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Eigene Diskussionsbeiträge zu:
"Keine Allgemeingültigkeit ohne intersubjektive Übereinstimmung"
(Aus Diskussionen bei PhilTalk)
Teil I
Es soll die
These diskutiert werden, dass ein Anspruch auf allgemeine Geltung für eine
Behauptung nur durch eine allgemein einsichtige Begründung dieser Behauptung
eingelöst werden kann, wobei "allgemein einsichtig" bedeutet, dass die
Begründung intersubjektiv (von jedem verständigen Individuum) und intertemporal
(dauerhaft) nachvollziehbar und übernehmbar ist.
Vom eigenen subjektiven Standpunkt aus gesehen heißt das, dass jede Behauptung,
die für mich gelten soll, auch für mich einsichtig begründet sein muss.
Andernfalls wird von mir Glaube bzw. Gehorsam verlangt.
***
Diese These wirft viele Fragen auf, einmal was die Definition der benutzten
Begriffe (Behauptung, Geltung, Intersubjektivität, Allgemeingültigkeit etc.)
betrifft und zum andern, was die Konsequenzen aus dieser These angeht. "Intersubjektiv" heißt in diesem Zusammenhang, dass etwas nicht nur "subjektiv"
und damit möglicherweise von Subjekt zu Subjekt verschieden ist, sondern
dass es
übereinstimmend für beliebige Subjekte ist. In diesem Sinne verwende ich z. B.
Formulierungen wie "intersubjektiv nachvollziehbares Argument".
Man kann anstelle des Begriffs "Intersubjektivität" sicher auch andere Begriffe
verwenden. So finden sich an Stelle des Begriffs "intersubjektiv" in der
Literatur die Begriffe "interpersonal", "transpersonal", "interindividuell" oder
"überindividuell".
***
Individuum C
nimmt am Montag ein großes Glas, füllt es bis an den Rand mit kleinen Nägeln und
verschließt es fest. Daneben hängt er ein Schild auf, worauf steht: "Wie viele
Nägel sind in diesem Glas? Wer die richtige Zahl nennt, gewinnt 100 €."
Niemand öffnet das Glas bis zum darauf folgenden Freitag, so dass von
Montag bis Freitag die Anzahl der Nägel in dem Glas unverändert bleibt.
Individuum A sieht das Glas am Montag und sagt: "In diesem Glas befinden sich
7.861 Nägel."
Nehmen wir einmal an, dass eine sorgfältige Auszählung am darauf folgenden
Freitag ergibt, dass sich
tatsächlich 7.861 Nägel in dem Glas befinden.
Dann war die Behauptung von A am Montag bereits wahr, denn ein Satz ist wahr
unabhängig vom Zeitpunkt seiner Äußerung. "Wahr" bedeutet insofern
immer auch "intertemporal wahr".
Insofern kann man sagen, dass die Wahrheit einer Behauptung
("In dem Glas befinden sich 7.861 Nägel" ) unabhängig von der
Frage ist, ob jemand über intersubjektiv nachvollziehbare Gründe für die
Wahrheit dieser Behauptung verfügt oder nicht.
Folgender Dialog könnte vor dem Glas stattfinden:
A: "Es befinden sich 7.851 Nägel in dem Glas. Dies ist wahr."
B: "Begründe Deine Behauptung!".
A: "Ich habe das einfach nur geraten."
B: "Dein Raten kann ich nicht nachvollziehen. Deshalb
kann ich Deine Behauptung nicht als wahr anerkennen. Sie mag zufällig wahr sein,
aber ich kann sie solange nicht als 'wahr' annehmen, wie ich keine Begründung für diese
Behauptung kenne."
Eine intersubjektiv nachvollziehbare Begründung wäre es, wenn A sagen würde: "Ich habe
die Nägel in dem Glas gezählt." "Zählen" ist ein Verfahren, das man allgemeinverständlich beschreiben kann, und
das bei Befolgung der angegebenen Schritte zu intersubjektiv übereinstimmenden
Ergebnissen führt. (Man kann mathematische Mengen deshalb auch gemeinsam auszählen. Dies wird
z. B. mit den Stimmzetteln bei Wahlen gemacht.)
Anhand des Dialogs wird deutlich:
Der Anspruch auf Wahrheit für eine Behauptung hat also
neben dem Aspekt der Objektivität ("Es ist so, wie behauptet") auch einen
sozialen Aspekt ("Meine Behauptung gilt für alle. Ich erwarte auch von Dir,
dass Du ihr zustimmst"). Für den sozialen Aspekt der Wahrheit bzw.
Allgemeingültigkeit gilt die Bedingung der intersubjektiv nachvollziehbaren
Begründung.
Eine Aussage p ist wahr unabhängig davon, ob jemand weiß, dass p, oder ob
jemand Gründe für p vorbringen kann.
Eine Aussage p darf von einem Sprecher nur in dem Maße behauptet werden und für gültig erklärt
werden, wie er sie begründen kann.
***
Nicht nur bei ethischen Behauptungen sondern auch bei empirischen
Behauptungen gibt es Schwierigkeiten in Bezug auf die intersubjektive Nachvollziehbarkeit.
Der überwiegende Teil meines Wissens über die Welt
beruht nicht auf
eigener Wahrnehmung.
Ich war z. B. noch nie in Australien. Trotzdem halte
ich zahllose Aussagen über Australien für wahr, z. B. dass es dort verschiedene
Arten von Beuteltieren gibt. Ich vertraue in diesen Fragen also auf die
Berichte, die andere Menschen von ihren Aufenthalten in Australien geben sowie
auf die Inhalte audio-visueller Medien. Entsprechendes gilt für den
überwiegenden Teil meines Weltbildes. Die Frage stellt sich: Ist ein derartiges
Vertrauen vereinbar mit dem Kriterium einer intersubjektiven Nachprüfbarkeit der
Aussagen?
Noch schwieriger ist die intersubjektive Nachprüfbarkeit von
Behauptungen über
Vergangenes. Es kommt vor, dass es keine Augenzeugen für bestimmte
Ereignisse gibt, z. B. für das Aussterben der Dinosaurier oder für die
Himmelfahrt des Jesus von Nazareth. Was ist in diesem Fall eine einsichtige,
intersubjektiv nachvollziehbare Begründung für das behauptete Ereignis?
***
Wird eine Aussage über ein Ereignis nur dadurch wahr, dass mehrere
das Ereignis
wahrgenommen haben? Ich denke: "nein". Auch einer allein kann etwas wissen,
z. B. die PIN seiner Scheckkarte.
Dies ist möglich, weil die
Wahrnehmungen verschiedener Individuenwenn weitgehend übereinstimmen, wenn sie am gleichen Ort und zum gleichen
Zeitpunkt stattfinden und wenn die Individuen Sehen und Hören können, so wie es
die andern Individuen können.
Auf dieser Übereinstimmung der Wahrnehmungen und der daraus
resultierenden inter-individuellen Übertragbarkeit der gewonnenen Informationen
beruhen die Überlebensvorteile von Lebenswesen wie Staren, Wölfen, Heringen oder Menschen, die
in Verbänden leben. Es genügt, dass ein einziges Individuum eine Gefahr
entdeckt und ein Warnsignal ausstößt, damit sich der gesamte Verband auf die
Gefahr einstellt.
***
Sinneseindrücke
müssen interpretiert und sprachlich ausgedrückt werden,
was fehlerhaft sein kann
(Deshalb gibt es die Möglichkeit von "Fehlalarm" ). Außerdem müssen meist
Erinnerungsleistungen erbracht werden, die
ebenfalls fehlerhaft sein können ("Hab
ich das vielleicht nur geträumt?"). Nicht zuletzt muss auch
Ehrlichkeit bei der
Wiedergabe der Wahrnehmungen vorausgesetzt werden, denn der Sinneseindruck kann
auch vorgetäuscht sein ("Denen werde ich die Hucke
volllügen!").
In allen genannten Punkten kann es zu
Unterschieden bei der Tatsachenfeststellung verschiedener Individuen kommen.
***
Im
Fall des einzigen Zeugen vor Gericht ist die Erkenntnislage weitgehend vergleichbar mit der
Lage bei den inneren Wahrnehmungen eines Individuums, die unmittelbar nur ihm
selbst zugänglich sind (Introspektion). Wenn ich Zahnschmerzen habe, dann ist
das eine Tatsache, obwohl die Behauptung dieser Tatsache nicht durch
übereinstimmende direkte Wahrnehmung begründet werden kann so wie z. B. die Tatsache,
dass mein letzter Backenzahn links oben ein Loch hat.
Wie verhält es sich im
Falle des einzigen Zeugen (oder gar dem völligen Fehlen von Zeugen) mit dem
Anspruch auf Allgemeingültigkeit für eine Behauptung über die Beschaffenheit der
Welt und mit der Forderung nach intersubjektiver Nachprüfbarkeit diese
Behauptung?
Meine Antwort ist: Es kann nur in dem Maße Allgemeingültigkeit für eine Behauptung beansprucht werden, wie eine intersubjektive Überprüfung möglich ist. Man muss in diesem Fall einen abgestuften Begriff des Wissens verwenden.
***
Man kann die Wahrheit von Aussagen eines einzigen Augenzeugen
überprüfen indem man fragt, ob die Behauptung vereinbar ist mit unseren
sonstigen Annahmen über die Beschaffenheit der Welt.
Wenn z. B. Münchhausen behauptet, er habe sich und sein Pferd mit Hilfe seiner
gewaltigen Körperkräfte mit der eigenen Hand an den Haaren aus dem Sumpf
gezogen, so widerspricht dies den Gesetzmäßigkeiten der Mechanik, denn die
gleiche Kraft, mit der die Hand die Haare nach oben zieht, drückt über den Arm
den Körper nach unten, so dass durch das Ziehen auch bei größter Kraftanwendung
keine Bewegung des Körpers nach oben entstehen kann. Seine Aussagen sind
deshalb unglaubwürdig.
In der Gerichtspraxis sind
weitere Gesichtspunkte entwickelt worden, um die Glaubwürdigkeit und die
Kompetenz eines Zeugen genauer zu bestimmen.
Der reine Indizienbeweis ist ein Beispiel für die Erkenntnis von Tatsachen, die nur indirekt der Wahrnehmung zugänglich sind (Fingerabdrücke an der Tatwaffe als Indiz für den Täter). Hier gibt es zwar einen Augenzeugen in Gestalt des Täters, doch seine Schilderung der Vorgänge ist in höchstem Maße parteiisch.
***
Grundsätzlich besteht bei
faktischen Behauptungen die Möglichkeit, zwanglos eine intersubjektive
Übereinstimmung herzustellen, indem man übereinstimmende Wahrnehmungen
verschiedener Subjekte heranzieht. Dabei bedeutet "übereinstimmende Wahrnehmung"
nicht "völlige Gleichheit". Es muss nur insoweit Übereinstimmung hergestellt
werden, als es die verwendeten Begriffe und deren übereinstimmende Anwendung
erfordern. Das heißt, die Wahrnehmungen müssen zu gleichlautenden Aussagen
führen.
Eine intersubjektiv
verständliche Sprache ist natürlich eine Grundvoraussetzung für die Formulierung
intersubjektiv einsichtiger Behauptungen. Intersubjektive Verständlichkeit setzt
dabei nicht voraus, dass alle die gleiche Sprache sprechen, sondern nur, dass
alle benutzten Sprachen und Begriffssysteme ineinander übersetzt werden können.
Insofern ist der Streit um Worte häufig unproduktiv.
***
Zu der Behauptung: "Ich sehe
vor mir den Kölner Dom" und deren
intersubjektive Nachvollziehbarkeit.
Diese Behauptung beschreibt eine
Wahrnehmung. Sie ist,
wenn ich sie mache, gleichbedeutend mit der Behauptung "Eberhard sieht vor
sich den Kölner Dom." Wieweit lässt sich hier eine
intersubjektive Übereinstimmung herstellen? Zu dem, was ich selbst sehe, habe
ich ja im Vergleich zu anderen Individuen einen privilegierten Zugang.
***
Im Folgenden etwas zur
Begriffsklärung (Terminologie).
Ausgangspunkt ist die
These:
"Man kann einer Behauptung
keine Allgemeingültigkeit zusprechen, wenn diese Behauptung (einschließlich
ihrer Begründung) nicht allgemein (d.h. intersubjektiv und intertemporal)
nachvollziehbar (d.h. einsichtig) ist."
Dies ist m. E. der
methodische Kern des wissenschaftlichen (rationalen) Denkens.
Wer etwas behauptet, ohne
der Verpflichtung zur allgemein nachvollziehbaren Begründung nachzukommen, der
betreibt keine einsichtige Wissenschaft sondern der formuliert
Dogmen, die geglaubt werden sollen.
Wenn der Appell zu glauben
Erfolg hat, erlangt die Behauptung "allgemeine faktische Geltung".
Eine tatsächlich "faktisch geltende Behauptung" ist jedoch nicht dasselbe
wie eine "nachvollziehbar begründete Behauptung".
Um diesen Unterschied
sprachlich ausdrücken zu können, schlage ich vor, zwischen "Geltung" und "Gültigkeit" zu
unterscheiden. "Gültigkeit" bedeutet dann soviel wie "begründete Geltung".
***
"Allgemeingültigkeit" im
beschriebenen Sinne beinhaltet nicht nur intersubjektive sondern immer auch
intertemporale Nachvollziehbarkeit. Somit kann eine Behauptung nicht heute noch
allgemein gültig sein und morgen schon nicht mehr.
Zur Allgemeingültigkeit
gehört - so wie zur Wahrheit - die intertemporale Nachvollziehbarkeit, also die
Dauerhaftigkeit. Bisher für wahr gehaltene Aussagen können sich im Zuge neuer
Erkenntnisse nachträglich als falsch erweisen. Entsprechendes gilt für die
Allgemeingültigkeit.
Die Forderung nach
intertemporal nachvollziehbaren Behauptungen und Begründungen verlangt
keine "ewigen Wahrheiten". Was allein benötigt wird
sind zeitlich unbefristet nachvollziehbare Behauptungen. Ein analoges Beispiel
aus dem Alltag: Ein "zeitlich
unbefristeter" Mietvertrag kann im Unterschied zu einem Mietvertrag "auf immer
und ewig" beim Eintritt bestimmter Bedingungen gekündigt werden. Bei Abschluss
des Mietvertrages weiß aber noch keiner, ob diese Bedingungen jemals eintreten
werden und wann das sein wird.
***
Zu Aussagen über eigene und
fremde Wahrnehmungen und deren Allgemeingültigkeit (d.h. deren begründete
interpersonale und intertemporale Geltung):
In Goethes Gedicht vom Erlkönig fragt
das todkranke Kind: "Siehst, Vater, Du den
Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’
und Schweif?"
Der Vater sieht den
Erlkönig nicht und antwortet: "Mein Sohn, es ist ein
Nebelstreif."
Hier meint das fiebernde
Kind, den Erlkönig zu sehen.
Mit der Frage "Siehst, Vater, Du den Erlkönig
nicht?" drückt es implizit aus: "Ich sehe den Erlkönig."
Die terminologische Frage ist, ob man sagen soll: "Das Kind
sieht den Erlkönig" ? Die
Umgangssprache ist hier nicht einheitlich.
Ist es sinnvoll für normale Sinneswahrnehmungen und für Halluzinationen das
gleiche Wort "sehen" zu verwenden? Soll man sagen: "Das fiebernde Kind sieht den Erlkönig", wenn es sich um eine
vermeintliche Sinneswahrnehmung, also eine Hallizunation handelt?
Zur besseren Unterscheidung sollte man sagen: "Das
fiebernde Kind phantasiert (halluziniert) den Erlkönig."
Vater und Kind haben denselben Sinneseindruck, der jedoch von den beiden
unterschiedlich interpretiert wird.
Der Vater sieht dort, wo
das Kind den Erlkönig zu sehen meint, einen Nebelstreif. Er korrigiert die
vermeintliche Wahrnehmung des Kindes, indem er sagt: "Es ist ein Nebelstreif
(das, was Du für den Erlkönig hältst)."
Die Aussage eines Menschen über seine eigenen Wahrnehmungen kann demnach irrig
und damit korrekturbedürftig sein. Das Beispiel zeigt, dass man sich in Bezug
auf seine eigenen gegenwärtigen Wahrnehmungen irren kann. Und wer aus diesem
Irrtum nicht mehr herausfindet, wird als "Irrer" bezeichnet.
Bei der Interpretation der Aussage des Kindes kann man sich auf erfahrungswissenschaftlich bestätigtes Wissen stützen, dass sehr hohes Fieber meist mit Halluzinationen einhergeht.
***
Was sind die
Kriterien
dafür, dass das Kind halluziniert? Dass der gesunde Vater etwas anderes sieht?
Vielleicht sind die Irren diejenigen, die die Wirklichkeit richtig wahrnehmen?
Sind Wahnvorstellungen daran zu erkennen, dass sie zu Widersprüchen mit unserem
übrigen Annahmen über die Welt führen?
Die logische Stimmigkeit
mit dem bisherigen Bild der Welt ist nicht die entscheidende Instanz für die
Wahrheit einer Behauptung. Es gibt auch eine "Revolutionierung" von Weltbildern
durch neue Erfahrungen und Überlegungen.
***
1881 machten die
US-amerikanischen Physiker Michelson und Morley einen Versuch, dessen Resultat
das bisherige mechanistische Weltbild in Frage stellte, das von einem den Raum
ausfüllenden Äther ausging, der elektromagnetische Fernwirkungen oder
Lichtstrahlen gewissermaßen stofflich weiter leitete und dadurch erst möglich
machte.
Michelson und Morley gingen
bei ihrem Experiment von folgenden Überlegungen aus:
Wenn die Erde sich wie ein
Schiff in einem "Äthermeer" bewegen würde, dann müsste die Bewegung der Erde
(ca. 30 km pro Sekunde im Lauf um die Sonne) eine Fahrtströmung durch den Äther
erzeugen. Ein Lichtstrahl, der gegen diese Ätherströmung "schwimmt", müsste sich
dann langsamer fortpflanzen als ein Lichtstrahl, der mit der Ätherströmung
schwimmt.
Das nicht zu bezweifelnde
Ergebnis ihres Experimentes bedeutete für die Äthertheorie das Ende. Messungen
zeigten: Die Lichtgeschwindigkeit war immer dieselbe, ob mit dem "Ätherstrom"
oder gegen den Ätherstrom, immer betrug die gemessene Geschwindigkeit des
Lichtes ca. 300.000 km pro Sekunde.
Die Menschen mussten sich
seitdem mit Fernwirkungen abfinden, die nicht irgendwie stofflich vermittelt
wurden, sie mussten sich mit dem Begriff des "Feldes" anfreunden, einer gänzlich
ungewohnten Vorstellung.
Vorhandene Weltbilder sind
also nichts Unerschütterliches und nicht immer setzen sie sich gegen abweichende
neue
Erfahrungen durch.
***
Man kann unterscheiden zwischen Aussagen über die Wahrnehmung von Sachverhalten ("Ich sehe ca. 20 m vor mir einen Baum") und Aussagen über die Sachverhalte selber ("Ca. 20 m vor mir steht ein Baum.") Das "hier und jetzt" lasse ich der Kürze wegen weg.
Die Frage ist, wie sich beide Aussageebenen zueinander verhalten. Folgt aus dem Satz: "Ich sehe vor mir einen Baum" logisch der Satz: "Vor mir steht ein Baum?" Ist es ein logischer Widerspruch oder anderweitig unzulässig, wenn jemand die beiden Sätze "Ich sehe vor mir einen Baum" und "Vor mir steht kein Baum" zugleich behauptet?
Die Antwort auf die
gestellte Frage hängt davon ab, wie wir das Wort "sehen" (oder allgemeiner "mit
den Augen wahrnehmen" ) definieren.
Mein Vorschlag war, das
Wort "sehen" nur auf solche Fälle anzuwenden, bei denen der optische
Sinneseindruck richtig interpretiert und sprachlich ausgedrückt wird.
Damit wären "sehen" und "wahrnehmen" Handlungsbegriffe, die vom Erfolg her definiert sind
und nicht
allein vom Verhalten des Handelnden her. "Vergiften" ist z. B. ein
Handlungsbegriff, der vom Erfolg - der Tötung - her definiert ist, während "Gift
geben" vom Verhalten des Handelnden her definiert ist. Entsprechend ist "erschießen" ein erfolgsbezogener Handlungsbegriff, während "auf jemanden
schießen" ein verhaltensbezogener Handlungsbegriff ist.
Bei einer erfolgsbezogenen
Definition von "wahrnehmen" und dessen Unterbegriffen "sehen", "hören", "fühlen"
etc. folgt aus dem Satz "Ich sehe vor mir einen Baum" logisch der Satz: "Vor mir
ist ein Baum."
Es würde dann die Prämisse
(1) gelten:
(1) Wenn ich einen
Sachverhalt wahrnehme, dann liegt dieser Sachverhalt auch vor.
Wenn "wahrnehmen"
erfolgsbezogen definiert ist, kann der Schluss von der Wahrnehmung auf den
Sachverhalt nicht logisch fehlerhaft sein, da die Konklusion ("Der
Sachverhalt liegt vor") bereits in der Prämisse ("Ein Sachverhalt wird
wahrgenommen") impliziert ist.
Die Frage ist: Welche
Terminologie ist zweckmäßiger, die erfolgsbezogene oder die verhaltensbezogene?
Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass die Begriffe der Wahrnehmung auch
noch in anderen Zusammenhängen auftauchen und dass sich eine Definition auch in
diesen Zusammenhängen als
zweckmäßig erweisen muss. (Es handelt sich also um eine Frage der Begriffsbildung,
bei der es keine "richtige" oder "falsche" Begrifflichkeit gibt, sondern das
Kriterium der theoretischen Fruchtbarkeit entscheidend ist.)
***
Was
spricht für einen erfolgsbezogenen Begriff der Wahrnehmung?
Dafür spricht wohl die Etymologie des Wortes "Wahrnehmung" selber. Das "Wahrgenommene" ist das als "wahr" Genommene – und
nicht das möglicherweise Falsche.
Für einen erfolgsbezogenen
Wahrnehmungsbegriff spricht außerdem, dass bei einem rein verhaltensbezogenen
Begriff der Wahrnehmung gezeigt werden muss, wie man von den Beschreibungen
subjektiver Bewusstseinszustände zu Aussagen über objektive Sachverhalte
gelangen kann. Wenn das Wahrgenommene nicht die objektive Realität ist, wie
gelangen wir dann zu Aussagen über objektive Sachverhalte? Man kann ja letztlich
eine bestimmte Wahrnehmung nur mit Hilfe einer anderen Wahrnehmung kritisieren.
Dass man sich hinsichtlich der eigenen Wahrnehmungen irren kann, ist durch einen
erfolgsbezogenen Wahrnehmungsbegriff nicht ausgeschlossen.
Wenn man nachträglich
aufgrund anderer Wahrnehmungen und deren logischer Verarbeitung im
Gesamtzusammenhang unseres Bildes von der Welt zu dem Schluss kommt, dass kein
solcher Sachverhalt gegeben war, wie man bisher angenommen hatte, dann muss man
eben den Schluss ziehen, dass das vermeintliche Sehen kein Sehen war sondern ein "Versehen". Die Korrekturmöglichkeit ist mit einer erfolgsbezogenen Definition
von "wahrnehmen" also nicht verbaut.
***
Was
spricht für eine verhaltensbezogene Definition des Begriffs "Wahrnehmung" ?
Dafür spricht vor allem, dass
Aussagen über Sinneseindrücke gemacht und erfasst werden können, ohne sie gleich
mit der u. U. schwer oder gar nicht zu beantwortenden Frage zu befrachten, ob
sie auch stimmen.
Interessanterweise findet
man den Zwiespalt zwischen erfolgsbezogener und verhaltensbezogener Definition
nicht nur bei den Wahrnehmungsbegriffen sondern auch bei anderen zentralen
philosophischen Begriffen wie "Erkennen", "Wissen", "Verstehen" oder "Begreifen". Ist "Erkenntnis" jede Antwort auf eine Frage oder soll nur die
richtige Antwort als Erkenntnis bezeichnet werden? Aber wenn wir keine Antwort
als absolut gewiss ansehen können, wie kann man dann überhaupt Erkenntnis
gewinnen?
Bei den beliebten "Was ist?" -Diskussionen zu diesen Begriffen liegt in dem
Zwiespalt zwischen erfolgsbezogener und verhaltensbezogener Definition häufig
der unerkannte Grund der Meinungsverschiedenheiten.
Wenn man einen verhaltensbezogenen Begriff der Wahrnehmung hat, dann "hört" der Geistesgestörte
also ständig Stimmen und das fiebernde Kind "sieht" den Erlkönig. Die
Qualifikation einer Wahrnehmung als Täuschung muss dann durch entsprechende
sprachliche Zusätze wie "vermeintlich" oder "korrekturbedürftig" erfolgen.
Bei diesem Sprachgebrauch
kann zwischen Aussagen über Wahrnehmungen verschiedener Personen kein logischer
Widerspruch bestehen. Wenn A sagt: "Auf dem Tisch dort in der Ecke sehe ich eine
brennende Kerze" und der neben ihm sitzende B sagt: "Auf dem Tisch dort in der
Ecke sehe ich keine brennende Kerze", so widersprechen sich die beiden Aussagen
nicht. Es können beide Aussagen richtig sein, z. B. weil A die brennende Kerze
halluziniert.
Allerdings können sich
Aussagen über die Wahrnehmungen ein und derselben Person zum selben Zeitpunkt
widersprechen. Wenn B sagt: "Ich sehe auf dem Tisch dort in der Ecke keine
brennende Kerze" dann könnte A sagen: "Du willst mir einen Bären aufbinden. Gib
zu: In Wirklichkeit siehst Du auch, dass dort eine Kerze brennt!"
Nehmen wir an, dass A die Kerze nur halluziniert. Ist es dann richtig zu sagen:
"Für A steht dort auf dem Tisch eine Kerze" ? Oder muss man sagen: "Für A
scheint dort auf dem Tisch eine Kerze zu stehen"?
Hier liegen zahlreiche
sprachliche und philosophische Fußangeln, die sich auch prächtig dazu eignen,
andere in Verwirrung zu stürzen.
So könnte jemand sagen:
Logische Widersprüche sind kein Problem. Ein Römer sagt: "Jetzt geht die Sonne
unter" und ein Einwohner von San Francisco sagt zur gleichen Zeit: "Jetzt geht
die Sonne auf" - und beides beruht auf Wahrnehmungen und stimmt.
Dass sich der scheinbare
Widerspruch von selber auflöst durch Bezug auf ein Weltbild, das eine rotierende
Erdkugel beinhaltet, wird dann in der Eile ganz übersehen.
***
In der Literatur findet man die nützliche Unterscheidung zwischen "wahrnehmen" und "als etwas wahrnehmen". Der Unterschied zeigt sich z. B., wenn A sagt: "Ich sehe etwas Rundes" und B sagt: "Ich sehe eine Kugel". B interpretiert das Runde als eine Kugel. Damit geht er ein höheres Risiko der Fehlinterpretation ein, denn das Runde könnte ja auch eine flache Scheibe sein.
***
Dass ein einzelner
optischer Sinneseindruck kein vollständiges Bild des Gegenstandes liefert, ist meines
Erachtens unproblematisch. Ob ich den Kölner Dom von vorne, von hinten oder von
oben sehe: Trotz des Umstandes, dass es unendlich viele verschiedene Ansichten
des Kölner Doms gibt, sehe ich doch in jedem Fall den Kölner Dom. Mein
Bild des Kölner Doms baut sich auf der Grundlage und im Einklang dieser
verschiedenen Ansichten auf und ermöglicht mir z. B., ein genaues Modell des
Kölner Doms im Maßstab 1:100 zu bauen.
Dass unsere Sinne nur eine
begrenzte Leistungsfähigkeit haben, ist uns bekannt. Wir sehen von einem
Sachverhalt umso weniger und der Sinneseindruck wird immer undeutlicher, je dunkler es wird, je nebliger es wird, je weiter wir
uns vom Gegenstand entfernen etc., und entsprechend müssen wir
unsere Wahrnehmungen mit mehr und mehr Fragezeichen versehen.
Wir wissen auch, unter
welchen Bedingungen es vorzugsweise zu Halluzinationen oder Sinnestäuschungen
kommt und können Wahrnehmungen unter diesen Bedingungen ebenfalls mit den
notwendigen Fragezeichen versehen.
***
Ich will im Folgenden die
Beziehungen zwischen Wahrnehmung, Welt und
Weltbild skizzieren, wie ich sie jetzt sehe:
1. Der einzelne Mensch begegnet der Welt (der
Wirklichkeit) im Strom der Sinneseindrücke und Körperempfindungen: wir sehen,
hören, fühlen, schmecken, riechen etwas, empfinden Wärme, Kälte, Schmerz, Lust,
Hunger, Durst, Müdigkeit u.a.m.
2. Die Inhalte dieser
Wahrnehmungen und Empfindungen erscheinen zeitlich und räumlich geordnet: ("Das
Rote kommt zeitlich vor dem Dunklen" / "Das Eckige ist räumlich vor dem
Runden"). Die Inhalte werden als gleich, ähnlich oder verschieden geordnet und
sprachlich bezeichnet: einerseits durch je eigene Namen für bestimmte
individuelle Phänomene ("Papa"), andererseits durch
Begriffe für Klassen von
gleichartigen Phänomenen ("Kirschen").
3. Der Mensch entdeckt im
Vergleich erinnerter Wahrnehmungen und Körperempfindungen Beziehungen zwischen
diesen Phänomenen ("Papa hat Kirschen") und Regelmäßigkeiten in diesen
Beziehungen. Er drückt diese durch Sätze aus ("Kirschen sind rot und rund", "Hartes und Spitzes tut weh").
4. Begriffe und Sätze
muss der einzelne Mensch nicht selber bilden, sondern er übernimmt die
vorhandene Sprache.
5. Der Mensch lernt den
Unterschied zwischen sich selbst als einem bestimmten Wesen ("Katja")
und der Umwelt durch wiederkehrende Beziehungen zwischen Sinneswahrnehmungen und
Körperempfindungen. Wenn er auf den eigenen Finger beißt, dann empfindet er
Schmerz, wenn er auf den fremden Finger beißt, empfindet er keinen Schmerz. Der
schmerzende Finger ist "sein" Finger, der andere ein Finger eines anderen. So
lernt er erkennen, was zu seinem Körper gehört und was nicht.
Er lernt, dass es andere
Menschen gibt, die so wie er selber Finger und einen Körper haben, die so wie er
selber gehen, schlafen, sprechen, lachen oder weinen, die ihren jeweils eigenen
Schmerz, ihre eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken haben.
Dabei lernt der Mensch
nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern er übernimmt Wissen von anderen
Menschen, anfangs unkritisch, mit der Entwicklung des eigenen Denkens zunehmend
kritischer.
6. Der Mensch ist in seinem
Denken bemüht, die einzelnen Sätze über die Phänomene seiner Wahrnehmung und
Körperempfindung und deren regelmäßige Beziehungen untereinander zu einem
widerspruchsfreien Bild der Welt zusammenzufügen, das ihm einerseits seine
erinnerten Wahrnehmungen erklärt ("Ich hatte Durst, weil es so heiß war") und
das ihm andererseits die zu erwartenden Wahrnehmungen vorhersagt. ("Am Himmel
ziehen dunkle Wolken auf, deshalb wird es gleich regnen").
7. In diesem denkend und
lernend erzeugten individuellen Weltbild ist der einzelne Mensch auch selber
enthalten mit seinen ihm selbst bekannten dauerhaften Eigenschaften
einschließlich seiner Bewusstseinsvorgänge.
8. Wenn der einzelne Mensch
gemeinsam mit anderen Menschen entscheidet und handelt, so bilden
unterschiedliche individuelle
Weltbilder ein Problem, weil aus ihnen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten
und/oder Handlungsfolgen abgeleitet werden können. Dies ist der Grund für das
Streben nach interpersonaler Übereinstimmung der
individuellen Weltbilder.
Ebenfalls problematisch
sind häufig zu korrigierende Weltbilder, die viele Fragen offenlassen. Dies ist
der Grund für das Streben nach intertemporaler Stabilität des Weltbildes.
***
Du meinst, dass wir mit dem
Grundsatz "Wahr können nur Sätze sein" nicht weiterkommen und fragst kritisch: "Wie … können wir unsere Wahrnehmung … als Wahrheitsbeweis heranziehen, wenn wir
nicht unsere Wahrnehmung für wahr halten?"
Ich sehe hier kein Problem:
Du stehst mit geschlossenen Augen da. Du siehst nichts. Kein Licht trifft Deine
Netzhaut.
Dann machst Du Deine Augen
auf. Jetzt siehst Du mit Hilfe Deiner Augen etwas. Du hast einen visuellen
Sinneseindruck bestehend aus Farben und Formen.
Bis hierher kann die Frage
der Wahrheit nicht entstehen.
Wenn Dich jetzt jemand fragt: "Sehen sie etwas?" und Du antwortest: "Ja, ich
sehe etwas", so taucht mit dem Aussagesatz zum ersten Mal die Wahrheitsfrage
auf.
Wenn Du z. B. blind wärest, so wäre die Aussage: "Ich sehe etwas" falsch.
Wenn Dir beim
Blinde-Kuh-Spiel jemand die Augen verbindet und er fragt Dich: "Siehst Du noch
etwas?", so könntest Du ihn anlügen und sagen: "Nein, ich sehe nichts mehr".
Erfahrene Blinde-Kuh-Spieler prüfen deshalb die Aussage über die eigene
Wahrnehmung, indem sie einen Boxschlag scheinbar zum Auge führen. Wenn die
blinde Kuh dann mit dem Kopf unwillkürlich zurückzuckte, dann war sie offenbar
doch nicht so blind, wie sie angab, sondern konnte die Faust sehen, die sich
ihrem Auge nähert.
Allerdings können wir
detaillierte Aussagen wie "Einige Schritte vor mir wächst ein Baum" nicht
unmittelbar anhand
von Wahrnehmungen nicht näher beschriebener Farb- und Formeindrücke prüfen. Hier
sind noch einige weitere Schritte zu machen.
A: "Siehst Du, dass einige
Schritte vor Dir ein Baum wächst?"
B: "Ich sehe Farben und
Formen."
[Schon diese Aussage über eine
eigene gegenwärtige Wahrnehmung kann falsch sein, denn es kann eine Lüge sein.]
A: "Das beantwortet meine
Frage nicht. Weißt Du überhaupt, wie ein Baum aussieht?"
B: "Natürlich weiß ich das.
Bäume haben einen Stamm, der im Erdreich wurzelt und nach oben führt. Der Stamm
verzweigt sich dann in Äste und immer dünner werdende Zweige, aus denen sehr
viele grüne Blättern oder Nadeln wachsen." [Diese Aussage kann -
bezogen auf eine bestimmte Sprache, in der das Wort "Baum" definiert ist –
falsch sein.]
A: "O. K. Meine Frage: Sieht das,
was Du siehst, wie ein Baum aus?"
B: "Ja, was ich sehe, sieht
wie ein Baum aus." [Diese Aussage kann falsch
sein, wenn B nicht genau hingesehen hat oder wenn B bestimmte Merkmale des
Aussehens vergessen oder hinzugefügt hat. Ein Beispiel hierfür wäre die folgende
Situation: In der Definition des Baumes und der Beschreibung seines Aussehens
ist keine Größenangabe enthalten. B meint jedoch irrtümlich, dass Bäume immer
groß sein müssen. Deshalb meint er, dass der kleine Birkensprössling oder die
Bonsai-Pflanze nicht wie ein Baum aussehen.]
A: "Siehst Du also vor Dir
einen Baum?"
B: "Ja, ich sehe vor mir
einen Baum." [Diese Aussage kann falsch
sein, z. B. wenn B nicht genau hingesehen hat oder schlechte Sichtverhältnisse
bestanden und B das Objekt für einen Baum hält, während es sich in Wirklichkeit
um eine Schlingpflanze wie Knöterich handelt, die an einem Mast nach oben rankt.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die beiden Sätze "Ich sehe vor mir einen Baum" und "Ich sehe, dass vor mir ein Baum ist"
bedeutungsgleich sind.]
A: "Steht also vor Dir ein
Baum?"
B wird angesichts solcher
Akribie ungeduldig: "Ich sagte doch bereits, dass vor mir ein Baum steht."
A: "Nein. Du hast bisher
nur gesagt, dass Du vor Dir einen Baum siehst."
Mein Fazit: Ein Sinneseindruck kann nicht wahr oder falsch
sein, die sprachlich formulierten Wahrnehmungen können dagegen in mehrfacher
Hinsicht falsch sein. Ich mache hier also eine terminologische
Unterscheidung zwischen dem Faktum des "Sinneseindrucks" und dessen
Interpretation durch einen Satz, der eine "Wahrnehmung" von etwas ist.
***
Wie kann man
Aussagen von der allgemeinen Form "A nimmt x wahr" nachprüfen?
Diese Fragen sind
nicht nur philosophische Denkübungen sondern spielen auch im Alltag eine gewisse
Rolle.
Jemand, der bei Rot über
die Ampel gefahren ist und einen schweren Zusammenstoß verursacht hat, behauptet: "Als ich in die Kreuzung fuhr, habe ich die Ampel auf
'Grün' gesehen."
Jemand, der sich vorzeitig
verrenten lassen will, behauptet: "Ich habe ständig starke Rückenschmerzen."
Jemand, der seine
Enttäuschung über sein schlechtes Abschneiden in einem Wettbewerb nicht zeigen
will, sagt "Mir ist die ganze Sache eigentlich nicht wichtig."
Der Heiratsschwindler sagt
zu seinem schon etwas älteren aber vermögenden Opfer: "Ich bin unsterblich in
Dich verliebt, Amalie."
Das Gedankenlesen ist auch
der modernen Gehirnforschung noch nicht möglich, obwohl es Schritte in dieser
Richtung gibt. Wenn z. B. jemand einen Tinitus (ein krankhaftes Ohrgeräusch) nur
simuliert, so kann man ihn heute anhand von Messdaten der Gehirntätigkeit dessen
überführen.
Wenn es zu derartigen
Fragen kommt, die direkt nur introspektiv zu beantworten sind, heißt es oft: "Das kann ja jeder sagen. Das ist kein (zulässiges) Argument".
Wenn die
Nachvollziehbarkeit einer Behauptung über einen "inneren" Sachverhalt nicht
gegeben ist, dann kann auch keine allgemeine Geltung für eine solche Behauptung
verlangt werden. Das schließt nicht aus, dass die Aussage wahr ist.
Die Wahrheit derartiger
Aussagen kann wohl nur indirekt über empirisch zugängliche "äußere" Indikatoren
(Gehirnströme, Antworten auf Fragen, unwillkürliche vegetative Reaktionen,
beobachtbares Verhalten o.ä.) überprüft werden, die mit den "inneren"
Sachverhalten in einem theoretischen Zusammenhang stehen.
***
Ich habe die
terminologische (auf die Bildung von Begriffen bzw. Termini bezogene) Position
vertreten, dass "wahr" nur ein Satz sein kann, der eine Wahrnehmung wiedergibt
(z. B. "Ich höre jetzt einen Pfeifton" ) nicht aber der Sinneseindruck
selber (irgendein Geräusch, z. B. ein Pfeifton).
Die Beschränkung des
Gebrauchs des Wortes "wahr" auf Sätze erscheint mir sinnvoll und notwendig, weil
Sätze behauptet werden können und damit einen Geltungsanspruch bekommen,
Pfeiftöne oder andere bloße Sinneseindrücke jedoch nicht.
Ein Satz ist wahr, wenn es
so ist, wie der Satz besagt. Ein Sinneseindruck besagt als solcher erstmal
jedoch nichts. Es wäre unsinnig, wenn ich irgendein Geräusch höre - z. B. einen
Pfeifton - und dazu sage: "Das ist wahr!" (oder "Das ist falsch!" ). Mit den
Worten "wahr" und "falsch" bejaht man oder verneint man den Geltungsanspruch für
einen Satz.
Das heißt: Erst wenn jemand
einen Satz formuliert wie z. B. "Ich höre jetzt einen Pfeifton" und diesen Satz
ausdrücklich oder unausgesprochen als wahr behauptet, könnte ein Anderer das
sinnvoll bezweifeln und etwa zu ihm sagen: "Das ist falsch, was Sie sagen! Sie
hören gar keinen Pfeifton! Sie sind ein Simulant!"
***
Das Problem der
Allgemeingültigkeit von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit oder
anderer Behauptungen stellt sich dann, wenn mehrere Individuen gemeinsam handeln
bzw. im Namen von mehreren Individuen stellvertretend gehandelt werden soll.
Daraus entsteht die Notwendigkeit, die individuellen Weltbilder und
Moralvorstellungen aneinander anzugleichen. Daraus entsteht der Antrieb, nach
allgemein gültigen Antworten auf die akut gewordenen Fragen zu suchen.
Es geht dabei jedoch nicht
um irgendeine Vereinheitlichung der Meinungen, sondern um eine intertemporal
stabile und intersubjektiv einsichtige Vereinheitlichung der verschiedenen
Positionen.
Hinter dem Streit um
Richtigkeit bzw. Wahrheit steht also der Zwang zu gemeinsamem oder zumindest
aufeinander abgestimmtem Verhalten. Wenn dies zwangfrei geschehen soll, dann
muss die vereinheitlichte gesamtgesellschaftliche Position für die Beteiligten
einsichtig begründet sein. Womit wir wieder bei der These sind: Keine
Allgemeingültigkeit ohne intersubjektive Nachvollziehbarkeit.
***
Zur Erläuterung der Begriffe:
Wenn Person X einen Satz p
als wahr oder richtig hinstellt, dann behauptet sie p.
Eine Behauptung ist ein
Satz, der mit dem Anspruch verbunden ist, dass er für jede beliebige Person
dauerhafte Gültigkeit besitzt.
Eine Behauptung ist also
mit einem Anspruch auf interpersonale und intertemporale, d.h. allgemeine
Gültigkeit verbunden.
Eine Behauptung p besitzt
für eine Person B Geltung, wenn die Person B die Behauptung p dem eigenen Denken
und Handeln zugrunde legt.
Wenn der Geltungsanspruch
für eine Behauptung nur insofern erhoben wird, als er durch dauerhaft
nachvollziehbare und übernehmbare, d.h. einsichtige Argumente eingelöst wird,
spreche ich von einem rationalen Geltungsanspruch.
Wenn der Geltungsanspruch
unabhängig von der Einlösung durch einsichtige Argumente erhoben wird, spreche
ich von einem dogmatischen Geltungsanspruch, der Glauben fordert.
Eine Behauptung, deren
allgemeiner Geltungsanspruch durch allgemein einsichtige Argumente eingelöst
wird, bezeichne ich als allgemeingültige Behauptung.
Bis hierher handelt es sich
nur um die Einführung einer bestimmten Terminologie mit dem Ziel, eine
intersubjektive Verständlichkeit bei zentralen Begriffen sicherzustellen. Es
wird demonstriert, wie die Wörter "Behauptung", "wahr", "interpersonal", "intertemporal", "gelten", "allgemeine Geltung" (von Behauptungen), "einsichtiges Argument", "dogmatischer oder rationaler Geltungsanspruch" und "allgemeingültige Behauptung" verwendet werden.
Die hier gegebenen
Definitionen sind keineswegs endgültig, denn im Verlauf des Erkenntnisprozesses
werden sicherlich begriffliche Korrekturen und Verfeinerungen notwendig.
***
Handelt es sich bei dem folgenden Satz um eine Behauptung, die wahr oder falsch sein kann?
"Mit Freiheitsstrafe nicht
unter einem Jahr wird bestraft, wer Geld in der Absicht nachmacht, dass es als
echt in Verkehr gebracht werde."
Rein grammatisch erweckt
der Satz den Eindruck, als handele es sich um die Beschreibung einer empirischen
Regelmäßigkeit ("... wird bestraft"). Es scheint so, als wenn der Satz besagt,
dass in einer nicht genannten Gesellschaft Geldfälscher in einer bestimmten
Weise ausnahmslos derart bestraft werden.
Wenn man den Satz in dieser
Weise als faktische Behauptung interpretiert, so wäre dieser Satz widerlegt,
wenn jemand Geld fälscht und dafür nicht bestraft wird, z. B. weil er nicht
entdeckt wurde.
Offensichtlich ist der Satz
jedoch nicht deskriptiv (beschreibend) gemeint, denn er ist im §146 des
deutschen Strafgesetzbuchs enthalten, der die Geldfälschung unter Strafe stellt.
Es müsste deshalb
eigentlich heißen: "Mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr soll
bestraft werden, wer …" Es handelt sich also nicht um eine faktische Behauptung, die
beinhaltet, wie tatsächlich gehandelt wird, sondern um einen normativen oder
präskriptiven (vorschreibenden) Satz, der beinhaltet, wie gehandelt werden
soll.
Die Frage ist: Wem wird
hier was vorgeschrieben?
Offenbar wird denjenigen, die Geldfälschung bestrafen,
das Strafmaß vorgeschrieben (" Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr" ).
Adressaten der Norm sind im Fall der deutschen Strafgesetze die mit dem
Richteramt an deutschen Gerichten betrauten Personen.
Wenn die Gerichte eine
bestimmte Handlung – wie z. B. das Fälschen von Geld - bestrafen sollen, so
bildet diese Handlung einen "Straftatbestand" und derjenige, der die Handlung
ausführt ist ein "Straftäter".
Im Begriff der Strafe ist
enthalten, dass sie die Reaktion auf eine Normverletzung ist.
Die Norm, die durch das
Fälschen von Geld verletzt wird, lautet: "Geldfälschen ist verboten" bzw. "Man
soll kein Geld fälschen".
In der ausführlicheren
Formulierung des Strafgesetzbuches würde das Verbot lauten: "Man soll kein Geld
nachmachen in der Absicht, dass es als echt in den Verkehr gebracht werde."
Hinzu kommt die zweite
Norm: "Wer dies Verbot übertritt, soll mit einer Freiheitsstrafe nicht unter
einem Jahr bestraft werden."
Offensichtlich ist die
erstere Norm (das Verbot) die logische Voraussetzung für die letztere Norm (die
Strafvorschrift).
Die Frage, die sich damit
stellt, lautet: Ist der Satz "Man soll kein Geld nachmachen und als echt in
Verkehr bringen" eine Behauptung, die wahr bzw. richtig sein kann, für und gegen
die man Argumente zur Begründung oder Widerlegung anführen kann? Kommt einem
solchen Satz Geltung zu? Kommt ihm möglicherweise allgemeine Geltung zu? Kommt
ihm möglicherweise auch allgemeine Gültigkeit zu?
Welche Argumente sprechen
für diesen Satz, für dieses Verbot, welche dagegen? Inwiefern sind diese
Argumente allgemein einsichtig, also interpersonal nachvollziehbar?
Bemerkenswert ist, dass die eigentliche Verbotsnorm im Strafgesetzbuch nicht
explizit formuliert wird und auch nicht inhaltlich begründet wird. Stattdessen
ist Verbot und Strafbarkeit dem Gericht als "Gesetztes" vorgegeben. Die Richter
haben das Gesetz nur anzuwenden, wobei allerdings die bisherige Rechtsprechung
berücksichtigt werden müssen.
***
Wie kann man das Verbot des
Geldfälschens begründen?
Ein Argument wäre,
dass eine Gesellschaft, die sich für eine Geldwirtschaft entschieden hat,
konsequenter Weise auch an dem Funktionieren dieser Geldwirtschaft ein Interesse
haben muss.
Damit verschiebt sich die
Frage von der Zulässigkeit des Geldfälschens auf die Frage nach den Vorteilen
einer Geldwirtschaft. Allerdings hat man dabei schon einen gesellschaftlichen
Konsens bei der Entscheidung für eine Geldwirtschaft vorausgesetzt.
Unabhängig von dieser
generellen Vorentscheidung für eine Geldwirtschaft kann man m. E. auch von der
bestehenden Geldwirtschaft ausgehen und nach den Folgen einer unbeschränkten
Einschleusung von Falschgeld fragen. Wäre dies nicht verboten und jeder dürfte
sein Geld selber herstellen, so würde sehr bald niemand mehr Geld im Austausch
gegen Güter annehmen, weil die umlaufende Geldmenge stark wachsen würde und das
Geld entsprechend entwertet würde. Fast jeder wäre Millionär, aber für die
Millionen könnte er sich nichts kaufen.
Außerdem ist die Verwendung
von Falschgeld immer auch eine Form der Täuschung, die den betreffenden
Kaufvertrag nichtig macht. Das Falschgeld besitzt ja nicht den Wert des echten
Geldes, dessen Verwendung der Geldfälscher nur vortäuscht.
Einmal angenommen, diese
Aussage wäre empirisch richtig, wäre das eine für jedermann einsichtige
Begründung für das Verbot der Geldfälschung? Könnte man also den Satz: "Man soll
kein Geld nachmachen und als echt in Verkehr bringen" als eine allgemeingültige
normative Behauptung bezeichnen?
Ganz so einfach geht es
wohl nicht. Wir haben es ja beim Geld –
trotz Globalisierung des Handels - nicht mit einer allgemeinmenschlichen Währung
zu tun, sondern mit verschiedenen Währungsgebieten und voneinander abgegrenzten
Märkten, die politisch bedingt sind.
Für wen gilt der §146 des StGB? Er gilt sicherlich für diejenigen, die Euros
nachmachen und/oder in Verkehr bringen. Er gilt jedoxh theoretisch auch für
Japaner, die in Japan japanisches Geld fälschen, wenngleich die deutsche
Rechtspflege auf das deutsche Territorium beschränkt ist.
Interessant ist auch
folgender Fall: Im 2. Weltkrieg hat man über dem Staatsgebiet des Gegners
kofferweise gefälschtes Geld abgeworfen, um die Wirtschaft des Kriegsgegners zu
stören. Gibt es auch hier – wie beim Töten, bei der Körperverletzung oder der
Sachbeschädigung – ein "Ausnahmerecht" für den Kriegsfall?
***
Ich habe in diesem
Zusammenhang Probleme mit dem vertrackten Begriff der "Geltung". Im juristischen
Verständnis kann ein Paragraph des Strafgesetzbuches für eine Person B "gelten",
ohne dass B überhaupt etwas von dem Paragraphen weiß.
Demgegenüber hatte ich
formuliert: "Eine Behauptung p besitzt für eine Person B Geltung, wenn B die
Behauptung p dem eigenen Denken und Handeln zugrunde legt."
Beides ist nicht
miteinander zu vereinbaren.
Um den Unterschied zwischen
den beiden Verwendungsweisen von "gelten" zu klären, müsste
zuerst geklärt werden, ob es sich bei dem §146 StGB überhaupt um
eine Behauptung handelt.
Wird in dem §146 StGB
behauptet, dass man kein Geld fälschen soll? Oder wird in dem Paragraphen
behauptet, dass man Geldfälscher mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr
bestrafen soll?
Oder wird den Richtern mit
dem § 146 StGB nur die legitimierte Anordnung erteilt, Geldfälscher in einer
bestimmten Weise zu bestrafen?
Eine derartige Anordnung wäre keine Behauptung
sondern die Setzung einer (dazu legitimierten) Instanz. Eine derart legitimierte
Setzung verlangt vom Adressaten nicht die inhaltliche Bejahung der Setzung
sondern die Anerkennung der Instanz als (zur Setzung der Anordnung) legitimiert
und die Befolgung der Anordnung.
Aufgabe der Richter ist
deshalb auch nicht die inhaltliche Begründung der Gesetze sondern deren
Auslegung und Anwendung auf den jeweiligen Einzelfall, wozu sie durch die
Verfassung legitimiert sind. (Allerdings kann ein Richter Zweifel an der
Verfassungskonformität eines Gesetzes anmelden und den Fall weiterreichen.)
Ich neige der Auffassung
zu, dass es sich bei Rechtsnormen nicht um Sätze mit dem Charakter von
Behauptungen handelt sondern um Setzungen. Dann könnte man unterscheiden
zwischen der Geltung von Behauptungen und der Geltung von Setzungen.
Eine Setzung besitzt für
ein Individuum Geltung, wenn diese Setzung auf seine Handlungen angewendet wird.
Der § 146 StGB gilt für Deutsche wie Ausländer, weil sie mit ihrem Handeln den
Tatbestand des Paragraphen erfüllen können.
Ich hoffe, dass damit das
begriffliche Knäuel etwas gelockert wurde, aber vielleicht hat jemand dazu noch
bessere Vorschläge.
Hier gibt es noch einige
Probleme. Um nur zwei zu nennen:
Inwiefern besitzt der
Befehl eines Räubers, der mir zuruft: "Hände hoch!" Geltung für mich?
Für wen besitzt der § 146
StGB noch Geltung, wenn er morgen vom Gesetzgeber gestrichen wird?
Kontrovers ist sicherlich
auch die These, dass Rechtsnormen als solche Setzungen sind und keine
Behauptungen, die richtig oder falsch sein können.
(Bei
Teilen des Grundgesetzes mag das anders sein).
Setzungen wie: "Wer Geld
fälscht, soll eine Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verbüßen" können nicht
in der gleichen Weise wie Behauptungen kritisiert oder gerechtfertigt werden.
Wenn ein Angeklagter z. B.
vorbringt, dass Geldfälschen gerechtfertigt sei, um die Diktatur des Geldes und
die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche zu beenden, so trifft diese
inhaltliche Kritik nicht. Der Richter kann dagegen sagen: "Dies Gesetz ist von
dem dazu durch die Verfassung ermächtigten Gesetzgeber formgerecht erlassen
worden. Ob es inhaltlich richtig ist oder nicht, darauf kommt es bei der
Urteilsfindung nicht an. Das Gesetz bleibt unabhängig von den unterschiedlichen
Meinungen der Staatsbürger für das Gericht und jeden Staatsbürger verbindlich."
Während es bei Behauptungen
auf die Begründung ihrer Geltung als inhaltlich wahr oder richtig ankommt, kommt
es bei Setzungen auf die Rechtfertigung ihrer Geltung als verfahrensmäßig
verbindlich oder legitimiert an.
Allerdings endet die
Rechtfertigung von Rechtsnormen als verfahrensmäßige Setzungen letztlich bei der
Verfassung als der Grundnorm.
Die Frage ist, wie diese
Grundnorm, die allgemeine Geltung beansprucht, intersubjektiv nachvollziehbar
als allgemeingültig gerechtfertigt werden kann.
Eine Antwort lautet: Die
Grundnorm wird allgemein nachvollziehbar gerechtfertigt durch das Verfahren der
Selbstverpflichtung: Jeder stimmt der Grundnorm zu und verspricht, diese zu
befolgen. Kant hat das – wenn ich richtig erinnere – in dem Satz
zusammengefasst: "Niemand ist obligiret, es sei denn, er habe zuvor
consentiret."
Dies ist die Idee der
vertraglichen Grundlage der staatlichen Rechtsordnung. Dabei wird diese
vertragliche Übereinkunft nicht mehr faktisch interpretiert, sondern
hypothetisch. Man beruft sich also nicht mehr auf einen in grauer Vorzeit
angeblich tatsächlich geschlossenen Vertrag über die Gründung eines Staates mit
einer bestimmten Verfassung, sondern man fragt, ob die fragliche Verfassung von
vernünftigen Individuen hätte beschlossen werden können.
Hier nähert sich die
verfahrensmäßige Begründung (Vertragstheorie) der inhaltlichen Begründung
(Konsenstheorie) an. Bei der inhaltlichen Begründung der Grundnorm wird ja
gefragt, ob die Grundnorm intersubjektiv nachvollziehbar inhaltlich begründet
werden kann, ob also auf argumentativem Wege ein allgemeiner Konsens erzielbar
ist.
Die verfahrensmäßige
Rechtfertigung der Setzung und die inhaltliche Begründung der Behauptung ähneln
sich folglich.
Ist die Unterscheidung
zwischen Behauptungen, die inhaltlich wahr sein können oder nicht, und
Setzungen, die verfahrensmäßig verbindlich sein können oder nicht, sinnvoll?
***
Du fragst nach der
Einhaltung behaupteter normativer Grundprinzipien. Damit beziehst Du Dich wohl
auf Formulierungen im Grundgesetz wie Artikel 20: "Die Bundesrepublik
Deutschland ist ein demokratischer, sozialer Bundesstaat."
Entgegen der grammatischen
Form handelt es sich auch hier nicht um die Feststellung dessen, was tatsächlich
gegeben ist, sondern um eine Norm: Der Staat soll demokratisch und sozial sein.
Ich bin skeptisch in Bezug
auf das, was ein Grundprinzip wie: "Der Staat soll demokratisch und sozial sein"
absichern kann. Es hängt alles davon ab, wie man die Wörter "demokratisch" und "sozial" in diesem Zusammenhang versteht. Ist die Politik der
Christlich-Sozialen Union" bzw. der "Christlich-Demokratischen Union oder die
Politik der "Sozialdemokratischen Partei Deutschlands" demokratisch und sozial?
Es handelt sich bei diesen
Attributen doch um sehr dehnbare und unterschiedlich deutbare Begriffe. Ein
Streit, was "demokratisch" oder "sozial" bedeutet, halte ich für weitgehend
unentscheidbar und deshalb für ungeeignet, um über bestimmte politische
Maßnahmen zu urteilen. Mit diesen Attributen kann nur ganz grob eine Richtung
der Politik vorgegeben werden. Wenn man dem Bundesverfassungsgericht eine
extensive Auslegung und Konkretisierung dieser Begriffe auftragen würde, dann
hätten die Staatsbürger bald nichts mehr zu wählen, weil die deutsche Politik
nicht in Berlin sondern in Karlsruhe gemacht würde.
***
Ich will den Stand der
Diskussion einmal zusammenfassen.
Ausgangspunkt war die
These, dass eine Behauptung, die allgemeingültig sein soll, auch allgemein
nachvollziehbar begründet sein muss, wenn sie mehr sein will als eine
dogmatische Behauptung, die Glauben verlangt.
Bei Behauptungen über die
Beschaffenheit der realen Welt beruht die allgemeine Nachvollziehbarkeit auf der
intersubjektiv übereinstimmenden Wahrnehmung.
(Einschub: Dass es eine
intersubjektive und intertemporale Übereinstimmung der Sinneswahrnehmung geben
muss, ergibt sich bereits aus der Existenz einer gemeinsamen Sprache. Wenn ich
heute einen Sinneseindruck als "Pferd" bezeichne und einen gleichartigen
Sinneseindruck morgen als "Katze" und übermorgen als "Schlange", so könnte diese
(Un-)Sprache keiner lernen. Derjenige, der die Sprache lehrt und derjenige, der
die Sprache lernt, müssen auf die Frage: "Welche Sinneseindrücke sind in einer
bestimmten Hinsicht gleichartig und welche nicht?" übereinstimmend antworten
können. Andernfalls könnte der eine vom andern die Sprache nicht lernen.)
Nun gibt es nicht nur
Behauptungen darüber, wie die Welt beschaffen ist, sondern es gibt offenbar auch
Meinungen und Behauptungen darüber, wie die Dinge sein sollen, insbesondere, wie
die Beziehungen zwischen den Menschen geordnet sein sollen und wie die Einzelnen
handeln sollen. Auch für derartige "normative" Behauptungen gilt meiner Ansicht
nach, dass diese Normen, wenn sie allgemeine Gültigkeit beanspruchen, auch
allgemein nachvollziehbar begründet sein müssen, sofern sie mehr sein wollen als
ein Dogma, das Gehorsam verlangt.
Dabei sind wir darauf
gestoßen, dass es für die Geltung von Normen wie "Geldfälschen ist verboten"
zwei sehr unterschiedliche Wege der Begründung gibt.
Man kann einmal "inhaltlich" argumentieren mit Bezug auf die Vor- und Nachteile der zur
Entscheidung anstehenden Möglichkeiten einer normativen Regelung:
Welche Folgen hat es, wenn
man Geldfälschen erlaubt? Welche Folgen hat es, wenn man Geldfälschen
(unterschiedlich hart) bestraft? Wie werden diese Folgen von den Beteiligten
bewertet? Welche Regelung wäre für alle Beteiligten gemeinsam die beste?
Die andere Form der
Begründung von Normen argumentiert dagegen "formal" und bezieht sich auf die
Herkunft der betreffenden Norm, indem gefragt wird:
Durch welches
institutionelle Verfahren wurde diese Norm als verbindlich gesetzt? Wurden die
verfahrensmäßigen Vorschriften eingehalten? Wodurch wurde dies Verfahren
seinerseits legitimiert? Auch für derartige verbindliche Setzungen gilt, dass
die betreffende institutionelle Ordnung (etwa die parlamentarische Demokratie
oder der faschistische Führerstaat) allgemein nachvollziehbar begründet bzw.
verfahrensmäßig legitimiert werden muss, wenn sie mehr sein will als eine
aufgezwungene soziale Ordnung.
Die Situation ist bei
normativen Behauptungen offenbar weitaus komplexer als bei faktischen
Behauptungen. Dort spielen "verfahrensmäßige" Begründungen - zumindest im
Bereich der Wissenschaft – kaum eine Rolle. Wenn jemand auf die Frage: "Wie
begründest Du Deine Ansicht, dass die Tierarten sich immer gleich bleiben?"
antwortet: "Weil es so in der Heiligen Schrift steht" oder "Weil der bekannte
Biologieprofessor und Nobelpreisträger XY das gesagt hat", so kann er damit
zumindest in der Wissenschaft keinen Blumentopf gewinnen.
Allerdings gibt es
verfahrensmäßige Begründungen für faktische Behauptungen in Gerichtsverfahren,
wenn sich z. B. der Richter bei der Ermittlung des Täters auf die Gutachten von
Sachverständigen beruft.
Die Frage ist, wie sich
beide Arten der Begründung zueinander verhalten. Außerdem: Warum braucht man
überhaupt normsetzende Verfahren und warum überlässt man diese Entscheidungen
nicht ganz der inhaltlichen wissenschaftlichen Diskussion?
Teil II
Du hast geschrieben: "Ein anderes Weltbild
anzunehmen, als eines in dem Gott für alles Gute sorgt, würde bewirken, dass das
Projekt "Allgemeingültigkeit und Intersubjektivität" scheitern müsste, weil
Gläubige vor den Kopf gestoßen wären und nie zustimmen könnten!"
Das sehe ich etwas anders.
Unter "gebildeten" Menschen wird heutzutage wohl nicht bestritten, dass die
Inhalte der Offenbarungsreligionen nicht intersubjektiv nachvollziehbar
begründet werden können. Die religiösen Erfahrungen der einen Religion sind
Menschen anderen Glaubens nicht zugänglich.
Wenn dem so ist, dann
können die einzelnen Offenbarungsreligionen keinen Anspruch auf allgemeine
Geltung – etwa ihrer Fest- und Feiertage – erheben. Gegenüber dem Anderen kann
nur das Argument zählen, das der Andere frei nachvollziehen und für sich
übernehmen kann.
Nachvollziehbar ist der
Wunsch, die Festtage der eigenen Religion würdig zu begehen, nachvollziehbar ist
der Wunsch, dass der eigene Gott nicht verächtlich gemacht wird. Wo jedoch die
Grenze zwischen erlaubter Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen
einerseits und frevelhafter Gotteslästerung andererseits verläuft, kann die
jeweilige Religionsgemeinschaft nicht selbst aus ihrer eigenen Lehre heraus für
die andern verbindlich festlegen, sondern dazu bedarf es allgemein
nachvollziehbarer Argumente.
Hier tun sich die
Religionsgemeinschaften bekanntlich schwer, da ihr Anspruch auf alleinige
Wahrheit immer die Tendenz hat, über das private Bekenntnis hinauszugehen und
sich auch politisch im religiös gebundenen Staat, letztlich im "Gottesstaat", zu
verwirklichen. Denn für den Frommen jeglichen Bekenntnisses gilt: "Man muss Gott
mehr gehorchen als den Menschen."
Wer einmal die Watt-starken
Lautsprecheranlagen auf den Minaretten der Moscheen, etwa in Istanbul, hat
dröhnen hören, der ahnt vielleicht , worum es mir geht.
Ich bin der Meinung, dass
sich die Inhalte der Offenbarungsreligionen nicht intersubjektiv nachvollziehbar
begründen lassen. Nimm aus dem lutherischen Glaubensbekenntnis die Sätze über
Jesus Christus .. "… sitzend zur Rechten Gottes, von dannen er kommen wird, zu
richten die Lebendigen und die Toten."
Gibt es dafür eine
Begründung, die ein Muslim oder ein anderer Nicht-Christ nachvollziehen und
übernehmen kann?
Ich verneine das, womit
nicht impliziert ist, dass alle Inhalte deswegen falsch sein müssen.
Wir sind uns wohl einig,
dass die religiösen Glaubensbekenntnisse – wenn man sie ihrem Wortsinn nach
versteht (" aufgefahren gen Himmel" ) – nicht nachvollziehbar begründet werden
können.
Wir sind uns wohl auch
darin einig, dass die Religionen trotzdem etwas Richtiges enthalten, das man
möglichst sorgfältig herausarbeiten sollte, bevor man meint, ohne sie auskommen
zu können.
Irgendjemand hat einmal
gesagt: Die Menschen sollten sich so verhalten, als wenn es einen allwissenden
und allmächtigen gesetzgebenden Gott gäbe.
- Dann gäbe es keinen
Zweifel an den Geboten.
- Dann würde jeder, der
die Gebote verletzt, erkannt und niemand könnte darauf hoffen, nicht erwischt zu
werden.
- Dann würde niemand zu Unrecht beschuldigt.
- Dann würde jeder für
seine Taten den gerechten Lohn bzw. die gerechte Strafe empfangen.
Man ist versucht zu sagen:
Wenn es keine Religion gäbe, so müsste man sie erfinden.
Aber hinter die Einsicht, dass die überkommenen religiösen Weltbilder
unglaubwürdig geworden sind, gibt es meiner Ansicht nach kein zurück. (Auch wenn
noch so viele Physik-Nobelpreisträger in einer Art "double think" bzw.
gespaltenen Denkens erklären, dass sie an Gott glauben.)
Aus dieser Einsicht
speist sich mein Bemühen um eine nicht-religiöse Begründung von Moral.
***
Ich will im Folgenden meine Position
zu Allgemeingültigkeit und Intersubjektivität noch einmal zugespitzt
formulieren, um anschließend die Kritik an dieser Position zu sichten und etwas
systematischer zusammenzustellen. Hier meine Thesen:
Alle Erkenntnis, für die
Allgemeingültigkeit beansprucht wird, muss sich daran messen lassen, ob sie auch
allgemein nachvollziehbar begründet ist.
Das heißt, dass sich über
Behauptungen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit im Prinzip ein Konsens
herstellen lassen muss, wenn man mehr will, als ein Dogma zu verkünden.
Dies gilt nicht nur für
Behauptungen über die Beschaffenheit der Welt (wo eine intersubjektiv und
intertemporal übereinstimmende Wahrnehmung den Konsens stiften kann) sondern
auch für moralische Urteile.
Wenn man davon ausgeht,
dass moralische Konflikte aus miteinander nicht zu vereinbarenden Interessen
entstehen, so kann es zu einem zwangfreien, auf Argumente gestützten Konsens nur
kommen, wenn jeder Beteiligte seine eigenen Interessen nicht wichtiger nimmt als
die der Anderen, d.h. wenn jeder die vorhandenen Interessen unparteiisch und
wohlwollend berücksichtigt und gegeneinander abwägt.
Dies setzt voraus, dass man
die Interessen der andern kennt und gewichtet.
Dazu ist es erforderlich,
dass man sich auch in die Lage aller andern hineinversetzt und dadurch
gewissermaßen einen allgemeinen Standpunkt einnimmt.
Dies muss jeder tun, der beansprucht, etwas Allgemeingültiges zum Problem
sagen zu können. Wenn er dazu nicht willens oder nicht in der Lage ist, dann
kann er auch kein Argument zu der Frage beitragen, wie eine allgemeingültige
Regelung des Konflikts aussehen könnte.
Mit der Weigerung, die Regeln der Intersubjektivität anzuerkennen, verzichtet
man auch auf die Möglichkeit, seinerseits eine Kritik zu üben, die mehr ist als
eine subjektive Willensäußerung.
Man kann zwar noch sagen: "Ich will nicht, dass du so handelst!" aber man kann
dies nicht mehr tun mit dem Anspruch, dass es für den anderen eine irgendwie
einsichtige Pflicht gäbe, die Handlung zu unterlassen. Man kann den andern zwar
noch sanktionieren, man kann diese Sanktion jedoch nicht als eine irgendwie
berechtigte Strafe hinstellen.
Das Kriterium der
intersubjektiven Überprüfbarkeit ist also – richtig eingesetzt – ein scharfes
Mittel der Kritik an Positionen, die zwar Geltung beanspruchen, aber diesen
Anspruch nicht argumentativ einlösen können.
Antwort auf Kritik
1. Das Konzept der
Intersubjektivität wird als unzulässige Aufweichung des Konzeptes der "Objektivität" kritisiert.
So heißt es u.a.: "Die Wahrheit einer
wissenschaftlichen Aussage hängt doch nicht von der Begriffsstutzigkeit
irgendwelcher Subjekte ab." "Wenn ich jetzt einen
Tennisball auf die Strasse werfe, so ist das eine Tatsache. … Diese Tatsache
lässt sich nicht beweisen. Ist sie darum nun auch für mich keine mehr? Tatsachen
werden nicht dadurch objektiver, dass zwischen den Subjekten ein Einvernehmen
über deren Gültigkeit besteht. … Der Begriff "intersubjektiv" dient doch so
scheint mir vor allem der Verschleierung der Tatsache, dass eine Meinung an
deren Stelle treten soll."
2. Der Allgemeingültigkeit,
die an der intersubjektiven Konsensfähigkeit festgemacht ist, wird das Kriterium
der inneren Kohärenz der gesamten Erkenntnisse gegenüber (oder auch an die
Seite) gestellt. "Unser Wissen bildet ein
großes System. Und nur in diesem System hat das Einzelne den Wert, den wir ihm
beilegen. Eine Behauptung muss nicht notwendigerweise nachvollziehbar evident
sein, sie muss aber in das uns bekannte System der Welt logisch passen und damit
potentiell evident sein; … Hinzu kommt als konstituierendes Element unserer Welt
die Logik, weil die Logik das Prinzip unserer Wahrnehmungen ist. Daraus folgt,
die Struktur unserer Welt ist logisch. Eine Behauptung, die im komplexen System
unserer Welt zu einem logischen Widerspruch führt, ist falsch. Im komplexen
System, wohlgemerkt. Denn eine logisch falsche Behauptung kann durchaus wahr
erscheinen, wenn man einen Teilbereich des Systems heraus greift und ihn in der
Vorstellung vom Gesamten isoliert; dann fallen nämlich die eventuell
problematischen Verbindungen weg. Tatsächlich haben wir ja irrtümliche Annahmen
an später auftauchenden Widersprüchen im System entdeckt."
Die Bedeutung der Logik und
der vorhandenen gemeinsamen Sprache als Basis der Intersubjektivität wurde
verschiedentlich betont.
3. Die Ohnmacht jeglicher
Argumentation gegenüber den tradierten Weltbildern wurde betont. "Ein intersubjektiver
Konsens wird im Zweifel nur möglich sein bei Angelegenheiten, die so allgemein
sind, dass sie von jeweiligen Weltbildern unabhängig sind. Ein Konsens lässt
sich nur über allgemeine ethische Grundprinzipien herstellen, nicht über
Moralen, denn die sind abhängig von den jeweiligen Weltbildern. … Das meine ich
mit Weltbild. Die andere Sichtweise, die wesentlich von anderen Lebensumständen
geprägt wird (die wiederum nicht nur physisch, sondern auch kulturell geprägt
sind) und deswegen zu anderen für wahr gehaltenen Überzeugungen führt, die
entsprechend vehement als reine Wahrheit verteidigt werden.
In meiner kleinen
Zusammenfassung tritt als Alternative oder Ergänzung (?) zu der von mir
vertretenen konsenstheoretischen Position (Wer etwas als allgemeingültig, wahr,
richtig etc. behauptet, muss dies allgemein nachvollziehbar und einsichtig begründen
können) die kohärenztheoretische Position (Kohärenz: lateinisch
'Zusammenhang')
Du argumentierst
folgendermaßen unter Bezug auf Wittgenstein: "Unser Wissen bildet ein
großes System. Und nur in diesem System hat das Einzelne den Wert, den wir ihm
beilegen. Eine Behauptung muss nicht notwendigerweise nachvollziehbar evident
sein, sie muss aber in das uns bekannte System der Welt logisch passen und damit
potentiell evident sein; … Hinzu kommt als konstituierendes Element unserer Welt
die Logik, weil die Logik das Prinzip unserer Wahrnehmungen ist. Daraus folgt,
die Struktur unserer Welt ist logisch. Eine Behauptung, die im komplexen System
unserer Welt zu einem logischen Widerspruch führt, ist falsch. Im komplexen
System, wohlgemerkt. Denn eine logisch falsche Behauptung kann durchaus wahr
erscheinen, wenn man einen Teilbereich des Systems heraus greift und ihn in der
Vorstellung vom Gesamten isoliert; dann fallen nämlich die eventuell
problematischen Verbindungen weg. Tatsächlich haben wir ja irrtümliche Annahmen
an später auftauchenden Widersprüchen im System entdeckt."
Ich habe die größten
Schwierigkeiten bei den Passagen zur Logik als konstituierendes Element unserer
Welt und als Prinzip unserer Wahrnehmung, was in dem Satz gipfelt: "Die Struktur
unserer Welt ist logisch".
Logisch oder
widersprüchlich können für mich nur Sätze sein, nicht jedoch die Welt oder
unsere Wahrnehmung der Welt.
Der Zwang zur Logik ergibt
sich für mich aus dem Umstand, dass wir nach einem intersubjektiv und
intertemporal einheitlichen Weltbild streben, um unsere Fragen allgemeingültig
zu beantworten. Wenn jeder bei seinem eigenen Weltbild bleiben kann, brauche ich
mich mit dem andern nicht zu streiten. Wenn für ihn der Kölner Dom 1,50 m hoch
ist und für mich ist er höher als 50 m, dann spielt dieser Widerspruch keine
Rolle.
Und wenn es nicht darauf
ankommt, ein über die Zeit hinweg (intertemporal) stabiles Weltbild zu haben,
dann gilt eben heute für mich, dass er 1,50 m hoch ist und morgen gilt, dass er
höher ist als 50 m. Was soll's?
***
Du hast die These
vertreten, dass die Logik das Prinzip der Wahrnehmung ist.
Dagegen folgendes Argument:
Wenn jemand nur einen
einzigen optischen Sinneseindruck hätte (nehmen wir z. B. an, er hätte ständig
und ausschließlich den optischen Sinneseindruck "hell", der weder räumlich noch
zeitlich in irgendeiner Weise differiert), so könnte er diesen Sinneseindruck
weder identifizieren noch benennen. Trotzdem hätte er diesen
Sinneseindruck.
An diesem Sinneseindruck ist
weder etwas Logisches noch etwas Unlogisches.
Insofern kann die Logik
nicht das Prinzip der Wahrnehmung als solcher sein.
1. Einer der Kritikpunkte
an der von mir vorgetragenen Position lautet: "Das ist keine (" wahrhaftige" )
Philosophie sondern Psychologie, Soziologie, Kommunikationstheorie etc."
Daran ist in der Tat etwas
Richtiges. Ich habe das Thema bewusst nicht "Wahrheit und Beweisbarkeit" sondern "Allgemeingültigkeit und intersubjektiv nachvollziehbare Begründung" genannt.
Damit wollte ich die
Aufmerksamkeit auf die soziale Dimension des Wahrheitsbegriffs lenken. In der
Formulierung: "Eine Aussage ist wahr, wenn es so ist, wie sie aussagt" tauchen
keine Personen auf, es ist reine Semantik (Bedeutungslehre).
Die Auszeichnung einer Äußerung als "wahr"
hat jedoch einen hochgradig sozialen Aspekt: Eine Position, die wahr ist, soll jeder
übernehmen und sein Weltbild dementsprechend korrigieren. Anders ausgedrückt:
Das, was als wahr ausgezeichnet wird, stellt eine Behauptung dar, die allgemeine
Geltung beansprucht. Eine Meinung, die wahr ist, ist für jeden wahr, weshalb man
den Zusatz "allgemein" im Zusammenhang mit "wahr" weglässt.
An diesem Anspruch auf
allgemeine Geltung für eine Behauptung setzt nun die kritische Frage an: Wird
der Anspruch auf allgemeine Geltung auch allgemein einsichtig begründet? Wird
der Anspruch auf Geltung für jeden auch für jeden einsehbar begründet?
Je nachdem, ob die Frage
bejaht werden kann oder verneint werden muss, handelt es sich in meiner
Begrifflichkeit um "Wissenschaft" oder "Dogmatik".
Wenn man den Aspekt des
Behauptens und Begründens gegenüber anderen Personen aus der Philosophie
ausblendet, wie es nicht selten getan wird, so muss der skizzierte Ansatz
manchem als "unphilosophisch" erscheinen. Diesen Vorwurf nehme ich jedoch gerne
auf mich.
2. Dass ich anstatt von "Wahrheit" von "Allgemeingültigkeit" spreche und anstatt von "Objektivität" und "Beweisbarkeit" von "Intersubjektivität" und "einsichtiger Begründbarkeit", hat
noch einen weiteren Grund in den Folgen des Werturteilsstreits zwischen
Positivisten und Normativisten.
Dieser Streit wurde im 20.
Jahrhundert weitgehend zugunsten der Positivisten bzw. der Logischen Empiristen
entschieden. Demnach sind nur positive bzw. logisch-empirische Aussagen
wahrheitsfähig, nicht jedoch normative Werturteile.
Entsprechend wurde das Erkenntnisprogramm auch der nicht naturwissenschaftlichen
Disziplinen wie Psychologie, Soziologie auf empirische, faktische
Fragestellungen eingegrenzt. Wissenschaft war nun gleich Erfahrungswissenschaft.
Um dieser Beschränkung zu entgehen, spreche ich von "Behauptungen" anstelle von "Aussagen" und von "Allgemeingültigkeit" anstelle von "Wahrheit".
Insofern es nämlich
Behauptungen mit einem Anspruch auf allgemeine Geltung gibt, die nicht Aussagen
über die Beschaffenheit der Wirklichkeit sind, sondern Sätze, die Bewertungen
oder Vorschriften beinhalten, soll auch in Bezug auf diese normativen
Behauptungen die Frage nach ihrer allgemeinen Gültigkeit und ihrer für jeden
einsehbaren Begründung gestellt werden können.
Da hier viele Fragen noch
offen sind, ist logischerweise auch die Begrifflichkeit noch nicht fest gefügt
(etwa, was den Unterschied von "Geltung" und "Gültigkeit" oder "Behauptung" und "Setzung" angeht).
Soviel erstmal zur
Einordnung unserer Diskussion in einen größeren theoretischen Zusammenhang. Ob
jemand dies für "wahrhaftige Philosophie" hält oder nicht, ist m. E.
zweitrangig. Entscheidend ist, ob hier wichtige, die Einzelwissenschaften
überfordernde allgemeine Grundfragen der Erkenntnis thematisiert werden oder
nicht.
***
Warum verwende ich den Begriff "allgemeingültig" anstelle des Begriffs "wahr" und den Begriff "Behauptung" anstelle des Begriffs "Aussage" ?
Die Begriffe "Aussage" und "wahr" sind durch den Siegeszug des logischen Empirismus auf den Bereich der
faktischen Fragen (" Wie ist die Welt beschaffen?" ) begrenzt
worden.
Da ich der Ansicht bin,
dass auch andere Fragen sinnvoll sind und die Antworten darauf nicht beliebig
sondern begründbar sind, spreche ich von Behauptungen und von
Allgemeingültigkeit.
Dein Einwand: "Es ist nicht
einzusehen, wieso sich "Allgemeingültigkeit" von "Gültigkeit" unterscheiden
soll", ist berechtigt. Man sagt ja auch nur "wahr" und nicht "allgemeinwahr",
obwohl "wahr" immer heißt: "wahr für alle". Hier schließe ich an einen
bestehenden Sprachgebrauch an, was immer gewisse Erleichterungen beim Verstehen
bringt. Grundsätzlich würde "gültig" ausreichen.
Da die Begrifflichkeit insgesamt problematisch ist, will ich bei dieser
Gelegenheit auch meinen Gebrauch anderer relevanter
Begriffe erläutern.
Das Gebiet, auf dem wir uns bewegen, ist die "Erkenntnis", worunter ich
die Beantwortung von Fragen verstehe. Insofern Fragen und Antworten Sätze sind,
gibt es Erkenntnis also nur sprachlich formuliert.
Eine Frage kann unterschiedlich beantwortet werden. Auf die Frage: "Stammen
Menschen und Gorillas von gemeinsamen Vorfahren ab?" antwortet z. B.
Individuum A mit "ja"
und Individuum B mit "nein".
Für A hält die auf Darwin zurück gehende Abstammungslehre für "gültig" (" wahr", "richtig" ). Die Abstammungslehre "gilt" für A, d.h. A legt diese
Lehre seinem Denken und Handeln zugrunde.
B dagegen hält die Abstammungslehre für "falsch", d. h.: Für B gilt diese Lehre nicht.
Für verschiedene Individuen können also unterschiedliche Antworten
faktische Geltung besitzen, sie haben
widersprüchliche Überzeugungen.
A behauptet die darwinistische Abstammungslehre. B bestreitet die
Abstammungslehre. "Behauptungen" beanspruchen eine in Bezug auf den Zeitpunkt (intertemporal) und in
Bezug auf das Subjekt (intersubjektiv) unbeschränkte Geltung.
Die unterschiedlichen Überzeugungen machen keine Probleme, solange die Individuen individuell handeln. Wenn A
und B jedoch z. B. gemeinsam ein Biologielehrbuch für die Schulausbildung ihrer
Kinder aussuchen sollen, benötigen sie eine übereinstimmende
Antwort zur Abstammungslehre.
Eine Vereinheitlichung kann z. B. dadurch erreicht werden, dass der Staat eine
der beiden Antworten
für den Schulunterricht vorschreibt und die kollektive
faktische Geltung dieser Antwort erzwingt.
Insofern die dauerhafte Geltung einer Behauptung für beliebige verständige
Individuen nachvollziehbar und übernehmbar begründet bzw. gerechtfertigt ist,
bezeichne ich diese Behauptung auch als "allgemein gültig".
Die Gültigkeit von Behauptungen kann durch logischen Bezug zu anderen Sätzen
(" Argumente" ) und/oder durch unmittelbare
Einsichtigkeit, also "Evidenz" begründet oder entkräftet
werden.
***
Die intersubjektive
Übereinstimmung hinsichtlich einer faktischen Behauptung bildet die Grundlage für den Anspruch auf
die "Gültigkeit" der
Behauptung: "Der Opel kam von rechts." (A: "Der Opel kam von
rechts." B: "So ist es: Der Opel kam von rechts." )
Hinzu kommt noch die
intertemporale Übereinstimmung, d.h. dass man seine Aussage im Laufe der Zeit
nicht
korrigieren muss. Dies wäre etwa der Fall, wenn der Sinneseindruck falsch
interpretiert wurde, die sprachlich formulierte Wahrnehmung also fehlerhaft war.
***
Siehe auch die folgenden
thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Eigene Diskussionsbeiträge zu "Wahrheit"
** (536 K)
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Alphabetische Liste aller Texte
Übersicht
Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Eigene Beiträge zu 'Keine
Allgemeingültigkeit ohne Intersubjektivität"
Letzte Bearbeitung 10.04.2007 / Eberhard Wesche
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