten notwendig für weitere Fortschritte einer normativen Theorie der Demokratie. Die
bisherigen Lösungsvorschläge, wie sie etwa von Tullock, Simpson und Taylor
gemacht worden sind, können noch nicht befriedigend, weil sie entweder
zu keinem eindeutigen Resultat gelangen oder aber sehr spezielle Annahmen über
die Form der individuellen Nutzenfunktionen machen.
Es erscheint deshalb als notwendig, mit dieser Problemstellung noch einmal die
Theorie der koperativen Mehrpersonen-Spiele sowie die dort entwickelten Lösungskonzepte (v.Neumann/Morgenstern,
Luce/Raiffa, Vickrey u.a.) aufzuarbeiten. Dabei sind die Untersuchungen über
rationale Abstimmungsstrategien einzubeziehen, wie sie etwa von Riker,
Farquharson und Brams vorgenommen wurden. Erfolgversprechend für eine Lösung des
Problems scheint mir die Berücksichtigung individuell unterschiedlicher
Präferenzintensitäten zu sein.
Zu untersuchen wäre weiterhin, wie sich unterschiedliche Annahmen hinsichtlich
des Abstimmungsverfahrens, der Kommunikationsmöglichkeiten, der Möglichkeit
bindender Vereinbarungen und der Kosten von Koalitionsverhandlungen auswirken.
Wichtig sind in diesem Stadium empirische Untersuchungen, um die aus den
theoretischen Modellen der Abstimmung deduzierten Aussagen zu überprüfen und
damit indirekt auch den Realitätsgehalt dieser Modelle zu testen.
Wenn es gelingen sollte, für die verschiedenen Varianten des Mehrheitssystems
Gleichgewichtspunkte anzugeben und damit die theoretisch zu erwartenden
Resultate von Abstimmungen zu bestimmen, so wären diese Resultate anhand der zuvor erarbeiteten
ethischen Kriterien zu beurteilen. Es könnte dann theoretisch bestimmt werden,
unter welchen Bedingungen das Mehrheitssystem zu normativ akzeptablen
Resultaten führt und unter welchen Bedingungen dies nicht der Fall ist. Daraus
lassen sich dann Orientierungen für die Gestaltung der politischen
Entscheidungsprozesse ableiten sowie Grenzen für die Anwendbarkeit von
Abstimmungsverfahren bestimmen.
3.) Die Senkung der
Entscheidungskosten
Neben den Problemen, die durch die Existenz des Wahlparadox entstehen, gibt es
das Problem der Informations- und Entscheidungskosten, die in einem "reinen"
Mehrheitssystem auftreten, wo jeweils alle Individuen zu allen Entscheidungen
ihr Votum abgeben müssen. Zur Senkung der Entscheidungskosten erscheint neben
Verfahren der Repräsentation und der generellen Gesetzgebung vor allem die
Dezentralisierung der Entscheidungen auf relativ autonome Teilkollektive
untersuchenswert. Dabei wäre vor allem zu fragen, nach welchen Kriterien solche
Entscheidungsbereiche voneinander abzugrenzen sind und wie die Zuordnung der
Individuen zu den verschiedenen Entscheidungsbereichen erfolgen soll.
In Frage
kommen hierfür Gesichtspunkte wie die wechselseitige Interdependenz von
Entscheidungen und der Grad der "Betroffenheit" der Individuen durch die
jeweiligen Entscheidungen. Eine Messung der Betroffenheit wirft dabei wiederum
die bereits oben genannte Grundlagenproblematik einer interpersonal
vergleichbaren Nutzenmessung auf, so dass die Ergebnisse dieser Diskussion hier
Verwendung finden können.
4.) Das Problem der Bündel-Empfindlichkeit des Mehrheitsprinzips
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normativen Demokratietheorie"
Letzte Bearbeitung 10.07.2007 / Eberhard Wesche
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