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Kriterien der Begriffsbildung

 

Unter "Begriffsbildung" soll hier die Zuordnung einer bestimmten Bedeutung zu einem bestimmten Wort verstanden werden.
 
Ein "Begriff" ist demnach ein Wort einschließlich seiner Bedeutung.
 
Wird die Zuordnung der Bedeutung durch andere Begriffe vorgenommen, so spricht man von einer "(nominalen) Definition".

Wenn jemand einem Wort durch Definition eine bestimmte Bedeutung zuweist, so handelt es sich um den Vorschlag einer sprachlichen Konvention und um die Ankündigung, dass der Betreffende dies Wort künftig nur mit dieser Bedeutung verwenden will. Keinesfalls kann dies eine Vorschrift sein, wie Wörter von anderen zu verwenden sind.

Die Berechtigung derartiger sprachlicher Neuschöpfungen muss sich z. B. an dem dadurch ermöglichten Erkenntnisgewinn erweisen oder an der damit verbundenen Erleichterung der Verständigung z. B. durch Abkürzung.

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Wenn Aussagen über ein Wort bzw. einen Begriff gemacht werden, so schreibt man das Wort in Anführungszeichen (z. B. "Wasser"). Wenn man jedoch über die durchsichtige Flüssigkeit spricht, verwendet man keine Anführungszeichen und schreibt nur: Wasser.
  
Als geschriebenes Zeichen ist "Wasser" nichts anderes als eine Folge von Buchstaben so wie auch das Wort "Ressaw". Beide haben als solche keine bestimmte Bedeutung. Bedeutung erhalten Wörter erst durch Individuen, die diese Wörter nach bestimmten Regeln verwenden, um damit etwas auszusagen und einander mitzuteilen.

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Vorteile einer geeigneten Begriffsbildung am Beispiel des Wortes "Wasser"

Wenn Individuum A1 dem Individuum A2 etwas mitteilen will, so muss A2 die Bedeutung der von A1 benutzten sprachlichen Ausdrücke kennen, das heißt sie müssen eine gemeinsame Sprache verstehen und sprechen. Ich nenne diese Sprache einmal "A-Sprache" und das Land, in dem A1 und A2 wohnen "A-Land".

Angenommen in A-Land ist die moderne Chemie unbekannt. Dort bezeichnet man alle durchsichtigen farblosen Flüssigkeiten als "Wasser". Es gibt in der A-Sprache verschiedene Arten von Wasser, z. B. Regenwasser, Meerwasser, Feuerwasser etc.. Undurchsichtige Flüssigkeiten werden z. B. als "Milch", "Rotwein" etc. bezeichnet.
 
Wenn man A1 fragt: "Was bedeutet  das Wort 'Wasser' in der A-Sprache?", dann wird er sagen: "Wir sagen zu allen durchsichtigen farblosen Flüssigkeiten 'Wasser'". Und er wird vielleicht auf eine Flasche zeigen und sagen: "Hier ist z. B. Wasser drin."  
 
Wenn ich in Bezug auf eine undurchsichtige blaue Flüssigkeit in der A-Sprache sagen würde: "Dies Wasser schmeckt süß", dann ist das nicht sachlich falsch sondern ein sprachlicher Fehler. Ich habe mich nicht in Bezug auf die Tatsachen geirrt, sondern ich habe das Wort "Wasser" der A-Sprache falsch gebraucht und auf eine blaue Flüssigkeit angewandt.
 
Wenn ich A fragen würde: "Was weiß man in A-Land über Wasser und seine Eigenschaften?", so könnte A wohl nur wenige Aussagen machen, die auf jede Art von Wasser zutreffen, außer den Merkmalen (wie flüssig, farblos, durchsichtig), die das Wort "Wasser" definieren. A könnte sagen: "Wasser ist schwerer als Luft", "Durch Wasser kann man hindurch sehen", "Wenn man einen Stab in Wasser hält, erscheint der Stab an der Wasseroberfläche als geknickt". Aber das wäre wohl schon so ziemlich alles. Mit der Aussage "Bei diesem Stoff handelt es sich um Wasser" übermittle ich in der A-Sprache also relativ wenig implizit darin enthaltene Informationen.
 
Nehmen wir zum Vergleich O-Land. Dort leben O1 und O2. Sie sprechen die O-Sprache. In O-Land kennt man die chemische Verbindung H2O.
Ich frage O1: "Was bedeutet das Wort 'Wasser' in der O-Sprache?"

O1 antwortet: "Wir bezeichnen mit dem Wort 'Wasser' alles, was aus der chemischen Verbindung H2O besteht. Sind zusätzlich andere Stoffe in Wasser gelöst, so stellen wir die Bezeichnung dieser Stoffe voran, wie z. B. bei Zuckerwasser, Salzwasser, Mineralwasser, Sodawasser, Seifenwasser etc.

Früher wurde bei uns in O-Land auch hochprozentiger Alkohol als 'Feuerwasser' bezeichnet, aber dieser Gebrauch ist heute nachrangig geworden, weshalb es selten zu Missverständnissen kommt."
 
Wenn man in der O-Sprache von einer bestimmten Flüssigkeit aussagt, dass es sich um Wasser handelt, so hat man damit eine riesige Menge an Informationen über diesen Stoff benannt: das gesamte Wissen von Chemie, Physik und aller anderen Wissenschaften über H2O. Daraus ersieht man den Wert einer theoretisch fruchtbaren Begriffsbildung.

Das Beispiel macht auch deutlich, dass sich die Bedeutung vom Wörter zusammen mit neuen Erkenntnissen verändert.

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Es gibt Phasen im Erkenntnisprozess, in denen mit relativ vagen und unpräzisen Begriffen gearbeitet werden muss, weil die genaue Fragestellung und die notwendige Reihenfolge der zu stellenden Fragen noch gar nicht feststeht. Wenn man Philosophie jedoch als eine für die Beantwortung bestimmter Fragen entwickelte Wissenschaft versteht, dann kann Vagheit der Aussagen kein Dauerzustand bleiben. Vage Antworten sind immer nur sehr eingeschränkt verwendbare Antworten.

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Wonach richtet sich die Begriffsbildung?

Wenn die Begriffsbildung nicht auch von den Sinneseindrücken bestimmt würde, so könnte man nicht erklären, warum es in allen Sprachen Wörter gibt, die die Sonne und den Mond bezeichnen, also Namen für diese beiden von der Erde aus gut sichtbaren Himmelskörper.

Ähnliches gilt für Worte wie "Mutter", "Vater", "Kind", "Bruder", "Schwester", "Kopf", "Hand", "Fuß", "Finger", "Tag", "Nacht", "Freund", "Feind", "essbar", "giftig".

Diesen Worten entsprechen jeweils Bündel von zusammengehörigen, "markanten" Sinneseindrücken, deren Unterscheidung, Identifizierung und Benennung für jedes Individuum lebenswichtig ist.

Eine Beliebigkeit der Begriffsbildung in den verschiedenen Sprachen kann es deshalb zumindest auf dieser elementaren Ebene nicht geben.

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Ein Gegenstand kann auf die verschiedenste Weise beschrieben werden

Ein und derselbe Bereich der Wirklichkeit – nehmen wir als Beispiel ein bestimmtes Auto – kann auf beliebig viele verschiedene Arten beschrieben werden. Deshalb kann es auch keine vollständige oder endgültige Beschreibung der Wirklichkeit geben.

Der Hinweis: "Der Sachverhalt ergibt sich aus dem, was Du an einer Sache betrachten willst", steht dazu nicht in Widerspruch, denn man kann unter den verschiedensten Interessen an ein Auto herangehen: als Fahrzeug, als Notunterkunft, als Tötungswaffe, als Altmetall, als Prestigeobjekt, als Sportgerät usw. usf.

In Bezug auf empirische Theorien gilt diese Beliebigkeit nicht. Ihre Aufgabe ist ja die Erklärung bzw. Voraussage bestimmter Ereignisse. Es kommen also nur solche Theorien in Frage, die das betreffende Ereignis erklären können. Dazu muss das Ereignis aus der Theorie logisch abgeleitet werden. Das setzt aber voraus, dass die Theorie einen Begriff zur Bezeichnung dieses Phänomens enthält.

Wenn das Faktum des Donners erklärt werden soll, so kommen dazu nur Theorien in Frage, die Aussagen über sehr laute Geräusche beinhalten.

Eine vorwissenschaftliche Erklärung des Donners bestand darin, dass der Gott Thor aus Wut seinen Riesenhammer geworfen habe und dabei das Donner-Geräusch verursacht habe.

Die moderne Theorie geht dagegen von Druckwellen aus, die durch die enorme Hitze des Blitzes und die dadurch hervorgerufene kurzzeitige Erzeugung eines Vakuums entstehen.

Beide Theorien geben eine logische Erklärung des Donners.

Die Hammertheorie kann jedoch keine Antwort auf die Frage geben, warum der zeitliche Abstand zwischen dem Sehen des Blitzes und dem Hören des Donners unterschiedlich groß ist.

Insofern die Theorie von der Ausbreitung der Druckwellen in der Luft diesen Unterschied erklären kann, ist sie zumindest in diesem Punkt der Hammertheorie überlegen.

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Für die modernen physikalischen Theorien ist die Ebene der Beobachtungen weniger problematisch. Hier werden im wesentlichen Messinstrumente abgelesen. Die Problematik liegt eher auf der Ebene der nicht direkt wahrnehmbaren hypothetischen Konstrukte wie z. B. "Schallwelle".

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Ein und dasselbe Phänomen kann von zwei miteinander nicht zu vereinbarenden Theorien erklärt werden, ohne dass es immer möglich ist, eine der beiden zu widerlegen. Deshalb können zu einem bestimmten Zeitpunkt verschiedene und sogar einander widersprechende Theorien gleichzeitig rational vertretbar sein.

Allerdings werden die Wissenschaftler alles daransetzen, diesen Zustand möglichst zu beseitigen. Zu diesem Zweck entwefen sie experimentelle Anordnungen, die eine begründete Entscheidung für die eine oder die andere Theorie ermöglichen.

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Müssen sich die beschreibende Sprache und die beschriebene Wirklichkeit entsprechen?

Die Idee einer Entsprechung zwischen beschreibenden Sätzen und der damit beschriebenen Wirklichkeit liegt nahe, wenn man von der semantischen Bestimmung von Wahrheit ausgeht, die besagt, dass ein Satz dann wahr ist, wenn es so ist, wie der Satz besagt.

Wenn man statt der Sprache ein Foto nimmt, um einen Sachverhalt wiederzugeben, zum Beispiel das zeitlich erste Tor eines bestimmten Fußballspiels, so ist das Foto dann echt und keine Fälschung, wenn es so war, wie auf dem Foto zu sehen ist: der Ball landet dicht am rechten Pfosten im Tor und der Torwart wirft sich vergebens danach.

Ergeben sich nicht aus der Struktur der Sinneseindrücke "zwingend" bestimmte Begriffe wie "Ball", "Torwart" oder "Pfosten" ? (Dabei könnte statt "Torwart" natürlich auch englisch "keeper" gesagt werden, da die Struktur des Satzes die gleiche bliebe.)

Wenn man von einem bestimmten Vorverständnis, von einer bestimmten Fragestellung und den damit gegebenen Begriffen ausgeht ("Wie fiel das erste Tor in dem Spiel?"), dann müssen Begriffe wie "Ball", "Tor" und "Torwart" zwangsläufig fallen.

Die Beschreibung und ihre Begrifflichkeit ist jedoch keineswegs mehr festgelegt, wenn man keinerlei Vorverständnis voraussetzt. Jemand, der noch nie einen Ball gesehen hat, geschweige denn weiß, was ein Fußballspiel ist, würde das Foto wahrscheinlich ganz anders in Worten  wiedergeben.

Im Extremfall würde er das Foto wie ein Scanner beschreiben und würde eine Vielzahl von Aussagen über eine in bestimmter Weise angeordnete Menge von Pixeln mit sehr vielen verschiedenen Farbtönen machen.
 
Auch der folgende Satz, der das Bild beschreibt: "Das 475. Pixel in der 122. Reihe von oben ist hellgrün" kann wahr sein, weil es so ist, wie der Satz besagt.

Bei fehlendem Vorverständnis gibt es unendlich viele verschiedene Möglichkeiten, über einen realen Sachverhalt wahre Aussagen zu machen, so dass von einer Korrespondenz zwischen den Elementen der Wirklichkeit und bestimmten Begriffen kaum noch gesprochen werden kann.

Derselbe Sachverhalt führt bei unterschiedlichen Begriffssystemen zu unterschiedlichen Beschreibungen.

Um bei dem Beispiel des Fotos vom Torschuss zu bleiben: Man könnte z. B. das Geschehen auf dem Foto als etwas zweidimensionales, in einer Ebene stattfindendes, oder als etwas dreidimensionales, in einem Raum stattfindendes Geschehen interpretieren und beschreiben.
Bei der zweidimensionalen Beschreibung gäbe es zwar die Beziehungen "links von", "rechts von", "unter" und "über" aber nicht die Beziehungen "vor" und hinter".

Ob eine Mannschaft ein Tor erzielt hat, hängt davon ab, ob der Ball die gedachte Ebene, die durch Pfosten, Latte und Linie begrenzt wird, überschritten hat.

Da den Fan interessiert, welche Mannschaft gewinnt und da dies wiederum von der Anzahl der erzielten Tore abhängt, wäre ein zweidimensionales Begriffssystem für die Beschreibung des Geschehens unbrauchbar, weil in diesem Begriffssystem die Frage, ob ein Tor gefallen ist, gar nicht gestellt und natürlich auch nicht entschieden werden kann, weil ein "Tor" nicht in einer zweidimensionalen Sprache definiert werden kann.

Theorien dienen der Beschreibung und Erklärung bestimmter Sachverhalte, an denen ein Interesse der Menschen besteht. Von diesem Interesse her lässt sich dann auch entscheiden, welche Begrifflichkeit angemessen ist und welche nicht.

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Grundsätzlich muss zwischen der beschriebenen Wirklichkeit und der dazu verwendeten Sprache keine strukturelle Ähnlichkeit bestehen. Allerdings erleichtert eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem das Erlernen und Merken der Zeichen bzw. Begriffe. Ich will das am Beispiel der Zahlen verdeutlichen.

Man könnte ein einfaches Zahlensystem bestimmen, das nur eine Ziffer kennt, den senkrechten Strich "|", und das die unterschiedlichen Mengen von Elementen durch Folgen von entsprechend vielen Strichen bezeichnet.

Größenmäßig geordnet erhalte ich dann die Zahlenreihe: | - || - ||| - |||| - ||||| - |||||| - ||||||| - |||||||| - usw. usf.

Hier haben wir eine strukturelle Entsprechung zwischen der bezeichneten Wirklichkeit und dem Zeichen, weshalb das Erlernen dieses Zahlensystems kinderleicht ist.

Allerdings ist es nicht sehr komfortabel in der Anwendung, da man etwa ab der Zahl ||||| die verschiedenen Zahlen nicht mehr auf den ersten Blick erkennen und unterscheiden kann, sodass es zu Verwechselungen kommen kann.

Demgegenüber ist das Dezimalsystem, das alle Zahlen durch eine geordnete Kombination der Ziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9 bildet, sehr viel praktischer.

Hier gibt es jedoch keine strukturelle Ähnlichkeit mehr zwischen der Wirklichkeit und dem Zeichen für diese Wirklichkeit, wenn man einmal davon absieht, dass wir zehn Zehen (!) haben, die sich wunderbar abzählen lassen.

Ähnlich ist es mit anderen Zeichen. Bilderschriften wie die Hieroglyphen oder das Chinesische haben zwar strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Zeichen und Bezeichnetem, jedoch erweist sich eine Lautschrift der gesprochenen Worte, die nur 25 Buchstaben benötigt, einer Bilderschrift, die mehrere Tausend Zeichen benötigt, in der Praxis als überlegen.

Aus didaktischen Gründen gibt es auch die lautmalerische Kindersprache mit "Wauwau", "Miau-Katze", "Muh-Kuh" und "Husch-Husch-Eisenbahn" (aus dem Zeitalter der Dampfloks).

Eine solche akustische Strukturähnlichkeit ist jedoch keineswegs nötig. Es genügen eindeutige Regeln für die Zuordnung der Zeichen zu bestimmten Dingen, Verhältnissen und Operationen, damit eine Zeichensprache zur Beschreibung der Wirklichkeit und zu anderen Zwecken geeignet ist.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Terminologische Fragen der normativen Theoriebildung *** (43 K)

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Letzte Bearbeitung 24.04.2008 / Eberhard Wesche

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