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Einstimmigkeitsregeln und Status-quo-Klauseln
(1976)
*** Empfehlung: Nutzen Sie die
Suchfunktion Ihres Internet-Browsers! ***
Vorbemerkung:
Der folgende Text enthält das Kapitel 12 meiner Dissertation
aus dem Jahr 1976 mit dem Titel
"Zur Methodologie der normativen Sozialwissenschaften. Tauschprinzip -
Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse."
Kapitel 12 ist dort betitelt: "Einstimmigkeitsregeln und
Status-quo-Klauseln".
Im
Klett-Cotta-Verlag erschien 1979 eine überarbeitete und gekürzte Fassung dieser Arbeit unter
dem geänderten Titel:
"Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse. Zur Methodologie
normativer Ökonomie und Politik".
Dort ist das Thema "Einstimmigkeitsregeln und Status-quo-Klauseln" das 7. Kapitel.
Dieses Buch ist
als PDF-Datei hier verfügbar.
Diejenigen Paragraphen, die
in der Buchfassung nicht enthalten sind, sind im folgenden Inhaltsverzeichnis
mit einem grünen Sternchen* gekennzeichnet.
Der Text schließt an
Teil I:
Einzelinteresse und
Gesamtinteresse *** (598 K) und leitet über zu
Teil II:
Das Modell der Marktwirtschaft. Darstellung und Kritik ***(239 K).
Teil III behandelt das Das Mehrheitsprinzip
***
(349 K), insbesondere die Koalitionsbildung.
Die ursprünglichen Seitenzahlen sind in geschweiften Klammern eingefügt. Die Fußnoten wurden in den Text eingearbeitet und sind an der Kursivschrift zu erkennen.
Zur Literaturliste am Ende von Teil III.
Inhaltsverzeichnis
12. Kapitel
Einstimmigkeits-Regeln und Status-quo-Klauseln
Einleitung
........................................................…......………...……......…….........…...... 327
§ 69 Die reine
Einstimmigkeits-Regel ………......................…………………………………..... 328
§ 70 Die reine
Pareto-Regel …………………………………………………................................ 331
§ 71 Einstimmigkeits-Regeln mit
Status-quo-Klausel: Die Veto-Regeln .................. 334
§ 72
Der dynamische Charakter des Status quo ………………………........................... 340
§ 73
Die Veto-Regel mit Abstimmungskoalitionen …………………………........................ 342
§ 74
Das Prinzip
der potentiellen Kompensation der Verlierer …………...................… 344*
§ 75 Die
Pareto-Erweiterungs-Regel ….………………………………..........................….......
350*
§ 76
Die Regel der
einstimmig befriedigenden Alternative …………………................... 351*
§ 77
Einstimmigkeits-Regeln und die Maximierung des Gesamtnutzens …............... 352
Textanfang
{327}
Nachdem im Teil I
Einzelinteresse und
Gesamtinteresse *** (598 K) das Solidaritätsprinzip als methodologisches
Kriterium für die Gültigkeit von Normen abgeleitet wurde und die Probleme einer
interpersonal vergleichbaren Bestimmung der individuellen Interessen näher
analysiert wurden, sollen nun verschiedene Verfahren der kollektiven
Entscheidung daraufhin untersucht werden,
inwiefern sie eine solidarische Bestimmung des
Gesamtinteresses darstellen und damit zur Aufstellung gültiger Normen geeignet
sind.
Dabei soll es im Folgenden nur um solche Entscheidungs-Systeme gehen, die dem
Solidaritätsgebot zumindest insoweit entsprechen, als sie das Gesamtinteresse
unter Berücksichtigung der individuellen Interessen bestimmen.
Es werden im Folgenden solche Regeln der kollektiven Entscheidung behandelt, in
denen die Bestimmung der individuellen Interessen
dem jeweiligen Individuum selber
überlassen wird. Im
Prinzip wäre auch eine andere Bestimmung der individuellen Interessen möglich,
doch werden diese Regeln gewöhnlich als individualistische
Entscheidungs-Systeme praktiziert. Dies gilt sowohl für die Einstimmigkeits-Regeln wie auch für
die Mehrheitsregeln, die meist als individualistische Vertrags- bzw.
Abstimmungs-Systeme praktiziert werden, in denen die Individuen ihre Interessen
autonom artikulieren können.
Auf die für alle individualistischen Entscheidungs-Systemen grundlegende
Problematik einer ausreichenden Qualifizierung der Individuen zur Artikulation
ihrer wirklichen Interessen wird dabei nicht
mehr speziell eingegangen, da dies bereits ausführlich in Kapitel 10 [von
Einzelinteresse und
Gesamtinteresse *** (598 K)] diskutiert
wurde.
{328}
12. Kapitel
Einstimmigkeits-Regeln und Status-quo-Klauseln
§ 69 Die reine Einstimmigkeits-Regel
Eines der Verfahren zur Bestimmung gültiger Normen ist die
Einstimmigkeits-Regel.[[1] Die Einstimmigkeits-Regel wird auch als
'Konsensus-Regel' bezeichnet. Dieser Ausdruck wird hier vermieden, da es sich
hier nicht um den im Teil I entwickelten argumentativen Konsensus handelt,
sondern um einen Konsensus nach Art des 'gemeinsamen Interesses', wie er oben im
Zusammenhang mit dem vertraglichen Konsensus bereits behandelt wurde.]
Die reine Einstimmigkeits-Regel besagt, dass diejenige
Alternative realisiert werden soll, die für alle Individuen besser ist als
irgendeine andere der zur Entscheidung stehenden Alternativen.
Eine Alternative
x gilt dann als kollektiv gewählt und soll damit verwirklicht werden, wenn sie
von jedem Individuum gegenüber jeder anderen Alternative vorgezogen wird. Es ist
also bei Anwendung der Einstimmigkeits-Regel nur ein ordinales Messniveau der
individuellen Nutzen erforderlich, d.h. die Alternativen brauchen von den
Individuen nur in eine wertmäßige Rangfolge gemäß den individuellen Nutzen
gebracht zu werden. Außerdem braucht nur bestimmt zu werden, welche Alternative
für das jeweilige Individuum die beste ist, denn die Rangfolge der übrigen
Alternativen spielt bei der Einstimmigkeits-Regel keine Rolle.
Damit eine Alternative x gemäß der Einstimmigkeits-Regel kollektiv gewählt wird,
müssen die individuellen
{329} Präferenzordnungen derart beschaffen sein, dass für alle Individuen die
Alternative x den ersten Rang einnimmt.
Ein Beispiel mit 5 Individuen A, B, C, D
und E sowie 4 Alternativen w, x, y und z soll dies veranschaulichen. Die
Präferenzen der Individuen werden dabei in der Weise tabellarisch dargestellt,
dass die Alternativen entsprechend ihrem nutzenmäßigen Rangplatz unter das
betreffende Individuum geschrieben werden:
Rang |
A |
B |
C |
D |
E |
1. |
x |
x |
x |
x |
x |
2. |
z |
y |
z |
w |
z |
3. |
z |
y |
z |
y |
w |
4. |
w |
w |
y |
w |
y |
Präferenzordnungen Abb.: 12.1
In diesem Fall ist x die von allen Individuen einstimmig bevorzugte Alternative.
Sie ist Spitzenalternative sämtlicher Individuen und gilt gemäß der
Einstimmigkeits-Regel als kollektiv gewählt.
Bei einer solchen Struktur der individuellen Präferenzen
würde die Alternative x auch im paarweisen Vergleich mit jeder andern
Alternative ohne Gegenstimmen bleiben.
Solche paarweisen Vergleiche zwischen den
Alternativen kann man ebenfalls tabellarisch in Form einer Wahlmatrix
darstellen. Dabei werden am linken und am oberen Rand der Matrix die
Alternativen abgetragen und in die entstehenden Felder wird eingetragen, wie
viele Individuen jeweils die links stehende und wie viele Individuen die oben stehende Alternative
im Paarvergleich bevorzugt haben. Dabei gilt jeweils die vordere Zahl für die
links stehende Alternative und die hintere {330}
Zahl für die oben stehende Alternative. Wenn man die obigen Präferenzordnungen
in einer derartigen Wahlmatrix darstellt, so ergibt sich folgendes Bild:
|
w |
x |
y |
z |
w |
- |
0:5 |
2:3 |
1:4 |
x |
5:0 |
- |
5:0 |
5:0 |
y |
3:2 |
0:5 |
- |
5:0 |
z |
4:1 |
0:5 |
0:5 |
- |
Wahlmatrix zu 12.1 Abb.: 12.2
Eine Alternative gilt nach der Einstimmigkeits-Regel dann als kollektiv gewählt
und als zu realisieren, wenn sie bei paarweiser Abstimmung gegenüber jeder andern
Alternative ohne Gegenstimmen bleibt. Im vorliegenden Fall erfüllt die Alternative x
diese Bedingung, denn wie die zweite Zeile der Wahlmatrix zeigt, schlägt x jede
andere Alternative ohne Gegenstimmen. Dabei ist unmittelbar einleuchtend, dass
höchstens eine Alternative der reinen Einstimmigkeits-Regel genügen kann, sodass
insofern eine eindeutige Entscheidung gewährleistet ist.
Das Problem bei dieser kollektiven Entscheidungs-Regel ist
nicht so sehr, dass sie mit dem Solidaritätsprinzip in Konflikt geraten könnte.
Dies ist ausgeschlossen, denn nach der Einstimmigkeits-Regel kann nur eine
Alternative gewählt werden, die für jedes Individuum einen maximalen
individuellen Nutzen besitzt und die folglich auch einen maximalen Gesamtnutzen
besitzen muss. Problematisch ist vielmehr, dass eine solche Übereinstimmung in
Bezug auf die Spitzenalternative nicht notwendig vorhanden sein muss und in
aller Regel sogar fehlen wird.[[2] Vgl. dazu Teil I, § 29.]
Es lässt sich nämlich
{331}
normalerweise zu jeder beliebigen Alternative x eine andere Alternative y
denken, die zumindest für eines der Individuen besser ist als x, sodass x nicht
die für jedes Individuum beste aller möglichen Alternativen sein kann.
Wenn
jedoch keine derartige Übereinstimmung in der Spitzenalternative vorhanden ist,
so führt die reine Einstimmigkeits-Regel zu überhaupt keiner Entscheidung,
denn sie kann zwischen solchen Alternativen, für die es Gegenstimmen gibt, keine
Auswahl treffen. Die reine Einstimmigkeits-Regel ergibt in diesem Fall also
keine kollektive Rangordnung der Alternativen.
Wenn man den damit verbundenen
Zustand der Normlosigkeit nicht will, so muss man zusätzliche Regelungen für den
Fall einführen, dass keine der Alternativen von den Individuen einstimmig
befürwortet wird. Die Einstimmigkeits-Regel ist in ihrer reinen Form also
unvollständig und bedarf ergänzender Regelungen.
Eine gewisse Modifikation der Einstimmigkeits-Regel ergibt
sich, wenn man nicht mehr Einstimmigkeit hinsichtlich der Spitzenalternative
verlangt, sondern sich auf die Frage beschränkt, ob eine Alternative gegenüber
einer bestimmten anderen Alternative eine relative Verbesserung für jedes der Individuen bedeutet. Wenn
man außerdem noch die Möglichkeit der Indifferenz von Individuen gegenüber
bestimmten Alternativen einbezieht (ein Individuum A ist gegen zwei Alternativen
x und y indifferent, wenn x und y für A gleichwertig sind), so wird aus der reinen Einstimmigkeits-Regel
das Pareto-Kriterium.[[3] Zum Pareto-Kriterium s. SEN 1970, S.21ff. oder GÄFGEN
1968, S .422f. ]
{332}
Die Pareto-Regel besagt:
1. Wenn jedes Individuum gegenüber zwei Alternativen x und
y indifferent ist, dann soll auch das Kollektiv gegenüber diesen Alternativen
indifferent sein.
2. Wenn mindestens ein Individuum die Alternative x
gegenüber der Alternative y vorzieht und wenn für jedes der übrigen Individuen
die Alternative x mindestens ebenso gut ist wie die Alternative y, dann soll
auch das Kollektiv die Alternative x gegenüber der Alternative y vorziehen. In
diesem Fall wäre x paretomäßig besser als y bzw. pareto-überlegen.
Wenn es zu der Alternative x nun keine andere Alternative
gibt, die paretomäßig besser ist als x, so gilt die Alternative x als pareto-optimal. Zu einer pareto-optimalen Alternative gibt es keine
andere Alternative, die jedermann als mindestens ebenso gut ansieht und die
zumindest von einem Individuum als besser angesehen wird. [[4] Auch hier
müssen qualifizierte individuelle Interessenäußerungen vorausgesetzt werden.]
Auch bei der reinen Pareto-Regel tritt das Problem auf,
dass u. U. keine eindeutige kollektive Entscheidung möglich ist, da mehrere
Alternativen pareto-optimal sind. Dies kann anhand eines Beispiels mit den drei
Individuen A, B, C und den drei Alternativen x, y, z veranschaulicht werden, bei
dem folgende Präferenzordnungen vorliegen:
A |
B |
C |
x |
x |
y |
y |
y |
x |
z |
z |
z |
Präferenzordnungen Abb.: 12.3
{333}
In diesem Beispiel sind die Alternativen x und y paretomäßig besser als die Alternative z, denn sie sind für mindestens ein
Individuum besser als z und zugleich für kein Individuum schlechter als z.
Zwischen den Alternativen x und y führt das reine Pareto-Kriterium jedoch zu
keiner Entscheidung, denn weder ist x gegenüber y pareto-überlegen, noch ist
umgekehrt y gegenüber x pareto-überlegen. Sowohl x als auch y sind im Beispiel aus
Abb. 12.3 pareto-optimal, da zu ihnen keine pareto-überlegene Alternative
existiert. Die reine Pareto-Regel ergibt also in diesem Fall keine eindeutige
kollektive Entscheidung. [[5] Zur mangelnden Entscheidungsfähigkeit s. GÄFGEN 1968,
S.423.]
Ähnlich wie bei der reinen Einstimmigkeits-Regel wird es
höchstens in Ausnahmefällen eine Alternative geben, die gegenüber allen andern
Alternativen pareto-überlegen ist, sodass sich nur eine einzige pareto-optimale Lösung ergibt. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, ist es
deshalb auch hier erforderlich, die reine Pareto-Regel durch zusätzliche
Kriterien zu ergänzen.
Bloße Pareto-Optimalität stellt - ganz abgesehen von dieser Unvollständigkeit -
ein unter dem Gesichtspunkt des Solidaritätsprinzips problematisches Kriterium
dar, auch wenn es in der normativen Ökonomie (bzw. Wohlfahrtsökonomie) weite Verwendung findet. "Eine
Ökonomie kann in diesem Sinne optimal sein, selbst wenn einige Leute im Luxus
schwimmen und andere am Verhungern sind, solange nur die Verhungernden nicht
besser gestellt werden können, ohne das Vergnügen der Reichen zu beeinträchtigen.
{334} Wenn sich der Kaiser Nero durch die Verhinderung des Brandes von
Rom schlechter gefühlt hätte, dann wäre es pareto-optimal gewesen, wenn man ihn
Rom anzünden ließ. Kurz gesagt: eine Gesellschaft oder eine Ökonomie kann
pareto-optimal sein und in höchstem Maße abscheulich sein." [[6] SEN
1970, S.22.]
Ähnlich kritisch äußert sich auch RAWLS gegenüber dem
Kriterium der Pareto-Optimalität bzw. Pareto-Effizienz, wie es auch genannt
wird: ".. die Verteilung von Gütern, in der ein Mensch alles hat, ist effizient,
weil die andern nichts haben, was sie ihm ihrerseits geben können." [[7]
RAWLS 1973, S. 70] RAWLS kommt
zu dem Schluss: "Das Prinzip der Effizienz kann allein genommen nicht als eine
Konzeption der Gerechtigkeit dienen. Deshalb muss es in irgendeiner Weise
ergänzt werden." [[8] RAWLS 1973, S.71]
§ 71 Einstimmigkeits-Regeln mit Status-quo-Klausel: die
Veto-Regeln
Aus den vorangegangenen Überlegungen hat sich ergeben, dass
die reine Einstimmigkeits-Regel und die reine Pareto-Regel häufig zu keiner
Entscheidung führen, weil die Alternativen anhand dieser Kriterien
unvergleichbar sind. Um nun trotzdem in jedem Fall zu einer kollektiven
Entscheidung zu kommen, kann man die zusätzliche Klausel einführen, dass der
jeweils bestehende Zustand - der Status quo - zum normativ akzeptierten
Ausgangspunkt genommen wird, der immer dann als kollektiv gewählt gilt, wenn
sich dem gegenüber keine einstimmige Entscheidung ergibt.
Bei dieser
konservativen Variante der Pareto-Regel wird nur noch gefragt, ob es
Alternativen gibt, die {335}
gegenüber dem Status quo einstimmig vorgezogen werden; oder genauer formuliert:
ob es Alternativen gibt, die für mindestens ein Individuum besser sind als der
Status quo und die für alle übrigen Individuen nicht schlechter sind als der
Status quo. Gibt es eine solche Alternative nicht, ist der Status quo also
selber pareto-optimal, so soll der Status quo beibehalten werden. Mit der Ergänzung
der Pareto-Regel durch eine derartigen Status-quo-Klausel ist
sichergestellt, dass es immer zu einer eindeutigen kollektiven Entscheidung
kommt. [[9] Eine derartige Status-quo-Klausel findet auch als Ergänzung
anderer Entscheidungsregeln Verwendung, z. B. bei qualifizierten Mehrheitsregeln.
S. dazu Teil III, § 135.]
Bei Anwendung einer derart konservativ modifizierten
Einstimmigkeits-Regel hat jedes Individuum gewissermaßen ein Veto-Recht
gegenüber allen Veränderungen des Status quo, weshalb diese Regel besser als "Veto-Regel" bezeichnet wird. Die Veto-Regel besagt, dass nur solche Veränderungen
des Status quo vorgenommen werden sollen, die für mindestens ein Individuum eine
Verbesserung darstellen und die für niemanden eine Verschlechterung darstellen.
Die Auswirkungen einer Status-quo-Klausel als Ergänzung der
Einstimmigkeits-Regel kann an folgendem Beispiel verdeutlicht werden. Angenommen
es gibt drei Individuen A, B und C mit folgenden Präferenzordnungen in Bezug auf
die drei Alternativen x, y und sq (Status quo): {336}
A |
B |
C |
x |
x |
y |
sq |
sq |
x |
y |
y |
sq |
Präferenzordnungen Abb.: 12.4
In diesem Fall würde die reine Einstimmigkeits-Regel oder
die Pareto-Regel zu keiner Entscheidung führen, denn keine Alternative wird von
allen Individuen als die beste angesehen. Bei einer paarweisen Abstimmung
zwischen den Alternativen x und y würde x vom Individuum C eine Gegenstimme
erhalten und würde damit nicht der Einstimmigkeits-Regel genügen. Die
Alternativen y und sq würden sogar bei allen Abstimmungen Gegenstimmen bekommen,
wie die zugehörige Wahlmatrix zeigt:
|
x |
y |
sq |
x |
- |
2:1 |
3:0 |
y |
1:2 |
- |
1:2 |
sq |
0:3 |
2:1 |
- |
Wahlmatrix zu Abb. 12.4 Abb.: 12.5
In diesem Beispiel ist zwar die Alternative x gegenüber sq pareto-überlegen, aber x ist
gegenüber y nicht pareto-überlegen. Sowohl
x als auch y sind pareto-optimal.
Wenn jedoch die Einstimmigkeits-Regel in Verbindung mit
einer Status-quo-Klausel benutzt wird und die Individuen ihre Interessen autonom formulieren
können, so ändert sich die Abstimmungssituation durch die Möglichkeit taktischen
Abstimmungsverhaltens der Individuen entscheidend. Eigentlich würde nach der
Einstimmigkeits-Regel mit Status-quo-Klausel im Falle der Wahlmatrix 12.5 der
Status quo kollektiv gewählt, da keine der Alternativen von allen {337} Individuen einstimmig vorgezogen wird.
Es gibt jedoch mit x eine Alternative, die von allen Individuen gegenüber dem Status
quo vorgezogen wird. Unter der Voraussetzung, dass alle Individuen entsprechend
ihrem Eigeninteresse abstimmen, wird in diesem Fall Individuum C nicht die
eigentlich von ihm bevorzugte Alternative y wählen, sondern die Alternative x,
die für C immer noch besser ist als der Status quo. Damit ergibt sich aufgrund
des taktischen Abstimmungsverhaltens der Individuen und der Einführung einer
Status-quo-Klausel plötzlich eine einstimmige Befürwortung der Alternative x.
In
verallgemeinerter Form kann man festhalten, dass bei Anwendung der Veto-Regel
und bei eigeninteressiertem Abstimmungsverhalten der Individuen eine Alternative
x
immer dann einstimmig befürwortet wird, wenn x für alle Individuen im
Verhältnis zum Status quo eine Verbesserung bedeutet. Es setzt sich also immer
eine vorhandene pareto-überlegene Alternative gegenüber dem Status quo durch.
Da eine gegenüber y pareto-überlegene Alternative x für einige Individuen einen
größeren
individuellen Nutzen besitzt als y und da für alle übrigen Individuen x zumindest keinen
geringeren individuellen Nutzen als y besitzt, bedeutet der Übergang zu einer pareto-überlegenen Alternative immer eine Steigerung des Gesamtnutzens. Vom
Ziel einer Maximierung des Gesamtnutzens her gesehen ist also das strategische
Abstimmungsverhalten der Individuen erwünscht und es tritt hier nicht das
Problem "unaufrichtiger" Präferenzäußerungen der Individuen auf. Nur durch das
eigeninteressierte Abstimmungsverhalten des Individuums C konnte sich im obigen
Beispiel statt des Status quo die vom Gesamtinteresse her bessere Alternative x
durchsetzen. {338}
Eine Blockierung der kollektiven Entscheidung kann bei Anwendung der Veto-Regel
jedoch dann auftreten, wenn es gleichzeitig mehrere Alternativen gibt, die
gegenüber dem Status quo pareto-überlegen sind, ohne dass diese untereinander
nach dem Paretokriterium vergleichbar sind. Dies ist z. B. der Fall, wenn für
zwei Individuen A und B sowohl die Alternative x als auch die Alternative y eine
Verbesserung gegenüber dem Status quo darstellt, aber für Individuum A die
Alternative x besser ist als y, während für Individuum B die Alternative y
besser ist als x.
Die Präferenzordnungen sähen also folgendermaßen aus:
A |
B |
x |
y |
y |
x |
sq |
sq |
Präferenzordnungen Abb.: 12.6
Ob in diesem Fall die Alternative x oder die Alternative y
realisiert wird, hängt zumindest teilweise von der Art des Abstimmungsmodus ab.
Wenn die Alternativen z. B. nacheinander gegen den Status quo abgestimmt werden,
so setzt sich diejenige Alternative durch, die zuerst abgestimmt wird, da diese
dann den neuen Status quo darstellt, gegenüber dem es keine einstimmige
Verbesserung mehr gibt.
Werden alle Alternativen gleichzeitig zur Abstimmung
gestellt, so hängt der Ausgang davon ab, welches der beiden Individuen auf die
Durchsetzung seiner Spitzenalternative verzichtet. Stimmen sie jedoch beide für
ihre Spitzenalternative, so setzt sich wegen fehlender Einstimmigkeit die für
beide schlechteste Alternative in Form des Status quo durch. [[10] Zur Analyse solcher Konflikte s.u. § 123.]
{339}
Gegenüber der reinen Einstimmigkeits- bzw. Pareto-Regel bedeutet die Einführung
einer Status-quo-Klausel eine entscheidende Veränderung durch die damit
einhergehende Bevorzugung derjenigen Individuen, die mit dem jeweiligen Status
quo zufrieden sind gegenüber denjenigen, die damit unzufrieden sind.
Der "konservative Bias" der Status-quo-Klausel wirkt sich in Verbindung mit
Einstimmigkeits-Regeln besonders schwerwiegend aus. Während für eine Veränderung
des Status quo die Stimmen sämtlicher Individuen erforderlich sind, reicht für
die Beibehaltung des Status quo bereits eine einzige Stimme: Selbst wenn der
bestehende Zustand für sehr viele Individuen unerträglich ist, kann eine
Alternative, die ihre Lage verbessern würde, durch das Veto eines einzigen
Individuums verhindert werden. "Diese Methode bedeutet stärksten
Konservativismus. Schon eine einzige Person, die eine Veränderung ablehnt, kann
sie völlig blockieren, ganz gleich, was alle anderen wollen. Marie Antoinettes
Ablehnung der Ersten Republik hätte die Monarchie in Frankreich bewahrt und die
Welt hätte wenig Veränderungen gesehen. Offensichtlich liegt etwas auf groteske
Weise Unbefriedigendes in einer derartigen sozialen Entscheidungsregel".[[11]
SEN 1970, S.25].
Zwischen der reinen Einstimmigkeits- bzw. Pareto-Regel und
ihrer konservativen Modifikation, der Veto-Regel, besteht also unter dem
Gesichtspunkt ihrer normativen Anerkennbarkeit ein schwerwiegender Unterschied.
Während bei den reinen Einstimmigkeits-Regeln im Falle einer Entscheidung immer
die Alternative des maximalen Gesamtnutzens sich durchsetzte, muss dies{340}
bei der Veto-Regel keineswegs der Fall sein, denn hier setzt sich nicht
diejenige Alternative durch, die die Spitzenalternative sämtlicher Individuen
ist, sondern im Extremfall diejenige Alternative, die nur die Spitzenalternative
eines einzigen Individuums ist, sofern es sich um den Status quo handelt.
§ 72 Der dynamische Charakter des Status quo
Eine besondere Bedeutung bekommt die mit der Veto-Regel
verbundene Bevorzugung des Status quo dadurch, dass der Status quo selber
dynamisch ist und dass deshalb mit der Beibehaltung des Status quo keineswegs "alles beim alten bleibt". Beibehaltung des Status quo
bedeutet im normativen Zusammenhang ja nur, dass kein zusätzlicher kollektiver
Eingriff in den Status quo vorgenommen wird. Dies schließt jedoch nicht aus,
dass sich der Status quo auf andere Weise verändert, z. B. durch die auch ohne
menschliches Zutun ständig ablaufenden Prozesse natürlicher Art.
Beispiele
hierfür sind etwa die Veränderungen des Klimas sowie die Wachstums- und
Verfallsprozesse bei allen Lebewesen oder aber Verwitterungs- und
Zersetzungsprozesse bei anorganischen Stoffen. Hierdurch wird der Status quo
ständig verändert und damit ändert sich auch die Interessenlage der Individuen.
Entsprechend werden die Individuen den Status quo im Verhältnis zu den andern
Alternativen dann auch anders bewerten, es sei denn, sie hatten diese
Veränderungen bereits vorhergesehen und bei ihrer Interessenartikulation bereits
berücksichtigt.
Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die
naturgesetzlich ablaufenden Prozesse der Veränderung im menschlichen Organismus
selbst. So {341}
verbraucht der menschliche Organismus z. B. ständig bestimmte Stoffe wie
Sauerstoff, Kohlehydrate, Fette, Eiweiß, Vitamine, Minerale usw., die durch
Atmung und Nahrungsaufnahme ersetzt werden müssen, wenn der Organismus
weiterleben soll. Es entsteht also ein mit Ablauf der Zeit wachsender Bedarf
nach entsprechenden Lebensmitteln.
Solche naturnotwendig zu erwartenden
Veränderungen des Status quo beeinflussen auch die gegenwärtigen Präferenzen des
Individuums. Wenn z. B. ein Individuum aufgrund solcher Naturprozesse eine
zukünftige Verschlechterung seiner Versorgungslage erwartet,
so wird es in
Antizipation dieser Entwicklung sogar solche Alternativen gegenüber dem Status
quo vorziehen, die gegenüber dem augenblicklichen Stand eine Verschlechterung
darstellen.
Aus der Möglichkeit einer gewissermaßen "automatischen"
Verschlechterung des Status quo ist auch erklärbar, dass ein Individuum trotz
ständiger "Verbesserungen" seiner Lage in Bezug auf das Niveau seiner
Bedürfnisbefriedigung keinerlei Steigerung erreichen muss, sondern im Gegenteil
eine Senkung seines Nutzenniveaus erfahren kann.
Ein Beispiel kann dies verdeutlichen. Angenommen jemand
treibt nach einem Schiffsunglück hilflos auf einem Rettungsfloß im Ozean und hat
einen Nahrungsvorrat für zehn Tage bei sich. Der Status quo verschlechtert sich
für ihn dann automatisch, denn mit jedem Tag hat er aufgrund des eigenen
Verbrauchs weniger Vorräte. Angenommen der Schiffbrüchige hätte die Möglichkeit,
durch Fischfang die Hälfte seines täglichen Bedarfs an Nahrung zu decken.
Dann
würde die Alternative "Fischfang" gegenüber der Alternative "Abwarten" zwar eine
Verbesserung des Status quo {342}
darstellen, denn mit den zusätzlichen Fischen steht sich der Schiffbrüchige
besser als ohne sie, aber trotz dieser ständigen relativen Verbesserungen
erfährt er gleichzeitig absolut gesehen eine ständige Verschlechterung seiner
Lage, weil er mit jedem Tag weniger Nahrungsmittelvorräte hat. [[12] Diese Dynamik des Status quo ist von besonderer
Bedeutung bei der Analyse des Vertrags-Systems, insbesondere beim
Arbeitsvertrag. Eine zusätzliche Dynamik des Status quo ergibt sich außerdem aus
den Handlungen der Individuen im Rahmen des bestehenden Normensystems. S. hierzu
unten § 89. ]
Die
Beibehaltung des Status quo aufgrund des Vetos eines Individuums muss also für
andere Individuen keineswegs bedeuten, dass alles beim alten bleibt, sondern kann
mit einer ständigen Verschlechterung ihrer Lage verbunden sein, wenn "die Zeit
gegen sie arbeitet".
§ 73 Die Veto-Regel mit Abstimmungskoalitionen
Wie gezeigt wurde, ist die Veto-Regel sehr inflexibel, da
ein einziges Individuum ausreicht, um eine Veränderung des Status quo zu
blockieren. Eine gewisse Verbesserung dieser Situation kann dadurch erreicht
werden, dass mehrere Entscheidungen derart zu einer einzigen Entscheidung
zusammengefasst werden, dass Individuen, die zwar manchen isolierten
Teilentscheidungen nicht zustimmen würden, dennoch dem ganzen "Paket" von
Entscheidungen zustimmen.
Dieser Vorgang kann anhand der folgenden Präferenzordnungen
in Bezug auf zwei einzelne Entscheidungen {343} der Individuen A, B und C
verdeutlicht werden:
Entscheidung 1 Entscheidung 2
A |
B |
C |
A |
B |
C |
|
sq |
x |
x |
y |
sq |
y |
|
x |
sq |
sq |
sq |
y |
sq |
Abb.: 12.7 Abb.: 12.8
Bei der Entscheidung 1 ist nur für Individuum A der Status
quo besser als die Alternative x. Bei einer anderen Entscheidung 2 ist nur für
Individuum B der Status quo besser als die Alternative y. Trotzdem kann in
beiden Fällen gemäß der Veto-Regel keine Veränderung des Status quo realisiert
werden.
Es kann jedoch sein, dass für Individuum A die Veränderung
des Status quo nach y wichtiger ist als die Beibehaltung des Status quo
gegenüber einer Veränderung nach x. In diesem Fall würde Individuum A dem
Alternativenbündel "x und y" den Vorzug geben gegenüber der Beibehaltung des
Status quo.
Entsprechendes kann für Individuum B gelten, wenn diesem die
Veränderung des Status quo nach x wichtiger ist als die Beibehaltung des Status
quo gegenüber y. Dann würde Individuum B ebenfalls dem Alternativenbündel "x und
y" den Vorzug geben gegenüber einer Beibehaltung des Status quo.
Da für
Individuum C die Alternativen x und y sowieso besser waren als der jeweilige
Status quo, ergibt sich folgende Präferenzordnung:
Gebündelte Entscheidung aus 1 und 2
A |
B |
C |
x+y |
x+y |
x+y |
sq |
sq |
sq |
Präferenzordnungen Abb.: 12.9
{344} Obwohl in diesem Fall in Bezug auf die Einzelentscheidungen keine Verbesserung
des Status quo für sämtliche Individuen möglich war, konnte durch eine
entsprechende Zusammenfassung der Entscheidungen doch eine Verbesserung des
Status quo für jedes der Individuen erzielt werden.
Derselbe Effekt kann auch
ohne eine direkte Bündelung der Einzelentscheidungen durch eine
Abstimmungsvereinbarung zwischen den Individuen erzielt werden. Dazu müssen die
beiden Individuen A und B nur vereinbaren, bei der Entscheidung 1 gemeinsam für
die Alternative x zu stimmen und bei der Entscheidung 2 gemeinsam für die
Alternative y zu stimmen. [[13] Abstimmungskoalitionen zu Entscheidungsserien spielen
bei Mehrheitsregeln eine große Rolle. S. dazu unten Kap. 21. ]
Dadurch dass jetzt nicht mehr einzelne Entscheidungen
isoliert betrachtet werden, sondern ganze Entscheidungsserien mit den
Möglichkeiten individuell vorteilhafter Abstimmungskoalitionen zwischen den
Individuen berücksichtigt werden, ergibt sich eine gewisse Erweiterung des
Spielraums der Veto-Regel. Da jedoch weiterhin eine einstimmige Befürwortung der
Alternativenbündel gegenüber dem Status quo gefordert wird, bleibt die Fixierung
auf den jeweiligen Status quo weiterhin sehr stark.
§ 74
Das Prinzip der potentiellen Kompensation der Verlierer
Einen weiteren Versuch zur Erweiterung des Anwendungsbereichs der
Einstimmigkeits-Regeln stellt das {345}
sogenannte Kompensations-Prinzip dar. Es besagt, "dass wenn
die Gewinner bei einer Veränderung die Verlierer bei der Veränderung völlig
entschädigen könnten und trotzdem noch besser gestellt wären als vor der
Veränderung, dass dann die Veränderung als wünschenswert angesehen werden kann,
selbst wenn die Entschädigung nicht tatsächlich geleistet wird." [[1] BANNOCK u.a.
1972, S.77]
Das Kompensationskriterium war in der
wohlfahrtsökonomischen Diskussion von KALDOR vorgeschlagen worden, um auch
diejenigen Maßnahmen ohne Zuhilfenahme eines kardinalen, interpersonal
vergleichbaren Nutzenmaßstabs ökonomisch bewerten zu können, durch die einige
Individuen besser aber andere schlechter gestellt werden, sodass das
Pareto-Kriterium wegen fehlender Einstimmigkeit nicht anwendbar ist. "In allen
Fällen, wo eine bestimmte Politik zu
einem Anwachsen der physischen
Produktivität und damit zum Anwachsen des aggregierten Realeinkommens führt, ist
die Rechtfertigung dieser Politik durch den Ökonomen völlig unbeeinflusst von der
Vergleichbarkeit der individuellen Befriedigungen; denn in solchen Fällen ist es
möglich, jedermann besser zu stellen als zuvor, oder zumindest einige Leute
besser zu stellen, ohne irgendjemanden schlechter zu stellen. .. Um seine
Empfehlung aufzustellen, ist es für ihn (den Ökonomen, E.W.) völlig hinreichend
zu zeigen, dass selbst wenn alle, die dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden,
für ihren Verlust vollständig entschädigt werden, der Rest des Gemeinwesens
immer noch besser gestellt wäre als zuvor." [[15] KALDOR 1939, S.388.]
{346} Der Unterschied zum eigentlichen Pareto-Kriterium liegt
beim Kompensations-Prinzip also darin, dass bei der Bewertung der Alternativen
nicht von den tatsächlichen sondern stattdessen von den möglichen Veränderungen
der individuellen Nutzenniveaus ausgegangen wird. Denn wenn tatsächlich alle
Verlierer entschädigt werden und trotzdem noch einige Individuen durch die
Maßnahme besser gestellt werden können, so genügt die Maßnahme bereits dem
einfachen Pareto-Kriterium und das Kompensations-Kriterium wäre überflüssig.
Bevor das Kompensations-Kriterium unter normativen
Gesichtspunkten diskutiert werden kann, muss noch darauf hingewiesen werden,
dass dabei - jedenfalls im Verständnis von KALDOR - die Bewertung der
Veränderungen durch die Individuen insofern unter einem beschränkten
Gesichtspunkt erfolgt, als für die Individuen nur ihre eigene Ausstattung mit
Gütern eine Rolle spielt. [[16] Zur Kritik einer solchen Annahme "beschränkter
Präferenzen" s. ausführlicher unten § 79.]
Wenn man von dieser Voraussetzung einmal absieht,
die ja nicht notwendig mit dem Kompensations-Prinzip verbunden ist (ebenso wenig
wie sie mit dem Pareto-Prinzip verbunden ist), so besteht der Vorteil des
Kompensations-Kriteriums gegenüber dem Pareto-Kriterium darin, dass es in sehr
viel mehr Fällen anwendbar ist. Da sich das Kompensations-Kriterium jedoch nur
auf mögliche paretianische Verbesserungen bezieht, sind andererseits seine
normativen Schlussfolgerungen auch sehr viel weniger bestimmt.
{347} Diese Problematik kann anhand eines einfachen Beispiels
verdeutlicht werden. Angenommen es gäbe einen Kuchen von 1000 g Gewicht, der in
der Ausgangssituation sq in folgender Weise auf die drei Individuen A, B und C
aufgeteilt ist:
Kuchenverteilung in sq
A |
B |
C |
500 g |
250 g |
250 g |
Abb.: 12.10
Nun sei stattdessen eine Veränderung zum Zustand x möglich,
in dem stattdessen ein gleichartiger aber 1500 g schwerer Kuchen in folgender
Weise auf die drei Individuen aufgeteilt ist:
Kuchenverteilung in x
A |
B |
C |
1250 g |
250 g |
0 g |
Abb.: 12.11
Der Zustand x wäre gegenüber der Ausgangssituation sq keine paretomäßige Verbesserung, da Individuum C dabei schlechter gestellt wird in Bezug auf seine Ausstattung mit Kuchen. Trotzdem wäre der Zustand x nach dem Kompensations-Prinzip eine potentielle paretomäßige Verbesserung gegenüber der Ausgangssituation sq, denn A könnte den Verlierer C mit 250 g Kuchen entschädigen und wäre trotzdem immer noch um 500 g Kuchen besser gestellt als zuvor. [[17] Natürlich kann auch B zu den Verlierern gehören, etwa weil sich die Differenz der Güterausstattung zu A vergrößert hat. Dies kann nur ausgeschlossen werden, wenn man fordert, dass jedes Individuum seine Interessen auf seinen Eigentumsbereich beschränken soll, wie oben gezeigt wurde. Nur dann entspricht der Gütertransfer zugleich dem Nutzentransfer und der Verteilungsaspekt kann unberücksichtigt bleiben.] {348}
Abgesehen von Konsistenzproblemen eines derartigen Kriteriums der potentiellen
Entschädigung [[18] S. dazu die Kritik und Umformulierung des Kaldor-Kriteriums durch SCITOVSKY 1941 und SAMUELSON 1950. Samuelson fordert, dass
nicht nur zu einer bestimmten Güterverteilung der Ausgangssituation, sondern zu
jeder möglichen Umverteilung in der Ausgangssituation eine paretomäßig bessere
Güterverteilung in der veränderten Situation existieren muss.] liegt das entscheidende Problem darin, dass das Kompensationskriterium keine Aussage darüber macht, ob der Gesamtnutzen im
Zustand x größer ist als in der Ausgangssituation sq, denn es geht immer nur um
einen potentiellen Gesamtnutzen.
Wie LITTLE zu Recht feststellt, ist
die Aussage, "dass eine Situation potentiell besser ist als eine andere noch
kein Grund, sie anzustreben. Wenn nicht mehr gesagt werden kann, sind wir zu
keiner brauchbaren Schlussfolgerung angelangt". [[19] LITTLE 1950, S.99.] So könnte es im obigen Beispiel
sein, dass die neue Situation x zwar für A einen positiven Nutzen gegenüber der
Ausgangssituation sq besitzt, dass aber demgegenüber x für B und C
zusammengenommen einen noch größeren negativen Nutzen besitzt - sei es durch die
Schlechterstellung in der Güterausstattung für C oder sei es durch eine
Vergrößerung der negativen Differenz in der Güterausstattung zwischen B und C
auf der einen Seite und A auf der andern Seite.
Diese Unvollständigkeit des Kriteriums hat bereits KALDOR
betont, der die Empfehlung des Ökonomen auf den 'Produktionsaspekt' beschränken
will und der den 'Verteilungsaspekt' ausklammern will: "In Bezug auf die
Verteilung sollte sich der Ökonom überhaupt nicht mit 'Vorschriften' befassen,
sondern nur mit den relativen Vorteilen verschiedener Wege, um politische Ziele
zu erreichen. Denn es ist völlig unmöglich, {349} auf Grundlage der Ökonomie zu entscheiden, welche Struktur der
Einkommensverteilung die soziale Wohlfahrt maximiert." [[20] KALDOR 1939, S.389. Anzumerken ist noch, dass auch die
Frage, wann der Kuchen 'größer' geworden ist, im Falle heterogener Gütermengen
Probleme aufwirft, die als Index-Problem bekannt sind. S. hierzu z. B. BURSTEIN
1963, S.61ff. ]
Eine derartige Empfehlung von Alternativen unter partiellen
Gesichtspunkten, die durch die fachlichen Zuständigkeitsgrenzen bestimmt sind,
kann eine umfassende normative Bewertung der Alternativen jedoch keineswegs
ersetzen. Die Problematik derartiger Feststellungen über "potentielle
Wohlfahrtssteigerungen" kann an einem Beispiel verdeutlicht werden.
Angenommen
Eltern stehen vor der Frage, ob sie ihren Kindern ein Wurfpfeil-Spiel schenken
sollen. Wenn man einmal vom Kaufpreis absieht, wäre mit diesem beliebten Spiel
sicherlich eine potentielle Wohlfahrtssteigerung für die Kinder verbunden, denn
diese könnten mit dem Spiel viel Freude haben. Trotzdem mag der Kauf nicht
ratsam sein, denn es wäre möglich, dass sich die Kinder durch unachtsames Werfen
der mit Stahlspitzen versehenen Pfeile gefährliche Verletzungen beibringen. Wenn
jemand meint, unter Ausklammerung des Sicherheitsaspekts das Spiel empfehlen zu
können, so ist das nicht unproblematisch. Er sollte sich dann besser jeder "potentiellen" Empfehlung enthalten und nur faktisch feststellen, dass das
Spiel - sofern keine Verletzungen vorkommen - Spaß macht. {350}
§ 75 Die Pareto-Erweiterungs-Regel
Neben der Status-quo-Klausel und dem Prinzip der potentiellen Kompensation sind
noch weitere Modifikationen der Pareto-Regel denkbar, um ihre Anwendbarkeit zu
erhöhen. Eine davon ist die Pareto-Erweiterungs-Regel, die besagt, dass im Falle
mehrerer pareto-optimaler Alternativen diese als kollektiv gleichwertig gelten
sollen. [[21] Vgl. zur Pareto-Erweiterungs-Regel
(Pareto-extension-rule) und ihren logischen Eigenschaften SEN 1970, S. 69ff.]
Abgesehen von interessanten logischen Eigenschaften der Pareto-Erweiterungs-Regel erscheint ihre praktische Bedeutung jedoch als gering,
denn ihre Anwendung würde auf die Praktizierung der oben analysierten Veto-Regel
hinauslaufen. Die Veto-Regel besagt ja, dass der Status quo beibehalten werden
soll, sofern es keine paretomäßig bessere Alternative hierzu gibt und der Status
quo damit selber pareto-optimal ist. Damit können aber nach der
Pareto-Erweiterungs-Regel zum Status quo höchstens gleichwertige Alternativen
existieren. Es besteht also kein Anlass, anstelle eines pareto-optimalen Status
quo irgendeine andere pareto-optimale Alternative zu realisieren. Damit
entspricht die Pareto-Erweiterungs-Regel in der Anwendung jedoch genau der
Veto-Regel, also der Paretoregel mit Status-quo-Klausel. [[22] Dies gilt vor allem dann, wenn noch Umstellungskosten zu
berücksichtigen sind.]{351}
§ 76 Die Regel der einstimmig befriedigenden Alternative
Eine andere Variante der Einstimmigkeits-Regel erwähnt GÄFGEN. Hier drücken die Individuen ihre Interessen nur in einer nominalen Nutzenskala mit den zwei Kategorien "befriedigend" und "unbefriedigend" aus. Gemäß der Regel der einstimmig befriedigenden Alternative gilt eine Alternative dann als kollektiv gewählt, wenn sie von allen Individuen als befriedigend angesehen wird. GÄFGEN schreibt hierzu: "Die Vor- und Nachteile der Regel sind die gleichen wie bei allen Entscheidungen aufgrund nur nominaler Urteile: Ersparnis an Information bei der Suche nach der geeigneten Alternative; keine Schlüssigkeit, da eine Alternative mit den gesuchten Eigenschaften nicht vorhanden sein muss. Vieldeutigkeit, da auch umgekehrt mehr als eine solche Alternative vorhanden sein kann." [[23] GÄFGEN 1968, S.422]
Unter dem Gesichtspunkt ihrer normativen Anerkennbarkeit liegt ein weiteres Problem dieser Regel darin, dass unklar bleibt, nach welchen Kriterien ein Individuum die Grenze zwischen befriedigenden und unbefriedigenden Alternativen zieht und ob dabei die individuellen Interessen sanktionsfrei artikuliert werden. Ob ein Individuum einen Zustand als befriedigend ansieht, hängt u. a. von seinem Anspruchsniveau ab. Dies wiederum wird von Faktoren beeinflusst wie dem gewohnten Befriedigungsniveau sowie der Einschätzung der sonstigen Möglichkeiten, wobei diese nicht unabhängig vom Verhalten anderer Individuen sein müssen. {352}
So ist es z. B. gut möglich, dass sich jemand "um des lieben Friedens" oder "um sich nicht zu isolieren" mit einer Alternative zufrieden gibt. Damit ist aber die soziale Stellung und die Verhandlungsmacht der Individuen mitentscheidend für das, was von ihnen jeweils als "befriedigend" angesehen wird. Ein dadurch erzielter Konsensus würde insofern nicht argumentativ begründet sein, sondern zumindest teilweise aufgrund des Zwangs der Verhältnisse zustande kommen.
§ 77
Einstimmigkeits-Regeln und Maximierung des
Gesamtnutzens
Wenn eine Alternative für alle Individuen die bestmögliche
ist und damit einen maximalen individuellen Nutzen für jedes Individuum besitzt,
so besitzt sie damit notwendigerweise auch einen maximalen Gesamtnutzen, da
dieser sich ja aus der Summe der individuellen Nutzen ergibt. [[24] s. o. § 38/4.] Wenn ein
derartiges gemeinsames Interesse aller Individuen in Form einer gemeinsamen
Spitzenalternative existiert, so ist die Anwendung einer Einstimmigkeits-Regel
unter dem Gesichtspunkt einer Maximierung des Gesamtnutzens unproblematisch.
Wenn zur reinen Einstimmigkeits-Regel jedoch eine
Status-quo-Klausel hinzugefügt wird und eine Veto-Regel entsteht, so muss die
kollektiv gewählte Alternative keineswegs die Alternative mit dem größten
Gesamtnutzen sein. Angenommen für alle Individuen bis auf eines würde die
Alternative x gegenüber dem {353} Status quo eine große Verbesserung darstellen, während für
das eine Individuum der Status quo die beste Alternative ist.
In diesem Fall
würde nach der Veto-Regel der Status quo gewählt, völlig unabhängig
davon, ob die Verschlechterung für das eine Individuum bei Realisierung der
Alternative x durch die Verbesserungen für die übrigen Individuen nutzenmäßig
überwogen wird oder nicht. Es kann also bei Anwendung der Veto-Regel ohne
weiteres sein, dass der Status quo beibehalten wird, obwohl eine andere
Alternative einen bei weitem größeren Gesamtnutzen hat. Insofern ist die
Verwendung der Veto-Regel unter dem Gesichtspunkt des Solidaritätsgebots und der
argumentativen Konsensusfähigkeit der kollektiven Entscheidung problematisch. [[25]
Wo Veto-Regeln in der Praxis Verwendung finden, stellen
sie meist eher eine Berücksichtigung existierender Machtverhältnisse dar, wie
z. B. beim Veto-Recht der Großmächte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Vertretbar scheint die Anwendung von Veto-Regeln nur dort, wo Individuen von
Entscheidungen extrem stark in ihren Interessen betroffen sind.]
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Letzte Bearbeitung 25.08.2008 / Eberhard Wesche
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