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Jeremy Bentham - Leben und Werk

 

Tabellarischer Lebenslauf
Bentham als politischer Reformer

Darstellung

Das utilitaristische Programm
   1.) Die Präzisierung des Nutzenbegriffs
   2. a) Die Begründung des Nutzenprinzips
   2. b) Benthams Kritik an naturrechtlichen und vertragstheoretischen Theorien    
   3.) Das Verfahren zur Bestimmung der Nutzengrößen

 
Kritik

 Kritik am hedonistischen Nutzenbegriff

 

Textbeginn


Tabellarischer Lebenslauf:
(nach: M. Warnock: Utilitarianism. London 1962)
 

1748    In London geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Konservativer (Tory).
            Bentham war geistig frühreif, aber in seiner körperlichen Entwicklung langsam.
            Er lernte mit 4 Jahren Latein. Als Kind schrieb er besser Französisch als Englisch.
            Bentham war Zeit seines Lebens menschenscheu.

1754    Eintritt in die Westminster School.

1760    Eintritt in das Queens College, Oxford, (als 12jähriger).

1763    Eintritt in Lincolns Inn (Gericht).

1768    Berufung in das Gericht.

            Bentham lernt Priestleys "Essay on Government" kennen, in dem die Formel
            "The  greatest happiness of the greatest number" vorkommt.
            Hinzu kamen Einflüsse von Hume, Helvetius und Beccaria.
            Auf dieser Grundlage wollte er eine wissenschaftliche Jurisprudenz
            und Gesetzgebung aufbauen.

1776    Anonyme Veröffentlichung des "Fragment on Government",
           einer Kritik an Blackstones "Commentaries on the Laws of England".
           (Blackstone war sein Professor für Jurisprudenz in Oxford)

1785    Dreijähriger Aufenthalt in Russland, wo er seinen Bruder Samuel besucht,
           der dort im Dienste der Zarin arbeitet.

1787    Veröffentlichung von: "A Defence of Usury" ("Eine Verteidigung des Wuchers").
           Adam Smith sandte ihm daraufhin als Anerkennung seine Werke.

1789    Veröffentlichung der "Introduction to the Principles of Morals and Legislation",
           die bereits 1780 gedruckt worden war, aber von Bentham zurückgehalten wurde.
            Beginn der Arbeit an einem strahlenförmig angelegten Modellgefängnis,
           dem Panopticon.

1791    Erste Streitschrift über das Panopticon.

1794    Benthams Entwurf eines Gefängnisses wird vom Parlament gebilligt,
           jedoch nicht realisiert.

1802    Veröffentlichung der "Traités de Législation Civile et Pénale" ("Theory of Legislation") 
           durch seinen Schüler Dumont in Frankreich, der das Buch aus verschiedenen
           Manuskripten Benthams zusammengestellt hat.
            Auf dem Kontinent erlangte Bentham bald großes Ansehen.
          
            (Von da ab veröffentlichte er seine Arbeiten nicht mehr selbst, sondern ließ sie
            von Mitarbeitern bearbeiten, später unter anderem von John Stuart Mill.
            Sein eigener Stil war schwer lesbar.)

1808    Beginn der Freundschaft mit dem Ökonomen James Mill.
            Unter dessen Einfluss engagiert sich Bentham stärker politisch.
            Bentham nahm auch Einfluss auf die Erziehung des ältesten Sohnes
            John Stuart Mill, der seine Ideen weiter tragen sollte.

            Bentham arbeitete während dieser Zeit an einem umfangreichen
            jedoch nie vollendeten Werk über Verfassungsrecht (Constitutional Code).

1822    Veröffentlichung eines "Codification proposals addressed by J. Bentham
            to all nations professing liberal opinions, or Idea of a proposed
            all-comprehensive body of law with accompaniment of reason".

            Daneben schrieb er zahlreiche Streitschriften mit Reformvorschlägen und
            Kritiken an Missständen, so dass sein Einfluss zum Zeitpunkt seines Todes
            bereits beträchtlich war

1832    Tod Benthams. Seinen Körper überließ er der Webb Street School of Anatomy.
            Er war wahrscheinlich der erste, der so etwas tat.

***

Bentham als politischer Reformer (nach J. Viner: "Bentham and J.S.Mill", American Econ. Review 1949, S. 360-382)

Bentham war nicht nur Autor von Büchern und Schriften sondern zugleich auch ein erfolgreicher politischer Reformer. Auf ihn vor allem gehen die folgenden Reformen in England zurück:
 - die grundlegende Reform verschiedener Bereiche des Rechts;
 - die Reform des Strafvollzuges;
 - das allgemeine Wahlrecht für Erwachsene einschließlich des Wahlrechts für Frauen;
 - der Freihandel;
 - die Reform der Kolonialverwaltung;
 - die Zulassung von Gewerkschaften;
 - der kostenlose öffentliche Schulunterricht;
 - die Meinungs- und Pressefreiheit;
 - die geheime Wahl;
 - ein öffentlicher Dienst mit Beförderung nach der Leistung;
 - die Abschaffung der Gesetze gegen den Wucher;
 - die allgemeine Erfassung von Grundeigentum;
 - die Reform der örtlichen Verwaltung;
 - eine Sicherheitsvorschrift für die kaufmännische Seefahrt;
 - eine öffentlich finanzierte Gesundheitsreform und vorbeugende Medizin;
 - die systematische Erfassung statistischer Daten;
 - die kostenlose Gerichtsbarkeit für Arme;
 - Vorschlag einer Geburtenkontrolle als Mittel wirtschaftlicher Reform.

zum Anfang


Darstellung

Das utilitaristische Programm

Utilitaristische Gedankengänge waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreitet. Bentham (1748 – 1832) schrieb: "The principle of utility, vaguely announced, is seldom contradicted, it is even looked upon as a sort of commonplace in politics and morals." ["Dem Prinzip des Nutzens wird - vage formuliert - selten widersprochen, es wird in Politik und Moral sogar als eine Art von Gemeinplatz betrachtet."] (J. Bentham: Theory of Legislation, London Kegan Paul 1904, S. 1. Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch, sofern keine andere Quelle angegeben wird. Eigene Übersetzungen ins Deutsche sind in Kursivschrift beigefügt.)

Bentham sieht seine Aufgabe darin, aus dem Nutzenprinzip eine präzise, schlagkräftige Theorie zu machen:
"To give it (i.e. the principle of utility) all the efficacy which it ought to have ... three conditions are necessary:
First, - to attach clear and precise ideas to the word 'utility' ...
Second, - to establish the unity and the sovereignty of this principle by rigorously excluding every other …
Third, – to find the process of a moral arithmetic by which uniform results may be arrived at." (p.1)

["Um dem Nutzenprinzip die ganze Wirksamkeit zu geben, die ihm zukommt, gibt es drei notwendige Bedingungen:
Erstens, - das Wort 'Nutzen' mit klaren und präzisen Vorstellungen zu verbinden ...
Zweitens, - die Einheitlichkeit und Vorherrschaft dieses Prinzips herzustellen, indem man jedes andere rigoros ausschließt …
Drittens, - das Verfahren einer Arithmetik der Moral zu entdecken, durch das man zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen kann."] (S. 1)


1.) Die Präzisierung des Nutzenbegriffs

Dem Begriff "Nutzen" ("utility") gibt Bentham eine strikt hedonistische (von griechisch "hedone" = "Lust", "Genuss", "Vergnügen") Bedeutung: "Utility is an abstract term. It expresses the property or tendency of a thing to prevent some evil or to produce some good. Evil is pain, or the cause of pain. Good is pleasure, or the cause of pleasure. … That which is conformable to the utility ... of a community, is that what tends to augment the total sum of the happiness of the individuals that compose it." ["Nutzen ist ein abstrakter Begriff. Er drückt die Eigenschaft oder Tendenz einer Sache aus, irgendein Übel zu verhindern oder irgendein Gut zu erstellen. Schmerz oder die Ursache von Schmerz ist etwas Übles. Gutes ist Lust oder die Ursache von Lust. ... Das, was dem Nutzen einer Gemeinschaft … entspricht, ist das, was dahin tendiert, die Summe des Glücks derjenigen Individuen zu vergrößern, aus denen sich die Gemeinschaft zusammensetzt."] (S. 2)

Bentham definiert “Nutzen” streng hedonistisch: “I am a partisan of the principle of utility, when I measure my approbation or disapprobation of a public or private act by its tendency to produce pleasure or pain." ["Ich bin dann ein Anhänger des Nutzenprinzips, wenn ich meine Billigung oder Missbilligung einer öffentlichen oder privaten Handlung an deren Tendenz bemesse, Lust oder Schmerz zu erzeugen."] (S. 3) "I use the words pain and pleasure in their ordinary signification ... Pain and pleasure are what everybody feels to be such - the peasant and the prince, the unlearned as well as the philosopher." ["Ich benutze die Worte Schmerz und Lust in ihrer gewöhnlichen Bedeutung: … Schmerz und Lust sind das, was jedermann als solches empfindet – der Bauer und der Fürst, der Ungelernte ebenso wie der Philosoph."] (S. 3)

Bentham vertritt damit einen ethischen Hedonismus: Alleiniger Maßstab für die Bewertung einer Handlung ist die Größe von Lust und Schmerz, die sie hervorruft.

2. a) Die Begründung des Nutzenprinzips

Bentham ist zugleich der Meinung, dass die Menschen allein vom Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz motiviert werden. Damit vertritt Bentham nicht nur einen psychologischen sondern auch einen ethischen Hedonismus: Das Streben nach Lust und die Vermeidung von Schmerz sind für ihn die Motive der Menschen; größtmögliche Lust und geringstmöglicher Schmerz sind zugleich das Ziel, das zu erreichen ist. Dies wird besonders deutlich in den ersten Sätzen der "Introduction into the Principles of Morals and Legislation", die Bentham bereits 1780 im Alter von 32 Jahren verfasste. Dort heißt es: "Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do. On the one hand the standard of right and wrong, on the other the chain of causes and effect, are fastened to their throne." ["Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft von zwei souveränen Herren gestellt, Schmerz und Lust. Allein ihnen steht es zu aufzuzeigen, was wir tun sollen, und ebenso zu bestimmen, was wir tun werden. An ihren Thron geheftet ist einerseits der Maßstab des moralisch richtigen und falschen und andererseits die Kette von Ursache und Wirkung."]

Die philosophische Begründung des „Nutzenprinzips“ – von Bentham auch als "Prinzip des größten Glücks“ (Greatest Happiness Principle) bezeichnet – ist für ihn kein großes Problem, weil er das Prinzip für unmittelbar einsichtig hält. Ihm ist klar, dass es eine rein logische Ableitung des Prinzips nicht geben kann: "A principle is a first idea, which is made the beginning or basis of a system of reasonings. … Such a principle must be clearly evident – to illustrate and to explain it must secure its acknowledgement. Such are the axioms of mathematics; they are not proved directly; it is enough to show that they cannot be rejected without falling into absurdity." ["Ein Prinzip ist eine oberste Idee, die als Anfang oder Grundlage eines Systems von Argumenten dient. Ein solches Prinzip muss völlig evident sein - es zu veranschaulichen oder zu erklären muss seine Anerkennung bestätigen. Von dieser Art sind die Axiome der Mathematik; diese werden nicht bewiesen; es genügt, dass sie nicht verworfen werden können, ohne dass man im Absurden endet."] (S. 2f.)

Deshalb begründet Bentham das Nutzenprinzip nur indirekt, indem er konkurrierende moralphilosophische Positionen angreift oder indem er zeigt, dass diese nach dem Nutzenprinzip verfahren, ohne sich dessen jedoch bewusst zu sein. Eine tiefergehende Erörterung der Begründung des Utilitarismus findet sich erst in den Schriften seines Schülers John Stuart Mill (1806 - 73).

2. b) Benthams Kritik an vertragstheoretischen und naturrechtlichen Theorien

In Hinsicht auf eine konsequente Anwendung des Nutzenprinzips ist Bentham radikal: "A reason in morals or politics, which cannot be translated into the simple words pain and pleasure, is an obscure and sophistic reason, from which nothing can be concluded." ["Ein Argument in moralischen oder politischen Angelegenheiten, das nicht in die einfachen Worte Schmerz oder Lust übersetzt werden kann, ist ein obskures und sophistisches Argument, aus dem nichts gefolgert werden kann."] (S. 26)

Bentham wendet sich scharf gegen naturrechtliche und vertragstheoretische Ansätze in der Moral- und Rechtsphilosophie.

Gegen die Idee eines "ursprünglichen Vertrages" wendet Bentham ein, dass es historisch einen derartigen Vertragsschluss nie gegeben habe und dass es sich um eine bloße "Fiktion" handele. Er schreibt: „The indestructible prerogatives of mankind have no need to be supported upon the sandy foundation of a fiction. … The season of fiction is now over.“ (Zitiert nach B. Parekh (ed.) Bentham’s Political Thougt. London 1973, S. 315f. ["Die unzerstörbaren Vorrechte der Menschheit haben es nicht nötig, unterstützt zu werden auf den sandigen Fundamenten einer Fiktion. Die Jahreszeit für Fiktionen ist jetzt vorbei."] (Damit trifft Bentham allerdings nicht die modernen Formen der Vertragstheorie, deren Kriterium die rein hypothetische Frage ist: Hätte diese Rechtsordnung aus einem Vertrag freier und vernünftiger Individuen hervorgehen können?)

An den Theorien eines Naturrechts kritisierte Bentham, dass es keine Methode gibt, um zu bestimmen, was der Inhalt dieses Naturrechts ist. Spöttisch schreibt er: "You hear a multitude of professors, of jurists, of magistrates, of philosophers, who make the law of nature echo in your ears. They all dispute, it is true, upon every point of their system; but no matter, each one proceeds with the same confident intrepidity, and utters his opinions as so many chapters of the law of nature." ["Man hört eine Vielzahl von Professoren, Juristen, Beamten oder Philosophen, die das Naturrecht in unseren Ohren widerhallen lassen. In der Tat streiten sich alle um jeden Punkt ihres Systems; aber trotz alledem – ein jeder schreitet voran mit derselben zuversichtlichen Unerschrockenheit und äußert seine Meinungen als ebenso viele Kapitel des Naturrechts."] (S. 7).

Die Anhänger des Naturrechts waren nach Benthams Ansicht nicht in der Lage, gute von schlechten Gesetzen zu unterscheiden. Für sie war schlechtes Recht eben kein Recht, denn es entsprach nicht dem Naturrecht. Bentham dagegen bestand auf der Unterscheidung von Recht und Moral. Beide müssen keine Verbindung untereinander haben, obwohl sie diese haben sollten. (Insofern ist Bentham auch Wegbereiter einer positiven (von lateinisch "positus" = "gesetzt") Rechtswissenschaft, die sich darauf konzentriert, das gesetzte Recht zu interpretieren, ohne dabei normative Fragen nach der Gerechtigkeit des gesetzten Rechts aufzuwerfen. (Der Rechtspositivismus erlangte später eine große Bedeutung, vor allem über den Rechtstheoretiker John Austin, der zum Kreis um Bentham gehörte.)
Konsequenterweise hatte Bentham auch eine große Verachtung für die Lehre von den Menschenrechten. Bertrand Russell - der wiederum ein Schüler von John Stuart Mill war - zitiert Benthams Polemik: " 'The rights of man … are plain nonsense; the imprescriptible rights of man, nonsense on stilts.' When the French revolutionaries made their 'Déclaration des droits de l'homme', Bentham called it 'a metaphysical work - the ne plus ultra of metaphysics. Its articles … could be divided into three classes: (1) Those that are unintelligible. (2) Those that are false. (3) Those that are both.' " [" 'Die Menschenrechte … sind platter Unsinn; die unveräußerlichen Menschenrechte sind gestelzter Unsinn.' Als die französischen Revolutionäre ihre 'Erklärung der Menschenrechte' verkündeten, nannte Bentham dies 'ein metaphysisches Werk – das Non plus Ultra der Metaphysik'. Ihre Artikel … können in drei Klassen eingeteilt werden: 1. jene, die unverständlich sind, 2. jene, die falsch sind und 3. jene, die beides sind'."] (B.Russell, A History of Western Philosophy, New York 1960, S. 775f.)

3.) Das Verfahren zur Bestimmung der Nutzengrößen

Um das Nutzenprinzip wirkungsvoll anwenden zu können, muss das Verfahren zur Bestimmung der Nutzengrößen soweit präzisiert werden, dass es in der Anwendung durch verschiedene Personen zu einheitlichen Antworten führt. Auf die Entwicklung eines derartigen Nutzenkalküls verwendet Bentham erhebliche Mühe. Er fasst seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen:
"... The value of a pleasure, considered in itself, and in relation to a single individual ... depends upon four circumstances, -
1st. Its intensity.
2nd. Its duration.
3rd. Its certainty.
4th. Its proximity.
The value of a pain depends upon the same circumstances.
But it is not enough to examine the value of pleasures and pains as if they were isolated and independent. Pains and pleasures may have other pains and pleasures as their consequences. Therefore, if we wish to calculate the tendency of an act from which there results an immediate pain or pleasure, we must take two additional circumstances into the account, viz. -
5th. Its productiveness.
6th. Its purity.
A productive pleasure is one, which is likely to be followed by other pleasures of the same kind. ... A pure pleasure is one which is not likely to produce pains. ...
When the calculation is to be made in relation to a collection of individuals, yet another element is necessary, -
7th. Its extent.
That is the number of persons who are likely to find themselves affected by this pain or pleasure."

["Die Größe einer Lust, für sich betrachtet und in Bezug ein einzelnes Individuum, hängt von vier Faktoren ab,
1.) Ihrer Intensität.
2.) Ihrer Dauer.
3.) Ihrer Gewissheit.
4.) Ihrer zeitlichen Nähe.
Die Größe des Schmerzes hängt von denselben Faktoren ab.
Aber es genügt nicht, die Größe von Lustempfindungen und Schmerzen so zu untersuchen, als ob sie isoliert und voneinander unabhängig wären. Schmerzen und Lustempfindungen können weitere Schmerzen und Lustempfindungen zur Folge haben. Deshalb müssen wir zwei zusätzliche Faktoren in die Berechnung mit einbeziehen, wenn wir die Tendenz einer Handlung berechnen wollen, aus der sich unmittelbar Lust oder Schmerz ergibt, -
5.) Ihre Produktivität.
6.) Ihre Reinheit.
Eine Lustempfindung ist produktiv, wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach weitere Lustempfindungen derselben Art zur Folge hat. ... Eine Lustempfindung ist rein, wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach keine Schmerzen zur Folge hat. ...
Wenn die Berechnung in Bezug auf eine Ansammlung von Individuen zu machen ist, ist noch ein weiteres Element erforderlich, -
7.) Ihre Ausdehnung.
Damit ist die Anzahl der Personen gemeint, die mit aller Wahrscheinlichkeit von diesem Schmerz oder dieser Lust betroffen sind."] (S. 33)


Bentham ist offenbar der Meinung, dass durch die systematische Schätzung und Berücksichtigung dieser 7 Faktoren verschiedene Personen hinsichtlich der Bestimmung der Größe des Glücks, das mit einer Handlung verbunden ist, zum gleichen Ergebnis kommen: "It is not to be expected that this process should be strictly pursued previously to every moral judgment, or to every legislative or judicial operation. It may, however, be always kept in view - and as near as the process actually pursued on these occasions approaches to it, so near will such process approach to the character of an exact one." ["Es sollte nicht erwartet werden, dass dies Verfahren vor jedem moralischen Urteil streng eingehalten wird. Das Verfahren mag jedoch immer im Auge behalten werden - und je näher das tatsächlich praktizierte Vorgehen diesem Verfahren kommt, umso näher wird sich solch ein Vorgehen den Grundzügen eines exakten Verfahren annähern."] (Zitiert nach: M.Warnock, ed., Utilitarianism, London Collins 1962, S. 66).


Kritik


1.) Kritik am hedonistischen Nutzenbegriff

Bentham stellt die These auf: "Evil is pain, or the cause of pain. Good is pleasure, or the cause of pleasure.” (S. 2) Damit setzt er das, was gut ist mit dem, was lustvoll oder lustbringend ist, gleich. Diese Gleichsetzung ermöglicht es dem ethischen Hedonisten, logisch von einem positiven, empirischen Satz („Schwimmen ist für A lustvoll“) zu einem normativen, wertenden Satz ("Es ist gut, wenn A schwimmt“) überzugehen.

Ein solches Vorgehen ist jedoch nicht vereinbar mit Humes Gesetz, das besagt, dass es nicht möglich ist, auf logischem Wege aus rein positiven Prämissen eine normative Schlussfolgerung zu gewinnen. Durch logische Schlussfolgerung können nur die Implikationen der Prämissen explizit gemacht werden, es kann jedoch kein völlig andersartiger Inhalt hervorgebracht werden. Deshalb ist ein deduktiver Schluss vom Sein auf das Sollen in jedem Fall fehlerhaft.

Um dieser Kritik zu entgehen, müsste man den Satz „Good is pleasure“ nicht als eine Definition des Wortes „gut“ auffassen, sondern als ein für jedermann unmittelbar einsichtiges moralphilosophisches Axiom.

Es ist jedoch keineswegs selbstverständlich, dass alles, was Lust bereitet - und nur das – gut ist. So sagte Nietzsche einmal (sinngemäß): „Was frage ich nach meinem Glück, es geht um mein Werk.“ Der Hedonist begegnet einer solchen Kritik gewöhnlich damit, dass er zu zeigen versucht, dass Nietzsches Lust offenbar darin besteht, sein philosophisches Werk zu vollenden, und dass diese Lust den Wert des Werkes für Nietzsche ausmache.

Damit wird die Bedeutung des Wortes „Lust“ jedoch extrem ausgeweitet und ungenau. „Lust“ ist dann nicht länger mehr ein bestimmtes Gefühl, das man in Bezug auf Dauer und Intensität empirisch-psychologisch messen kann. Die zahlreichen Begriffe, die als Synonyme für „pleasure“ verwendet werden (utility, happiness, benefit, advantage, good, enjoyment etc.) sind ein Zeichen für die Schwierigkeiten des ethischen Hedonisten, vom bloßen Faktum eines Lustgefühls zu einer Wertung und darüber hinaus zu moralischen Normen zu gelangen, ohne dabei Humes Gesetz zu verletzen.

Dass die Gleichsetzung des Lustvollen mit dem Guten keineswegs unmittelbar einleuchtet, wird besonders deutlich, wenn man sich die Frage stellt, warum es gut sein soll, wenn z. B. Herr Hinz, den ich gar nicht mag, in den Genuss zusätzlicher Lust kommt. Und warum soll ich im Falle eines Interessenkonfliktes zwischen Herrn Hinz und mir auf meinen Lustgewinn verzichten, falls der Lustgewinn des Herrn Hinz größer ist als meiner? Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs selbstverständlich oder evident.

Mit der Aufgabe des ethischen Hedonismus ist jedoch nicht der Utilitarismus als Ganzes hinfällig. Eine Alternative zur hedonistischen Grundlage deutet sich bereits bei Bentham selbst an, indem er Begriffe wie "benefit" und "advantage', die keine emotionalen Implikationen haben, als Synonyme für "Lust" verwendet und damit den Weg freimacht für einen Nutzenbegriff, der nichts anderes ist als eine Terminologie, die es erlaubt, das, was Menschen wollen, möglichst präzise zu beschreiben. Der Satz: "Der Nutzen des Gutes x für das Individuum A ist größer als der Nutzen des Gutes y für A" bedeutet dann nichts anderes, als dass A - vor die Wahl zwischen den Alternativen x und y gestellt - eher x als y will. Von Willensinhalten, also dem, was gewollt wird, gelangt man ohne Verletzung des Humeschen Gesetzes zu Soll-Sätzen, denn Sollsätze dienen der Beschreibung von Willensinhalten. Zu sagen: "Niemand will, dass Du x tust, und doch sollst du x tun" " ist unsinnig. Den Willensinhalt des Satzes "A will, dass B ihm den Mantel bringt" kann man durch den Soll-Satz ausdrücken: "B soll A den Mantel bringen", wobei nur das Subjekt, das will, weggelassen wird.

2.) Kritik an Benthams Bestimmung der Nutzengrößen
Bentham setzt sich ein hohes Ziel, wenn er den Versuch macht, "to find the process of a moral arithmetic by which uniform results may be arrived at." [" ... das Verfahren einer Arithmetik der Moral zu entdecken, durch das man zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen kann."] (S. 1) Die Gesetzgebung würde dann "a matter of arithmetic" ["... ein Sache der Berechnung"] werden. (S. 32) Trotz intensiver Bemühungen, Nutzengrößen zu messen, mit denen man rechnen kann (z. B. addieren und subtrahieren), bleibt es bei einer eher metaphorischen Verwendung von Begriffen wie "calculation of good and evil", "sum of good and evil", "amount of pleasure", "moral calculation" etc. durch Bentham. Es fehlt z. B. an der grundlegenden Voraussetzung allen Rechnens, der Bestimmung einer Einheit. Bentham gibt sich letztlich zufrieden mit einer intuitiven Abwägung der Nutzengrößen., anfangs bei bewusster Berücksichtigung der 7 Faktoren, von denen nach Bentham die Nutzengröße abhängt, nach einiger Übung auch ohne diese Orientierung. "When one has become familiar with the process; when he has acquired that justness of estimate which results from it; he can compare the sum of good and evil with so much promptitude as scarcely to be conscious of the steps of calculation. It is thus that we perform many arithmetical calculations almost without knowing it." ["Wenn man mit dem Vorgehen vertraut geworden ist, wenn man die Richtigkeit der Schätzung erworben hat, die sich daraus ergibt, dann kann man die Summe von Gutem und Schlechtem mit solcher Schnelligkeit vergleichen, dass man sich der Schritte der Berechnung kaum bewusst wird. In dieser Weise führen wir viele arithmetische Berechnungen aus, fast ohne es zu wissen."] (S. 32)

Bentham hat keine empirischen Untersuchungen darüber angestellt, ob verschiedene Individuen tatsächlich zu übereinstimmenden Ergebnissen in Bezug auf den Nutzen der Alternativen einer individuellen oder politischen Entscheidungen kommen. Insofern war er an diesem Punkt wenig selbstkritisch.

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:

    Utilitarismus - Kritik und Neubegründung *** (31 K)
    Utilitarismus und Begründung der Demokratie ** (31 K)
   

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